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Das »Vater unser im Himmel« – kein Gebet ist uns vertrauter und zugleich doch so fremd. Beatrice von Weizsäcker fragt sich: Was bedeuten eigentlich die ganzen Bitten? Was heißt: dein Reich, dein Wille, unser tägliches Brot? Wie ist das mit der Schuld? Kann ich vergeben? Nicht eine lässliche Sünde, sondern meinem ärgsten Feind? Muss ich es gar, weil Gott mir sonst nicht vergibt? Schaffe ich es, nicht in Versuchung zu geraten? Glaube ich an Erlösung? Was ist überhaupt »das Böse«? Mit anderen Worten: Glaube ich, was ich bete? Wort für Wort legt sie das Vaterunser auf die Goldwaage. Dabei entdeckt sie, dass das Gebet ein Gebet der Sehnsucht ist, ihrer Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach Heimat, Gnade, Heilung und Heil, die Sehnsucht nach Gott. Ein persönliches Buch, das mit viel Offenheit, Faszination und Sprachwitz dazu herausfordert, die vertrauten Worte des Vaterunsers neu zu entdecken.
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Seitenzahl: 194
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Beatrice von Weizsäcker
VATERUNSER
Gebet meiner Sehnsucht
Unruhig ist mein Herz, bis es ruht in dir.
Augustinus
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Schmuckelement im Innenteil: © Devita ayu silvianingtyas / shutterstock
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlagmotiv: © airdynamic / shutterstock
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL
ISBN Print 978-3-451-39491-1
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82948-2
Vorwort
Vater unser im Himmel
Gott in Jerusalem • Radikale Sehnsucht • Jesus glauben • Glaube, Hoffnung – Liebe? • An den Nagel gehängt • Glaube, Hoffnung, Sehnsucht • Die Sucht der Sehnsucht • Das Windspiel • Mein Gott in allen Dingen
Geheiligt werde dein Name
Grüß Göttin • Gott oder G*tt oder Gott* oder Gott+? • Wenn ein Mann einen Mann liebt und eine Frau eine Frau ... • Gott braucht keinen Genderstern • Ich bin, der ich bin • Ich bin der Ich-bin-da • Abba, Vater • Das Heilige • Der Heilige Geist • Die heilige (?) katholische Kirche • Was mir heilig ist • Dein heiliger Name
Dein Reich komme
Heimweh nach Gott • Frohe Botschaften: Menschenwürde und Nächstenliebe • Unfrohe Botschaften: die Verlassenheit • Unfrohe Botschaften: die Überforderung • Unfrohe Botschaften: die Verzweiflung • Beten in nimmersatter Sehnsucht • Dein Reich, mitten unter uns
Dein Wille geschehe
Gottes Wille • Um Gottes willen ... • Nicht was ich will, sondern was du willst • Sein Wille, mein Trost
Wie im Himmel so auf Erden
Im Himmel? Panik, Sternschnuppen und Schwarze Löcher • Auf Erden? Der blinde, taube Gott und seine Gnade • Zwischen Himmel und Erde • Auf Erden! Dein Reich. Dein Wille
Unser tägliches Brot gib uns heute
Tränenbrot in Israel • Brot des Himmels • Das Geheimnis der Kunst, das Geheimnis des Glaubens • Dein Brot, das ist ... • Gib es heute, gib es jetzt
Und vergib uns unsere Schuld
Das Kinderherz • Vergib, vergib mir alles • Kein Meer ist tief genug • Das Herz Gottes
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
„wie auch“? • Die Conditio sine qua non • Die Quadratur des Kreises • Kriminalgericht, Saal • Wenn Vergebung zum Verrat wird • Die verlorene Tochter • Der barmherzige Vater • „damit auch“!
Und führe uns nicht in Versuchung
Von kleinen und großen Versuchungen • Die Versuchung, den Glauben zu verlieren • Gott stellt keine Fallen • Von guten Versuchungen
Sondern erlöse uns von dem Bösen
Das doppelte Böse • Das Böse, in mir • Das Selbstgespräch und der Glaube auf der Couch • Das Böse, der Mensch • Das Böseste, der Tod • Ich will dabei sein, wenn ich sterbe
Denn dein ist das Reich und die Kraft
Dein Reich, in Ewigkeit • Deine Kraft, in Ewigkeit • Die Trotzkraft • Mehr Kraft, als ich habe
Und die Herrlichkeit in Ewigkeit
Mein Vaterunser
Dank
Quellen und Literatur
Über die Autorin
Die meisten kennen seinen Namen, doch nur wenige dürften ihn benutzt haben. Die Rede ist vom Paternoster, dem Aufzug. Der Lift hat mehrere Kabinen, die vorn offen sind, so dass man ein- und aussteigen kann. Die Kabinen hängen an einer Kette, die sich beständig im Kreis dreht. Kommt eine Kabine oben oder unten an, wendet sie und wird in den anderen Schacht gelenkt.
