(v)erleiden - Alexander P. Tschirk - E-Book

(v)erleiden E-Book

Alexander P. Tschirk

4,8

Beschreibung

Sein Leben gestaltet er sich so, wie er sich darin wohlfühlt: Er lebt eher zurückgezogen, liest viel, liebt gute Musik und pflegt eine intensive Brieffreundschaft mit seinem Freund Thomas, der vor einiger Zeit in die USA gezogen ist. Ein ruhiges Leben, in dem es Konstanz und Beständigkeit gibt. Wie bei Bill Murray, nur ohne Murmeltier. Sein Alltag wird aufgewirbelt, als Wiebke in sein Leben tritt - eine Frau, die ihm auf Augenhöhe begegnet, seine Interessen teilt, sein Leben vervollständigt. Er ist glücklich. Eigentlich. Denn tief in ihm keimen Zweifel auf, ob er der Beziehung wirklich genügt, und Ängste, das wieder zu verlieren, was er sich so sehnlich gewünscht hat. Und bekanntlich führt die Spirale der Angst abwärts. Alexander P. Tschirk erzählt vom leichten und gleichzeitig doch so schweren Leben, und was passiert, wenn man im Strom des Lebens nicht mehr mitschwimmt, sondern stehen bleibt, sich zurückzieht, während sich um einen herum alles weiterdreht.

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Inhaltsverzeichnis

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Lieber Tom

Mein lieber Freund

Lieber Thomas

Lieber Tom

Hallo Thomas

Lieber Tom

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Lieber Tom

Lieber Thomas

Lieber Tom

Hi

Servus

Lieber Tom

Hi

Lieber Thomas

Weiße Grüße, lieber Tom

Lieber Thomas

Hi

Prosit, lieber Tom

Servus

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Lieber Tom

Lieber Thomas

Lieber Tom

Servus

Lieber Tom

Hey, Du!

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Hallo Tom

Hallo Thomas

Lieber Tom

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Lieber Thomas

Lieber Tom

Servus

Hallo lieber Tom

Lieber Tom

Lieber Thomas

Lieber Tom

Lieber Thomas

Hallo

Hallo Tom

Lieber Thomas

Lieber Tom

Lieber Tom

Hi Tom

Lieber Tom

Hi

Hi

Hi

Hi

Hi

Lieber Freund

Lieber Thomas,

wir hören zurzeit wenig von einander. Dein Umzug über den großen Teich blieb wider den Erwartungen nicht ohne Folgen für unsere regelmäßigen Treffen oder Telefonate und vor allem die anregenden Gespräche. Wir wissen immer weniger von einander. Und das, obwohl wir seit Jahrzehnten ungebrochen für einander da waren, uns mit Rat und Tat zur Seite standen.

Ich wollte daher die Gelegenheit nutzen, Dir ein Update zu geben. Es ist in meinem Leben auf den ersten Blick nicht viel passiert. Du kennst mich ja. Ich bezeichne mich nicht umsonst als langweiligen Spießer. Aber dennoch empfinde ich mein Leben im Umbruch.

Das erste Mal schreibe ich Dir per Brief und nicht wie gewohnt eine E-Mail. »Warum?« wirst Du Dich fragen. Einfach, weil ich gerade die Langsamkeit und Einfachheit für mich entdecke. Ich genieße den Abstand zum Digitalen, trainiere Gehirn und Hände wieder auf die analoge Welt. Eine Welt, in der zwar nicht alles perfekt und berechenbar ist, aber man Dinge noch selbst macht, aus Fehlern lernt und im Endeffekt jedes Produkt einzigartig ist. Genauso, wie in diesem Schreiben kein »e« dem anderen gleicht, die Zeilenabstände nicht wie am Reißbrett gezogen wirken und keine Serifen dem Auge schmeicheln.

Mein letztes Schreiben ist bereits einige Wochen her. Seitdem ist in meinem Leben nicht sonderlich viel passiert. Ich entspreche nicht dem Klischee des Single-Mannes, der sich die Nächte um die Ohren schlägt, in jeder Bar der Stadt den Typen hinter dem Tresen kennt und nach Mitternacht heimkehrt. Beruflich verschiebe ich nach wie vor Papier vom einen Ende meines Schreibtischs ans andere, tippe was in den Computer und unterbreche dieses repetitive Verhalten nur mit Kaffee- und Pinkelpausen.

Bei der Heimfahrt setze ich Kopfhörer auf, um mich in den dicht gedrängten öffentlichen Verkehrsmitteln vom Lärm und den unzählige Telefonaten, die aufgrund der vielen Meter Beton und Gestein mit mangelnder Empfangsqualität kämpfen und hauptsächlich aus »Hallo? Hörst du mich?!« bestehen, ein wenig zu isolieren. Dabei ist es nicht die Lautstärke, die mich aus dem inneren Gleichgewicht bringt, geben doch meine Kopfhörer auch nicht mehr her, als ich als Minimum für solche Situationen ansehe. Und auch, wenn mich die privaten Details á la »Ich bin in fünf Minuten zu Hause. Kannst schon mal zu kochen anfangen. Haben wir Bier daheim?« nicht interessieren, ist es doch das unregelmäßige Stakkato der vielen Stimmen, die Disharmonie der Elektronik, ihres Gepiepses und deren Besitzer, die mich mittlerweile nervös macht.

Ich fühle mich manchmal wie in einem schlechten Thriller, der auf tiefschürfend macht, wenn ich im beginnenden Dunkel der anbrechenden Nacht aus der U-Bahn aussteige, noch für wenige Euro für das Abendessen und das kommende Frühstück zum Supermarkt ums Eck laufe, um dann mit einem gewissen Ernst im Gesicht, der – und davon bin ich mittlerweile überzeugt – mehr durch die gesellschaftlich anerzogenen, fast möchte ich sagen: angezüchteten Sorgen entstand, als durch die Erfahrung und Weisheit des Alters, die Haustür aufzuschließen und letztendlich in einer leeren Wohnung zu stehen, wo mich nicht einmal die obligatorische Katze begrüßt. Ich sage »Hallo« und »Was gibt es heute zu Essen?«, stelle mir aber die Frage bestenfalls selbst und lasse die Worte nur aus meinen Mund, um den Raum zu füllen, bis die Stereoanlage hochgefahren ist und mir Portishead entgegen donnert.

Erwachsen sein, so scheint es vor allem für Kinder, ist immer gleichbedeutend mit »sich um sich selbst kümmern«, »seinen Wünschen nachgehen« und »tun und lassen, was man will«. Im Endeffekt ist es das auch, nur die Wünsche ändern sich. Meistens. Viele versauern auch im mittleren bis gehobenen Alter vor dem Fernseher, lassen sich von Scripted Reality berieseln (beinahe hätte ich »besudeln« geschrieben, was inhaltlich auf das Gleiche hinaus läuft) und zittern mit gecasteten und gemodelten Inspektoren ideenloser Krimis mit, die sich ab zwanzig Uhr fünfzehn auf Verbrecherjagd begeben.

Erwachsen sein.

Zu mir und vor allem mit mir redet am Abend niemand. Ich versinke mit einem Buch in der Hand auf dem Sofasessel und ändere bestenfalls die Musikrichtung. Auf Deutsch: ich lebe und erlebe auch die Leben anderer, ebenfalls fiktiver Charaktere, aber ich überlasse das Bild im Kopf meiner Fantasie und nicht dem Kameramann beziehungsweise Regisseur. Ich könnte mal testhalber von Romanen zu philosophischen Werken wechseln und mich als intellektuell bezeichnen. Nur, dass mir diese versnobte Abgehobenheit nicht gefällt. Leider entsteht durch meine grundsätzlich introvertierte Art der Eindruck, dass ich mich ebenso überlegen fühle. Deshalb sitze ich mit einem Buch in meinem Sofasessel und wechsle bestenfalls die Musikrichtung.

