Vaters Wort und Mutters Liebe - Nina Wähä - E-Book

Vaters Wort und Mutters Liebe E-Book

Nina Wähä

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Beschreibung

Ein Hof im finnischen Tornedal ist das Zuhause der vierzehnköpfigen Familie Toimi. Siri, die Mutter, ist eine sanftmütige Person, der das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt. Ganz im Gegensatz zu Pentti, dem herrischen Vater, um den alle lieber einen Bogen machen. Einige der zwölf Kinder haben bereits Reißaus genommen und sind nach Stockholm, Helsinki oder sogar Zypern gezogen, doch das Band und die Liebe zwischen den Geschwistern und der Mutter ist so stark, dass sie immer wieder zurückkehren. So auch diesmal, als die Geschwister zu einem Familientreffen nach und nach zu Hause ankommen, voller Erwartung und Vorfreude auf das Wiedersehen. Doch ein erster Zwischenfall trübt bald die Stimmung.

Ein vielschichtiges und brillant erzähltes Familienepos, das den Leser packt und verzaubert und eindrücklich zeigt, wie auf Loyalität der Verrat und auf Liebe die Enttäuschung folgen kann.

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Zum Buch

Ein Hof in Tornedalen im Norden Finnlands ist das Zuhause der vierzehnköpfigen Familie Toimi. Siri, die Mutter, ist eine sanftmütige Person, der das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt. Ganz im Gegensatz zu Pentti, dem herrischen Vater, um den alle lieber einen Bogen machen. Einige der zwölf Kinder haben bereits Reißaus genommen und sind nach Stockholm, Helsinki oder sogar Zypern gezogen, doch das Band und die Liebe zwischen den Geschwistern und der Mutter ist so stark, dass sie immer wieder zurückkehren. So auch diesmal, als die Geschwister zu einem Familientreffen nach und nach zu Hause ankommen, voller Erwartung und Vorfreude auf das Wiedersehen. Doch schon bald trübt ein erster Zwischenfall die Stimmung und eine dramatische Entwicklung nimmt ihren Lauf.

Ein vielschichtiges und brillant erzähltes Familienepos, das den Leser packt und verzaubert und eindrücklich zeigt, wie auf Loyalität der Verrat und auf Liebe die Enttäuschung folgen kann.

Zum Autor

Nina Wähä wurde 1979 in Stockholm geboren. Sie war Schauspielerin und Leadsängerin der Indieband Lacrosse, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 2007 debütierte sie mit dem Roman S som i syster (S wie in Schwester), drei Jahre später erschien Titta inte bakåt! (Schau nicht zurück!). Beide Romane wurden von der schwedischen Presse gefeiert. Nina Wähä lebt heute mit ihrer Familie in Stockholm.

NINA WÄHÄ

Vaters Wort undMutters Liebe

Roman

Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Testamente bei Norstedts, Stockholm

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Copyright © 2019 by Nina Wähä

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Sibylle Klöcker

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München, unter Verwendung einer Illustration von seregasse435/Bigstock

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25741-5V001

www.heyne-hardcore.de

Diese Geschichte ist nichts anderes als die Geschichte eines Mordes. Oder doch, natürlich, sie ist noch viel mehr als das.

Aber ich möchte niemanden in die Irre führen oder etwas derart Zentrales unterschlagen.

Jemand wird sterben. Und jemand anders wird schuldig sein. Wir müssen versuchen herauszufinden, wer. Und wer noch. Und warum.

Ihr müsst leider die ganze Truppe kennenlernen, weil alle miteinander in der einen oder anderen Weise etwas mit der Geschichte zu tun haben. Sie sind ein Haufen unterschiedlichster Kreaturen, genauso wie in diesem seltsamen Schlager aus den Fünfzigern: Die einen bekommst du nicht zu fassen, auch wenn du sie direkt vor der Nase hast, die anderen bekommst du nicht zu sehen, aber da sind sie trotzdem.

Vielleicht wirst du beim Lesen hin und wieder innehalten und denken: Was soll denn das jetzt? Aber hab Geduld. Reich mir die Hand, und ich werde dich durch dunkle Zeiten führen und durch helle.

Also. Los gehts.

Dies ist die Geschichte von der Familie Toimi und von gewissen Ereignissen, die ihr Leben nachhaltig verändert haben, und mit Familie Toimi meine ich Mutter Siri und Vater Pentti, die Hauptpersonen des Dramas, und ich meine all ihre Kinder, die zum Zeitpunkt des Geschehens lebten, und ich meine auch die Kinder, die nicht mehr am Leben waren. Und ich meine außerdem die ungeborenen Kinder. Und die Kinder, die noch kommen sollten.

*

Übrigens:

Toimi ist ein komischer Familienname. Er bedeutet, wie du unter Umständen wissen könntest, »funktionsfähig« und wäre für so manche Familie ein komischer Name. Insbesondere für diese. Oder selbst für diese.

Die Handlung spielt größtenteils auf dem Land. Um genau zu sein, im finnischen Tornedal.

Mehr muss man eigentlich nicht wissen. Vielleicht noch, dass die Familie Toimi Landwirtschaft betreibt und dass wir uns in den frühen 1980er-Jahren befinden, dass es gerade auf Weihnachten zugeht und dass es in der Familie viele Kinder gibt, mehr, als ich uns eigentlich wünschen würde, auseinanderhalten zu müssen. Aber es ist nun mal, wie es ist.

Also! Vorhang auf!

DIE SCHLÜSSELFIGUREN:

ANNIE – die älteste lebende Schwester, wohnhaft in Stockholm, schwanger.

ALEX – der Vater von Annies ungeborenem Kind.

LAURI – Annies homosexueller Bruder, der zu ihr nach Stockholm gezogen ist, sich später aber in Kopenhagen niederlässt.

ESKO – der älteste lebende Bruder, er kauft seinen Eltern den Hof ab.

SEIJA – Eskos Ehefrau.

TATU alias »BUCKEL« – Siris und Penttis fünfter Sohn, gezeichnet durch alte Brandverletzungen im Gesicht, ist gerade aus dem Gefängnis freigekommen.

SINIKKA – Tatus Ehefrau. Schwanger?

HELMI – die mittlere Schwester. Ihr Name bedeutet Perle. Sie befindet sich ständig in Geldnot.

PASI – Helmis Ehemann.

LILL-PASI – »Klein Pasi«, Helmis Sohn.

ONNI – der jüngste Sohn. Sein Name bedeutet Glück.

ARTO – der zweitjüngste Sohn, nach einem Sturz in die Kupferwanne mit Brandwunden übersät. (Aber darüber wissen wir noch nichts.)

SIRI – die Mutter.

PENTTI – der Vater.

TARMO – der homosexuelle Sohn, der nach Helsinki gezogen ist, um dort die Schule zu besuchen.

LAHJA – Annies jüngste Schwester. Ihr Name bedeutet Gabe.

MAIRE – Lahjas Freundin.

VALO – der hübsche Bruder. Sein Name bedeutet Licht.

HIRVO – der Bruder, der mit Tieren sprechen kann. Sein Name bedeutet weder Elch (Hirvi) noch grausam (Hirveä), weckt aber ähnliche Assoziationen.

VOITTO – der Bruder, dessen Name Gewinn bedeutet. Wessen Gewinn?

RIIKO – Siris und Penttis erster Sohn, im Alter von zwei Jahren gestorben.

ELINA – die Erstgeborene, im Alter von fünf Jahren gestorben.

TEIL 1

THE CAST, THE SCENERY

ANNIE FÄHRT NACH HAUSE

Annie kommt nach Hause. Das Drama nimmt seinen Lauf. Wir lernen die Landschaft und die Figuren kennen. Die Figuren? Nein, die Menschen!

Jemand wird ins Krankenhaus gebracht. Jemand anders glänzt durch Abwesenheit.

Aber eigentlich ist noch gar nichts passiert, oder?

Heimkommen ist immer etwas Spezielles. Entweder man freut sich darauf, oder man freut sich nicht, aber egal ist es einem nie. Bei Annie rief es jedes Mal widerstreitende Gefühle wach.

Einerseits negative – weil sie immer eine gewisse Angst befiel, dass ihr Elternhaus bei der Heimkehr seine Krallen in sie schlagen könnte und sie plötzlich dort festsitzen würde. Gefangen, zurückgeworfen, rein physisch außerstande, sich wieder loszureißen und zu sich nach Hause zu fahren. Ein Gefühl, das sie schon als Teenager immer befallen hatte, der Drang, sich beeilen und Hals über Kopf aufbrechen zu müssen, sonst würde dieser Ort, ihr Geburtsort, sich ihrer bemächtigen. Sie würde dort festwachsen, ihre Füße würden Wurzeln schlagen. Deshalb verließ sie ihr Elternhaus schon mit sechzehn.

Andererseits positive Gefühle – weil mehrere ihrer Geschwister (genau genommen die meisten) noch zu Hause wohnten. Die Bindung zu ihnen war stark und manchmal beinahe körperlich spürbar. Als wären sie, wenn nicht durch ihre Nabelschnüre, so durch andere unsichtbare starke Bande miteinander verknüpft. Wie ein Rattenkönig an den Schwänzen verknotet, unfreiwillig zusammengewachsen. So lebten sie ihre Leben, Seite an Seite, nie allein, immer vereint.

