Valérie - Nena Hofmann - E-Book

Valérie E-Book

Nena Hofmann

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Beschreibung

Als die junge Lehrerin Valérie ihre neue Stelle an dem renommierten Privatinternat Schloss Mainhard beginnt, ist sie begeistert von dem besonderen Flair, das die jahrhundertealte Schule umgibt. Doch die anfängliche Freude wird schnell getrübt. Ihre Schüler scheinen in seltsame Dinge verstrickt zu sein und hinter ihrem immer perfekten Äußeren ein dunkles Geheimnis zu verbergen. Valérie ist fest entschlossen, dieses aufzudecken und sucht sich deshalb Unterstützung von dem Enthüllungs-Journalisten Leon. Doch der Weg zur Wahrheit ist schwieriger als gedacht. Und das liegt nicht zuletzt an Jannik, der selbst in Verbindung mit den Vorkommnissen in der Schule steht und ihr auch noch gehörig den Kopf verdreht.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 1

Neben dem vergoldeten Spiegel, der vermutlich seit Jahrzehnten an derselben Stelle an der stuckverzierten Wand hing, hatte Valérie ein Bild aufgehängt, obwohl sie nicht wusste, ob das überhaupt zulässig war. In ihrem Appartement mit den hohen weißen Wänden hingen bereits Bilder, die sie aus unzähligen Besuchen von Kunsthallen und Museen kannte. Teure Nachbildungen, deren Anwesenheit in den Räumen ihr trotz der passenden Umgebung fremd vorkam. Die Geburt der Venus hing über dem weißen Schreibtisch in der Ecke, Botticelli hätte diesen Platz vermutlich als unwürdig betrachtet, das Mädchen mit dem Perlenohrring über ihrem Bett, dessen weiße Laken zerknautscht und unordentlich aussahen. Sie fühlte sich von dem Mädchen mit den großen Augen seit ihrem Einzug beobachtet und entschuldigte sich im Geiste bei Jan Vermeer, dass sie sein Bild nun womöglich nie wieder würdigen konnte. La Liberté guidant le peuple, Freiheit für das Volk, war das einzige Bild, das Valérie sich ansehen konnte, ohne sich daran sattzusehen. Es hing neben ihrem Schrank, der angesichts des kleinen Raums breit und geräumig wirkte, in dem ihre Sachen jedoch kaum alle untergebracht werden konnten. Sie hatte La Liberté guidant le peuple im Louvre gesehen und es hatte sie mehr beeindruckt als die Mona Lisa und das Portrait von Ludwig XIV zusammen. Marianne, wie sie da stand mit der französischen Flagge in der Hand, beinahe entrückt aber dennoch stark und ungezähmt, löste in Valérie etwas aus, das sich wie Hoffnung oder Stolz anfühlte. Sie fragte sich, ob das Bild schon vor ihrem Einzug hier gehangen, oder ob man es für sie herausgesucht hatte. Sie wusste nicht, ob den Lehrern an einem Eliteinternat solch eine Aufmerksamkeit zuteilwurde.

Doch nichtsdestotrotz war keines dieser Bilder eines der ihren, weshalb sie ein nicht gerahmtes Blatt neben den Spiegel geklebt hatte, das beschrieben war mit einem Zitat von Moliére. Ein Leitspruch, der Valérie beeindruckte, weil er so einfach war und doch so viel komprimierte Wahrheit enthielt und der ihrer Meinung nach viel zu oft in Vergessenheit geriet. Ein wenig passte er sogar zu Marianne und ihren französischen Revolutionären, die nicht länger hatten schweigen können.

Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.

Auf die ein oder andere Weise war Valérie mit der Realität dieses Satzes in ihrem bisherigen Leben konfrontiert worden, manchmal schmerzhaft, manchmal leise, beinahe unbedeutend, aber immer mit Nachdruck. Moliére hatte in dieser Hinsicht offensichtlich große Weisheit bewiesen und jeder, der sich diese Worte zu Herzen nahm, war in Valéries Augen ebenfalls weise.

Ihr Blick wanderte von Moliéres weitreichenden Gedanken zurück zum Spiegel. Auch Lehrer mussten der Kleiderordnung folgen und sie hatte Glück, dass das tiefdunkle Rot des Blazers und das Hellgrau der Blusen zu ihren rotbraunen Haaren passte. Ihre Sommersprossen waren über die langen sonnigen Tage der letzten Wochen hervorgetreten und sprenkelten ihr Gesicht in gewohnter Unordnung und verhasster Intensität. Sie sah jung aus. Viel zu jung. Sie hatte sich für ihren ersten Tag einen schwarzen Glockenrock gekauft, der ihre schmale Taille betonte. Ihre Haare hingen lose zusammengebunden auf ihrem Rücken und Valérie wusste, dass sie sehr, sehr französisch aussah.

Sie verließ ihr Appartement, genoss das Geräusch ihrer minimalen Absätze auf den Marmorfliesen des Treppenhauses, das sie aus dem Gebäudeflügel herausführte, der für Lehrer und Personal vorgesehen war. Durch einen Anbau gelangte sie in die altertümliche Aula. Sie erinnerte an das Innere einer Kirche und zeugte von jahrhundertealter Baukunst, was Valérie sowohl beeindruckte als auch ein wenig lächerlich vorkam.

Um viertel vor acht betrat sie das Lehrerzimmer, das tatsächlich einer der wenigen Räume war, die ihr so vertraut und heimisch vorkamen, wie ihr altes Zimmer in der Wohnung ihrer Mutter. Der frische Geruch von zu starkem Kaffee, die stickige Luft schon am frühen Morgen, die vermischten Düfte der Lehrerparfüme, die in der Nase kitzelten und einem nach einer halben Stunde Kopfschmerzen bereiteten. Lehrerzimmer waren alle gleich.

Sie konnte nicht alle Kollegen entdecken. Hier hatte jeder seinen Schreibtisch, an dem er sich in den Pausen aufhalten konnte und die an diesem Internat sehr viel größer ausfielen als die winzigen Tischformationen, die Valérie bisher an Schulen kennengelernt hatte. Zusätzlich bekamen Lehrer mit Festanstellung ein eigenes Büro. Noch waren viele der Schreibtische leer und Valérie fühlte sich im ersten Moment natürlicherweise fremd. Seit einer Woche befand sie sich auf dem Gelände und alle Vorstellungsrunden im Lehrerkollegium hatte sie bereits hinter sich gebracht, und doch fühlte sie sich jetzt, wo sie in der Tür stand und auf ihren Platz starrte, wie ein ungebetener Gast.

Binnen einer Woche hatte Valérie in den Lehrplanabstimmungen und Klassenbesprechungen ein ziemlich genaues Bild von ihren Kollegen bekommen und ihr Urteil hätte nicht vernichtender ausfallen können. Zweifelsohne trugen sie ihr Kinn ein wenig höher, ihre Kleidung ein wenig ordentlicher und ihre Krawatten ein wenig enger als all die Lehrer, die Valérie in ihrer kurzen fünfjährigen Karriere kennengelernt hatte. Um dem unangenehmen Gefühl, nicht willkommen zu sein, zu entgehen, verzichtete Valérie auf den Aufenthalt im Lehrerzimmer und einen frischen Kaffee und machte sich gleich auf den Weg zu ihrer ersten Klasse.