Der Kreislauf des Lebens. So sagt man doch, wenn man über die Natur, leben und sterben, fressen und gefressen werden, spricht. Dass das für die selbsternannte höchst entwickelte Spezies zu einem Hamsterrad aus Wecker, Frühstück, Weg in die Arbeit, Arbeit, Weg nach Hause, Abendessen, Zeit vergeuden und schlafen gehen wird, hat vermutlich vor ein paar Jahrhunderten oder Jahrtausenden oder Jahrmillionen auch niemand geahnt. Aber ungefähr das fühle ich.

Ich habe nachgesehen: Ich bin nicht Bill Murray und in meinem Leben gibt es keine Murmeltiere. Glaube ich.

Baumärkte und Supermärkte bieten Blumenerde in Säcken zu dreißig Kilogramm und mehr (viel mehr) an. Die Hobbygärtner stürzen sich darauf. Auch ich habe mir etwas Erde gekauft und meinen Balkon endlich begrünt. Ein paar Töpfe, Erde, Wasser und dann je nach Pflanze entweder Samen oder gleich Setzlinge und dann viel Geduld. Mehr braucht es nicht. Hoffentlich. Denn die Erinnerung an meine letzte Topfpflanze, eine, Zamioculcas Zamiifolia, von Floristen liebevoll nur »Zami« genannt, die ich mal zu lange der prallen Sonne ausgesetzt und damit fast verbrannt, und anschließend mit zu viel Wasser beinahe ertränkt habe, und das abwechselnd in einem Rhythmus von zirka einer Woche, ist noch nicht gestorben. Auch noch nicht gestorben ist ebenjene Pflanze. Ich weiß nicht wie, aber auf wundersame Weise hat sie nicht nur das erste Jahr bei mir überlebt, sondern treibt sogar noch recht brav. Ein zweiter Stamm bildet sich langsam und auch der zeigt schon die ersten Blätter.

Mein Leben wechselt, und das ist Dir in den beinahe zwei Dekaden, die wir uns kennen, sicher aufgefallen, von zurückgezogen zu interessiert, von »möglichst nichts ändern« zu »her mit allem Neuen«.

Im Moment geht es langsam wieder in Richtung Neues entdecken. Wenn Du denkst, Du kennst schon viel, und dann blickst Du links und rechts und bekommst trotzdem nur einen Hauch einer Ahnung von der Vielfalt in diesem Leben, dieser Stadt, von Literatur, Kunst, Theater, Programmkino, Ausstellungen und Messen. Es ist eine Mischung aus Euphorie und Überforderung. Momentan lasse ich mich von der Euphorie tragen und genieße das Angebot der Stadt.

Wobei die Stadt, und hier wirst Du vermutlich vor Neid erblassen, gerade in den Festivalsommer startet. Und das noch im kalendarischen Frühling. Den Beginn macht ein Musikfestival, das auf über einem Dutzend großer und noch mehr kleinen Bühnen, die über die Stadt verteilt sind, Musik aus aller Welt präsentiert. Von Jazz bis HipHop, von elektronischer Musik bis Weltmusik, von kleinen Bands, die live auf der Bühne die Zuhörer zum Mittanzen animieren, bis zu den großen Stars, die die Massen anlocken, weil »den/die muss man einmal live gesehen haben«.

Während die Stadt, in der ich noch immer wohne, den Anschein erweckt über die Jahrzehnte für den Autoverkehr ausgelegt worden zu sein, welcher sich in täglich kilometerlangen Staus bemerkbar macht, weswegen sich die Bewohner zunehmend gegen (neue) Autos, dafür für mehr Grünflächen und Fahrbeschränkungen entscheiden, beherbergt die gleiche Stadt erstaunlich viele kleine Plätze und Plätzchen zwischen den Straßen und als Fußgängerzonen ausgelegt, von wo zurzeit rhythmische Klänge her klingen, weil diese Orte fern von Straßen für mittlere bis kleine Bühnen perfekt sind.

Obwohl das Wetter fürs Offen-fahren mit meinem Motorrad wie geschaffen ist, bin ich dazu über gegangen meinen Weg von der Arbeit nach Hause teilweise zu Fuß zurück zu legen. Liebend gerne bleibe ich bei einer Bühne in Zentrumsnähe stehen. Erst neulich hat eine junge Gruppe aus Frankreich eine außerordentliche Performance geliefert. Ich weiß gar nicht, wer mir am besten gefallen hat: die Sängerin mit ihrer kräftigen Stimme, der Gitarrist, dem man die Musik förmlich ansehe konnte, der Schlagzeuger, der selbst die kompliziertesten Kombinationen in Schleife unfallfrei zustande gebracht hat oder doch die Bläser-Sektion, bestehend aus Trompete und Posaune. Ich glaube Letzteres. Mein Herz hängt, wie Du sicher nach den tausend mal, die ich es erwähnt habe, weißt, an diesen beiden Blechblasinstrumenten.

Egal. Ich habe gleich vor Ort eine CD gekauft und in der Pause sogar Autogramme der Band eingeheimst. Ich liebe signierte Werke, auch wenn man den Musiker, die Band oder den Autor nicht oder nur kaum kennt. Allein schon, dass viele eine Widmung dazu schreiben und eben nicht jede CD oder jedes Buch signiert ist, macht es wertvoll.

Wie egoistisch ich doch bin. Ich schwadroniere hier seitenlang über mein Leben und habe noch gar nicht nach Deinem Befinden gefragt. Ich hoffe, Du genießt Deine Anstellung immer noch? Wie sieht es mit Freunden aus? Du warst doch immer der Geselligere von uns beiden. Ich kann mir Dich sehr gut vorstellen, jedes Wochenende auf irgend einer Party, eingeladen bei Kollegen, deren Freunden und deren Freunden, bis Dein Telefonbuch und Dein Kalender aus allen Nähten platzen.

Lieber Thomas,

meinem Leben fehlt nach wie vor jegliches Auf und Ab, das dem Herzschlag gleicht und mich mich spüren lässt. Ich habe den Versuch gestartet und mich öfter meinen Kollegen angeschlossen, um mit ihnen nach der Arbeit beziehungsweise an den Wochenenden fortzugehen. Nicht zu weit fort. Und nicht zu spät. Wenn ich müde werde habe ich mein Bett lieber in Reichweite und möchte mir keine Gedanken machen müssen, wie früh ich aufbrechen muss, um endlich reinfallen zu können.

Meine Kollegen lassen mir diese Macke, wobei ich bemerke, dass sie sich zwar freuen, dass ich ab und zu mitkomme, ich aber auch der erste bin, der sich aus dieser Gesellschaft wieder verabschiedet, was natürlich unweigerlich dazu führt, dass ich im Büro sowohl im Gespräch als auch im Gerede bin.

Nach dreißig Jahren kann ich mit beidem leben. Wobei mir dieses Im-Mittelpunkt-Stehen größtes Unbehagen bereitet. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum ich mich firmenintern nicht mehr für höhere Stellen, die nachbesetzt werden wollen, bewerbe und auch von meinen Vorgesetzten mittlerweile nicht mehr darauf angesprochen werde. Mit meiner Arbeit sind sie zufrieden. Wir haben uns quasi still und heimlich auf »never change a running system« geeinigt.

Wie erwartet oder besser: befürchtet sind Arbeit, Erfahrungen mit dieser und Nörgeleien über diese die Hauptthemen der geselligen Abende. Das eine oder andere Glas Wein, Rosé oder Grappa tut sein Übriges. Zum Glück, denke ich mir oft, dass ich, jetzt, wo der Frühling sich langsam blicken lässt, mit meinem Motorrad unterwegs bin und ich diese Art von Getränken schon rein geschmacklich nicht ausstehen kann. Als Einziger bei Tisch Orangensaft serviert zu bekommen, ist … da fehlen sogar mir die Worte. Ich würde es am ehesten mit merkwürdig beschreiben. Wobei das für den Kellner der Stamm-Pizzeria auf jeden Fall wörtlich zu nehmen ist, denn dieser bringt mir bereits ungefragt ein großes Glas Orangensaft.