Doch heute, diesmal, hatte Annies innere Unruhe nicht unbedingt mit dem Heimkommen zu tun. Ihr Kleid spannte über der Taille, und sie hatte sich in diesem Winter einen neuen Mantel kaufen müssen, weil der alte zu eng geworden war. Sie strich mit den Händen über ihren Bauch, der sich im Kontrast zu ihrem ansonsten so mageren Körper inzwischen deutlich wölbte und in dem es jeden Abend zu strampeln begann, anfänglich ganz schwach und vielleicht auch nur eingebildet, was aber, und das wissen alle Mütter, mit der Zeit spürbar zunehmen würde. Ein Kind, das sie sich nicht gewünscht hatte, aber auch nicht hatte wegmachen wollen.

Sie hatte bereits eine Abtreibung hinter sich, und sie war erst siebenundzwanzig. Außerdem schreiben wir das Jahr 1981, man unterlässt es wenn möglich, mehrfach abzutreiben, damals genauso wie heute und wohl auch in Zukunft. Annie hatte die Ausschabung als schmerzhaft empfunden, und in Anbetracht der Narben in ihrer Gebärmutter hatten die Ärzte von einem weiteren Eingriff abgeraten, falls sie jemals Kinder haben wollte, und jetzt, wo ein Kind darin heranwuchs, warum sollte sie es ablehnen, noch dazu, wenn es womöglich ihr letztes (und einziges) sein würde?

Das erste Kind hatte sie unmöglich behalten können, denn der Mann, also der Vater (er hieß Hassan), war ein Ticket to nowhere gewesen. Eine Sackgasse. Arbeitsmigrant, genau wie sie selbst, allerdings aus einem außereuropäischen Land. Ein Land, in das er außerdem zurückkehren wollte, ein Land, in dem die Rechte der Frauen und der Kampf dafür längst noch nicht so weit gediehen waren wie in Skandinavien. Ein Land, in dem Annie nie würde wohnen können oder wollen. Annie erwartete mehr vom Leben.

Der Vater dieses Kindes hingegen, tja, the jury is still out, was ihn betrifft. Annie war nicht in ihn verliebt, das wusste sie. Sie war eigentlich noch nie verliebt gewesen. Bestimmt war sie gefühlsmäßig gestört, überlegte sie manchmal, vermutlich wegen ihrer Kindheit, den vielen Jahren ohne Liebe und, wie es ihr mitunter vorkam, ohne Eltern. Doch mit diesen Gedanken hielt sie sich nicht länger auf. Streifte sie flüchtig und ließ sie achselzuckend wieder fallen.

Dies war ihr Leben, es gehörte ihr allein, und sie hatte nicht vor, es mit irgendwem oder irgendwas Beliebigem zu vergeuden.

Aber jetzt ein Kind.

Zusammen mit Alex. Alex von der Arbeit. Alex mit den gefährlich dunklen Augen. Dem Lockenkopf. Der behaarten Brust. Der heiseren, leisen Stimme. Dem schiefen Lächeln. Er war irgendwann einfach aufgetaucht und ist noch immer da, fragt, wie es ihr geht, umwirbt sie und redet etwas zu viel. Alex, der ihr eines Nachts im Studentenwohnheim bei einer Flasche Chianti seine Ölgemälde präsentiert hatte. Der ihr gezeigt hatte, wie man Farben mischt. Der ihr zugehört hatte, als sie ihm ihre Träume von einer Fahrt nach Pompeji offenbarte. Davon, die Stadt unter der Vulkanasche auszugraben. Die in Panik erstarrten Gesichter der Bewohner sorgfältig mit einem Pinsel freizulegen, all die kleinen Puzzleteile zu dokumentieren, sie zu registrieren und zu archivieren und dann vorsichtig wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Der Gedanke daran, Ordnung in eine Katastrophe zu bringen, die bereits vor langer Zeit eingetroffen war, gefiel ihr irgendwie. Dabei waren die Worte »vor langer Zeit« entscheidend, denn dadurch würde Annie jegliche gefühlsmäßige Beteiligung erspart bleiben, und sie könnte die Welt mit klinischem Blick untersuchen. Diese Seite der Archäologie faszinierte sie.

Alex hatte es verstanden, nicht alles, aber zumindest einen Teil dessen, was sie ihm anvertraute. Und er hatte ihr Gesicht mit seinen großen Händen umschlossen und sie geküsst, mehrmals, wieder und wieder, bis sie seine Küsse erst widerwillig und dann nicht ganz abgeneigt erwidert hatte. Und jetzt hatte er ihr also ein Kind gemacht. Er hegte große Pläne, sogar Träume für ihre gemeinsame Zukunft und ihr Leben. Ein Boheme-Leben, in dem sie nachts malten (egal, ob Annie nun malen wollte oder nicht), tagsüber demonstrierten, sich nachmittags liebten und abends Wein tranken.

»Und das Kind?«, fragte Annie.

»Das Kind, unser Kind, wird ein Genie. Ich komme aus einer Familie, in der es vor Genies nur so wimmelt, und dieses Kind, dieser Sohn, er wird eines Tages die Welt regieren«, sagte Alex.

»Das Kind wird unsere Beziehung vollenden«, sagte Alex.

»Gar kein Problem«, sagte Alex.

Annie wollte ihm gern glauben.

Sie würden ihn Oskar nennen. Das hatten sie gemeinsam entschieden. Mehr oder weniger gemeinsam. Nach einem der früheren Könige von Schweden, Oskar II. Ein König, der Literat und Poet gewesen war und der zudem die Literatur und ihre Verfasser gefördert, aber nicht zuletzt dieselbe Skepsis gegenüber dem Nationaldichter August Strindberg gehegt hatte, wie Alex selbst es tat.

Annie wollte Alex nur allzu gern glauben. Ihm glauben, wenn er für sie sang, Alex is the man, Alex understands. Doch in ihrem Inneren spürte sie eine nagende Unruhe, all diese Pläne und Träume, sind das wirklich unsere, meine, und wenn ja, wo komme ich darin vor?

Denn sie würde fahren.

Lasst es mich anders formulieren:

Sie WIRD fahren.

Etwas anderes kam nicht infrage.

Vielleicht würde der Kleine in ihrem Bauch die Sache etwas erschweren oder den Zeitplan leicht verschieben, doch sobald Oskar groß genug wäre, würde sie fahren. Oskar könnte ja bei seinem Vater bleiben. Und wenn nicht, dann eben bei Siri.

Oma Siri.

Erst sechsundfünfzig Jahre alt und schon mehrfache Großmutter, und bald würde sie erfahren, dass ihre älteste Tochter ihr erstes Kind bekommt. Im Sommer. Ihre inzwischen älteste noch lebende Tochter. Annie.

Sie hätte anrufen können. Sie hätte es am Telefon erzählen können, denn sie hatte im Lauf des Herbstes schließlich öfter mit ihrer Familie telefoniert, wenn auch nicht immer mit Siri, aber doch mit ihren Geschwistern, sowohl mit denen, die noch zu Hause wohnten, als auch mit den anderen, die in die nähere Umgebung gezogen waren, Tornio, Karunki, Keminmaa oder irgendein anderes Kaff da oben, das war alles noch zu Hause, oder zumindest nahe genug, um als zu Hause durchzugehen.

Aber sie hatte es nicht aussprechen können. Denn es ging nicht einfach nur darum, es zu erzählen. Dabei blieb es nämlich nicht. Sie hätte damit ein riesiges Tor geöffnet, Fragen, die weitere Fragen aufwarfen, immer mehr, doch Annie hatte keine Lust, all diese Fragen zu beantworten. Nicht Siris, und schon gar nicht Penttis (falls er überhaupt Interesse zeigen würde), und wenn sie genauer darüber nachdachte, wollte sie eigentlich mit niemandem darüber reden, sondern lieber so tun, als wäre nichts, in Ewigkeit, amen. Doch wie wir alle wissen, kommen Kinder mit einer Deadline.

Nach Hause fahren. Die Stockholmer Betonwüste hinter sich lassen, alle Brücken, den Asphalt, die nackten baumlosen Flächen, und sehen, wie sich die Landschaft verändert, die Wälder dichter werden und die Natur sich auftürmt. Im Norden ist die Natur Respekt einflößend, eine Macht, die sich nicht so einfach bezwingen lässt. Die Bäume stehen, wo sie stehen, und üben keinerlei Nachsicht. Während der frühen Sommermonate ist der Wald bezaubernd, die weißen Birken strahlen im ewigen Licht etwas Andächtiges aus, selbst für Nichtgläubige. Dann kommt Mittsommer und mit ihm die Mücken, und mit den Mücken kommt der erste Anflug vom Verfall der Natur, der uns wieder der Dunkelheit und der langen Nacht entgegenführt, in der uns nicht mal mehr die weiße Rinde der Birken schützen kann.

Heute war der achtzehnte Dezember, der absolute Nullpunkt. Dunkler würde es nicht werden. In Kürze würden die Tage wieder um ihr Recht kämpfen, und auch wenn es ein langer Prozess ist, ist er auf metaphysischer Ebene doch wichtig für die in der Finsternis ausharrenden Menschen. Zu wissen und darauf vertrauen zu können, dass es bald wieder heller wird. Und dann wird es heller, auch wenn wir es noch nicht merken, aber das Licht kommt zurück.

Es war noch dunkel, als der Überlandbus auf den Bahnhof von Tornio einbog. Die Atemluft bildete Wölkchen vorm Mund.