So geht es immer rauf und runter.
Der Clou ist der Ursprung des Namens. Er kommt vom Rosenkranz. Dort folgt auf zehn kleinere Ave-Perlen, bei denen jeweils ein Ave Maria gebetet wird, eine größere Paternoster-Kugel für das Vaterunser. „Paternoster“ deshalb, weil es das lateinische Wort für „Vaterunser“ ist. Da wie beim Rosenkranz das Vaterunser beim Paternoster die Kabinen eingefädelt sind, heißt die Rosenkranzkette auch Paternosterschnur.
Damit endet aber auch schon die Ähnlichkeit zwischen einem Paternoster und dem Vaterunser.
Das Vaterunser ist das bekannteste Gebet der Christenheit. In jedem Gottesdienst kommt es vor, in katholischen, orthodoxen und evangelischen. Es ist das Gebet, das alle christlichen Konfessionen eint. Weil Jesus es gebetet hat – für uns. Weil es von ihm stammt. Und für uns ist. Weil er es uns gelehrt hat.
Die Bibel kennt zwei Überlieferungen des Vaterunsers. Die eine, kürzere, steht bei Lukas, die andere, uns geläufige, bei Matthäus.
Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat!, bittet ihn im Lukasevangelium einer der Jünger. Und Jesus sagt: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen! Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. Und führe uns nicht in Versuchung! (Lk 1,1–4) Mehr nicht. Nur diese fünf Sätze.
Ganz anders bei Matthäus (Mt 6,5 ff.). Hier ist das Vaterunser keine Antwort auf die Bitte eines Jüngers, sondern steht im Zentrum der Bergpredigt. So richtet sich Jesus nicht nur an seine Jünger, sondern an alle. Auch seine Vorrede unterscheidet sich erheblich: Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten, sagt Jesus, bevor er die Jünger lehrt, wie sie beten sollen. Wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet. Erst danach kommt er zum Vaterunser.
Es ist nicht das Wie, das mich beschäftigt, die Belehrungen Jesu, nicht wie die Heuchler zu beten oder wie die Heiden zu plappern. In diese Versuchung gerate ich erst gar nicht. Nie im Leben käme ich auf die Idee, an Straßenecken zu beten, in der Öffentlichkeit, wo mich die Leute sehen können. Schon die Vorstellung ist mir unangenehm. Ich will Gott auch nichts vormachen, wenn ich bete. Im Gegenteil: Selten bin ich ehrlicher als im Gespräch mit ihm. Außerdem glaube ich nicht, dass er mich nur erhört, wenn ich viele Worte mache. Ich bin sicher, dass er auch meine kleinen Stoßgebete hört, die im stillen Kämmerlein.
Es ist das Warum, das mich umtreibt.
Warum soll ich noch beten, wenn Gott doch weiß, was ich brauche? Wenn er es sogar vor mir weiß? Wenn er mein Gebet kennt, bevor ich weiß, worum ich bitten will – und warum ich überhaupt beten möchte?
Weil ich ein Mensch bin wie alle und Jesus uns kennt. Unsere Schwächen. Unsere Fahrigkeit. Unser Durcheinander. Unsere Ablenkbarkeit. Unsere Zerstreutheit. Unsere Ähnlichkeit mit einem Windspiel, das sich dreht und wendet je nachdem, wie der Wind gerade weht. Und Jesus weiß, dass wir Worte brauchen. Ein Gerüst, wenn wir wanken. Ein Ritual, das uns hält. Darum schenkte er den Jüngern sein Gebet; den Jüngern und uns:
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe
wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Doch es genügt nicht, das Vaterunser nur zu beten. Zum Gebet gehört auch der Glaube. Und da beginnt das Problem. Da fangen die Fragen an. Denn was sich so einfach anhört, was wir Sonntag für Sonntag beten, mal konzentriert, mal nicht bei der Sache, klingt leichter, als es ist.
Jedenfalls für mich.