Dass diesen Runden selten ein Vorgesetzter aus dem mittleren bis höheren Management beiwohnt (diese finden sich zu einer Art Gegenversammlung in der doppelt so teuren Szene-Bar ums Eck zusammen), lässt uns, und hier zähle ich mich zum Kollegium, Fragen zu Abläufen, Infrastruktur, Arbeitsaufteilungen und vor allem Kompetenzen so mancher Mitarbeiter stellen. Fragen, die unbeantwortet bleiben und wir uns somit, weil wir eben keine klare Antwort bekommen, mit Klischees und Gerüchten selbst die Antworten suchen. So manche firmeninterne Klatschbörse stellt die Zeitschriften Brigitte, Neue Post und auch die Bild »Zeitung« zusammen in den Schatten. Unfassbar, wie rasch aus einer eigentlich seriösen und gebildeten Gruppe eine Runde an Tratschtanten wird. Da wird getuschelt, dass man glauben könnte, RTL 2 hat irgendwo seine Kameras und Mikrofone aufgestellt.

Und wie erwartet ändern auch die Abende in Lokalen und Bars nichts an meinem Single-Dasein. Ich werde zwar oft von Frauen angesprochen, aber meist mit den Worten »Was möchten Sie zu trinken?«. Höflich, nett, bestimmt, manche sogar mit schöner Stimme, ja, aber nichts woraus sich eine Konversation ergibt. Zumindest nicht für mich. Du, als Meister des Small Talk, da bin ich mir sicher, kommst auch mit Kellnerinnen schnell ins Gespräch. Wie steht es bei Dir mit Beziehung? Du hast bereits eine Freundin, möchte ich wetten. Immerhin bist Du vor fast einem Jahr ausgewandert.

Meine Leseabende leiden hingegen. Bislang hatte ich einen guten Durchschnitt von zwei Büchern pro Monat. Das fiel auf drei Bücher in zwei Monaten. Das ist zwar für den Moment in Ordnung, aber ich weiß nicht, ob mich diese Trinkabende auf Dauer befriedigen. Ich tendiere im Moment zu Nein und meinen Büchern.

Von einem lustigen Erlebnis wollte ich Dir noch berichten. Obwohl ich, wie gesagt, momentan etwas weniger lese, geht mein Vorrat an ungelesenen Büchern dennoch zur Neige und ich machte mich auf für Nachschub zu sorgen. Ich weiß, ich könnte auch in die städtische Bücherei und mir ein paar Romane ausleihen, aber mit gefällt der Gedanke, dass Autoren von ihrer Arbeit leben können beziehungsweise ich diese honoriere, indem ich die Bücher kaufe. Und zum anderen mag ich meine Sammlung daheim im Regal. Der Gedanke (fast) alle gelesen zu haben und dass sie nicht nur als Staubfänger dienen, … ja, ich bin ein klein wenig stolz darauf.

Wie auch immer. Ich hatte mir also eine Liste an Büchern zusammen gestellt, die ich unbedingt lesen möchte. Nichts aus der Belletristik-Top-Ten, sondern Geheimtipps, neue und unbekannte Autoren, Erstlingswerke, wenn man so will, die aber einen gewissen Umfang aufweisen, eine stimmige und interessante Geschichte und auch in Kritiken nicht komplett verrissen wurden. Wobei man mit Kritiken ohnehin vorsichtig sein sollte. Ein Thema jeder Buchmesse ist der im Trend liegende Snobismus, der all die intellektuellen, geschwurbelt sprechenden Künstler mit runder Hornbrille zu wandelnden Exponaten werden lässt. Ja, es gibt einen Unterschied zwischen einem Roberto Bolaño und Rosamunde Pilcher, zwischen Rafik Schami und … Du wirst lachen: mir fallen keine Namen mehr ein. Kurz: Autoren, die diese Liebesschnulzen verfasst haben, die man an jedem Kiosk kaufen kann. Der Unterschied zwischen einer seichten Handlung, simpel geschrieben, und verflochtenen Handlungssträngen dutzender Charaktere, eloquent ausgeführt. Im Endeffekt bleibt Geschmack immer noch etwas persönliches und meiner Meinung nach ist es besser, wenn jemand Allerweltsliteratur liest, als dass er nicht über das Fernsehprogramm hinaus kommt.

Ich schweife ab.

Ich habe also diese Liste zusammengestellt und bin damit in die nahe meiner Wohnung neu eröffnete Buchhandlung spaziert. Diese Buchhandlung, ich muss leider wieder ausholen, ist mir eigentlich nur aufgefallen, weil sie zwar nicht am täglichen Weg in die Arbeit liegt, sondern in der Gegenrichtung, aber aus dieser kam ich vor geraumer Zeit von einer Motorradtour zurück. Der zweite Grund, weswegen mir diese Buchhandlung im Gedächtnis blieb, ist die Ausrichtung auf Deutsche und Englische Literatur. Kann man sich das vorstellen? Ich wohne nicht in der Innenstadt oder in einem als intellektuell verschrienen Viertel der Stadt und dennoch kann ich fast ums Eck aus dem Regal heraus englische Literatur kaufen. Im Original!

Gleich bei Betreten überkam mich ein Gefühl der Geborgenheit. »Ja, da lässt es sich aushalten«, dachte ich mir.

Die Buchhandlung, musst Du wissen, macht nämlich nicht auf nüchterne Moderne, sondern ist mit einem Mix aus alten aus dunklen Hölzern gezimmerten Regalen möbliert, die sich entlang der Wände unregelmäßig aneinander reihen, weil keine zwei Regale gleich sind, und in denen sich die Bücher gegenseitig den Platz wegnehmen und teilweise schon quer oben auf liegen. Dazwischen stehen Tische, die unter einem Berg weiterer Bücher begraben sind. Und für den Fall, dass Kunden schmökern möchten oder in einem Buch ein paar Seiten lesen wollen, sind im ganzen Geschäft wunderschöne, leicht ramponierte, aber immer noch stabile Holzsessel verteilt, damit man sich nicht die Beine in den Bauch stehen muss.

Die Kasse ist, und das kommt aus dem angloamerikanischen Raum, nicht bei der Eingangstüre, sondern am anderen Ende. Warum genau man das so macht, habe ich nicht gefragt. Vermutlich um den Diebstahl auf dem Weg aus dem Geschäft hinaus zu forcieren? Kostenlose Bücher wären zumindest ein Versuch, die Leute zum Lesen zu bewegen. Wie gesagt: Ich habe nicht gefragt.

Die Kassiererin, eigentlich Buchhändlerin, tippte die vielen Buchnummern in den Computer, denn nur die langen Titel oder Autorennamen wollte ich niemandem antun, weswegen ich die für den Handel wichtigen ISBN auch notiert habe, und wandte sich am Ende wieder mir zu.

»Die Bücher muss ich, bis auf zwei, bestellen. Sie sollten aber im Laufe der nächsten Woche ankommen. Sollen wir Sie anrufen, wenn alle Titel angekommen sind?«

»Ja, bitte«, sagte ich und gab ihr meinen Namen und meine Telefonnummer.

»Da haben Sie sich ganz schön etwas vorgenommen«, sagte sie bezugnehmend auf die lange Liste.

Und: »Da sind Sie sicher den ganzen Sommer lang beschäftigt.«

»Nein, das reicht gerade bis zu meinem Urlaub.« Hier war ich fast ehrlich. Ein oder zwei Bücher würde ich bis dahin nicht schaffen, soviel war mir klar. Aber wenn man über ein Dutzend Wälzer bestellt, sind das Kleinigkeiten im Vergleich.

»Sie lesen wirklich so viel?«, fragte sie. Ich nahm es ihr nicht übel. Der Trend geht gerade einmal zum Zweitbuch pro Haushalt.

»Ja«, antwortete ich und besann mich meines Durchschnitts. »In etwa zwei Bücher pro Monat.«

»Und was macht die bessere Hälfte in der Zwischenzeit?« Ich war perplex. Wurde ich gerade nach einer Freundin gefragt? Von einer Frau?