Der Bus war früh dran, und Annie würde mindestens eine Viertelstunde warten müssen, bevor jemand käme und sie abholte.

Wer wohl kommen würde? Das wusste sie nicht. Es war erst kurz nach sechs Uhr morgens, und bestimmt war keiner besonders scharf darauf, an einem Samstag so früh aufzustehen und die knapp hundert Kilometer in die Stadt zu fahren.

Annie wühlte in der Tasche nach ihren Zigaretten.

Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass Rauchen nicht gut fürs Kind sei, und sie hatte auch schon fast aufgehört. Aber gelegentlich überkam sie die Lust auf eine Fluppe. Und wenn es ihr gutging, ging es dem Kind in ihrem Bauch doch wohl auch gut, oder? Wenn es ihr also damit besser ging, dass sie gelegentlich mal eine rauchte, würde es Oskar doch auch besser gehen als mit einer leidenden Mutter, oder?

Mutter. In diesem Zusammenhang kam ihr das Wort irgendwie eigenartig vor.

Annie zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch ein.

Mutter. War sie das, würde sie das sein können?

Mutter war doch Siri. Eine Mutter trug eine Schürze und hatte rissige Hände, eine Mutter zog einen an den Haaren, wenn man etwas falsch machte, eine Mutter versorgte und kümmerte sich um einen, eine Mutter befeuerte die Sauna, schälte Kartoffeln, immer einen Spross auf der Hüfte, während weitere Blagen ihr um die Füße herumsprangen. Eine Mutter, das war eine Person, die nie die Schulbank gedrückt und nie auch nur einen ihrer Träume verwirklicht hatte, hey, die nie auch nur einen Traum gehabt hatte, eine Mutter war so vieles, doch nichts von alldem traf auf Annie zu.

I’m going places, aber jetzt fahre ich erst mal nach Hause. Dorthin zurück, wo alles angefangen hat.

In Stockholm herrschten Temperaturen um die null Grad, und die Leute schlitterten gestresst durch die Straßen, die Frauen schick zurechtgemacht in hochhackigen Pumps und mit frisierten Haaren. Hier oben lag bereits eine dicke Schneedecke, und die Menschen sahen alle weitaus älter aus, jedenfalls die wenigen, die so früh schon unterwegs waren. Die vorbeifahrenden Autos waren ausschließlich ältere Modelle, dreckverschmiert und klapprig, verbeult und rostig, und wirkten die Leute hier oben letztlich nicht auch unglücklicher? Wurden die Menschen unglücklicher, wenn sie kein Ziel hatten, keinen Sinn im Leben sahen? Konnte das Leben hier oben überhaupt einen Sinn haben? Ohne U-Bahn, ohne Kneipe, ohne Kaufhaus? Wenn niemand sah, dass man lebte, war man dann überhaupt existent?

Annie erblickte einen schwarzen Mercedes, der über die schneebedeckte Fläche des Busbahnhofs schlitterte und schließlich näher kam, und auch wenn sie das Auto nicht erkannte, kam ihr der Fahrstil doch ziemlich bekannt vor, so verlässlich wie ein Fingerabdruck.

Tatu? Das hätte sie nicht erwartet. War er überhaupt schon wieder auf freiem Fuß? Nach ihrem letzten Kenntnisstand saß er gerade seine zwölf Monate in der Justizvollzugsanstalt von Keminmaa ab.

Er hatte, um es mit seinen eigenen Worten auszudrücken, die Kurve etwas zu eng genommen und war wohl auch einen Tick zu schnell unterwegs gewesen, und dann standen sie verflucht nochmal plötzlich einfach da wie zwei Vogelscheuchen, die alten Tanten. Es war wirklich keine Absicht gewesen. (Was auch niemand angenommen hatte.)

Doch der Tod nimmt darauf keine Rücksicht.

Auf dem Fahrersitz saß ihr kleiner Bruder, einer von neunen, mit einer Kippe im Mundwinkel und diesem schiefen Lächeln, das noch immer charmant und nicht zahnlos war. Aufgrund der charakteristischen Narben auf seiner linken Gesichtshälfte, die er sich bei dem Garagenbrand im Jahr 1976 zugezogen hatte (mehr dazu später), hatte Lauri ihm den Spitznamen »Buckel« verpasst. Dieser setzte sich rasch durch, weil seine Gesichtshälfte mit der für immer veränderten neuen Silhouette einer Buckelpiste glich. Annie hatte sich allerdings noch immer nicht an den Spitznamen gewöhnt, er wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen, denn sie hasste das, was die meisten Mitglieder ihrer Familie so gut konnten, nämlich die Kontrolle über schmerzhafte Erlebnisse aus der Vergangenheit zu erlangen und diese in eine Kuriosität umzumünzen, eine Stärke, eine humoristische Episode. Etwas, worüber man Witze reißen konnte.

»Bist du etwa getürmt?«

Er lachte, ein Zwischending zwischen Husten und Schluckauf.

»Die haben mich früher rausgelassen. Ziemlich anständig von denen, was?« Sie hatte offenbar erstaunt dreingeblickt, denn er fügte hinzu: »Mich hat’s genauso gewundert wie die anderen. Außer natürlich Mama.«

Mama, ja. Siri hatte ihrem kleinen Tatu noch nie irgendetwas Böses zugetraut. Und auch Siri benutzte den hässlichen Spitznamen nie. Annie fragte sich, ob andere Mütter ihre Kinder genauso selektiv liebten, also unterschiedlich stark, und wenn ja, ob sie es ebenso deutlich zeigten.

»Hier hat aber jemand ordentlich zugelegt«, bemerkte Tatu, als sie neben ihm auf den Beifahrersitz sank. »Zu viel Plätzchen gefuttert, was?«

Annie wollte eigentlich nicht darüber reden, nicht mit ihrem kleinen Bruder und auch nicht mit irgendwem anders, aber ihr war klar, dass er nicht als Einziger fragen würde und sie sich wohl oder übel daran gewöhnen musste. Sie zuckte mit den Achseln.

»’n Braten in der Röhre, wie man auf Schwedisch sagt. Kommt irgendwann nach Mittsommer. Wohnst du jetzt zu Hause?«

Sie achtete darauf, so neutral wie möglich zu klingen, was bei ihren Geschwistern unbedingt nötig war. Denn sobald sie auch nur einen Anflug von Nervosität wahrnahmen, schlugen sie sofort zu. Sie spürte Tatus Blick, bevor er antwortete.

»Ja, na ja … meine Sachen sind noch zu Hause, aber schlafen tu ich meist woanders.«

Jetzt kam er richtig in Fahrt, Annie spürte es, die Gefahr war also vorüber, und Tatu war schon ganz woanders.

»Ich hab übrigens auch jemanden kennengelernt. Sinikka heißt sie. Die kleine Schwester von Veli-Pekka, erinnerst du dich? Er hatte diesen roten EPA-Traktor, und sie wohnten in Karunki.«

Annie nickte, sie erinnerte sich. Zwar nicht an die kleine Schwester, aber an den EPA-Traktor.

Das war typisch Tatu, er sah nur das, was er sehen wollte, mehr brauchte er über die Welt nicht zu wissen. Während der Fahrt erzählte er ihr von seinem Leben. Von der Freundin, bei der er halbwegs eingezogen war, dem Bauernhof, den ihre Eltern besaßen, ihrem kranken Vater, den Knastis, die er im Gefängnis kennengelernt hatte, von seinen Zukunftsplänen, dem elterlichen Hof, den zunehmenden Streitereien der Eltern, und Annie konnte aufatmen.

Sie war froh, dass Tatu sie abholte. Er gehörte zu den Geschwistern, die hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt waren, sodass sie ihre Ruhe vor neugierigen Blicken, fragenden Blicken, verurteilenden Blicken und sonstigen Aufdringlichkeiten hatte. Während der restlichen Fahrt döste sie vor sich hin und lauschte ihrem Bruder, wie man Radio hört, den Blick auf den Wald draußen gerichtet, auf all die abzweigenden Wege, die sie wie ihre Westentasche kannte, weil sie einen Großteil ihres Lebens darauf zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem Moped, dem Auto oder dem Traktor verbracht hatte.

Doch das war damals, und heute war heute, jetzt war sie nur eine Besucherin, ein zeitweiliger Gast. Sie hörte, wie der Wald ihren Namen flüsterte und »Komm nach Hause« rief, doch sie wollte es nicht hören und tat so, als wäre nichts.

Sie erblickte ihr Spiegelbild in der Windschutzscheibe, die ernsten finnischen Augen, hell wie verdünnte Farbe, ihre Frisur, die dunkel gefärbten Haare, die das Gesicht einrahmten und ihre Blässe, den schmalen Mund und die gerade Nase unterstrichen. Annie war hübsch, zwar nicht gerade aufsehenerregend, nicht so, dass man sich auf der Straße nach ihr umdrehte, aber ihre Wangenknochen waren markant, der Blick offen, und sie war noch immer jung genug, um attraktiv zu sein. In einigen Jahren, fünf, zehn, zwanzig, wer weiß, würde sich das vielleicht ändern. Gewisse andere Menschen wie zum Beispiel Alex, das ließ sich jetzt schon sehen, würden wohl bis ins Alter attraktiv bleiben. Genau wie Tatu, dachte sie, als sie ihren kleinen Bruder auf dem Fahrersitz betrachtete, von dieser Seite sah man die Narben nicht. Er war jetzt erwachsen, zumindest stand er an der Schwelle zum Erwachsensein, ein dunkler Typ mit Wallonenblut oder Samenblut oder auch einer Mischung aus beidem, so wie auch einige ihrer anderen Geschwister einen eher dunklen Teint hatten. Annie allerdings nicht, sie war hell. Doch Tatu würde mit den Jahren noch hübscher werden, jedenfalls die eine Gesichtshälfte, zumindest hatte er die Veranlagung dafür. Genau wie Pentti.