Was bedeuten denn die ganzen Bitten? Was heißt: dein Reich, dein Wille, unser tägliches Brot? Wie ist das mit der Schuld? Kann ich vergeben? Nicht eine lässliche Sünde, sondern meinem ärgsten Feind? Was heißt, vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern? Muss ich vergeben, damit Gott mir vergibt? Schaffe ich es, nicht in Versuchung zu geraten? Glaube ich an Erlösung? Was ist „das Böse“? Mit anderen Worten: Glaube ich, was ich bete? Ist es nicht eine heillose Überforderung, im wahren Wortsinn, ohne Heil und Heilung?
Das will ich wissen. Ich will verstehen, was ich bete. Und ich will glauben, was ich bete. Auch wenn ich das nicht immer kann. Ich will das Vaterunser beten können, ohne zu lügen. Ich will es beten und nicht schweigen müssen.
Jesus kennt den Zweifel, und das ist mein Glück. An einer anderen Stelle der Bibel und in einem ganz anderen Zusammenhang fragt Jesus einmal: Glaubst du das? (Joh 11,26) Es geht um die Auferweckung des Lazarus. Vier Tage schon hatte Lazarus im Grab gelegen. Als Marta, die Schwester des Lazarus, hörte, dass Jesus kommen würde, lief sie ihm entgegen. Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Und dann stellt er diese Frage: Glaubst du das?
Marta konnte glauben, und sie glaubte, und Jesus ging zum Grab und rief: Lazarus, komm heraus! Und Lazarus kam heraus.
Einmal ganz abgesehen davon, wie bewegend die Episode ist, ist es diese Frage, die eine neue, eine erlösende Kraft in sich birgt: Glaubst du das?
Jesus bleibt Jesus, der Sohn Gottes, ob ich glaube oder nicht. Das Vaterunser bleibt sein Gebet, ob ich es verstehe oder nicht. Ob ich Fragen habe oder nicht. Gott wird nicht von mir weichen. Dessen bin ich mir gewiss.
In der Freiheit, die in der Frage Glaubst du das? steckt, will ich beten und fragen und ergründen und weiterbeten, auch wenn ich zweifele. Und am Ende, wenn ich das Vaterunser betrachtet und bedacht haben werde, werde ich hoffentlich glauben, was ich bete. Das jedenfalls ist mein größter Wunsch. Das ist meine Sehnsucht.
Damit es bei meinem Vaterunser anders als beim Paternoster nicht immer rauf und runter geht, sondern nur in eine Richtung. Aufwärts. Nach oben.
Richtung Himmel.
Vater unser im Himmel … So beginnt das Gebet, das die ganze Christenheit kennt. Doch kaum ausgesprochen, fangen meine Fragen an. Zum „Vater“ und zum „unser“. Wer ist der „Vater“ im Vaterunser? Ein Mann? Und wieso „unser“? Gehört Gott uns? Was ist mit den anderen Religionen? Können die ihn nicht ebenfalls für sich beanspruchen, wenn Menschen ihres Glaubens zu „ihrem“ Gott beten?
*
Es war in Jerusalem, im April 2022. Endlich war es wieder möglich, ins Gelobte Land zu reisen, in das so schwierige, so heißgeliebte Sehnsuchtsland. Corona war noch nicht vorbei, und es war Ramadan. Touristen gab es wenige, aus beiden Gründen. Anders als beim letzten Mal besuchten wir nur Jerusalem, wobei „nur“ und „Jerusalem“ ein Widerspruch in sich ist.
Alles war anders dieses Mal.
Das lag sicher an der Unterkunft, diesmal nicht außerhalb der Stadtmauer, sondern mittendrin, im Österreichischen Pilger-Hospiz an der Via Dolorosa. In Ostjerusalem, im arabischen Teil. Jeden Morgen weckte uns der Ruf des Muezzins. Jeden Abend feierten die Menschen laut und fröhlich Ramadan, vor allem in der „Nacht der Bestimmung“. Tausende junge Leute zogen durch die engen Gassen der old City und riefen ausgelassen „Allahu Akbar“, Gott ist größer. Und wir drei mittendrin. Und nichts, aber auch gar nichts war daran beängstigend.
Dass die Stadt so anders war, lag natürlich auch an den fehlenden Touristen. Seltsam leer waren die Kirchen, ungewohnt und wunderbar. Keine Schlangen vor der Grabeskirche, in der ich bis in die Nacht blieb, in der ich lange vor dem Grab saß, hineingehen konnte, wann ich wollte, in der ich jede Verästelung auf den verschiedenen Ebenen der Kirche erkundete und mich wieder vor das Grab setzte und nichts tat – außer da zu sein. Nach einer Weile kannte man sich, die Andächtigen, die Staunenden, die vor dem Grab knienden Mönche, die um sich schauenden Umherwandelnden, die betenden Nonnen. Und ich. Ein behutsames Kopfnicken, ein freundlicher Blick, ein herzliches Lächeln. Mehr nicht.