Sie fühlte Aufregung in ihrer Magengegend rumoren und war froh, dass sie noch nichts gegessen hatte. Sie redete sich ein, dass Kinder alle gleich waren und Jugendliche auch und dass es überhaupt nichts zu befürchten gab. An zwei Gymnasien hatte sie unterrichtet, erst in Stuttgart, wo sie ihr Referendariat mit 1,0 beendet hatte und danach in einer ländlichen Gegend auf der schwäbischen Alb. Sie kannte Kinder und sie liebte das Unterrichten.

Selbst die Gänge, die zum Klassenzimmer führten, kamen ihr herrschaftlich vor und sie mochte sich nicht wirklich darin einfinden. Ein paar Schüler kamen ihr hastig entgegen, jeder von ihnen trug die rot-graue Uniform, dunkle Stoffhosen, graue Polohemden, die man jetzt im Spätsommer noch ohne zu frieren tragen konnte und darüber ein dunkelrotes Sakko. Auf der Brust prangte das Wappen des Schlosses Mainhard, golden, besonders, mit einem Adler darauf, der seine Flügel ausbreitete.

Valérie betrat die Klasse um Punkt acht Uhr und schloss energisch die Tür hinter sich.

»Guten Morgen.« Ihr blieben nur einige Sekunden, um den ersten Eindruck in sich aufzusaugen und auf sich wirken zu lassen. Stuck an den Wänden, wie überall, hohe Decken, viel Platz zwischen den Stuhlreihen, große helle Fenster, ein altes mahagonifarbenes Pult, daneben ein Whiteboard und ein Touch-Monitor, dahinter die Tafel. Ihre Schritte klangen auf dem dunklen Echtholzparkett und sie fühlte fünfzehn Augenpaare auf sich, die sie beinahe vor Neugier durchbohrten. Valérie nahm eine noch relativ entspannte Atmosphäre wahr und hoffte, es würde so bleiben. Am Pult angekommen, sah sie die Gesichter ihrer Schüler. Zwölfte Klasse, Abschluss nächsten August, zwischen siebzehn und neunzehn Jahre alt. Das sollten sie eigentlich sein, doch aus einem unbestimmten Grund sah Valérie Schülern entgegen, die wie Anfang zwanzig aussahen. Nichts deutete auf eine ausklingende pubertäre Phase hin, keine Pickel, kein fehlender Bartwuchs, keine schlaksigen Arme und Hälse.

»Ich bin Valérie Caron. Bis auf weiteres übernehme ich die Klasse von Frau, ähm, wie hieß sie doch gleich ...«

»Gustav«, entgegnete einer der Jungen mit ruhiger Stimme.

»Richtig, Gustav. Sie wird die nächsten drei Jahre in Elternzeit sein, also müsst Ihr mit mir Vorlieb nehmen. Ich schlage vor, wir widmen uns einer kurzen Vorstellungsrunde, bevor ich mit euch den Unterrichtsplan für euer letztes Jahr durchgehe. Und am besten fange ich an.« Sie warf einen langen Blick in die Klasse und wieder überkam sie Erstaunen. Grundgütiger, sahen die jungen Leute heutzutage älter aus, als sie waren? Hatte sie nicht letztes Jahr erst eine Elfte unterrichtet, in der die Hälfte der Schüler noch so grün hinter den Ohren war, dass man sie von Gras kaum hatte unterscheiden können? Hier war definitiv niemand mehr grün, ganz und gar nicht.

Niemand antwortete ihr und deshalb begann sie in neutral freundlichem Tonfall. »Mein beruflicher Weg hat mich von Stuttgart aus zuerst ins Innere der schwäbischen Alb geführt und nun bin ich hier. Mein Hauptfach ist Französisch, als Nebenfach unterrichte ich Deutsch. Meine – « Jemand räusperte sich in der zweiten Reihe. Valérie sah den jungen Mann an, der sich mit zurückgegelten Haaren, glatt rasiertem Gesicht und kantigen Zügen lässig zurücklehnte.

»Ja bitte?«

Sein Gesicht wurde ernst und er legte seine Hand nachdenklich ans Kinn. »Können Sie denn dann auch … gut Französisch?« Einige in der Klasse lachten verhalten, andere stöhnten genervt auf.

»Gott, Frederik«, hörte Valérie, doch sie widerstand der Versuchung, sich in der Klasse umzusehen. Stattdessen bohrte sich ihr Blick in die Augen des besagten Frederiks, sie stütze die Hände gebieterisch auf dem Pult ab und taxierte ihn bestimmt. Solche Bemerkungen waren ihr überhaupt nicht fremd und sie war lange über das Stadium hinaus, dass sie daraufhin rot wurde oder nichts zu sagen wusste.

Es ging um Macht und die konnte sie ihn spüren lassen.

Es war still in der Klasse. Valérie rührte sich nicht, sagte keinen Ton und sah Frederik an mit einem Blick, in den sie sowohl Verachtung, Bedauern und Stärke legte. Die Sekunden verstrichen, ohne dass es Valérie unangenehm war, ganz im Gegenteil. Mit jedem Ticken des Zeigers an der Wanduhr wurde Frederik unruhiger. Zunächst hielt er ihrem Blick stand, schließlich hielt er es nicht mehr aus und warf einen nervös lächelnden Blick zur Seite.

Valérie richtete sich auf. »Schön, das hätten wir geklärt. Jetzt ihr. Ich kenne eure Namen und Gesichter bereits, doch ein wenig Info über euch wäre schön. Immerhin will ich euch bestmöglich auf das Abitur vorbereiten. Frederik, du fängst an.«

Valérie begriff in den folgenden Minuten den Unterschied zwischen einer staatlichen Schule und einem Eliteinternat. Sie musste sich eingestehen, dass es ihr bis zu diesem Zeitpunkt nicht ganz eingeleuchtet hatte. Aber jetzt tat es das.

Es waren reiche Kinder. Sehr reiche Kinder. Schüchternheit, Zurückhaltung und Herumgestammel schien es unter ihnen nicht zu geben. Vermutlich rührte das vom jahrelangen Training auf dieser Schule und der konsequenten Erinnerung daran, dass sie etwas Besonderes waren. Valérie hörte bei der ein oder anderen jungen Frau ausgeprägten Hochmut, versteckt durch strahlend weiße Zähne und perfekte Artikulation. Bei den Jungen hörte es sich verstärkt nach Überheblichkeit an, ein kleiner aber feiner Unterschied, der sich in vermehrter Selbstüberschätzung zeigte.

Sie hatten Ziele, große Ziele. Wollten Politiker, Sportler oder Unternehmensgründer werden und sprachen mit einer Siegessicherheit, als seien sie bereits auf dem Weg zum Parteivorstand. Valérie fragte sich, ob sie das ernst nehmen sollte und kam zu dem Schluss, dass diese Schüler nicht umsonst auf einer Eliteschule waren. Ihnen wurden Türen geöffnet, die andere Menschen niemals zu Gesicht bekommen würden.

»Ich bin Marie Scholl-Davenbrick, bin achtzehn Jahre alt und ich würde Geschichte und Musik als meine Lieblingsfächer betrachten. Allerdings bin ich auch in Mathe richtig gut. Ich werde Betriebswirtschaft studieren, damit ich danach im Unternehmen meines Vaters einsteigen kann. Logistikunternehmen.« Marie strich sich das braune, lange und glänzende Haar hinter das Ohr, presste ihre Lippen kurz aufeinander, auf denen roter Lippenstift perfekt aufgetragen war. Ihr Satz klang, im Gegensatz zu dem ihrer Mitschüler, auswendig gelernt. Valérie nahm ihr die festen Zukunftswünsche nicht ab.