Man konnte ihrem Vater vieles vorwerfen, aber er hatte schon immer gut ausgesehen, feurig und attraktiv.

Schon komisch, die meisten Kinder in ihrer Familie hatten entweder das Aussehen ihrer Mutter oder das ihres Vaters geerbt. Eigentlich war nur Lauri mit seinem dunklen Haar und den blassen Augen eine Mischung aus beiden. Wie Elina und Riiko ausgesehen hatten, als sie noch lebten, wusste Annie nicht genau. Die beiden Erstgeborenen der Geschwisterschar, die ihre ersten Lebensjahre nicht überstanden hatten, die eine aufgrund einer Lungenentzündung und der andere wegen eines angeborenen Herzfehlers.

Annie strich sich mit den Händen über den Bauch. Von den verstorbenen Geschwistern kannte sie nur vergilbte Fotos mit verschwommenen Gesichtern. Die Existenz dieser Bilder, die im Elternschlafzimmer an der Wand hingen, verursachte ihr immer ein mulmiges Gefühl. Das erste Familienporträt. Eine andere Familie. Eine, die womöglich funktioniert hatte, wenn auch nur für kurze Zeit.

Konnte man seine Geschwister dem jeweiligen Charakter der Eltern zuordnen? Die Mutter mit sonnigem Gemüt gesegnet, lebensfroh, und doch unnahbar. Der Vater ungestüm, unberechenbar, schwermütig. Was den Charakter betraf, gab es eine größere Streuung in der Geschwisterschar. In dieser Hinsicht waren mehrere von ihnen eine Mischung aus beiden Elternteilen, während einzelne Kinder wiederum ihren ganz eigenen Charakter hatten.

Diese unglaubliche Mischung, die irrsinnige Wut ihres Vaters und der nahezu russische Optimismus und Zukunftsglaube ihrer Mutter.

Wie würde Annies Baby werden? Eine Mischung aus Alex und ihr, oder etwas ganz Eigenes, ein vorherbestimmter Mensch, unabhängig von ihnen beiden und den Fehlern, die im Lauf ihrer Elternschaft vor ihnen lagen? Und wie waren sie eigentlich, Annie und Alex?

Unterschiedlich, sehr unterschiedlich. Er war ein dunkler Typ, aber nur äußerlich, denn er ging wie ein Tänzer mit leichten Schritten durchs Leben. Wie der gut gelaunte kleine Bruder, der er war, eines von zwei Geschwistern. Annie war anders als Alex. Vom Aussehen her, aber auch im Hinblick auf ihr Innenleben.

Manche Menschen besitzen eine Schönheit wie Diamanten oder Marmor. Ihre Züge benötigen Zeit und Widerstand, um sich herauszubilden und in Erscheinung zu treten. Bei Annie wusste man es nicht so genau, aber sie selbst hatte den Verdacht, dass es mit der Schönheit irgendwann vorbei sein würde. Das Alter, glaubte sie, würde ihre Züge verblassen lassen und ihr Gesicht aufschwemmen wie bei einer Wasserleiche. Aber aufs Aussehen hatte sie noch nie besonders viel Wert gelegt. Schönheit sprach sie an, ganz klar, doch Schönheit war nicht alles. Nicht wie bei mehreren von ihren Geschwistern, die sich von ihrem eigenen Spiegelbild oder dem anderer regelrecht verzaubern ließen.

Als das Auto eine Stunde später auf den Hof einbog, hatte die Morgendämmerung eingesetzt. In Haus und Hof brannte Licht, und Annie atmete tief durch, bevor sie ausstieg.

»Ich glaub, dass sich Mama verdammt freuen wird. Na ja, wenn sie über den ersten Schock weg ist.«

Tatu fasste sie an den Schultern und drückte sie sanft, bevor er sich eine weitere Zigarette anzündete und ohne jegliches Interesse an der Aufmerksamkeit, die Annie gleich im Haus entgegenschlagen würde, in Richtung Garage schlenderte. In seinem allzu dünnen Ledermantel, die schmalen Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, tanzte er über den Hof und durchs Leben, mit Schritten, die aussahen, als schwebten seine Füße einige Zentimeter über dem Boden, federleicht.

Siri schien es am meisten zu schaffen zu machen, dass Annie nicht geheiratet hatte und auch keinerlei Absichten hegte, dies zu tun. Ansonsten brachte die Tatsache, dass Annie schwanger war, sie offenbar nicht besonders aus der Fassung. Ihre Mutter kam aus einer anderen Zeit, und selten war die Kluft zwischen den Generationen größer gewesen als hier und jetzt.

Siri hatte keinerlei Alternativen gehabt, sie musste heiraten, um zu überleben. Aber in den Vierzigerjahren in Karelien jung zu sein oder in den Achtzigerjahren in Stockholm, waren zwei Welten, die nicht weiter hätten auseinanderliegen können. Annie schwieg achselzuckend. Siri würde es sowieso nicht verstehen. Und ihre Mutter spürte offenbar selbst, dass es Dinge gab, die sie nicht verstehen konnte. Daher wurde das Thema nicht weiter diskutiert.

Alle kleinen Geschwister scharten sich wie immer neugierig um Annie, nicht nur wegen der exklusiv eingepackten Weihnachtsgeschenke in ihrer Tasche, sondern auch wegen ihres Bäuchleins, und schon recht bald spürte sie, wie ihre Schultern herabsanken. Jetzt, wo sich ihre innere Unruhe gelegt hatte, konnte Annie sie sich eingestehen. Sie döste auf der Küchenbank, gut gesättigt vom Frühstück mit Roggenbrot und Kochkaffee, einem vertrauten Geschmack, der Teil ihres genetischen Codes war und aus dem sich ihre Persönlichkeit entwickelt hatte. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sie diesen Geschmack in der Großstadt vermisst hatte. Denn in Stockholm kann man ja vieles bekommen, aber Siris Roggenbrot definitiv nicht.

Auf der Küchenbank liegend, nahm sie den Raum in Augenschein, ihr Zuhause, das noch immer ein Teil von ihr war. Sie kannte alle Holzdielen des Fußbodens in- und auswendig, jede knarrende Treppenstufe hinauf ins Obergeschoss, das sie damals ausgebaut hatten, als Annie neun geworden war, das Jahr, in dem Hirvo geboren wurde.

Sie erinnerte sich noch an das Gefühl, das sie überkam, als sie die Treppe zum Elternschlafzimmer hochgeschlichen war, wo Siri mit Hirvo an der Brust lag, das Haar offen und der Blick sanft, beseelt, glücklich. Ja, glücklich. Die meisten von Annies Erinnerungen waren von Wehmut gefärbt, oder von etwas anderem, Dunklerem, doch wenn Siri gerade ein Kind geboren hatte, dann hatte sie immer unbesiegbar gewirkt. Das Leben gewann etwas Erhabenes im ersten Jahr nach einer Geburt. Und in der Familie Toimi gab es viele solcher ersten Jahre.

Ihre jüngsten Brüder, Arto und der noch kleinere Onni, spielten auf dem Fußboden, da sie als Einzige noch nicht in die Schule gingen. Die anderen verließen nach dem Frühstück das Haus, jeweils mit ihrem eigenen Leben beschäftigt (Hirvo draußen im Wald, was er dort tat, wusste niemand), irgendwelche Aufgaben erledigend (Lahja), um danach in die Bibliothek fahren zu können (wieder Lahja), oder unterwegs nach Tornio (Valo), sodass es im Haus jetzt still war, oder jedenfalls stiller.

Das Feuer im Ofen knisterte, Onni und Arto spielten mit Autos und gaben Motorengeräusche von sich, doch ansonsten war es still.

Zu still.

Stiller als sonst.

Es dauerte eine Weile, bis Annie schließlich begriff, was anders war.

Ihre Mutter.

Ihre Mutter war still. Das war der Unterschied. Normalerweise hörte man sie immer, entweder redete sie mit den Moderatoren im Radio, beschimpfte sie, kommentierte ihre Beiträge oder amüsierte sich über ihre Wortwahl, und dasselbe tat sie auch mit ihren Kindern, ermahnte, schimpfte, murmelte etwas vor sich hin oder summte, trällerte, sang mit, wodurch das Haus mit Geräuschen und Leben erfüllt wurde. Doch jetzt, Stille.

Wenn Siri still war, schien man sie besser wahrnehmen zu können.

Sonst stand immer so vieles andere im Weg, doch jetzt sah Annie, dass sie gealtert war.

Seit wann?

Das wusste sie nicht.

Wann war Annie zuletzt zu Hause gewesen?

Die Zeit vergeht überall, nicht nur dort, wo man gerade ist.