»Es gibt keine bessere Hälfte«, stammelte ich, bevor die Stille unheimlich wurde. »Nur Bücher. Davon aber viele.«

Ich glaube, dass sie überrascht war, dass ich überrascht war. Ich glaube auch, dass ihr nicht bewusst war, was mich überraschte. Und dabei weiß ich noch nicht einmal, wie sie diese Frage gemeint hat. Small Talk mit einem Kunden? Oder doch mit einem Hintergedanken? Du, mein Freund, kennst mich. Ich kann Menschen und ihr Verhalten schlecht deuten. Es ist vermutlich nur ein Wunsch meinerseits, dass sie diese Frage mit einem Hintergedanken gestellt hat. Ein Wunsch, der sich aufdrängt, erfahrungsgemäß aber bei einem zweiten Anlauf oder einer zweiten Begegnung von nüchterner Ratio wieder zerschmettert wird.

Lieber Thomas,

dieser Brief erreicht Dich nicht nur früher, als ursprünglich geplant, es klebt auch eine schottische Briefmarke drauf.

Ich habe mir Urlaub genommen und eine Reise nach Großbritannien angetreten. Die Idee war endlich mal den Alltagstrott zu verlassen. Die Arbeit, die Heimat, die Stadt. Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt, mehr Städtereisen in mein Leben zu integrieren. Ich weiß nicht, ob ich es mir so vorgestellt habe, oder ob ich nicht bei diesem Urlaub etwas über die Stränge schlage. Aber urteile selbst:

Wie erwähnt bin ich, nein WAR ich in England. Genauer gesagt in London. Es ist eine wunderschöne Stadt. Ein Mix aus alten Vororten, die langsam zu verslumen scheinen. Das aber auf eine attraktive Art und Weise. Sie, die Vororte, sind schmutzig, die Gebäude brüchig, die Geschäfte auf dem Stand der 1980er, die Sprache erinnert im entfernten an englisch. Und das auch nur manchmal. Es ist eine Melange aus Sprachen aus aller Welt, in jedem Satz vermengt. Manchmal sogar in einzelnen Wörtern.

Die City ist typisch London, wie man es aus Prospekten kennt. Reichtum und Dekadenz herrschen vor. Die Parks sind sauber, die Straßen nicht mehr ganz so. Die Armut scheint aus dem Stadtbild verdrängt. Die Häuser sind etwas gepflegter, viele nichts desto trotz sanierungs-bedürftig. Die Gehsteige gleichen einem Fleckerlteppich, die Knöpfe bei den Fußgängerampeln sind Makulatur. Die Menschen gehen so oder so. Ab und zu schalten die Ampeln sogar auf grün.

Habe ich mir sagen lassen.

Mein Quartier lag am Stadtrand, im Vorort Acton, unweit einer Station der berühmten Underground. »Mind the gap« tausend Mal am Tag. Zum Glück ist das ein Tonband.

Aber es soll hier nicht um London gehen. Viel mehr um die Reise durch die Countries, an Cambridge vorbei, nach Skegness an die Küste, durch kleine Ortschaften, die sich bis heute den typisch britischen Baustil erhalten haben, Häuser aus Backsteinen errichtet, mit einem Obergeschoss, das außen verputzt und mit Holzbalken verkleidet beziehungsweise verziert ist, und oben drauf noch diese süßen, bei den Dachfenstern leicht geschwungenen Dächer, bedeckt mit Schindeln, deren dunkles Braun wie gepresstes und angekokeltes Stroh aussieht.

Die Landstraßen sind nicht ganz so romantisch. Immer wieder leicht geschwungen, ja, mit Feldern und Landwirtschaften rechts und links, keine Frage, aber den Charme, den man sich erhofft, wenn man britische Filme aus den 1950ern oder Filme, die in den 1950ern spielen, sieht, findet man heute nicht mehr. Zu viele Autos, vor allem zu viele moderne Autos, die viel zu technisch gezeichnet sind, prägen das Bild. Überhaupt finde ich, dass die Gegenwart viel zu sehr in die Moderne strebt. Kein Produkt mehr, das länger als zwei Jahre ansehnlich ist. Wegwerfgesellschaft eben. Das waren noch Zeiten, als ein Vehikel ein Kunstwerk in sich darstellte. Keineswegs sicher, tödlich für alle Beteiligten, aber vom Zeichenbrett weg museumsreif.

In England geht es rund. Und das ist wörtlich zu verstehen. Nicht nur, dass sich die Insel als Fußballnation versteht, die Briten lieben Kreis-verkehre. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig rechts herum zu fahren. Aber die »roundabouts«, wie Kreisverkehre hier heißen, sind bis aufs Äußerste optimiert. Man fährt zwei- oder gar dreispurig ein, ignoriert die unterbrochenen Mittellinien und fährt, bei entsprechender Motivation sogar den Blinker setzend, bei der gewünschten Ausfahrt wieder raus.

Die Sache mit dem englischen Rasen bezieht sich übrigens kaum auf die gefahrenen Geschwindigkeiten. Freilich gibt es auch hier die Jungen, Coolen, Wichtigen, deren Ego sie jegliches Tempolimit als Mindestgeschwindigkeit verstehen lässt, aber im Großen und Ganzen fährt es sich auf den Autobahnen und Landstraßen sehr zivilisiert.

Edinburgh, Schottland, ist als Destination jede Anstrengung wert. Selbst der höllische Verkehr auf dem Weg zu Unterkunft – irgendein Spaßvogel hat zig Baustellen errichtet und Einbahnen umgedreht, sodass nicht mal mein Navigationsgerät mehr weiter wusste –, war letzten Endes nicht der Rede wert.

Ein kleiner Abstecher zur Sprache muss sein. Während das amerikanische Englisch, das ja kein ‚amerikanisches‘ Englisch ist, weil es, wie überall, also auch dort, regional betrachtet eminente Unterschiede gibt, tendenziell knautschig wirkt, als ob die Menschen keine Luft hätten zu reden, macht das englische Englisch einen sehr melodischen Eindruck. Es wirkt von Haus aus eloquenter, facettenreicher und dass der gelernte Engländer (vor allem Londoner, in Richtung Landleben ebbt diese Marotte etwas ab) Wortenden und Satzenden nach oben zieht und seine Stimme hell wird, verleiht der Sprache einen unverwechselbaren Charakter. Schottisch, hingegen, wirkt wie das Pendant zu Vorarlbergerisch. Lautverschiebungen, andere Betonungen und irgendwie meint man noch das Keltische rauszuhören. Schottisch karikiert quasi das Englische. Aber, wenn man sich erst daran gewöhnt hat, auf eine sehr liebenswerte Art und Weise.

Und: die Schotten wissen um die Eigenheiten ihrer Sprache, aber Geduld liegt ihnen im Blut. Zumindest Touristen gegenüber, die schon mit dem »normalen« Englisch ihre liebe Not haben.

Edinburgh ist klassischer als klassisch. Back-steine und richtig schwere Steine wechseln sich als Baumaterialien ab. Quer durch die Geschichte und damit auch architektonisch. Die paar Hauptstraßen sind breit und vielleicht sogar für den Verkehr verbreitert worden, aber wirklich charmant sind die vielen kleinen Gasserln, die sich mit unzähligen Treppen und Stufen um den großen Hügel – oder kleinen Berg, je nach Herkunft und Gewohnheit – winden.

Edinburgh versinkt förmlich in Souvenirshops. Alles ist in Karo gehalten. Abseits vom Mainstream, in diesen kleinen Gassen, wo das normale Leben seinen gewohnten Gang geht, lässt es sich aushalten. Du weißt, dass ich Massentourismus verabscheue. Dass ich dann ausgerechnet in einer Stadt lande, die sich den Besuchern aus aller Welt verschrieben hat, ist nur meinem Glück zuzuschreiben. (Und warum sind so viele Deutsche hier?!)