»Jan«, begann der nächste Schüler. »Eigentlich Jannick von Hessen, aber alle nennen mich Jan. Achtzehn, noch, nächsten Monat dann neunzehn. Ich mag Sport und Deutsch auch, aber Informatik am liebsten. Eigentlich sind wir hier alle in allen Fächern richtig gut. Bei der Summe, die unsere Eltern zahlen, ist das ja auch zu erwarten, richtig? Vermutlich werde ich Informatik studieren, obwohl ich schon richtig gut programmieren kann. Derzeit arbeite ich an einer eigenen Software, aber genauer will ich nicht darauf eingehen. Könnte was werden.«

Valérie nickte Jannick zu. Von Hessen. Sie hatte mindestens fünf vons in diesem Raum sitzen. Er hatte blondes Haar, außergewöhnlich hellblaue Augen und er wirkte, wie beinahe alle anderen auch, wie jemand, dem die Welt ohnehin zu Füßen lag.

Valérie hatte nicht die Zeit, sich intensiv mit jedem einzelnen von ihnen zu beschäftigen, sie würde sie nach und nach kennenlernen. Also drehte sie sich zum Whiteboard, ergriff einen der Stifte und begann ihre Stunde.

Sie hörte einige leidvolle Seufzer, als sie die Literaturliste aufschrieb. »Oh mein Gott, nicht Nathan der Weise«, hörte sie und »Alle Epochen?« und »Kein Kafka, puh«. Sie lächelte innerlich. Es würde noch mehr auf die Klasse zukommen als Lessings Nathan. Sie hatte vor, die jungen Köpfe mit Voltaire, Kant und Rousseau zu bombardieren.

In der nächsten halben Stunde beschrieb Valérie, welchen Zeitplan sie für die verschiedenen Inhalte eingeplant hatte und riet ihren Schülern zu Fleiß und Aufmerksamkeit. In der letzten Woche hatte man ihr im Kollegium mehr als einmal deutlich gemacht, dass die Eltern große Erwartungen an die Bildung ihrer Kinder setzten. Es ging um Leistung, mehr nicht. Höchstleistung. Valérie war fest entschlossen, Leistung und Begeisterung zu verbinden.

Als schließlich der Gong ertönte und eine fünfminütige Pause einberief, in der ein paar Schüler das Zimmer verließen, kam Jannick an ihrem Tisch vorbei und lehnte sich zu ihr, während sie ihre Tasche schulterte.

»Das war sehr beeindruckend vorhin«, raunte er ihr zu. Er hatte ein schönes Gesicht, jung und kantig, sein blonder Bart ließ ihn älter aussehen.

»Was genau?« Unwillkürlich nahm Valérie ihr Kinn höher.

»Sie haben Freddy niedergestarrt, diese Taktik hat bisher noch kein Lehrer probiert. Aber es ist schlussendlich wie bei Tieren richtig?«

Valérie zog abwägend eine Braue nach oben. »Das kommt ganz darauf an, in welcher unterbewussten animalischen Grundeinstellung sich das Gegenüber gerade befindet oder wie gut er oder sie sein Verhalten in diesem Moment reflektieren kann. Es funktioniert jedenfalls nicht immer.«

Jannick grinste belustigt. »In diesem Fall war die animalische Grundeinstellung ziemlich offensichtlich.« Er wandte sich ab und verließ das Zimmer, noch bevor Valérie etwas hätte entgegen können.

Valérie vertrat noch drei weitere Klassen von Frau Gustav und glücklicherweise handelte es sich bei diesen um eine sechste, siebte und neunte Klasse. Zwar erschienen die Kinder ihr auch hier deutlich älter als ihre Kameraden auf den staatlichen Schulen, doch Valérie empfand sie als weniger einschüchternd und leichter lenkbar. Vorlaut an manchen Stellen und trotzdem noch mehr Kind als Erwachsener. Wie problematisch der offensichtliche Reichtum der Kinder war, würde sie noch herausfinden müssen. Irritierend war es allemal. Denn man erkannte die überdeutlich gut situierte Position der Schüler meist auf den ersten Blick, ohne es wirklich wahrzunehmen. Valérie versuchte genauer darauf zu achten und schlussendlich machte sie diese unterschwellige Wahrnehmung an Details fest. Ohrringe von Dior, Rolex-Uhren, Handtaschen von Versace und Stifte von Mont Blanc. Obwohl jeder Schüler eine Uniform trug, spürte man es. Und da war auch ein Unterschied zwischen denjenigen, die ein Stipendium erhielten und den anderen. Eine Lücke, ein unsichtbarer Graben, den niemand ansprach und der vor Valéries Auge auch vollkommen unbewusst erschien. Sie musste für sich herausfinden, inwieweit das ihren Unterricht beeinflussen würde.

Gegen Mittag zog sie sich ins Lehrerzimmer zurück und blieb für sich. Ihre Kollegen machten auch keine Anstalten, sie nach ihrem ersten Tag zu fragen oder sich gar nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ein paar von ihnen lächelten ihr freundlich zu, einige nickten, doch Valérie wollte deren Aufmerksamkeit nicht unnötig strapazieren. Noch fühlte sie sich unwohl und weitestgehend unwillkommen, sie war sich allerdings sicher, dass sich das in den nächsten Wochen ändern würde. Aber sie wollte sich sicherlich niemandem aufdrängen.

Sich auf ihre neuen Schüler einzustellen, fiel Valérie nicht leicht. Frau Gustav hatte ihr alle Unterlagen überlassen und trotz des offiziellen Lehrplans mussten die Kinder an dieser Schule schneller vorankommen als andere. Das Pensum war eindeutig höher und die Stundenpläne gespickt mit weiteren Freizeitaktivitäten wie Tennis, Fechten, Karate, Handwerken, Kunst und Reiten. Wann diese Kinder überhaupt ihr Leben lebten, war Valérie unklar.

Erst gegen späten Nachmittag erhob sie sich von ihrem Schreibtisch und verließ das mittlerweile wie ausgestorben wirkende Lehrerzimmer. Der Unterricht endete um vier Uhr, danach durften die Kinder ihrer teilweise beaufsichtigten Freizeit nachgehen. Für die minderjährigen gab es striktere Regeln, was ihre außerschulischen Beschäftigungen anging, denn in den meisten Fällen war die Anwesenheit eines Erziehungsberechtigten unabdingbar. Valérie vermutete, dass die Achtzehn- und Neunzehnjährigen nach dem Unterricht einfach irgendwohin verschwanden.

Lange Strahlen der spätsommerlichen Sonne flossen durch die marmorgespickten Gänge. Für einen Moment, in dem Valérie vom Lehrerzimmer über die Aula auf den Vorplatz lief, fühlte sie sich wie eine Herzogin aus dem achtzehnten Jahrhundert. Bis auf ihre Absätze auf dem Stein hörte sie nur das entfernte Rufen von Kindern beim Spielen. Vermutlich tobten sie auf dem Fußballplatz hinter dem Haupthaus herum. Niemand kam ihr entgegen, bis auf die Sonne, die behutsam ihr Gesicht berührte und wärmte.