Gänzlich menschenleerer waren die anderen Kirchen, die wir besuchten. Niemand außer uns in der Todesangstbasilika im Garten Gethsemane, mit dem Felsen, auf den sich Jesus geworfen hatte. Nur wir in der Kirche Dominus Flevit auf dem Ölberg mit ihrem schönen Blick auf die Stadt. Kein Mensch außer uns in St. Anna mit ihrer unglaublichen Akustik, so dass nur wir uns hörten, als wir sangen.
Jerusalem hatte ein anderes Gesicht. Und wir hatten keine Eile. Alles war anders. Offener die Stadt, offener auch ich. Nicht gehetzt durch eine To-do-Liste. Nicht fixiert auf einen Must-see-Plan. Sondern frei.
Frei für Neues, für Menschen, für Begegnungen, wie es sie nur in Jerusalem geben kann, zufällige vor allem. Zwei sind mir besonders in Erinnerung geblieben.
Da war die Frau an der Westmauer, die mich fröhlich ansah, als ich dort stand, mir eine Karte mit einem Gebet in die Hand drückte und sagte: „Jewish or not Jewish, it works for everybody!“, so dass ich mich zu ersten Mal traute, ganz nach vorne zu gehen und die Hand an die Klagemauer zu legen, um zu beten. Und niemand wunderte sich.
Da war der Mann, der auf den Stufen neben einem Gedenkstein mit arabischem Schriftzug saß. Ich erinnere mich gut an den Stein. Ich hatte ihn entdeckt, als wir auf dem Weg zu einem Abendessen waren, zu dem ein Freund uns eingeladen hatte. Unscheinbar ist der Stein. Etwas abseits des Gehwegs liegt er. Ich blieb ein Weilchen dort. Warum, das weiß ich nicht. Beim Essen erzählte uns der Freund, der seit Jahren in der Nähe wohnt, den Hintergrund: Es ist ein Mahnmal für einen palästinensischen Jugendlichen, den drei junge Israelis 2014 als Vergeltung für den Tod dreier israelischer Schüler verschleppt, mit Benzin übergossen, angezündet und bei lebendigem Leibe verbrannt hatten. Und ein Schauer lief mir über den Rücken.
Auf dem Rückweg begleitete uns der Freund. Die anderen waren vorgegangen, wir beide, unser Gastgeber und ich, gingen langsamer, ins Gespräch vertieft. Auf der Höhe des Steines saß ein Mann dort auf den Stufen. Und schaute auf die Straße. Als wir stehenblieben, sprach der Mann uns an. „I am his uncle“, sagte er leise. Genau hier, auf den Stufen, habe sein Neffe gesessen, während er auf seinen Vater gewartet hatte, der in der Moschee gewesen war. „They stole him“, flüsterte er fast. Und ich denke an Fritz, meinen Bruder, der uns gestohlen wurde. Im November 2019. Genauso sinnlos. Und mir kamen die Tränen.
Da blickte der Mann nach oben. „We believe“, sagte er. „He is with God.“ Und wir falteten unsere Hände. „We also believe“, sagte mein Begleiter, der Priester ist.
So waren wir beieinander, wir drei. Und schauten in den Himmel. Ganz kurz nur verharrten wir so an dem Ort der Katastrophe; drei Menschen, die der Zufall zusammengebracht hatte. Im Gebet vereint.
*
Als wir wieder in München waren, fragte ich mich:
Wessen Gott ist nun der richtige: Jahwe, Allah oder Gott?
Wem gehört der „Vater unser“, zu dem wir beten?
Und wer hat recht?
Welche Religion stimmt? Das Judentum, der Islam oder das Christentum?
Und wer betet richtig?
Die, die winzige Zettel in die Klagemauer stecken? Oder die, die in der Grabeskirche auf dem nackten Boden knien? Die, die im Ramadan ausgelassen „Allahu Akbar“ rufen? Oder die, die die Via Dolorosa entlangpilgern, mit einem großen Kreuz an der Spitze ihres Zuges? Die, denen das Gebet im Halse stecken bleibt vor Angst? Oder wir drei, die wir am Gedenkstein standen und Richtung Himmel schauten?