Ich betrachte eine fremde Stadt mit anderen Augen. Ich laufe nicht mit Reiseführer – egal ob aus Papier oder Fleisch und Blut – durch die Straßen, falle in Museen ein, knipse dieses ab, berühre jenes. Ich beziehe ein Quartier, mische mich unters Volk, trinke Kaffee wie alle anderen, esse, was der Schotte so isst und überquere mittlerweile auch die Straßen wie die Einheimischen.

Woran ich nicht vorbeigehen kann, und das wird sich vermutlich auch dann nicht ändern, wenn ich ein Land besuche, in dem die kyrillische Schrift Usus ist, ist eine Buchhandlung. Selbstverständlich bin ich in eine hinein gestürmt. Bücher, überall Bücher. So viele Bücher. Fast wollte ich einziehen.

Nachdem meine Sprachkenntnisse für Allerweltsliteratur reichen, bin ich mit zwei Büchern wieder raus spaziert. Den Small Talk mit der Verkäuferin werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Sie hat sich so sehr bemüht. Ich habe mich so sehr bemüht. Und am Ende haben wir uns wirklich auf Englisch unterhalten.

Zu einem Touristen-Event habe ich mich letzten Endes doch durchgerungen: einer »Geister Tour«. Gut, es ging weniger um lebende Tote, viel mehr um die wirklich toten, um die Arten, wie man Menschen vor wenigen hundert Jahren in diesen Zustand versetzte (falls mal die Frage aufkommt: lass Dich erhängen, nicht mit einem Schwert oder einer Machete enthaupten), die schiere Anzahl derer, deren Leben man künstlich verkürzte (der kleine Friedhof beherbergt, so schätzt man, rund zweihunderttausend Menschen), und darum, dass das Ableben lassen eine Art allabendliches Ritual, um nicht zu sagen: ein Hobby, war, lange bevor es Fernseher gab.

Heutzutage hat man sich zivilisiertere Freizeitbeschäftigungen angewöhnt. Baumstämme werfen zum Beispiel. Das ist Teil der Highland Games, einer martialisch anmutenden Veranstaltung rund um schottische Sportarten.

Apropos Highlands: An denen sollte man nicht vorbei fahren. Es muss ja nicht Loch Ness sein, dessen Monster Weltruhm erlangte und das man mittlerweile als Souvenir kaufen kann. (Ein Souvenir von etwas, das es gar nicht gibt. Sachen gibt’s!)

Aber in den Highlands gibt es wunderschöne Ruinen alter Burgen, inmitten atemberaubender Landschaften, direkt an den Steilküsten und ringsum saftiges Gras. Man erwartet William Wallace, der einen zu einem Umtrunk einlädt.

Ein Glück, dass die Parkplätze nicht immer gleich neben den Steinhaufen liegen. Nicht jeden freut der kurze Marsch, aber die Kulisse wird durch nichts gestört. Vor allem Fotowütige dürften darüber heilfroh sein.

Du willst bestimmt wissen, wie das Wetter war. England ist ja für Regen bekannt und Schottland für den Nebel.

Hier muss ich Dich enttäuschen. Ja, ein paar Wolken bedeckten ab und an den Himmel, aber kein Regentropfen hat mir die gute Laune verhagelt.

Damit beende ich vorerst meinen Bericht. Der Urlaub ist aber erst zur Hälfte beendet. Weitere tausend Meilen stehen mir noch bevor. Meilen, die mich vom liebenswerten Schottland über Wales zurück nach London führen.

In Wales, übrigens, sollte man als ernsthafter Cineast Ffynnon Garw besuchen. Schon rein aus nostalgischen Gründen. Dieser Ort ist Schauplatz der Komödie »Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam«, die im Jahr 1917 spielt. Ein liebenswerter Film mit Hugh Grant, Tara Fitzgerald und einem herrlichen Colm Meany, als Einheimischen mit unverständlichem Akzent.

Den Rest der Reise schildere ich Dir ein andermal, wenn ich sie hinter mich gebracht habe. Und dann wieder von daheim aus.

Ich habe so viele Eindrücke und dabei liegt erst die halbe Reise hinter mir. Ich weiß gar nicht, ob die sich alle setzen können, bevor ich die Reise wieder vergessen habe.

Und ja: Fotos gibt es zu Tausenden.

Lieber Tom,

meine Reise habe ich erfolgreich beendet und bin gesund und munter nach rund anderthalb Wochen heim gekehrt. Mein Englisch hat sich in dieser Zeit sogar ein wenig verbessert. Zumindest ein paar neue Wörter habe ich aufgeschnappt. Meine Grammatik ist … na ja, reden wir nicht darüber.

Bei all dem Rummel, der mich in letzter Zeit mitreißt, habe ich ganz vergessen, dass ich Dir von meinem Bücherkauf erzählt habe. Genauer gesagt: vom ersten Teil. Denn als die Bücher alle in der Buchhandlung ankamen und mich die Buchhändlerin anrief, dass ich sie abholen kann, sputete ich mich, von der Arbeit früher weg zu kommen. Ich wollte noch am gleichen Tag vor Ladenschluss hin.

Ich wusste nicht, was mich erwartet. Und wer mich erwartet. Also lief ich den ganzen Tag lang mit einem gemischten Gefühl im Bauch herum. Es schwankte zwischen der Angst, dass ich die Frage, ob ich denn in festen Händen sei, missverstanden habe, weil ich mich von den Worten einer, wie ich zugeben muss, attraktiven und vermeintlich belesenen Frau geschmeichelt fühlte, und der Euphorie, dass die Frage einen triftigen Grund hatte, nämlich den herauszufinden, ob ich noch zu haben sei. Ich bin kein Aufreißer-Typ, der der Meinung ist, dass ihm Gott und die Welt zu Füßen liegen, egal wie er sich verhält oder redet oder kleidet. Wobei die meisten, die diesem Irrtum, dieser Selbsttäuschung unterliegen, ab einem gewissen Niveau der Mitmenschen ohnehin eher belächelt werden. Es ist ja so, dass, je klüger, je gebildeter ein Mensch ist, desto mehr zweifelt er an sich, weil er, das vermute ich, in der Lage ist, zu hinterfragen.

Übrigens: Falls Dir meine Handschrift auf die Dauer zu mühsam wird, lass es mich wissen. Ich weiß, dass ich das perfekte Gegenstück zu einem Kalligrafen bin. Um nicht zu sagen: Ich habe eine Sauklaue. Nachdem Du Dich bislang nicht über meine Briefe beziehungsweise deren Lesbarkeit beschwert hast, gehe ich davon aus, dass dieses Format für Dich in Ordnung ist. Ich schätze es, weil ich zwar langsam wieder in Übung komme, dennoch langsamer schreibe als denke; Es gäbe mir zu denken, schriebe ich schneller als ich dächte, aber so gibt es mir die Zeit, das, was ich schreibe oder schreiben will, zu überdenken und auch neu zu formulieren.

Ich schweife ab. Und das ist gut so, denn ich möchte Dir meine Gedanken mitteilen, so wie wir es in alten Zeiten getan haben. Ohne Zensur, ohne etwas auszulassen, nur dem Alter entsprechend schöner formuliert. Zumindest gebe ich mir Mühe.

Wie auch immer. Ich ging also in die Buch-handlung, hielt meinen Namen und viel Bargeld bereit und machte mich auf das Schlimmste wie Beste gleichzeitig gefasst. Ich hasse es, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll. Sollte ich nachfragen, falls nichts von ihr kommt? Sollte ich, für den Fall, dass sie gerade nicht da ist, nach ihr fragen? Am Ende hat es keine Rolle gespielt, denn während ich noch grübelnd und ein Dutzend Varianten eines möglichen Dialogs im Kopf formulierte, bin ich auch schon durch die offene Eingangstüre spaziert und stand beim Kassapult. Vor ihr.