Als sie durch die offene Aula hinaus auf die ausladenden Treppenstufen trat, bewunderte sie wie schon ein paar Mal zuvor die Aussicht. Vor ihr erstreckte sich ein weiter geschotterter Platz, der früher sicher zum Vorfahren der Kutschen gedient hatte, heute wurde er als Parkplatz genutzt. Rechts und links standen ein paar Autos der älteren Schüler und Lehrer, doch nur wenige bekamen das Privileg eines Parkplatzes direkt vor dem Haupthaus. Hinter diesem Platz führte eine lange, mit hohen Birken gespickte Allee zur Hauptstraße. Rechts und links neben dem Hauptgebäude fanden sich die Flügel des Hauses, riesige Flügel, um genau zu sein, in denen sowohl Klassenräume, die Turnhalle, Lehrerbüros und auch einige Verwaltungsräume angesiedelt waren. Erst hinter dem Haupthaus führten einige Flure zu weiteren Gebäuden, in denen sich die Schülerzimmer befanden. Auf der anderen Seite, in gebührendem Abstand, waren einige Lehrer untergebracht. Allerdings nicht alle, vermutlich nicht einmal zehn an der Zahl. Die meisten von ihnen fuhren nach dem Unterricht wieder nach Hause, der restliche Tagesablauf der Kinder wurde von Erziehern und anderen Pädagogen strukturiert.

Valérie verweilte in dieser Aussicht und trat einen Schritt nach vorne an das massive Geländer aus Stein. Der Ausblick und das ganze Areal hätte sie mit dem Attribut hoheitlich versehen. Oder königlich. Die Birken wiegten sacht im Wind, das sanfte Geräusch der aneinander schleifenden Blätter drang zu ihr hinüber und sie spürte, wie ihre Locken um ihre Wangen spielten. Die Sonne wärmte sie.

In diesem Moment wurde die Stille jäh unterbrochen. Der Motor eines Motorrads heulte auf und sie sah, wie der Schotter davon spritzte. Auf der schwarzen Maschine saß einer der Jungen von heute Morgen. Jannik von Hessen. Er wollte sich gerade den Helm über den Kopf stülpen, als er sie auf der Balustrade erblickte. Ihre Augen trafen sich und Valérie nahm ein deutliches Funkeln in seinen wahr und ein charmantes Lächeln umspielte seine hübschen Lippen.

Sie erwiderte seinen Blick kühl und beobachtete, wie er seinen Helm überzog und dann lautstark und kraftvoll die Allee hinunter raste. Dabei hinterließ er eine tiefe Spur im ordentlichen gekehrten Schotter.

Soso, dachte sie etwas belustigt, der Bad Boy. Diese reichen Jungs wussten ihre Vorzüge perfekt zu inszenieren. Und sie knirschte innerlich bei dem Gedanken, dass sie es deswegen vermutlich sehr weit bringen würden.

Kapitel 2

»Warum wird Curd von Stauffen wütend, als Nathan ihm nicht sofort Rechas Hand gibt?« Valérie stellte sich neben den Touchscreen und deutete auf die Frage, während fünfzehn Augenpaare sie deutlich gelangweilt anstarrten.

»Er versteht Nathans Zögern nicht«, entgegnete Jannik schließlich. Wenn alle im Raum schwiegen, war er es meist, der ihr eine Antwort gab und in neunundneunzig Prozent der Fälle war diese richtig. »Nathan will prüfen, ob Curd und Recha verwandt sind, aber das teilt er Curd natürlich nicht mit. Der fühlt sich vor den Kopf gestoßen als Nathan zögert und Dalia tut dann das ihre.«

»Daja«, verbesserte Valérie.

Jannik lächelte sie charmant an. »Stimmt, Daja.«

»Marie, könntest du uns die Ringparabel in wenigen kurzen Sätzen noch einmal wiedergeben?«

Die Schülerin sah von ihrer Lektüre auf, beinahe ein wenig schüchtern. Sie wurde rot, fing sich aber schnell wieder und räusperte sich. »Ja, natürlich. Nathan … ist in einer Zwickmühle, denn er kann weder seinen eigenen jüdischen Glauben verraten, noch kann er den Sultan beleidigen. Also stellt er die drei Weltreligionen als drei Ringe da, die an drei Brüder verteilt werden und die alle gleich mächtig sind. Beziehungsweise, nein, eigentlich ist es erst ein Ring, der einem Sohn vererbt werden soll, doch der Vater hat drei Söhne und liebt sie alle gleich. Daraufhin passiert das mit den drei Ringen.«

Valérie merkte, dass Marie nicht ganz bei der Sache war. Ihr Blick wanderte hektisch hin und her, sie blätterte im Buch herum, doch sie versuchte es durch klare Worte zu verbergen.

»In einer deutlicheren Erklärung hättest du mit dem einen Ring angefangen, der große Kraft hat, wenn man an ihn glaubt, den der Vater, also Gott, an seinen liebsten Sohn geben soll. Allerdings hat er drei Söhne und liebt sie alle gleich. Er verspricht jeden von ihnen den Ring und lässt am Ende seines Lebens Kopien anfertigen, und so weiter.« Ermutigend lächelte Valérie Marie an. Diese nickte stumm. »Was also hat die Ringparabel mit der Aufklärung zu tun?«

Einige in der Klasse stöhnten kaum hörbar. Trotz dem vielen Geld, das ihre Eltern in dieser Schule ließen, hatte Valérie an den Schülern teilweise dasselbe Verhalten feststellen können, wie an ihren früheren Schulen. Sie waren genervt vom Stoff und ließen es sich anmerken, sie waren aufmüpfig und vorlaut und wenn sie keine Lust mehr zum Lernen hatten, war es beinahe unmöglich, sie weiter zu motivieren.

Seit drei Wochen bemühte sie sich jeden Tag, die jungen Erwachsenen in dieser Klasse besser kennenzulernen, was gar nicht so einfach war. Denn die meisten von ihnen hielten sich bedeckt, was ihre Interessen oder Bedürfnisse anging. Valérie musste sich damit begnügen, sie wachsam zu beobachten.

Marie zum Beispiel war sehr hübsch, aber zurückhaltend, manchmal sogar mit schüchternen Zügen. Ihr Auftreten wirkte oft überaus bemüht, an manchen Tagen war sie auch fahrig und kaum konzentriert, so wie heute, und zwei Mal war es bisher vorgekommen, dass sie sich gar nicht auf den Unterricht vorbereitet hatte. Ihr perfekt aufgetragenes Make-up täuschte Valéries Meinung nach überhaupt nicht darüber hinweg, dass sie entweder unterfordert, überfordert, gelangweilt oder allgemein unglücklich war.

Frederik machte ihr Sorgen, weil er ihr seit dem ersten Tag feindlich gesinnt war. Er beteiligte sich kaum am Unterricht und wenn, dann waren seine Kommentare bissig und überheblich, immer gerade so kurz und beiläufig, dass Valérie bisher keinen exakten Anlass gehabt hatte, um ihn zu sich zu zitieren. Außerdem wusste sie auch gar nicht, welche Handhabe sie hatte. Das musste sie klären. Jeden Tag störte sie sich an dem schwarzen Haar des großen Jungen, in dem so viel Haargel klebte, dass es vermutlich hart wie Beton war.