Siri stand in der Küche und setzte gerade einen Teig an. Sie bewegte ihren Oberkörper rhythmisch über der Schüssel, das mattbraune Haar unter einem Kopftuch zusammengefasst, die Gesichtszüge unverstellt. Siri war nicht immer hübsch gewesen, erst als Erwachsene waren ihre Züge zur Geltung gekommen. Sie hatte dieses typisch karelische Aussehen, das viele auch als russisch bezeichneten, mit wässrig feuchten Augen, die wie ausgewaschen wirkten, durchsichtiger Haut, die über hohen Wangenknochen spannte, all den Zügen, wenn nicht sogar Eigenschaften, die auch Annie von ihrer Mutter geerbt hatte und die ihr früher immer so stolz und straff erschienen waren. Doch jetzt sah Annie ihre erschlaffte Gesichtshaut und wie das Alter sie eingeholt hatte. Krähenfüße um die Augen, der schmale Mund nur noch ein Strich, die Lippen blutleer und weiß. Ihr Gesicht wirkte ausgezehrt, dachte Annie.

Sie wollte ihren Arm ausstrecken und ihre Mutter berühren, ihr über die Wange streichen, bevor es zu spät wäre, doch sie ließ es bleiben.

Stattdessen blieb sie auf der Küchenbank liegen und strich mit den Händen über ihren Bauch. Wie alle Schwangeren es seit Jahrtausenden unbewusst tun, aus einem Reflex heraus, vielleicht, um das Ungeborene zu schützen oder zu trösten. Eine vorweggenommene Bitte um Entschuldigung.

Ihren Vater hatte sie bislang weder gesehen, noch hatte irgendwer von ihm gesprochen oder sich über ihn lustig gemacht, wie sie es immer taten, um dem Dunklen, Angsteinflößenden, Schmerzlichen, Zermürbenden die Spitze zu nehmen.

»Und, wie läuft’s mit dem Hof?«, fragte sie schließlich.

Siri hielt mitten in der Bewegung inne, nur für den Bruchteil einer Sekunde, kaum merklich, doch Annie sah, wie sie erstarrte, bevor sie weiterknetete.

»Ja. Läuft.«

Bei Annies letztem Besuch im Frühjahr, als Tarmo, ihr hyperintelligenter kleiner Bruder, gerade die Nachricht bekommen hatte, dass er auf eine Eliteschule gehen könne (doch das ist eine andere Geschichte, die später erzählt wird), stritten sich ihre Eltern viel über Geld. Ihre finanzielle Lage war angespannt, und der Staat stellte höhere Ansprüche an die Milchqualität, was zur Folge hatte, dass die Landwirte in immer teurere Technik investieren mussten. Das wiederum war Pentti nicht nur völlig gleichgültig, sondern er lehnte es heftig ab, während Annies ältester Bruder Esko viele Jahre lang versucht hatte, den Vater zu der Einsicht zu bringen, dass einem als Landwirt heutzutage nur eine Möglichkeit blieb, um zu überleben, nämlich am Modernisierungsprozess teilzunehmen.

Siris Reaktion nach zu urteilen, dauerten die Streitereien noch an. Annie war der unvergleichliche Terror, den Pentti verbreiten konnte, nur allzu vertraut. Er war hartnäckig und ließ nicht locker, bis er langsam, aber sicher jeden Widerstand brach.

Auf irgendeine seltsame Art schien er diesen Terror zu genießen. Das war die einzige Erklärung. Musste die einzige Erklärung sein.

»Wollt ihr denn nicht einen Teil an Esko verkaufen? Wenn ihm doch so sehr daran gelegen ist? Dann könnte er alle Renovierungsarbeiten durchführen, die ihm vorschweben.«

Annies großer Bruder wohnte noch fast am selben Ort, im selben Dorf, oder zumindest in derselben Gemeinde, nur zehn Kilometer entfernt, er war inzwischen verheiratet und hatte eigene Kinder. Er träumte von seinem Elternhaus, nämlich davon, dass der Hof wieder oder endlich aufblühen würde und er seiner Frau und seinen Kindern eine sichere Zukunft bieten könnte. Er hatte hin und wieder wie im Vorbeigehen erwähnt, dass er schließlich als Einziger in der Familie den Hof oder selbst diesen Ort wirklich liebte.

Siri zuckte mit den Achseln, sie hatte Annie noch immer den Rücken gekehrt und signalisierte mit ihrer Körpersprache, dass dieses Gespräch in keinerlei Hinsicht wichtiger war als das Leben, mit dem sie schon mehr als genug zu tun hatte.

»Wenn es allein meine Entscheidung wäre, würde ich ihm den Hof ja verkaufen. Dann hätte es endlich ein Ende mit dieser Schufterei. Ich würde bloß noch tun, was mir Spaß macht. Aber so funktioniert das nicht, Annie.«

»Es gibt da was, das nennt sich Scheidung.«

»In Stockholm vielleicht.«

Das Gespräch verlief wie jedes Mal, wenn das Wort Scheidung zur Sprache kam. Annie wünschte ihrer Mutter eine zweite Chance im Leben, auch wenn sie wusste, dass es nie so weit kommen würde.

Aber sie wünschte es ihr dennoch.

Ihre Mutter verdiente endlich Ruhe, Ruhe vor lauernden Blicken, die nie erloschen.

*

Der Schneeballeffekt.

Im Nachhinein erscheint einem das Leben immer so klar und deutlich. Doch während man es lebt und mittendrin steckt, kommt es einem vor, als würden die Dinge, Ereignisse, Worte oder Handlungen einfach geschehen, eine Sache nach der anderen oder auch parallel zueinander, ohne erkennbare Zusammenhänge. Doch das, was man jetzt als anstrengend empfindet, wird schon bald Vergangenheit sein, eine ferne Vergangenheit, die weder wehtut noch einem länger zu schaffen macht, und dann, wenn einem die Dinge nicht mehr bevorstehen oder man nicht mehr mittendrin steckt, begreift man plötzlich, wie alles zusammenhängt. Wie etwas, das einem so belanglos, unwichtig oder zusammenhanglos erschien, dennoch eine bedeutsame Rolle in einem größeren Ganzen spielte, ohne dass es einem anfänglich klar war.

Heute war Montagmorgen, der 21. Dezember 1981, und am Donnerstag war Heiligabend. Annie wachte früh auf, dachte sie jedenfalls, doch als sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, sah sie, dass es schon kurz vor halb acht war. Sie war die Letzte. Ihren Vater hatte sie noch immer nicht zu Gesicht bekommen.

Sie liebte ihre Wohnung, ihr Stockholm, hatte sich aber noch immer nicht an das Leben in einem Mietshaus gewöhnt, in dem sich die Geräusche aller fremden Schritte durch den Beton fortpflanzten, was zur Folge hatte, dass sie zu Hause in ihrer Wohnung früh wach wurde. Doch hier in ihrem Elternhaus schlief sie einen tiefen und traumlosen, geborgenen festen Schlaf.

So, wie man nur zu Hause schläft.

Sie hörte die Geräusche in der Küche, all die eiligen Verrichtungen vorm Verlassen des Hauses, damit die Kinder den Schulbus in den letzten Tagen vor den Weihnachtsferien noch rechtzeitig erreichten. Frühstücken, Haare bürsten, es nahm kein Ende, und Mutter Siri hatte heute zusätzlich zur täglichen, nicht abreißenden Arbeit und allen sonstigen Aufgaben, die erledigt werden mussten, noch mehr auf dem Zettel. Heute stand die Weihnachtswäsche an, deswegen war sie schon früh draußen gewesen und hatte Feuer in der Sauna gemacht, die ansonsten nicht an einem gewöhnlichen Montag, sondern nur abends oder am Wochenende beheizt wurde. Heute war also Waschtag. Draußen tollte Onni bereits durch den Schnee, und Arto versuchte mit unbeholfenen Bewegungen, den Tretschlitten zu steuern, fiel aber jedes Mal schon nach wenigen Schritten herunter. Annie beobachtete die beiden durchs Fenster, während sie ihren Morgenkaffee trank. Mittlerweile spürte sie morgens nur noch eine leichte Übelkeit, und das auch nur selten.

Draußen stand die große Kupferwanne, in der die Kinder im Sommer immer badeten und in der Siri im Dezember ihre Wäsche wusch.

Sie begann mit den Gardinen, dann kam die Bettwäsche dran und zum Schluss die Teppiche. In derselben Reihenfolge, wie sie es schon immer gemacht hatte. Die einzig sinnvolle.

Zuerst das, was man sah, dann das, was man spürte, und zuletzt das Fundament, auf dem alles stand und verlässlich ruhte.

Aus der Wanne dampfte es, und Siri schleppte einen Eimer Wasser nach dem anderen heran, wie immer kochendes Wasser, und Annie genoss das Wissen darum, dass sich manche Dinge nie änderten.

Es war ein eigenartiges Gefühl, warm in eine Decke gehüllt auf der Küchenbank zu sitzen und das Treiben draußen auf dem Hof zu beobachten. Sie sah, wie ihre Mutter weitere zwei Eimer kochenden Wassers in die Wanne kippte, wie ihre kleinen Brüder im Schnee spielten, wie Siri ihnen den Rücken kehrte, wie Arto mit dem Tretschlitten etwas zu schnell wurde, wie er plötzlich wegrutschte und die Kontrolle verlor, die geringe, die er besaß, und nicht absprang, warum sprang er nicht einfach ab? Er war jetzt sechs Jahre alt und musste doch halbwegs einschätzen können, was passieren würde. Doch der Tretschlitten rammte die Wanne, sein kleiner Körper flog durch die Luft und glitt über die Kante, wo er im kochenden Wasser landete. Annie sah es passieren, doch es spielte keine Rolle, sie hatte bereits gewusst, dass es passieren würde, und betrachtete den Film, den lautlosen Film. Kurz darauf rutschte Onni im Schnee aus, als Kleinkind begriff er noch nicht, was gerade geschehen war, doch seine Schreie beim Aufprall auf Ellenbogen und Knie hatten zur Folge, dass Siri sich im Türrahmen der Sauna umdrehte, Arto erblickte und augenblicklich verstand.