Solche Fragen stellen sich in Jerusalem nicht. Hier leben die Menschen ihren Glauben und lassen die anderen ihren leben.
Ich vermute, Gott gefällt das. Denn egal, wie man ihn nennt, Jahwe, Allah oder Gott. Und egal, wie man betet, vor der Westmauer, Richtung Mekka oder unter dem Kreuz: Gott gehört niemandem.
Der „Vater unser“, zu dem wir beten, ist nicht unser Vater. Sondern der Vater aller, die an ihn glauben. Er ist der Adressat jeder Sehnsucht. Auch meiner.
Vater unser im Himmel – schon in diesen ersten vier Worten steckt meine Sehnsucht. Denn der Himmel ist weit weg. Es ist die Sehnsucht nach Nähe und Schutz. Nach Vergebung und Nachsicht. Nach Angenommensein und Angekommensein. Nach Heimat. Nach Ruhe. Nach Heilung und Heil. Es ist die Sehnsucht nach Gott.
Meine Sehnsucht ist groß. Sie kann radikal sein. Zuweilen ist sie so gewaltig, dass ich mir wünsche, sie könne die Gewalten sprengen, die mich beengen. Und mir wünsche, dass nichts zwischen Gott und mir ist. Kein Priester, keine Kirche, keine Regeln, keine Dogmen, keine Gebote, erst recht keine Verbote, nicht die Bibel, ja noch nicht einmal mein Glaube. Ich will nicht, dass er mir in die Quere kommt und meinen Weg zu Gott behindert.
Ich will nicht glauben, weil es dazugehört.
Ich will nicht glauben, weil ich es soll.
Ich will kein „du sollst“ und kein „du sollst nicht“.
Ich will nicht glauben, weil ich sonst unterginge.
Ich will nicht, dass ich den Glauben brauche.
Ich will unabhängig von ihm sein.
Ich will keinen Glauben, der mein letzter Strohhalm ist.
Ich will keinen Strohhalm, durch den Gottes Lebenssaft fließt.
Ich will leben.
Ich will nicht daran denken müssen, was ich glaube.
Ich will nicht, dass der Glaube mir im Weg steht.
Ich will Gott gehören.
Ich will nicht glauben, dass mich von Gott nichts trennt.
Ich will, dass uns nichts trennt.
Ich will nicht glauben, dass Gott da ist.
Ich will, dass er da ist.
Im Grunde will ich gar nicht glauben.
Sondern sein.
Ich will „sein“ sein, ohne glauben zu müssen.
So, wie es Jesaja sagt: Du bist mein.
Nichts und niemand soll zwischen Gott und mir stehen. Bis auf Jesus, der mir zeigt, wie ich das schaffe. Auf dass ich weiß und nicht bloß glaube, dass der Vater im Himmel hier auf Erden ist. Bei mir.
Das will ich von Jesus. Dem Mittler. Und Weg.
Jesus kennt die Verzweiflung, die Sehnsucht (mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?). Jesus, der Mensch, der Gottessohn. Er kann mir helfen, weil er beides ist. Er kann mir den Weg zeigen, weil er selbst den Weg gegangen ist. Ihm kann ich vertrauen, ihm kann ich glauben, weil er all das kennt, was in mir ist. Und mich nimmt, wie ich bin. Ich muss mir nur die Sätze vor Augen führen, die er gesagt hat und die auch mir gelten.
Jesus sagt:
Komm zu mir, die du dich abmühst und belastet bist; ich will dir Ruhe schenken. (nach Mt 11,28)
Bitte und es wird dir gegeben. Suche und du wirst mich finden. Klopf an und ich werde dir öffnen. Denn wenn du bittest, empfängst du. Und wenn du suchst, findest du. Und wenn du anklopfst, wird dir aufgetan. (nach Mt 7,7–8)
Selig bist du, die du traurig bist, selig, wenn du weinst. Denn ich werde dich trösten. (nach Mt 5,4)
Jetzt bist du traurig. Aber ich werde dich wiedersehen. Dann wird sich dein Herz freuen und deine Freude nimmt dir niemand weg. (nach Joh 16,22)
Ich bin das Licht der Welt. Wenn du mir folgst, wirst du gewiss nicht in der Finsternis umhergehen, sondern das Licht des Lebens haben. (nach Joh 8,12)
Ich bin die Auferstehung und das Leben. Glaub an mich und du wirst leben, auch wenn du stirbst. Weil du lebst und wenn du glaubst, wirst du in Ewigkeit nicht sterben. (nach Joh 11,25–26)
Das alles sagt Jesus. Eine Zusage nach der anderen. Ein Zuspruch froher als der andere. Wie unwirklich das klingt. Und wie gut es tut. Die Sehnsucht, sie ist weg. Das alles gilt auch mir? Genüge ich, das zu verdienen? Ach, wenn ich das doch bloß glauben könnte.