Jannik von Hessen war … anders. Ihn bekam sie kaum zu greifen. Er war fröhlich, lachte viel, wusste seinen Charme einzusetzen – nicht nur bei ihr, sondern auch bei allen anderen. Klassenkameradinnen inklusive. Seine Noten waren hervorragend in allen Bereichen, sein Körper von viel Sport gestählt, sein Benehmen einwandfrei. Glatt, fiel Valérie dazu ein. Jannik hatte keine Tiefe, die sie greifen konnte. Und trotzdem war da etwas. Sie spürte, wie sie auf sein Lächeln reagierte, wie sein Strahlen sie ansteckte, und nahm sich in seiner Gegenwart deutlicher in Acht.

Julia und Francesco Toselli, zwei Stiefgeschwister italienischer Abstammung hatte Valérie auch eingehend beobachtet. Makelloses äußeres Auftreten, Julia dabei sogar sehr züchtig für die hiesigen Verhältnisse, sahen sie aus wie junge italienische Adelige, die nur durch Zufall auf einem deutschen Internat gelandet waren. Ihre Aussprache war sinnlich und betörend, doch der Inhalt und Ton ihrer Worte gefiel Valérie gar nicht. Eindeutig hielten sie sich für etwas Besseres. Den Lehrkräften gegenüber verhielten sie sich sehr höflich und nahmen deren Autorität ernst. Doch gegenüber schüchternen Mitschülern, wie Marie, konnten sie ihre Überheblichkeit nicht mehr verbergen. Außerdem nahm Valérie seltsame sexuelle Schwingungen zwischen den Stiefgeschwistern wahr. Kurze Blicke, wissendes Schmunzeln. Valérie wollte darüber kein Urteil fällen, zumal sie nur Vermutungen anstellen konnte.

Diese fünf von den insgesamt fünfzehn Schülern hatte sie genauer unter die Lupe genommen, alle anderen würden folgen. Sie wünschte sich nichts mehr, als einen Funken der Begeisterung in diese jungen Leute legen zu können, die oft so abgeklärt wirkten.

»Kommst du denn nie mehr wieder zurück?« Die Stimme ihres Bruders trug einen heftigen Vorwurf in sich und er klang zusätzlich wie ein schmollendes Kind.

»Henry, ich fahre fast drei Stunden zu euch runter, ich kann nicht mehr jedes zweite Wochenende nach Stuttgart fahren. Abgesehen davon, als ich in der Schwäbischen gearbeitete habe, war ich auch nur ein Mal im Monat bei euch. Und jetzt hör auf zu schmollen oder wütend auf mich zu sein. Sag mir lieber, was es Neues gibt.«

»Hm«, machte Henry und Valérie konnte sein süßes bebrilltes Gesicht vor ihrem inneren Auge sehen. Er war nicht oft wütend. Eigentlich zählte er zu bedachtesten und ruhigsten Menschen, die Valérie kannte. Aber er vermisste sie und das wiederum konnte sie gut nachvollziehen.

»Es gibt nicht so viel Neues«, entgegnete er. Seine Worte klangen ein wenig verzerrt und bemüht, so wie bei den meisten Menschen mit Trisomie 21. »In der Werkstatt ist alles wie immer. Sie überlegen, mich zu befördern.«

»Was? Wieso sagst du, es gibt nicht viel Neues. Das ist eine große Neuigkeit. Wow! Und? Willst du es machen? Wie sieht diese Beförderung aus?«

»Ich soll das Team leiten, aber … ich weiß nicht.«

»Was weißt du nicht?«

Henry schnaufte laut ins Handy. »Das ist alles so langweilig und ich verdiene fast nichts.«

Nun wiederholte auch Valérie das Schnaufen. Ihr armer Bruder. Im Gegensatz zu vielen anderen in den Behindertenwerkstätten, war er sehr viel intelligenter. Zwar machte ihm die Arbeit einigermaßen Spaß, aber sie forderte ihn nicht, hatte sie noch nie. Von der lausigen Bezahlung unter Mindestlohn ganz zu schweigen.

»Du hörst das zwar nicht gerne, aber vielleicht willst du doch noch einmal darüber nachdenken, bei Mama auszuziehen und in eine Wohngemeinschaft zu wechseln. Da hast du viel mehr Möglichkeiten.«

»Ja … mit … Betreuern«, spie er das Wort aus. »Außerdem ist Mama dann ganz alleine. Das kann ich ihr nicht antun.«

»Du kannst dir auch eine Wohngemeinschaft ohne Betreuer suchen, du brauchst gar keine. Und ich könnte mir vorstellen, dass du eine Ausbildung machen kannst zu … ich weiß nicht, was würdest du denn gerne lernen?«

»Valérie«, stöhnte Henry. »Das ist wirklich nicht relistisch.« »Realistisch«, verbesserte sie ihn automatisch.

»Ja, realistisch. Ich würde gerne fotografieren, aber davon kann doch niemand leben. Und wer lässt sich schon gerne von einem behi- … besonderen Menschen fotografieren.«

Das Downsyndrom kam bei Henry, wenn es nach Valéries Meinung ging, beinahe nur über das Äußerliche, seinen Herzfehler und vielleicht auch die leicht verzerrte Sprache zum Vorschein. Er war zwei Jahre jünger als sie und hatte vermutlich eine bessere und klarere Aussprache, als manch bayerisches Schulkind vom Land. Abgesehen davon hatte er viele Interessen und war, naja, wirklich intelligent. Er könnte ohne Weiteres eine Ausbildung beginnen, wenn er nur endlich den Mut dazu aufbringen würde.

Valérie würde ihn nicht drängen. Sie kannte die Blicke, die jemandem mit Trisomie 21 zugeworfen wurden und das verhaltene Benehmen von Menschen, die Henry nicht gut genug kannten. Alle anderen fanden ihn wunderbar, doch ihn hatte vermutlich jeder abschätzende Blick und jede Unsicherheit des Gegenübers verletzt. Er wusste um seine Krankheit und manchmal schämte er sich dafür. Er war sensibel.

»Natürlich kann man als Fotograf heutzutage davon leben, ich bitte dich. Schau dir mal die ganzen Leute auf Instagram an. Du solltest es zumindest probieren. Was spricht denn dagegen, sich in der Freizeit etwas aufzubauen? Ruf Conni an und sag ihr, sie soll sich für ein paar Fotos zur Verfügung stellen, das macht sie gerne.«

»Ach, ich weiß wirklich nicht.« Henry war nicht überzeugt. »Mama winkt mir gerade, sie will mit dir sprechen.«

»Na schön, aber denk mal drüber nach, ja.«

»Key …«

Im nächsten Moment hörte sie ihre Mutter am Telefon. »Valérie, Schatz … warte, ich gehe mal ins nächste Zimmer.« Das tat sich nur, wenn sie über Henrys Krankheit reden wollte oder irgendetwas, was damit im Zusammenhang stand. Ihr Sohn sollte das offensichtlich nicht mitbekommen. Valérie hörte, wie eine Tür lautstark geschlossen wurde. Automatisch wechselte ihre Sprache von Deutsch auf Französisch.

»Du solltest nicht fluchtartig den Raum verlassen. Henry ist nicht dumm«, wies Valérie ihre Mutter zurecht.