Als Annie die Reaktion ihrer Mutter sah, wurde sie selbst aus ihrer Trance gerissen und realisierte, was gerade geschehen war, und dass es Wirklichkeit war.

Annie riss die Haustür auf, und plötzlich strömten die Geräusche auf sie ein: Onnis Weinen und Siris Aufschrei. Annie stürzte hinaus in den Hof und erblickte den leblosen kleinen Körper, sie zog Arto aus dem Wasser, riss ihm die Kleider vom Leib und rief ihrer Mutter zu: »Mama, ruf einen Krankenwagen, sofort!«

Annie wusste nicht, was in einer solchen Situation zu tun war, aber sie begann, Arto auszuziehen, und hoffte, dass ihre Intuition sie leiten würde.

Siri lief ins Haus und nahm Onni mit, während Annie ihren leblosen kleinen Bruder in den Armen hielt. Sie wiegte ihn sanft, und plötzlich erschien ihr der Gedanke gar nicht mehr fremd, selbst bald Mutter zu sein und ein eigenes Baby in den Armen zu halten.

Artos magerer Körper, die blasse Haut, die sich allmählich feuerrot verfärbte, sein dunkles Haar und die langen Wimpern, er hatte die Farben seines Vaters geerbt, selbst die dunklen Augen, die hinter den geschlossenen Augenlidern gerade nicht zu sehen waren. Direkt unter der dünnen Haut konnte sie seinen Puls am Hals schlagen sehen. Annie schöpfte mit der Hand etwas Schnee von der Treppenstufe unter ihr, betupfte damit seinen Körper und sah die weiße Masse an seinen Rippen, seinem Bauch, seinen Armen und Beinen schmelzen.

Wie lange saß sie so da?

Irgendwann wurde die Haustür geöffnet, und Onni schaute hinaus, woraufhin Annie ihn zu sich winkte. Die beiden Jungs waren vom Alter her nicht weit auseinander, und Onni, der zu seinem großen Bruder aufsah, wollte immer genau dort sein, wo Arto war. Annie zeigte ihm, wie man den Körper mit Schnee betupfte, und Onni erfüllte seine Aufgabe mit großem Ernst.

»Schau, was du schon kannst. Du bist ja ein richtiger Krankenpfleger. Was für ein Glück, dass dein Bruder dich hat.«

Über Onnis Gesicht huschte der Schatten eines Lächelns, während er Arto weiter mit Schnee betupfte.

»Aber nichts auf meinen Piephahn, das tut weh.«

Artos Stimme war schwach, aber deutlich.

Inzwischen waren sie von dicken Schneeflocken umgeben, die in der Luft stillzustehen schienen, so als wäre der Augenblick in der Zeit festgefroren. Annie und Onni mussten lachen, und ihr Lachen wurde immer lauter, woraufhin auch Arto mit flatternden Augenlidern leicht zu lächeln begann, und Annie spürte die Tränen in ihren Augen brennen, bemühte sich aber, vor ihren kleinen Brüdern nicht zu weinen.

Während sie auf den Krankenwagen warteten (was ungefähr eine halbe Stunde dauerte oder auch etwas länger), konnte Annie Pentti nirgends erblicken. Siri zwar auch nicht mehr, aber Annie nahm an, dass ihre Mutter gerade alle nötigen Anrufe tätigte oder sich um alles andere kümmerte, was geregelt werden musste.

Annie saß auf der Treppe vor der Sauna mit Arto im Arm und Onni neben sich und wusste, dass ihr Vater im Stall war, auf der anderen Seite des Hofes, sie wusste einfach, dass er die Schreie hier draußen gehört hatte. Doch er kam nicht.

Während sie dort saßen, erzählte sie ihren Brüdern ein Märchen, das mit den drei Königen, die weit in die Welt hinausritten, um eine Antwort auf die Rätsel des Lebens zu finden. Arto war zwar nicht mehr bewusstlos, doch seine Augen wirkten glasig, und sein Blick verschwand ein ums andere Mal in weiter Ferne. Plötzlich zuckte er zusammen, sein Körper versteifte sich, und er wurde ganz unruhig, doch kurz darauf entspannte er sich wieder. Annies Nerven waren zum Zerreißen gespannt, doch sie bemühte sich, es nicht zu zeigen. Sie hatte das Gefühl, keine Knochen mehr im Körper zu haben, sondern nur noch von der Haut zusammengehalten zu werden. Von der Haut und dem Fötus in ihr, dem Kind.

Hirvo kam aus dem Wald zurück. Er hatte offensichtlich wieder eine seiner Runden gedreht. Was er im Wald tat, wusste niemand so genau, denn er erzählte es nicht, auch wenn man ihn fragte, und sie hatten schon lange aufgehört zu fragen. Ihr Sonderling von Bruder war gerade vor einem Monat achtzehn geworden und verbrachte für gewöhnlich den ganzen Tag im Wald. Er wohnte noch immer zu Hause, suchte jedoch keinen Kontakt zu den anderen Familienmitgliedern. Er segelte in seinem eigenen Boot auf seinem eigenen Meer.

Hirvo warf Annie und seinen Brüdern einen kurzen Blick zu, und obwohl ihr klar war, dass es für ihn nichts weiter zu tun gab, schmerzte es sie, dass er seine Hilfe nicht mal anbot.

Doch sie wusste um Hirvos Mitleid. Arto lag ihm von allen Geschwistern am meisten am Herzen, mit ihm fühlte Hirvo sich am stärksten verbunden. Er betrachtete Annie mit einem unergründlichen, verschlossenen stummen Blick, machte dann kehrt und ging mit raschen, geduckten Schritten zum Stall, in dem er verschwand. Jedoch kam er fast genauso schnell wieder heraus, um wieder auf den Wald zuzusteuern, aus dem er gekommen war, erst langsamen Schrittes, dann schneller, wie ein Elch trabte er davon, bis ihn schließlich die Bäume verschluckten. Siri und Pentti waren noch immer nirgends zu sehen.

Esko kam noch vor dem Krankenwagen an. Siri hatte ihn offenbar angerufen. Er wohnte ja gleich in der Nähe. Und das Sägewerk, in dem er arbeitete, lag nur vier Kilometer entfernt, an ruhigen Tagen konnte man sogar das Geräusch der Sägeblätter erahnen. Er bog schlitternd auf den Hof ein, und der Wagen kam direkt vor der Sauna zum Stehen. Annie bedeutete ihm mit dem Blick, dass es ernst war.

Und ihr älterer Bruder, der sonst immer auf alle Fragen eine Antwort wusste, der immer half, wenn Not am Mann war, wirkte plötzlich sehr hilflos.

»Er ist ausgerutscht, er ist Tretschlitten gefahren und ausgerutscht.«

Esko nickte mit verbissener Miene. So sah er immer aus, wenn er traurig oder verärgert war, eigentlich ziemlich oft.

»Wo ist Pentti?«

Annie deutete mit einem Nicken in Richtung Stall und zuckte mit den Achseln.

Esko fischte eine Zigarette aus der Jackentasche und stiefelte dorthin.

Esko. Mit seinem blonden Haar, das seit ihrem letzten Besuch etwas gewachsen war, und hatte er nicht auch einen Oberlippenbart getragen? Er sah noch immer gut aus. Etwas gealtert, aber trotzdem. Breitschultrig, Sicherheit ausstrahlend und in vieler Hinsicht wie ein echter großer Bruder. Er hatte alles richtig gemacht, alles getan, was man hätte verlangen können. Und dennoch liebte ihn niemand, seine Mutter nicht, seine Frau nicht, nur sein Vater vielleicht, wenn Pentti nun überhaupt in der Lage war, Liebe zu empfinden.

Wenn nicht Liebe, dann wenigstens Respekt.

Die anderen Geschwister hatten mit Esko immer ihre Späße getrieben, denn ihm fehlte ein Wesenszug, den die meisten von ihnen besaßen, ein gewisser Einfallsreichtum. Aber er hatte einen klaren, ehrlichen Blick und strebte in jeder Situation danach, sein absolut Bestes zu geben. In ihm steckte nichts Teuflisches. Manche Menschen scheinen unbefleckt vom Bösen durchs Leben zu gehen. Sie schweben ein paar Schritte über dem Boden, umhüllt von einem Licht, völlig nackt und schutzlos. Sie hegen keinerlei Hassgefühle. Mitunter sind sie traurig, vielleicht sogar ärgerlich, aber nie boshaft. So einer war Esko. Seine Familie verstand sich nicht auf ihn, und vielleicht war es das, was sie spürten, aber nicht benennen konnten, das Fehlen jeglicher Bosheit. Bosheit, die sie in ihrem Inneren, in ihren Erbanlagen so deutlich spürten.

Als Esko kurz darauf wieder aus dem Stall kam, lag etwas in seinem Blick, das Annie bewog, lieber nicht nachzufragen. Sie schaltete einfach ab, wollte gar nicht wissen, was ihr Vater nun wieder gesagt, getan oder auch gemacht hatte. Es hatte keinen Sinn, Pentti verstehen zu wollen. Ihr Vater marschierte im Takt seiner eigenen Trommel, das hatte er schon immer getan, und jegliche Übereinkünfte darüber, wie man sich als Mensch verhielt, zählten für ihn nicht.