Ich weiß, was Du jetzt denkst. Die Antwort lautet ja, sie konnte sich an mich erinnern. Zunächst einmal zog sie ein großes Paket aus einem Regal (ich gebe zu, es standen viele Bücher auf der Liste) ohne vorher nach meinem Namen zu fragen, was impliziert, dass sie zumindest diesen Teil noch im Kopf behalten hatte.

Gerade als ich die Geldscheine aus der Brieftasche zog, sprach sie mich noch einmal auf meine viele Freizeit an.

»Was machst du sonst noch, wenn du nicht gerade liest?«, Ich war erstaunt. Eine de facto Fremde, die nach meinen Interessen fragt.

Hier muss ich wieder etwas ausholen, weil ich erst letzte Woche eine neue Herausforderung für mich entdeckt habe: Bücher binden. »Wie kommt man auf so einen Quatsch?« wirst Du Dich fragen. Die kurze Erklärung ist: Gute Frage, ich hatte Papier daheim. Die Lange: Mir war langweilig und ich hatte viel Papier daheim. Im Grunde kam die Idee rein zufällig, als ich abends relativ planlos von einer Website zur nächsten gesprungen und praktisch jedem Link nachgegangen bin. Irgendwann stieß ich auf ein Video, in dem jemand erklärt, wie man mit Papier, Nadel und Faden so etwas wie ein Buch bindet. Und ehe ich mich versah, hantierte ich mit ebendiesen Gerätschaften herum. Aber es machte Spaß und so begann ich an den Details zu feilen. Mittlerweile habe ich das fünfte Exemplar gebastelt und zum Erstaunen aller Beteiligter (meinem Erstaunen) hält es sogar. Ich nutze eines als Notizbuch in der Arbeit, wobei ich dort nicht viel zu notieren habe.

Ich habe also die Frage entsprechend beantwortet, allgemein von Konzertbesuchen, Ausstellungen und Kinogängen gesprochen und auch kurz meinen Faible für ausgefallene Bücherregale angeschnitten, die leider, so wie man sie im Internet findet, in meiner Wohnung keinen Platz finden. Hier wird eine Frau, die ihr Leben den Büchern gewidmet hat, hellhörig. Zugegeben, ihr Leben gilt dem Inhalt und nicht der Lagerung. Aber vielleicht schaffe ich es einmal ein Buch zu schreiben …

Hinter mir leerte sich langsam das Geschäft. Die letzten Kunden zahlten und gingen. Ich hingegen stand wie angewurzelt herum und gab mir Mühe ein Gespräch aufrecht zu halten, das von vorn herein zeitlich begrenzt war, denn auch ich musste irgendwann das Geschäft verlassen. Sperrstunde ist Sperrstunde. Daran führte kein Weg vorbei.

Ums kurz zu machen: die Chefin entließ »meine« Buchhändlerin in den Feierabend.

Du kannst Dir meine Überraschung gar nicht vorstellen, als ich fragte, ob ich sie noch auf einen Kaffee oder sonst etwas zu trinken einladen darf. Wäre meine Kinnlade nicht angewachsen, sie läge heute noch auf dem Boden, denn ich erhielt ein Ja als Antwort.

Das war übrigens das erste Mal, dass ich meine Buchhändlerin ganz gesehen habe. Bis lang verdeckte der hohe Tresen im Kassenbereich die unteren rund zwei Drittel von ihr.

Vielleicht sollte ich sie Dir einfach mal beschreiben. Sie heißt Wiebke. Ich finde den Namen witzig. Schön. Schön selten. Und er geht leicht von der Zunge. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich, trägt gerne Sneakers, egal ob zu Jeans oder Röcken und ist im Großen und Ganzen sehr leger unterwegs. Ach ja: Sie hat lange, braune, leicht rötliche Haare und trägt keine Brille. Dafür ein paar Sommersprossen um die Nase. Eventuell komme ich mal dazu sie zu zählen.

Wir sind also gemeinsam in Richtung Café spaziert, haben uns aber nicht hingesetzt, nicht mal in den Gastgarten im Innenhof des Gebäudes, wo auch ein richtiger Garten existiert, sondern den Kaffee to go genommen und uns dann auf den Umweg über den Fluss, das heißt: das Flussufer entlang, zu einem der Konzerte begeben, von denen ich Dir früher schon berichtet habe.

Im Laufe der Stunde, beinahe anderthalb, kamen wir auf die verschiedensten Themen zu sprechen. Wir kennen zwar nicht die gleichen Autoren, also: sie kennt die, die ich gelesen habe schon, darüber hinaus aber noch um einige mehr, was nicht verwundert, ist sie täglich von ihnen umgeben. Wir lieben die gleichen Genres und auch ihr ist es bei Filmen wichtig, dass eine Geschichte erzählt wird. Kurz: Handlung und nicht nur das blockbusterische Tschin-Bum-Krach, das uns die großen Budget-Krieger unter den vermeintlichen Cineasten entgegen werfen.

Sie hat obendrein ein Faible für Musik, was gut ist, denn damit flute ich praktisch jede freie Minute meine Wohnung, wenn ich daheim bin. Hier sind wir zwar nicht ganz einer Meinung, halten aber den Geschmack des anderen aus. Mehr noch: Ich kann ihren Geschmack nachvollziehen und sie versteht, im Gegensatz zu vielen anderen, die eine Musikrichtung schon aus Klischeegründen ablehnen, mein Interesse an gewissen Künstlern und Musikern. »Sänger« schreibe ich lieber nicht, denn manche Musiker können nicht singen, was für deren Musikrichtung aber keine Rolle spielt.

In einem Punkt sind wir aber sehr verschieden. Sie ist wie ich ein eher ruhiger Typ, aber im Gegensatz zu mir geht sie gerne aus und ist oft unterwegs und auf Reisen. Das bringe ich, wie Du sicher weißt, auf Dauer nicht zustande.

Als an diesem Abend langsam die Nacht hereinbrach erreichten wir die Location, an der in Kürze eine französische Band mit Mitgliedern afrikanischer Abstammung an der Reihe war. Ich habe bis dato noch nie französischen Rap zu basslastigen afrikanischen Klängen gehört. Klingt wie Eistee mit Kaffeegeschmack. Im Gegensatz zu diesem war die Musik aber nicht nur stimmig, sondern wirklich gut. Vor allem live kommen viele Bands er so richtig zur Geltung. Da macht es nichts, dass die Türme aus Lautsprechern etwas unterdimensioniert waren, denn die Stimmung passte.

Wir hörten ein paar Songs lang zu und beschlossen dann aber doch, diesen Abend auslaufen zu lassen. Mit einem unverbindlichen »Bis demnächst« und »Bis zum nächsten Mal« verabschiedeten wir uns und gingen unserer Wege.

Selbstredend bin ich zwei Tage später wieder zur Buchhandlung gegangen. Ich habe mir absichtlich zwei Tage Zeit gelassen. Zum einen mochte ich weder aufdringlich noch verzweifelt wirken und zum anderen brauchte ich ein Weilchen um mir eine Aktivität, also eine Art Rahmenprogramm zusammen zu stellen beziehungsweise zu überlegen. Quasi einen Vorwand. Nein, »Vorwand« trifft es nicht. Einen Anlass. Ja, Anlass ist das richtige Wort.

Dieser Anlass war die Eröffnung einer Fotoausstellung, einer Wanderausstellung, die für etwa einen Monat in der Stadt gastiert. Ich nahm an oder ging davon aus respektive hoffte, dass jemand, der sich für Filme interessiert, nicht nur die erzählten Geschichten zu schätzen weiß, sondern auch die Arbeit des Kameramanns, also zunächst einmal die Bildgestaltung, die beim Film und bei der Fotografie gleichermaßen bedeutsam sind, wenn auch mit unterschiedlichen Ausprägungen, da Bewegtbild auch auf die Übergänge von einer Einstellung zur nächsten achten muss und durch irrationale Bildunterbrechungen, wie zum Beispiel Menschen, die ins Bild laufen, Spannung erzeugt.