»Ma chérie, der Arzt hat seine Medikamente erhöht.«

»Na und, das weiß er doch? Oder?«

»Ja, aber er weiß nicht warum.«

Augenblicklich machte sich ein mulmiges Gefühl in Valéries Magengegend breit. Wenn Henry nichts gesagt wurde, hatte das einen ernstzunehmenden Grund. »Was hat er denn?«

»Die Herzmuskelstörungen sind schlimmer geworden. Der Arzt denkt über einen Schrittmacher nach.«

»Maman, warum sagst du ihm das nicht? Es klingt vernünftig. Auch wenn das erst in zehn Jahren hätte der Fall sein sollen.«

Ihre Mutter seufzte und Valérie hörte die Sorge in diesem Seufzen. Angélique Caron machte sich immer viele Sorgen, nicht nur um Henry. Sondern auch um Valérie, um sich selbst, die Zukunft und all die Dinge, die sie nicht in der Hand hatte. In den Jahren waren aus diesen Sorgen Falten geworden, die sie auf der Stirn immer mit sich trug. Ihrer Mutter fehlte ein starker Halt, den sie mit Valéries und Henrys Vater verloren hatte. Nein, das stimmte nicht. Eigentlich war er nie ein starker Halt gewesen, denn in dem Moment, als er im Geburtsaal von Henrys Syndrom erfahren hatte, hatte er auf dem Absatz kehrt gemacht, seine Koffer gepackt und war nie wieder aufgetaucht.

»Ich möchte nicht, dass er sich unnötig Gedanken macht. Du weißt wie das ist. Wenn man erst mal erfährt, was mit einem nicht stimmt, horcht man die ganze Zeit in seinen Körper hinein und dann ist es noch viel schlimmer als zuvor.«

»Und wenn er sich übernimmt und einen Herzanfall bekommt deswegen?«

»Er übernimmt sich schon nicht, Chérie. Er macht doch gar nicht so viele körperlich anstrengende Dinge.«

»Wenn die Operation notwendig ist, dann wird er es ohnehin erfahren. Was denkt er denn, wozu die zusätzliche Medikation notwendig ist?« Es ging Valérie dermaßen gegen den Strich, dass ihr Bruder über seinen eigenen Gesundheitszustand im Unklaren gelassen wurde. Aber das war möglich, weil ihre Mutter nach wie vor der Vormund für Henry war. Wenn sie nicht wollte, dass er etwas erfuhr, würde er es nie erfahren. Glücklicherweise kam das nicht allzu oft vor, sonst hätte Valérie schon längst ein ernstes Wort mit ihrer Mutter darüber gewechselt.

»Ich habe ihm gesagt, es ist eine einfache Umstellung, ohne das weiter zu kommentieren. Du denkst also, ich sollte es ihm sagen, das mit dem Schrittmacher? Auch, wenn er sich dann unsicher fühlt in seiner Haut und mit seiner Gesundheit.«

»Er ist nun mal nicht sicher, Maman. Und er weiß das auch. Warum fasst du ihn so oft mit Samthandschuhen an?«

Ihre Mutter schwieg dazu. Wieder seufzte sie. »Wann kommst du denn wieder zurück?«

»Ich schaffe es nur alle zwei Monate. Die Arbeitsbelastung ist hier deutlich höher, auch für die Lehrer. Tut mir leid.«

»Schon okay. Aber hör endlich auf, mir Geld zu schicken, ja? Du hast nicht so lange studiert, damit du mich finanziell unterstützen kannst, du solltest es viel besser sparen. Für ein Haus oder eine Wohnung.«

Valérie verdrehte die Augen. Ihre Mutter verdiente als Altenpflegerin gerade so viel, dass es in Stuttgart für die Miete ausreichte und Valérie hatte sich tatsächlich für diesen Job entschieden, damit sie ihrer Mutter viel mehr unter die Arme greifen konnte als vorher. Es muss auch mal ein Urlaub für Maman und Henry drin sein, zwei Wochen in einem all inclusive Hotel, mindestens.

»Du wirst mich davon nicht abhalten können«, versicherte Valérie und hörte ihre Mutter erneut stöhnen.

»Womit hab ich dich verdient, Valérie?« Die Dankbarkeit in der Stimme ihrer Mutter war unverkennbar.

»Du hast mein Leben lang gut für mich und Henry gesorgt und jetzt revanchiere ich mich. Aber jetzt muss ich Schluss machen, ich will noch raus und ein bisschen – «

»In Wald und Wiesen sein, ja ich weiß. Dieses komische Hobby habe ich noch nie verstanden. Du bist doch kein dicker weißer Mann.«

Valérie grinste verschmitzt. »Jedem das seine, nicht wahr?«

Ein warmer Oktobernachmittag empfing sie, als sie in voller Montur durch eine der Hintertüren den Flügel verlies, in dem die Lehrer untergebracht waren. In den letzten Tagen hatte sie das Gelände sorgfältig abspaziert und sich geeignete Plätze gesucht, an denen sie sonnige Abende wie diese verbringen konnte. Dabei hatte sie penibel darauf geachtet, dass keine für die Schüler attraktive Fläche in der Nähe war. Sogar das verlockende Gewässer nördlich des Schlosses strich Valérie gedanklich aus den Orten, an die sie sich begeben wollte.

Sie versuchte möglichst schnell vom Gelände zu kommen und nicht gesehen zu werden. Das Fernglas baumelte um ihren Nacken und der Tarnhut hing an einer Schnur um ihren Hals. Zügig entfernte sie sich querfeldein über den Rasen vom Lehrerflügel, während die tiefstehende Sonne ihr Gesicht kitzelte und sie blendete.

Das Schloss war von einem weitläufigen Rasen umgeben und dahinter von einem hübschen weißen Holzzaun begrenzt, über den sie problemlos hinweg stieg. Dahinter führte ein Feldweg den Zaun entlang und dahinter wiederum erwartete sie eine ungemähte Wiese auf einem sanften Hügel. Das Gras wiegte leicht im Wind. Valérie entschied sich, dem Feldweg eine Zeit lang zu folgen, bevor sie das Ende der Wiese erreichte, an dem sie weiter in Richtung eines kleinen Waldstückes laufen würde. Sie straffte die Riemen ihres kleinen grünen Rucksacks und marschierte, froh um die Ruhe und Einsamkeit, entspannt in ihren klobigen Wanderschuhen den Weg entlang.

Bisher versprach der Oktober sonnig und golden zu werden, so wie man es aus Filmen kannte. Valérie kannte das Schloss bisher nur mit einer grünen und freundlichen Umgebung und war neugierig wie es sein würde, wenn dichter Nebel in den Wiesen hing. Würde es gruselig sein? Oder einfach nur trist?

Ende Oktober war eine Halloweenparty geplant und im Dezember ein Weihnachtsball, was Valérie sehr aufregend fand. Den Schülern wurde hier viel geboten. Die Party durften sie selbst organisieren und im Dezember würden Eltern und Geschwister mit aufs Schloss kommen. Allein bei dem Gedanken, den Eltern ihrer Schüler zu begegnen, spürte Valérie Nervosität in sich aufkeimen.

Sie hörte Motorengeräusche, die sie aus ihren Gedanken rissen. Valérie sah sich um, konnte jedoch kein Auto entdecken. Es hörte sich auch anders an, wie … ein Moped? Keine fünf Sekunden später erschien eine Person mit einem Sportmotorrad auf dem engen Feldweg. Um ihn vorbeizulassen drückte Valérie sich an den Zaun, doch statt seine Geschwindigkeit beizubehalten, wurde die Person langsamer und kam schließlich vor ihr zum Stehen. Der Motorradfahrer nahm den sportlichen schwarzen Helm ab und Janniks Gesicht kam zum Vorschein. Mit weißen geraden Zähnen lachte er sie an. Valéries Plan, in diesem Aufzug unentdeckt zu bleiben, war grandios gescheitert und ein wenig schämte sie sich unter Janniks amüsiertem Blick. Aber besser er entdeckte sie, als Frederik oder gar Julia.