*
Und dann fragt Jesus auf einmal: Glaubst du das? (Joh 11, 27)
Das ist der Satz, den ich von allen am meisten liebe. Dass Jesus mich fragt, ob ich das glaube. Dass er nicht enttäuscht ist, wenn ich das nicht kann. Dass er mich ernst nimmt, wenn ich Fragen habe. Dass er zu mir hält, wenn ich zweifle. Dass er mich nicht fallen lässt, egal, was ist. Dass er da ist, auch wenn ich außer meiner Sehnsucht nichts zu bieten habe.
Sonst würde er die Frage ja nicht stellen.
Jesus weist mir neue Wege. Er selbst, durch seine Frage: „Glaubst du das?“ Er ist auf meiner Seite, auch wenn ich „Nein“ antworte. Denn selbst dann öffnet er mir seine Tür. Selbst dann tröstet er mich. Selbst dann lässt er sich finden. Selbst dann gehe ich nicht im Finsteren. Selbst dann habe ich das Licht des Lebens. Selbst dann schenkt er mir Ruhe. Und mein Herz wird sich freuen.
Und ich werde in Ewigkeit nicht sterben.
Wenn Jesus mich wieder einmal fragt: „Glaubst du das?“, will ich ihm antworten: „Ja, das glaube ich.“ Weil ich ihm glauben will.
Eine der bekanntesten Bibelstellen neben dem Vaterunser ist vermutlich Vers 13 aus dem 1. Korintherbrief. Das ist der mit der Liebe, die die größte ist und niemals aufhört, das „Hohelied der Liebe“, wie es bei Luther heißt. Ich habe keine Ahnung, wie viele Brautleute diese Worte schon für sich gewählt haben, für wie viele Taufen oder Konfirmationen sie verwendet wurden. Ich weiß nur, dass alle sie mögen; jedenfalls alle, die ich kenne. Ich auch. Und dann auch wieder nicht.
Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei … aber die Liebe?
*
Wenn es in meinem Leben hart auf hart kam, spielte die Liebe keine Rolle. Die Hoffnung dafür umso mehr. Ich erinnere mich gut an eine Sitzung des Gemeinsamen Präsidiums, im Oktober 2008. Es ging darum, das Leitwort für den Ökumenischen Kirchentag 2010 in München zu finden. Zwei Begriffe standen im Zentrum unserer Überlegungen, die Liebe und die Hoffnung. Und wie das so ist bei solchen Sitzungen, ist nicht die Sitzung entscheidend, auch wenn dort entschieden wird, sondern das nächtliche Beieinandersein.
Wir waren vielleicht sieben, acht Leute, als wir uns spät am Abend in der Küche unseres Tagungsortes in Neuendettelsau wiederfanden. Und redeten. Lange stand es 1:0 für die Liebe. Bald aber hielten sich Hoffnung und Liebe die Waage. Am Ende obsiegte die Hoffnung. „Damit ihr Hoffnung habt“ hieß schließlich das Leitwort.
Vier Monate zuvor war mein älterer Bruder Andreas in München gestorben. Nur vier Tage bevor das Gemeinsame Präsidium zum ersten Mal zusammenkam, am 13. Juni 2008. Einen Moment hatte ich überlegt, ob es mir noch gelingen würde, meinen Aufgaben als Präsidiumsmitglied gerecht zu werden oder ob ich meinen Platz nicht besser einer anderen zur Verfügung stellen sollte.
Ich blieb.
Nie werde ich die konstituierende Sitzung in München-Fürstenried vergessen, die kleinen Gesten der anderen, den Halt, den sie mir gaben, obwohl wir uns noch gar nicht kannten. Immer denke ich daran, wenn ich Richtung Süden unterwegs bin und an dem schönen Exerzitienhaus des Erzbistums vorbeikomme.
Auch die Tagung in Neuendettelsau ist mir unvergessen. Weil ich hier zum ersten Mal nachdachte und mit anderen darüber sprach, was wirklich zählt, worauf es ankommt, wenn jemand stirbt.