Sich wie ein Mensch zu verhalten, hatte Siri ihnen beigebracht.

Was Pentti ihnen beigebracht hatte, war schwer zu sagen, womöglich, genau dies nicht zu tun.

Einige ihrer Geschwister waren mehr vom Vater beeinflusst worden.

Oder hatten sie es von ihm geerbt?

Vielleicht war es schlicht und einfach auch nur eine Konsequenz des Heranwachsens in einem Zuhause, in dem so viele Mägen gesättigt und Herzen geliebt werden wollten. Er hatte keinen Sinn für Gefühle, und zugleich verschlang er sie allesamt. Ihr Vater war in vielerlei Hinsicht ein wandelndes Paradoxon. Doch beeinflusst hatte er sie alle, seit sie auf der Welt waren.

*

Annie hatte richtig gehandelt, indem sie Arto ausgezogen hatte. Der Schnee war auch hilfreich gewesen. Am besten wäre es allerdings gewesen, wenn sie ihn unter kaltem Wasser abgespült hätte. Einen Körperteil nach dem anderen. Doch im Großen und Ganzen hatte sie es richtig gemacht. Ihr Instinkt funktionierte also, der elterliche Instinkt, die Mutterliebe.

Esko rief aus dem Krankenhaus an, er war dem Krankenwagen mit dem Auto gefolgt, während Siri bei Arto mitfuhr. Ihre blassen Wangen waren jetzt noch blasser geworden, sofern das überhaupt möglich war, ihr Blick war gläsern. Sie hielt sich krampfhaft an ihrer Handtasche fest, das Kopftuch hatte sie abgenommen, und Annie sah, dass sie sogar versucht hatte, sich die Haare zurückzukämmen, doch einige unbändige Strähnen standen vom Kopf ab. Siri war bewusst geworden, dass sie in die Stadt, die Zivilisation fahren würde, und hatte sich Mühe gegeben, sich zwar nicht umgezogen, aber zumindest den guten Mantel übergestreift.

Annie blieb auf dem Hof zurück, denn irgendwer musste schließlich zu Hause sein. Sie wusch die Weihnachtswäsche auf zittrigen Beinen. Dabei ließ sie Onni nicht aus den Augen, was keine Kunst war, denn er hing ohnehin ständig an ihrem Rockzipfel, während sie die Wassereimer und die schwere nasse Wäsche hin- und herschleppte. Sie mischte Schnee unters heiße Wasser, auch wenn dadurch nicht alles blitzsauber wurde, doch Annies Hände hätten die hohe Temperatur sowieso nicht ausgehalten. Siris Hände hingegen waren durch ein langes Leben mit Gardinen- und Teppichwäsche abgehärtet.

Sie arbeitete den gesamten Vormittag und bis in den frühen Nachmittag hinein, und als ihr irgendwann schwarz vor Augen wurde, nahm sie ihren jüngsten Bruder mit ins Haus, um ihm etwas zu essen zu machen. Sie briet die Kartoffeln vom Vortag, machte Würstchen heiß und ließ ihn so viel Senf nehmen, wie er wollte (eine halbe Tube ging dabei drauf), während sie eine Zigarette rauchte und einen Becher schwarzen Kaffee trank. Dann rief Esko an und bescheinigte ihr, dass sie größtenteils richtig gehandelt hatte.

»Und was passiert jetzt?«

Annie hielt kurz die Luft an, denn sie wollte natürlich alles erfahren, aber zugleich am liebsten gar nichts, denn sie wusste, dass sie diejenige sein würde, die es den anderen beibringen müsste. Dieser ewige Balanceakt zwischen dem Drang, die Geschwister zu beschützen, und der Notwendigkeit, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.

»Sie haben ihn ins künstliche Koma versetzt. Er hatte starke Schmerzen und schrie, und sie mussten Haut transplantieren.«

»Haut transplantieren?«

»Äh, ich weiß nicht, Annie. Sie haben es zwar genau erklärt, aber Siri war so durch den Wind, dass ich mich kaum konzentrieren konnte.«

Annie hörte ihren großen Bruder in den Hörer sprechen, hörte seine zitternden Atemzüge und das Geräusch der Glut von seiner Zigarette. Vor ihrem inneren Auge sah sie Hautstücke vor sich, anonyme glatte Haut, wie weite unbewohnte Flächen auf einer Landkarte. Wie unberührter Neuschnee.

»Ich hab sie noch nie zuvor so erlebt. Nicht mal damals.«

Esko verstummte, und auch Annie sagte nichts. Beide mussten an den Tod ihres Bruders Riiko zurückdenken, an den sie sich zwar nicht mehr erinnern konnten, aber in dessen Folge sie erst einmal die einzigen Geschwister gewesen waren. Und danach wanderten ihre Gedanken unweigerlich zum Garagenbrand und zu Tatu, denn an seinem Krankenbett hatte ihre Mutter zuletzt gewacht.

»Nicht mal da, nein, noch nie.«

Sie hörte das Zischen, als Esko mit seiner Spucke die Glut der Zigarette löschte.

»Hat Pentti sich schon blicken lassen?«

»Nein.«

»Ich muss jetzt leider los. Können ja später noch mal telefonieren. Aber Siri weigert sich, nach Hause zu fahren. Sie bleibt so lange hier, bis Arto entlassen wird.«

»Ja, das wird sie wohl, wenn sie sich das in den Kopf gesetzt hat.«

Annie saß nach dem Telefonat mit dem Hörer in der Hand da und betrachtete den schneebedeckten Stall auf der anderen Seite des Hofes. Ein Schneeball war gerade ins Rollen geraten, doch davon wusste sie noch nichts.

Als die Geschwister nachmittags von der Schule nach Hause kamen, erfuhren sie, was passiert war. Annie erzählte es zuerst Lahja, die ihren geschorenen Kopf schüttelte und mehrmals den Mund öffnete und schloss. Annie fiel auf, wie still ihre Schwester seit dem letzten Mal geworden war. Sie war gewachsen und wirkte jetzt, wo sie Tarmo nicht mehr an ihrer Seite hatte, ziemlich deplatziert.

Ein fremder Vogel im Elternhaus.

Na ja, das waren sie wohl alle, jeder auf seine Weise. Lahja sagte nichts, doch Annie sah, dass sie traurig war. Sie liebte Arto. Doch Lahja gab sich derartigen Gefühlen nie lange hin, sondern senkte nur den Kopf und arbeitete weiter. Nun zuckte sie mit den Achseln und begann, Kartoffeln zu schälen. Valo kümmerte sich um Onni, er nahm seinen kleinen Bruder mit auf den Hof hinaus und fuhr ihn in der zunehmenden Dämmerung auf dem Tretschlitten umher, sodass Annie die anderen Geschwister anrufen und darüber informieren konnte, was passiert war.

Hirvo kam hereingeschlendert, die hochroten Ohren wie zwei Trichter von seinem Kopf abstehend, wobei dieser Eindruck durch seine Stoppelhaare noch verstärkt wurde. Segelohren, eng stehende Augen, fehlten nur noch zusätzliche Finger an den Händen, aber dennoch, dumm war er nicht, sonderbar vielleicht, aber nicht dumm. Er wohnte noch immer zu Hause, doch keiner hatte ihn richtig auf der Rechnung, und manchmal wusste man nicht mal genau, wie viel er von all dem, was um ihn herum vorging, und von seiner Umwelt im Allgemeinen mitbekam.

Seinem Blick zu begegnen, war unmöglich. Früher hatte ihn sein Stottern noch zusätzlich nervös gemacht und seiner Sprache etwas leicht Abgehacktes verliehen, doch das Stottern hatte sich mittlerweile etwas gelegt, oder vielleicht redete er auch nur weniger. Wie auch immer. Er hatte die Schule im Frühjahr beendet und arbeitete jetzt in der Waldindustrie, überwiegend im Akkord, doch außer dem Weihnachtsbaumverkauf in Tornio, der sowieso nur an den Wochenenden stattfand, gab es im Augenblick nicht viel zu tun. Sein Schwedisch war zu schlecht, um es in Luleå zu versuchen, und da die Schweden mehr Weihnachtsbäume kauften als die Finnen, herrschte gerade Flaute. Seine Ausflüge in den Wald dauerten manchmal mehrere Tage, und er kam und ging, ohne es irgendwem mitzuteilen.

Als er jetzt von seinen Geschwistern erfuhr, was passiert war, nachdem er es zuvor nur aus der Ferne gesehen hatte, wirkte er fast unberührt. Er murmelte irgendetwas Unverständliches, ließ sich auf die Küchenbank fallen und begann mit entschlossenen Bewegungen und stoischer Miene, sein Schnitzmesser zu schärfen, doch Annie wusste, dass Hirvo große Angst hatte, Angst davor, was geschehen könnte. In Arto hatte er ein praktisch veranlagtes Gemüt aufgespürt, das er selbst ebenfalls besaß, sodass er sich mit dem kleinen Bruder verbunden fühlte und ihn sogar hin und wieder auf seine Touren mitnahm. Jetzt sah er seine Schwester mit gequältem Blick an, doch anstatt zu sprechen, wich er rasch ihrem Blick aus und fuhr mit dem Schleifen fort. Annie hatte sich noch nie auf Hirvo verstanden, aber schon vor langer Zeit aufgehört, ihn aufzuziehen. Jetzt glichen sie eher zwei Satelliten auf ihrer jeweiligen Umlaufbahn, deren Wege sich nur selten kreuzten.