»Frau Caron, welch interessanter Anblick.« Das Motorengeräusch der Maschine verstummte, als er den Schlüssel drehte.

»Hallo Jannik.«

Seine Augen glitten funkelnd an ihrem Outfit herunter und wieder herauf, was Valérie unangenehm war. »Man starrt Leute nicht so an, hat deine Mutter dir das nicht beigebracht?«

Er lachte. »Wo denken Sie hin? Dafür sind doch die Lehrer da.« Er zwinkerte. »Gehen Sie auf Moorhuhnjagd?«

»Nein«, entgegnete Valérie ruhig und deutete auf ihr Fernglas. »Ich gehe Vögel beobachten.«

»Oh natürlich, wie konnte ich das übersehen. Selbstverständlich ein absolut adäquates Hobby für eine junge Frau.« Sein Blick war nicht abschätzig, sondern belustigt, was Valérie ärgerte.

»Und wo kommst du her?« Sein sportliches Motorrad war von Dreckspritzern übersät, ebenso wie seine Schuhe und die Hose.

»Motocross, sieht man doch.«

»Ist das das, wo man mit dem Motorrad über Hügel springt?« Sein breites Grinsen würde sie sicher nicht aus dem Konzept bringen. Seine stahlblauen Augen funkelten in der Sonne und seine blonden Haare standen in alle Richtungen ab.

»Exakt. Ich mache das schon seit ein paar Jahren. Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es nicht jedem erzählen. Der Platz ist nicht sehr frequentiert und ich will nicht, dass sich das ändert.«

Valérie wüsste nicht, wem sie es erzählen sollte. »Du bist dort alleine unterwegs? Ist das nicht gefährlich? Wenn du stürzt und dich verletzt …«

Jannik zuckte mit den Schultern. »Ich kann in meiner Freizeit tun und lassen was ich möchte. Sie beobachten Vögel, was echt richtig seltsam ist, sorry, und ich habe gern meine Ruhe beim Springen.« Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst geworden, wodurch seine kantigen Züge noch mehr zur Geltung kamen. Valérie musste sich daran erinnern, dass er erst neunzehn war. Neunzehn! Er sah aus wie Dreiundzwanzig, genauso wie alle seine Klassenkameraden. Es war wie verhext. Sie hatte Bilder im Kopf von sich, als sie Neunzehn war und zwischen diesen Erscheinungen lagen Welten.

»Ich spreche mit niemandem darüber«, entgegnete Valérie und lächelte ihm ermutigend zu.

»Danke. Ich ebenso wenig«, beteuerte er und deutete unwirsch auf ihr Outfit. »Sie sehen übrigens sehr lustig aus in dem Aufzug. Ich weiß nicht, ob ich sie weiterhin als Autoritätsperson ernst nehmen kann.«

»Da hast du vermutlich keine andere Wahl. Warum eigentlich Motocross?«, hakte sie nach. »Warum nicht Tennis, oder Golf, so wie deine Mitschüler. Es scheint mir der nützlichere Freizeitsport für euren Werdegang zu sein, wenn man bedenkt, wie oft angeblich wichtige Geschäfte beim Golfspielen ausgehandelt werden.«

»Würg«, entgegnete Jannik und verzog das Gesicht. »Genau aus dem Grund mag ich es nicht. Ich will kein Sklave dieses furchtbaren Systems sein. Warum beobachten Sie denn Vögel? Das klingt unfassbar langweilig, noch viel langweiliger als Malen oder Lesen.«

Valérie zuckte mit den Schultern. »Ich komme dabei zur Ruhe und habe Zeit, meinen Gedanken nachzugehen. Außerdem sieht man die Natur hautnah und das gibt mir ein sehr … geerdetes Gefühl.«

»Naja, man sitzt ja auch auf der Erde. Vielleicht liegt es daran.« Er grinste verschmitzt und Valérie konnte sich nicht zurückhalten mit den Augen zu rollen. Der Junge war ganz schön frech. Aber charmant frech, nicht so wie Frederik.

»Ich gehe jetzt mal weiter und hoffe, du bleibst der Einzige, der mir heute über den Weg läuft.« Seufzend rückte Valérie ihren Rucksack zurecht.

»Es war mir eine Ehre.« Jannik täuschte eine Verbeugung an, dann setzte er sich wieder den Helm auf. »Schönes Vogelbeobachten noch.«

»Danke.« Der Motor des Bikes heulte auf und er raste den Feldweg hinunter.

Kapitel 3

Doktor Eduard Pavel sah auf den ersten Blick ganz und gar nicht aus wie der Schulleiter eines Eliteinternats. Sein Haar war bereits schütter und ergraut, er trug ein extrem langweiliges und altmodisches Brillengestell ohne markanten Rand und seine Statur war eher hager. Nicht sportlich oder schlank. Sein Mund trug einen strengen Zug.

Valérie beobachtete ihn aus der Ferne. Er stand mit einem Schüler in der Aula und sie besprachen wohl etwas Vertrauliches, denn immer wieder legte Eduard seine Hand auf die Schulter des Jungen. Valérie schätzte diesen auf einen Achtklässler. Etwas in dem Gespräch irritierte sie, doch sie wusste nicht, was es war. Deshalb war sie auch stehengeblieben, obwohl sie auf dem Weg ins Büro zu ihrer Kollegin Ursel nur kurz die Aula hätte durchqueren müssen.

Schließlich riss sie sich los.

An der Bürotür klopfte sie leise und wartete, bis sie ein deutliches „Herein“ vernahm. Die Büros für Lehrer, die nicht nur einen Vertrag auf Zeit hatten, so wie Valérie, waren sehr geräumig und in diesem Fall mit einem breiten Schreibtisch aus Eiche und einer Bücherwand dahinter, die bis unter die Decke gefüllt war. Zwei gemütlich aussehende schwarze Sessel standen vor dem Tisch. Ursel tackerte gerade ein paar Blätter zusammen und sah auf.

»Valérie, wie nett. Kommen Sie doch rein.«

Valérie hatte Ursel nicht umsonst ausgewählt. Sie schien eine der normaleren Lehrerinnen zu sein, die nicht so offensichtlich wie die anderen dachte, dass sie etwas Besseres sei. Die Mittfünfzigerin trug ihre kurzen grauen Haare in einer modernen Welle, auf ihrer Nase saß eine knallgrüne Lesebrille und das rotgrüne Kleid, das sie trug, war eher extravagant als zugeknöpft. Sie war Kunstlehrerin. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein«, fragte sie und legte den Blätterstapel beiseite.

»Ich habe eine kurze Frage, darf ich mich setzen?«

»Selbstverständlich.«

Valérie versuchte, sich entspannt in den Sessel zu setzen, der tatsächlich äußerst bequem war. Sie hoffte inständig, dass Ursel ihre Frage beantworten konnte, denn sie wollte ungern direkt mit dem Schulleiter sprechen.