Wie dem auch sei. Ich wartete kurz vor Ladenschluss vor der Buchhandlung, machte mich auch bemerkbar, damit man mich nicht für einen Verrückten hält, und unterbreitete meinen Vorschlag nach einer etwas hastig ausgefallenen Begrüßung.

Auch an diesem Tag sagte sie Ja und so fuhren wir zusammen mit dem Bus zur Galerie. Die Fahrt nutzen wir um uns über die Ausstellung selbst zu unterhalten. Stil und Inhalt der Bilder, und deren Bedeutung und Aussagekraft. Ich habe es fast nicht anders erwartet, aber sie hatte auch von Fotografie eine Ahnung und so blätterten wir in dem knapp gehaltenen Prospekt zur Ausstellung und philosophierten über die Bedeutung der Bilder und wieso diese und jene Szene auf diese und jene Art festgehalten wurden. Dazu muss ich sagen: Die Fotos der Ausstellung waren – und sind – Reportagen aus aller Welt und die Bedeutung der Bilder liegt darin die Zustände in Krisengebieten zu dokumentieren oder fremde Kulturen oder besondere Veranstaltungen festzuhalten.

Ich muss gestehen, dass ich geschmunzelt habe, als Wiebke den von einer Kellnerin angebotenen Sekt bei der Ausstellung – wir waren, wie gesagt, am Eröffnungsabend dort – abgelehnt hat. Und zwar mit der Begründung, dass ihr Sekt nicht schmecke und sie sich ohnehin nichts aus alkoholischen Getränken mache. Welch angenehme Abwechslung zu den rituellen Besäufnissen, zu denen sich meine Kollegen trafen und vermutlich auch jetzt treffen.

Wenn es um Fotografie geht werde ich immer euphorisch. Ich renne zwei-, drei-, ja sogar viermal durch die ganze Galerie. Beim ersten Mal verschaffe ich mir einen Überblick, beim zweiten Mal sortiere ich Favoriten und beim dritten Mal verweile ich mitunter minutenlang vor einem Bild. Klar, es muss mich fesseln, es braucht Ausdruck, braucht eine Aussage. Aber dann bleibe ich förmlich kleben.

Wiebke, hingegen, dreht eine gemütliche Runde und betrachtet eventuell das eine oder andere Bild ein weiteres Mal. Das hat dazu geführt, dass wir uns drei Mal über den Weg gelaufen sind und uns am Ende unsere Favoriten gezeigt haben. Nicht, dass Du denkst die anderen Bilder wären schlecht gewesen, im Gegenteil. Aber innerhalb der Nuancen dieses hohen künstlerischen Niveaus ergeben sich dann doch Vorlieben für Stile und Elemente, denen man mehr Beachtung schenkt und die einen mehr in den Bann ziehen als andere.

Im Endeffekt lief es darauf hinaus, dass wir uns für nächste Woche wieder verabredet haben.

Das macht drei Treffen in zwei Wochen. Daheim wartet geduldig ein Stapel Bücher, der nur langsam schrumpft.

Mein lieber Freund,

zurzeit bestimmt Wiebke mein Leben. Es ist lustig. Wir haben uns bislang drei Mal getroffen. Und obwohl wir Sympathien füreinander entwickeln, bildet sich gerade einmal eine Art Freundschaft. Wobei das gegenseitige Verständnis und die gemeinsamen Interessen schon helfen. Sei es bei der Themenfindung für Gespräche als auch für Aktivitäten.

Stichwort: Aktivitäten. Unser drittes Treffen, das ich im letzten Schreiben noch kurz angedeutet habe, verlief prächtig. Diesmal ging es ins Kino, wo gerade der neue Film vom Jim Jarmusch anlief.

Ich habe die Karten schon im Vorfeld besorgt und so verabredeten wir uns etwa eine halbe Stunde vor Filmbeginn vor dem Kino. Dass ich wie immer vor dem vereinbarten Zeitpunkt erschien, brauche ich, glaube ich, nicht extra erwähnen. Sie, aber, erschien ebenso überpünktlich. Die Begrüßungen werden mittlerweile herzlicher. Meine anfängliche Scheu und Panik vor Gesprächen lässt ebenfalls langsam nach. Und so besorgten wir uns noch etwas zu trinken und das obligatorische Popcorn und setzten uns in ein ruhiges Eck.

Mir wurde dieser Film empfohlen. Ich kannte den Regisseur nicht. Aber ich habe über den Film gelesen und mir die Vorschau angesehen und ging mit Vorfreude in diesen Abend. Wiebke hingegen kennt Jim Jarmusch. In dieser Hinsicht ist sie mir überlegen. Ich habe, obwohl ich älter bin als sie, die ersten Jahre meiner Zwanziger mit Nichtigkeiten und vor allem vor der Glotze vergeudet. Rückwirkend betrachtet, hätte ich diese Zeit gerne wieder, um das aufzuholen, was sich am anderen Ende des Lebens nicht mehr ausgehen wird.

Der Film selbst war sehr gut. Er wechselte von einer anfänglichen Abstraktion, einer Charakterisierung der Hauptfiguren, in der die Vorgeschichten erzählt wurden, ab der Mitte des Filmes ins Konkrete, wo dann auch die Handlung vorangetrieben wurde.

Insgesamt ein meiner Meinung nach sehr guter Film. Aber ich bleibe dennoch ein Fan von sowohl Sofia Coppola, deren Filme á la »Lost in Translation« oder vor allem »Somewhere« durchgehend abstrakt bleiben, als auch Tarsem Singh, dessen »The Fall« ich besonders schätze. »The Cell« war zu Mainstream, seine späteren Filme zu sehr auf Effektfeuerwerke. Aber gerade »The Fall«, wo von einem verunglückten Stuntman in den 1920ern erzählt wird, der im Krankenhaus einem Mädchen eine Geschichte erzählt, in welcher er Personen aus dem direkten Umfeld einbindet, ist gewaltig. Nämlich bildgewaltig. Wundervolle Locations, traumhaft gestaltete Bilder und grandiose Effekte, wobei die Effekte die Handlung vorantreiben und nicht umgekehrt. Und eine so schöne Geschichte voller Schmerz und Leid und Hoffnung.

Ich glaube, wir waren beide froh, jemanden zu haben, der an einem Film, an einem Abend wie diesem interessiert ist. Ich ertappte mich, wie ich zu ihr rübersah. Ich ertappte sie, wie sie zu mir blickte. Sie erwischte mich, wie ich zu ihr anstatt in Richtung Leinwand blickte. Und ich kann mir vorstellen, dass sie sich selbst dabei erwischte, wie sich zu mir drehte und nur mehr mit den Ohren beim Film hängen blieb.

Körperliche Nähe ist eine Sache. Aber das Gefühl neben jemandem zu sitzen, der das gleiche sieht, zu schätzen weiß, versteht und empfindet, ist durch nichts zu ersetzen.

Am Ende des Films hatten sich unsere Hände auf der einen, schmalen Armlehne, wie es sie in kleinen Sälen alter Kinos zwischen den Sitzen noch gibt, gefunden.

Dieser Abend war ein Donnerstag. Donnerstage sind klassische Premierenabende. Und weil der Freitag leider nicht vom »freien Tag« abstammt, saßen wir nach dem Film nur noch kurz beisammen, denn die Nacht war schon fortgeschritten.

Aber wir fassten das kommende Wochenende ins Auge. Der Wetterbericht prophezeite Sonnenschein und hohe Temperaturen, was für Ausflüge und Treffen im Freien optimal war.

Der Freitag, andererseits, war ein mehr als merkwürdiger Tag. Wobei der Terminus »merkwürdig« noch zu höflich, zu freundlich, zu positiv besetzt ist. »Sonderbar« trifft es besser.

Freitag ist im Büro immer ein kurzer Tag. Zum Glück. In letzter Zeit häufen sich die Probleme. Wir haben auf neue Systeme umgestellt und diese wurden, soweit sind wir uns alle auf eine polemische Art und Weise einig, scheinbar noch nie vorher benutzt. Oder wenigstens getestet. Überhaupt schienen die Entwickler, leider Externe, den Fokus auf Fehlermeldungen gelegt zu haben. Sie sind immerhin schön formuliert, zwar nichtssagend, aber in ganzen Sätzen.