Helmi brach am Telefon in Tränen aus und sagte, sie würde sofort kommen, Lill-Pasi würde sie mitbringen. Annie und Helmi hatten sich bisher noch nicht gesehen, auch wenn Helmi natürlich sofort angerufen hatte, als sie vom Zustand ihrer großen Schwester erfuhr. Annie fragte nicht nach Helmis Pasi (Stor-Pasi, dem »großen Pasi«), doch sie nahm an, dass er arbeitete oder sich gerade in einer seiner Säuferphasen befand. Helmi war dem Alkohol ebenfalls zugetan, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie ihr Ehemann. Außerdem trug sie die Verantwortung für Lill-Pasi, was bislang dafür gesorgt hatte, dass sie sich einigermaßen zurückhielt. (Jedenfalls soweit Annie es wusste. Doch was wusste sie schon, denn letztlich trennten sie im Alltag fast tausendzweihundert Kilometer.)

Annie kannte die Hemmungslosigkeit ihrer kleinen Schwester nur allzu gut und wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie tiefer in dem Sumpf versank, in dem ihr Mann schon im Alter von fünfundzwanzig Jahren lange Phasen seiner Lebenszeit zugebracht hatte. Die Zeit, in der er nicht arbeitete. (Das heißt, Arbeit konnte man das nicht gerade nennen, aber irgendwie musste man es ja bezeichnen, und da passte dieser Begriff wohl noch am besten. Doch schwedisches Geld auf der finnischen Seite zu waschen und dubiose Autoversicherungen zu verticken, war dennoch keine richtige Arbeit. Richtig schweißtreibend bestimmt, aber keine Arbeit.)

Vielleicht hätte Helmi ihre Energie dafür aufwenden können, etwas aus ihrem Leben zu machen, aber sie hatte einfach keinen Plan, und so kam es, wie es kommen musste, schwanger von einem Typen namens Pasi Alaniva. Helmi war schon als Kind immer diejenige gewesen, die voranging, völlig unerschrocken und immer auf der Jagd nach etwas, das ihr Herz schneller schlagen ließ.

Tatu kam vorbei und bot an, Tarmo abzuholen, dessen Weihnachtsferien in Helsinki gerade begonnen hatten und der bald in Tornio ankommen würde. Auf Buckel konnte man wirklich zählen, wenn es darum ging, jemanden abzuholen, egal, wie weit es war oder zu welcher Uhrzeit.

Annie rief bei sich zu Hause an, um mit Lauri zu sprechen, doch er meldete sich nicht, und sie nahm an, dass ihr kleiner Bruder entweder unterwegs war oder vielleicht eine Extraschicht auf der Fähre eingeschoben hatte – oder aber schlicht und einfach schlief.

Alex war noch immer nicht bei ihr eingezogen, nicht weil er es nicht gewollt hätte, sondern weil Annie auf etwas wartete. Worauf, das wusste sie selbst nicht so genau, aber sie wartete.

Wenn sie zusammenzögen, würde sich vieles verändern. Lauri würde sich nach einer anderen Bleibe umschauen müssen, und Annie würde nicht mehr allein, sondern mit jemandem zusammen wohnen, dem Vater ihres ungeborenen Kindes, auf immer und ewig, unwiderruflich festgekettet und zusammengeschweißt.

Nach einer Weile trudelte einer nach dem anderen ein. Erst Helmi mit ihrem Dreijährigen unterm Arm und der charakteristischen Wärme, die sie überall verbreitete, und kurz darauf Tarmo.

Tarmo, dieses schwarze Schaf, der Bruder mit einem Gehirn, das viel zu groß geworden war für ihren kleinen Hof.

Valo und Onni kamen schließlich auch wieder von draußen herein, und als alle versammelt waren, rief Lahja, dass das Essen fertig sei, und stellte alles auf dem Herd bereit, woraufhin sich die Geschwister davor einreihten, und Annie, die Älteste, Kartoffeln mit Hackfleischsoße auf ihre Teller füllte. Die Hackfleischsoße, mit der sie alle aufgewachsen waren, ohne jegliche Spuren von Tomaten darin, dafür mit reichlich Fett, das in öligen Flecken obenauf schwamm. Pfützen, in denen man sein trockenes Roggenbrot aufweichen konnte. Dann setzten sich alle um den Küchentisch herum und aßen.

Es war so unglaublich vertraut, die Geräusche, der Geschmack des Essens, die Gefühle. Alles war genauso wie immer und doch völlig anders.

Annie schaute in die Runde. Hier waren sie jetzt versammelt, nicht alle, aber doch die meisten. Nur vier Geschwister fehlten (oder sechs, abhängig davon, wie man rechnete).

Der Rattenkönig war vereint.

Sie aßen schweigend, und alle machten sich Sorgen um Arto, doch sie standen dem Tod nicht unvorbereitet gegenüber, eigentlich keiner von ihnen.

Einmal waren da ihre verstorbenen Geschwister, an die sie denken mussten, und außerdem starben auf einem Bauernhof immer irgendwelche Tiere. Auch wenn der Tod angsteinflößend sein kann, ist er noch lange nichts Fremdes, sondern ein natürlicher Bestandteil des Lebens. Wie ein alter Verwandter, zu dem alle eine gewisse Beziehung haben. Nach dem Essen halfen alle beim Abwasch, und Onni wurde gegen seinen Willen und unter lautem Protest in der Spüle gewaschen und in seinen Pyjama gesteckt, um kurz darauf, sobald sein Kopf auf Helmis Schoß landete, neben Lill-Pasi auf der Küchenbank einzuschlafen.

Nach dem turbulenten Morgen war im Verlauf des Abends eine himmlische Ruhe auf dem Hof eingekehrt, eine Art Weihnachtsfrieden, eine Ruhe, wie sie nur auf eine abgewehrte Katastrophe folgen kann. Denn heute war keiner gestorben (noch nicht). Mehrere Geschwister saßen im Wohnzimmer und guckten Fernsehen, während sich die anderen in der Küche versammelten und kurzerhand darauf einigten, schon einmal mit der Weihnachtsbäckerei zu beginnen, der sich Siri am Abend bestimmt angenommen hätte, wenn sie nicht im Krankenhaus geblieben wäre. Safranschnecken und allerlei Weihnachtsplätzchen nahmen sie sich vor. Sie waren mit der Bäckerei in vollem Gange, als plötzlich die Küchentür geöffnet wurde und Pentti hereinkam.

Die Atmosphäre im Haus veränderte sich schlagartig, die Temperatur sank, und das nicht nur, weil er die Kälte von draußen mit hereinbrachte, sondern auch, weil er fast all seinen Kindern eine befremdliche Angst einjagte. Das war sein Markenzeichen.

»Volles Haus, wie ich sehe«, war das Erste, was er sagte, als er seine Kinder und deren mit Mehl bestäubte rosige Wangen betrachtete. Ihre Fröhlichkeit schien ihn geradezu wütend zu machen.

Annie füllte ihm einen Teller mit Kartoffeln und Hackfleischsoße, den er ohne ein Wort entgegennahm. Er setzte sich auf seinen angestammten Platz, den er seit jeher innehatte, den sogenannten Hochsitz, von wo aus er einen Überblick über die gesamte Küche hatte. Er schnaufte.

»Löffel«, befahl er, und Lahja, die vor der Küchenschublade stand, öffnete diese und gab ihm einen.

In der Küche war es still, es waren nur die Stimmen aus dem Fernseher im Wohnzimmer zu vernehmen. Die Stimmen und Penttis Kauen.

Dieser Mann war irgendwie eigenartig. So klein, nicht größer als einen Meter fünfundsechzig, mit einem von Natur aus schwarzen Blick und ebenfalls schwarzen Haaren, keinem einzigen grauen. Vierzehn Kinder hatte er in die Welt gesetzt, und noch nicht ein graues Haar, tja, das war wohl genetisch bedingt, hatte aber auch symbolischen Charakter.

Oder etwa nicht?

In Penttis Verwandtschaft floss Samenblut, ganz eindeutig, auch wenn das keiner zugeben wollte und man nicht darüber reden durfte. Samenblut und noch etwas anderes, Obskures, der heilige Zorn (und Wahnsinn) entstammte einer höheren religiösen Instanz, alles andere war ausgeschlossen. In diesen Adern floss zweifelsohne katholisches Blut.

»Sauermilch«, rief er in die Stille hinein, und Annie sah, wie Helmi neben ihm auf der Küchenbank zusammenzuckte, ihm dann rasch ein Glas vollschenkte und es ihm hinschob.

Ihre Bewegungen waren flink und präzise, doch Pentti gelang es trotzdem, sie am Handgelenk zu packen. Seine Reflexe waren noch immer pfeilschnell, ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters.

»Hast du deine Familie dabei?«

Er fragte, ohne sie anzuschauen, und betrachtete stattdessen unablässig Annie.

»Nur Lill-Pasi.«

»Dein Glück. Ihr fresst mir nämlich noch die Haare vom Kopf, aber was soll ich machen, ihr seid ja mein Fleisch und Blut. Fleisch und Blut. Aber da ist dann auch Schluss.«