»Es geht um das Verhalten eines Schülers von mir.«

Ursel blickte Valérie nur fragend an, weshalb diese sofort weitersprach. »Er ist oft unhöflich mir gegenüber. Aber eher subtil, er gibt sich Mühe, seine Abneigung zu verbergen. In den meisten Fällen sind es kurze Beleidigungen oder Einwürfe, die aber so schnell und beiläufig fallen, dass ich bisher nicht darauf reagieren konnte. Wie würden Sie damit umgehen? Haben wir eine Handhabe für solche Schüler?«

Ursel lehnte sich in ihrem ergo dynamischen Stuhl zurück und ihr Gesicht verriet nicht, was sie dachte. »Darf ich fragen, um welchen Schüler es sich handelt?«

Valérie zögerte kurz, den Namen der älteren Kollegin anzuvertrauen, doch schließlich kannte sie die Schüler schon lange. Womöglich steckte etwas hinter Frederiks Auftreten, das Valérie bisher nicht wissen konnte. »Es ist Frederik Brant.«

Ursel zuckte kurz mit der Augenbraue und sie sah Valérie nachdenklich an. »Hmm«, machte sie und Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Dann sagte Ursel: »Wenn ich Sie wäre, würde ich gar nicht viel unternehmen. Er ist noch sehr jung und durch seine Familie geprägt. Die Brants sind überaus einflussreiche Leute und es wundert mich nicht, dass Frederik ein ähnliches Verhalten wie sein Vater an den Tag legt. Diesen Menschenschlag bekommt man nicht so leicht eingefangen. Ich hatte Frederik zwar nie in meiner Klasse, aber auch ich hätte sicher meine Schwierigkeiten, ihn zu bändigen. Und Sie sind viel jünger als ich und dazu noch neu. Vielleicht müssen Sie sich erst beweisen.«

Beweisen? So weit kam es ja noch! »Denken Sie nicht, Strafarbeiten oder ein klärendes Gespräch wären das richtige? Irgendeine Art von Reaktion auf dieses Verhalten? Ich kann es doch nicht einfach ignorieren.«

»Bei Frederik muss ich Ihnen davon abraten. Wie gesagt, die Brants haben Einfluss und wenn Frederik sich beschweren sollte, könnte Ihre Probezeit sehr schnell vorbei sein.«

Valérie fühlte sich heftig vor den Kopf gestoßen. Offensichtlich war sie viel zu naiv an diese Stelle herangegangen und hatte die Machtstellung der Schüler unterschätzt. Konnte sie nun nicht einmal einen frechen Schüler zurechtweisen, ohne dass sie um ihre Anstellung bangen musste?

»Nur um das richtig zu verstehen«, wagte sie sich noch einmal vor. »Frederik sollte ich nicht zurechtweisen, bei anderen Schülern könnte ich das aber durchaus? Je nachdem wie einflussreich die Eltern sind? Ist das nicht unfair?«

Ursel zuckte mit den Schultern und schob ihre Lesebrille aus ihrem Sichtbereich weiter die Nase hinunter. »Das ganze Leben ist unfair. Mein Rat ist, lernen Sie die Schüler gut kennen und auch deren Eltern. Der Weihnachtsball ist für so etwas eine hervorragende Gelegenheit. Manche Schüler sind absolut ungefährlich und die Eltern wahre Goldstücke. Andere wiederrum nicht, aber ich kann Ihnen jetzt ja keine Liste von Kindern geben, die sich unmöglich benehmen dürfen. So ist es jetzt ja auch wieder nicht. Diese Schule ist immerhin renommiert und nicht ohne Grund so teuer. Unsere Schüler gehen mit hervorragenden Manieren und Noten ab. Das sollten sie ja bisher schon mitbekommen haben.« Ursel war ernst geworden, ihre Augenbrauen etwas zusammengekniffen und Valérie spürte nun deutlich die Abneigung der Kollegin gegenüber ihrer Fragen. Beinahe, als hätte Valérie Ursel persönlich beleidigt.

Na schön. Sie hatte eine Antwort bekommen, auch wenn sie ihr nicht gefiel. Und noch dazu hatte sie Ursel ein wenig besser kennengelernt und vermerkt, dass sie sicher keine engen Freunde werden würden. Valérie hatte schon gar keine Lust mehr, sich weiter mit Ursel zu unterhalten und sie zu fragen, wie lange sie schon hier unterrichtete und welche Erfahrungen sie noch teilen konnte.

»Ja, natürlich, das habe ich gemerkt. Und die Schüler sind wirklich sehr …« Valérie suchte nach dem richtigen Wort. »Jeder von ihnen ist besonders und durch die Bank sind sie sehr leistungsstark. Das ist nicht mit Schülern von staatlichen Schulen vergleichbar.« Weil Schüler auf staatlichen Schulen gar nicht die Möglichkeit haben, die diese verzogenen reichen Gören hier genießen, fügte Valérie in Gedanken hinzu während sie devot lächelte.

Zufrieden nickte Ursel. »Ja, das sehe ich auch so.«

Valérie war froh, als sie das Büro der Kollegin verließ. Sie musste sich langsam das Kollegium vornehmen. Vielleicht, oder vielmehr hoffentlich, war dort einer unter ihnen, der keinen vergoldeten Stock in seinem Allerwertesten herumtrug.

Sie floh regelrecht aus dem Flügel, doch sie wusste nicht wohin. Ärger und Unmut rumorten in Valérie und sie hatte gerade keine Lust, alleine in ihrem Zimmer herumzusitzen und das Mädchen mit dem Perlenohrring anzustarren und sie wollte auch nicht in Wald und Wiesen zur Ruhe kommen, viel lieber hätte sie jemanden angeschrien.

Zielgerichtet entfernte sie sich vom Haupthaus, durchquerte zunächst die Gartenanlage im Innenhof und schlüpfte dann durch eine Hintertür auf die andere Seite des Schlosses, wo ein ebenso wunderschön gepflegter Garten wie im Hof sie empfing. Sie zückte ihr Handy und wählte Connies Nummer, während sie den geschotterten Weg an den Rosen- und Buchsbaumbüschen entlang marschierte.

»Valérie, hi! Hatten wir einen Telefontermin, den ich vergessen habe?« Conni klang erstaunt und Valérie sah sie förmlich vor sich, wie sie die Seiten ihres Terminkalenders suchend umblätterte.

»Nein, ich will mich nur kurz bei dir auskotzen.«

»Ach, bringst du diese Sprache auch deinen hochwohlgeborenen Schülern bei? Was ist denn passiert?«

»Ich hatte gerade ein sehr demotivierendes Gespräch mit einer Kollegin, die ich eigentlich für eine von den netteren gehalten habe, aber anscheinend ist sie genauso verbohrt wie die anderen. Sie sagt im Fall Frederik soll ich die Füße stillhalten, weil seine Eltern großen Einfluss haben. Es könnte mich sogar meinen Job kosten.«

»Nicht. Dein. Ernst.« Conni war über beinahe jedes Problem, das Valérie seit ihrem ersten Tag im Schloss Mainhard begegnet war, informiert. Seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in Stuttgart war ihre Freundschaft von Jahr zu Jahr tiefer geworden. Cornelia Papadopoulos war ein Mensch, den Valérie sich nur schwer aus ihrem Leben heraus denken konnte. »Glaubst du, Frederiks Vater würde so etwas tun?«

»Ich kenne den Mann ja nicht, aber so wie sein Sohn sich verhält … vielleicht ist Frederik auch nur postpubertär unterwegs, aber eine Handhabe gegen ihn hätte ich schon gerne.«

»Du solltest mit ihm sprechen. Ein klärendes Gespräch ist nie schlecht. Zumindest weißt du dann, woran du bist. Oder denkst du etwa, sogar das könnte dich schon in Schwierigkeiten bringen?«