Wenn man es genau nimmt, gibt es keinen idealen Zeitpunkt um neue Programme, die noch nicht funktionieren, was im Vorfeld natürlich niemand wusste, für den täglichen Arbeitsablauf freizugeben. Nachdem es am Freitag in der Früh passierte und die ganze Abteilung mit einem Schlag handlungsfähig wurde, beschlossen wir, auf unsere Gleitzeit zurückzugreifen und sind noch vor Mittag aus dem Büro verschwunden. Ein paar Stimmen wurden laut, dass sie ihren Anspruch auf Freizeit nicht opfern wollen, wenn sie die Arbeit nachholen müssen. Meiner Meinung nach gleicht sich das wieder aus, sobald wir die Arbeit wieder aufnehmen können, und zum anderen habe ich an diesem Tag einen Punkt erreicht, wo es mir egal war. Ich konnte ohnehin nichts machen. Aber das dann lieber draußen, wo die Sonne scheint.

So verbrachte ich den Freitag damit, durch die Fußgängerzone im Zentrum zu spazieren und verband das mit einem kleinen Einkaufsbummel. Ich hasse Shopping, vor allem, wenn, wie an einem Freitagnachmittag, viel los ist, aber ich wollte ein paar neue Hemden kaufen und nutzte die frei gewordene Zeit mich in drei Geschäften zwischen den Regalen durchzuquetschen und in einer schier endlosen Schlange anzustehen. Wie man das als Hobby machen kann, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.

Es ist faszinierend, woran man in Momenten denkt, in denen man nichts anderes tun kann als beispielsweise nur zu warten. Man steht in der Schlange an der Kassa, beobachtet die Menschen ringsum, stellt fest, dass vielen anderen auch warm ist, obwohl im Geschäft die Klimaanlage auf Hochtouren läuft, sieht wie sie scheinbar wahllos Kleidungsstücke aus dem Regal oder vom Kleiderständer nehmen und nach einem prüfenden Blick mit einer Mischung aus Unachtsamkeit und Abscheu meist schlampig wieder zurück legen beziehungsweise hängen.

Ich ertappte mich dabei, wie ich in Gedanken schon meine Garderobe für den Samstag zusammenstellte. Normalerweise dominiert Schwarz meinen Kleiderschrank. In letzter Zeit finden aber immer mehr Farben den Weg in mein Leben. Ich wählte Hemden in rot, blau und grün. Mit Mustern. Das wäre mir früher nicht untergekommen. Natürlich hatte ich immer wieder Kleidung, die nicht rein schwarz, sondern mit Texten oder Mustern bedruckt war, aber dass Farbe dominiert ist mir neu. Ich vermute, es liegt an einer Mischung aus sommerlicher Frische und Übermut, weil ich doch jemandem gefallen will. Ja, Wiebke trägt Buntes. Ich passe mich ja nicht gleich an, wie ein Hund seinem Herrchen oder umgekehrt, aber als Ansatz, als Zeichen, dass ich nicht nur rumlaufe wie der sprichwörtliche Tod, kann man es schon verstehen. Außerdem ist mein Leben nicht so trist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Da fällt mir ein, dass ich Dir noch gar nicht erzählt habe, dass ich meine Wohnung renoviert habe. Pro Zimmer ist nun eine Wand bunt. Nicht knallbunt, sondern blassblau, leicht grün, zart beige, et cetera. Die Wände, die nun in Farbe getaucht sind, habe ich bis auf wenige oder kleine Wandregale unmöbliert gelassen. Dafür hängen nun Bilder dort. Keine wahnsinnig tollen, sondern ein paar der Fotos, die sogar mir im Laufe der Jahre mit so viel Zufall gelungen sind, wie wenn ein blindes Huhn ohne Geruchssinn mitten in Tokio doch noch ein Korn findet. Die Möbel hingegen belagern jetzt die weiß gebliebenen Wände.

Diese Änderung, so klein sie auch klingen mag, war mit großen Mühen verbunden. Ich habe mir sogar Hilfe organisiert, um die Möbel vom jeweils einen Zimmer ins andere zu schleppen. Das Ausmalen habe ich selbst erledigt. (So sieht es auch aus.) Dann trocknen lassen und am nächsten Tag die Möbel wieder zurück rücken/schieben/schleppen. Nur teilweise anders angeordnet, was sich als nächste Herausforderung herausstellte, denn die Möbel waren in ihrer Größe nicht für das aktuelle, neue Arrangement gedacht. Nein, ich habe nicht die Sofalehne absägen müssen. Aber Wohn- und Arbeitszimmer mussten Regale tauschen. Regale, die optisch, weil farblich nicht mehr ins Gesamtbild passten, also musste ich diese auch noch neu einfärben.

Gottlob, dass ich vor Jahren die Wohnung mit dem Balkon genommen habe. Regale, das habe ich festgestellt, bemalt man am besten draußen. Natürlich nicht ohne entsprechende Unterlage. Aber wenn in der Wohnung die Dämpfe der Wandfarbe UND dann noch vom Möbellack stehen, müsste man trotz weit aufgerissener Fenster für mindestens eine Woche verschwinden. Nein, dann doch lieber ins Halbfreie und den Regalen dort den neuen Anstrich verpassen.

Ja, momentan finde ich mich in einer Umbruchphase wieder. Ich kann kaum eine Minute ruhig sitzen ohne nicht daran zu denken, was ich am liebsten gestern als heute neu machen würde. Natürlich braucht jede Veränderung Zeit und in unserer Gesellschaft auch Geld, was unweigerlich wieder zum Faktor Zeit zurück führt, womit die Geduld auf die Probe gestellt und der Tatendrang ein wenig gebremst wird. Ich kompensiere meine nicht gerade rosigen Ersparnisse damit, dass ich auf Flohmärkten und Shops für handwerkliche Erzeugnisse im Internet nach Dingen – vorwiegend gebraucht, weil billiger und in Summe ressourcenschonender, als Neues, das produziert werden muss, während das Alte, das noch nutzbar wäre, auf dem Müll landet – suche, die meiner Wohnung und damit auch meinem Leben ein neues Gesicht geben. Außerdem nutze ich meine zwei linken Hände für Ausflüge in die Bastelwelt und werkle und zimmere ein paar Staubfänger selbst. Ja, auch diese sehen aus wie selbst gemacht, weil ich völlig talentfrei und bislang ohne jede Erfahrung an die Sache herangehe. Aber ich kann zu recht behaupten, dass ich es selbst verbockt habe und außerdem ist Perfektion langweilig. Finde ich mittlerweile. Und das, obwohl ich selbst bei vielem, was ich tue, versuche, fehlerfrei ans Ziel zu kommen. Überhaupt scheint Perfektion heutzutage ein Zwang zu sein. Die Aussage, wonach Späne fallen, wo gehobelt wird, interessiert scheinbar niemanden mehr. Selbst Mutter Natur macht Fehler. Sie nennt es Versuche oder, geschwollener, Evolution. Wir selbst sind das Ergebnis langer Herumprobiererei und weit weg von perfekt. Allein Fehlsichtige und somit Brillenträger belehren uns eines Besseren, denn Sehfehler können tödlich enden. Gut, das tun sie auch bei dem einen oder anderen Menschen. »Quod erat demonstrandum«, würde ich sagen. Und ja, ich bin mir des Sarkasmus bewusst.

Lieber Thomas,

die letzten Tage und Wochen waren gleichermaßen ereignisreich wie ereignislos. Ereignislos, weil sich in der Arbeit bei mir nicht viel geändert hat, was gleichbedeutend ist mit: Wir kämpfen immer noch mit unseren Programmen. Mittlerweile sind die Fehler weniger geworden, die Hinweise dafür umso verwirrender.