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Es ist Sommer in Venedig: Die Biennale und der nicht enden wollende Touristenstrom prägen das Stadtbild. Auch Harry Oldenburg stürzt sich ins venezianische Getümmel. Zusammen mit seiner amerikanischen Freundin Zoe will er das Guggenheim Museum um zwei wertvolle Exponate erleichtern und sie in seinen eigenen Kunsthandel in New York überführen. Doch in der flirrenden Hitze der Lagune geht so einiges schief: Harry findet sich erst in den Fängen, dann im Bett der verführerischen Künstlerin Franca wieder – und entdeckt zu seinem Entsetzen auch noch einen Toten in ihrem Atelier
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Seitenzahl: 310
Sommer in Venedig: Die Biennale und der nicht enden wollende Touristenstrom prägen das Stadtbild. Auch Kunstdieb Harry Oldenburg stürzt sich ins venezianische Getümmel. Zusammen mit seiner amerikanischen Freundin Zoe will er das Guggenheim-Museum um zwei wertvolle Exponate erleichtern und sie in seinen eigenen Kunsthandel in New York überführen. Doch in der flirrenden Hitze der Lagune geht so einiges schief …
Für Gaby und die Gondolieri
Auch die Geschichte von Harry Oldenburgs zweitem Kunstcoup ist natürlich frei erfunden. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind also wieder rein zufällig. Joan Mirós »Sitzende Frau II« war nie aus dem Guggenheim-Museum am Canal Grande verschwunden. So viele japanische Touristen gibt es in Venedig gar nicht. Der Geruch aus den Kanälen im Sommer ist halb so wild. Es gibt auch schönes Muranoglas. Und die moderne Kunst ist in Wahrheit eine ernste Angelegenheit.
FONDAMENTA DELLA MISERICORDIA. Der auf die Hauswand gemalte Name flog an Harry Oldenburg vorüber, als er mit viel zu hoher Geschwindigkeit in den größeren Kanal einbog. Ganz knapp bekam er die Kurve. Von seinem Motorboot aus konnte er die Schrift gerade noch erkennen. Verflucht noch mal, war er etwa wieder an derselben Stelle?
Aus dem offenen Fenster des Eckhauses kam die heisere Stimme von Gianna Nannini. Jetzt fuhr er wieder unter der Inter-Mailand-Bettwäsche hindurch, die über dem Kanal zum Trocknen hing. Vor dem Restaurant etwas weiter hinten standen die Leute inzwischen unter den Sonnenschirmen und zeigten auf ihn. Dann kam die kleine Piazza mit der Bude in Sicht. Auf dem schmalen Kai liefen einige Leute wild gestikulierend auf und ab. Das waren die Besitzer des Bootes, das Harry gerade steuerte.
»Venite! Venite! Ecco Gambadigesso!«, rief der Mann in dem knallblauen Shirt der Azzurri mit der Rückennummer drei. Harry hatte ihn hier in den letzten Tagen mehrfach sitzen sehen.
Tatsächlich! Jetzt war sich Harry sicher: Er war schon wieder auf diesem idiotischen Rio della Misericordia gelandet.
Da tauchte hinter ihm erneut das schnittige Boot des italienischen Commissario auf. Harry drehte hektisch an dem Gasgriff des Außenborders. Die nagelnde Maschine verschluckte sich kurz mit einem nach Benzin stinkenden Puffen. Dann nahm der alte Kahn richtig Fahrt auf. Die Bugwelle hinter ihm schwappte über den Gehweg der Fondamenta, sodass das japanische Touristenpaar juchzend zur Seite hüpfen musste. Der Abstand zu dem schnieken Holzboot des Kommissars hatte sich trotzdem verringert.
Es war offensichtlich doch keine so gute Idee gewesen, sich von diesen Typen an der kleinen Piazza das Boot »auszuleihen«. Aber warum musste sein Besitzer auch unbedingt den Motor laufen lassen, nachdem er an den Fondamenta festgemacht hatte? Und Harry verließ langsam die Kraft. Der Assistent des Commissario, dieser kleine, aber schwergewichtige Ispettore in der blauen Uniform mit dem weißen Gürtel quer über der Brust und den roten Streifen an den Hosenbeinen, war ihm bei der Verfolgungsjagd durch die Gassen bedrohlich nahe gekommen. Das Gipsbein behinderte Harry einfach zu sehr und er war auf den vielen kleinen Treppen mächtig aus der Puste gekommen. Sollte der geniale Einfall mit dem Gehgips ihn jetzt womöglich Kopf und Kragen kosten?
Da tauchte plötzlich die kleine Piazza auf, die er in den letzten Tagen schon etliche Male überquert hatte. Neben einer Bude direkt am Kanal hatten immer dieselben Männer in Sportklamotten unter Sonnenschirmen gesessen, Sprizz getrunken und sich lautstark unterhalten. Und heute lag praktischerweise auch noch dieses Boot mit laufendem Motor am Kai. Harry musste einfach nur einsteigen. Die Typen reagierten erst, als Harry das Boot losmachte und ablegte. Da sprang der Mann in dem azurblauen Shirt mit der weißen Drei auf dem Rücken und dem Namen »Paolo Maldini« darunter aus seinem Gartenstuhl auf, ruderte wild mit den Armen und schrie Harry ein kehlig krächzendes »La barcaè mia, stronzo!« hinterher.
Bisher war eigentlich alles nach Plan gelaufen, zumindest sehr viel reibungsloser als bei Harry Oldenburgs erstem Kunstcoup, den er vor ein paar Jahren noch alleine und ziemlich chaotisch durchgezogen hatte. Den Diebstahl jetzt, in der Guggenheim-Foundation, hatte er gemeinsam mit seiner amerikanischen Freundin Zoe minutiös geplant. Und der Coup an sich hatte ja auch perfekt geklappt. Bis dann heute Morgen diese beiden Polizisten aufgekreuzt waren. Durch seine panikartige Flucht hatte sich Harry natürlich erst richtig verdächtig gemacht. Aber mit der italienischen Polizei wollte er auf keinen Fall etwas zu tun haben, und er wusste auch nicht, was dieser eitle Commissario Lompo im blauen Polohemd und sein rundlicher Ispettore mit dem kleinen Schnauzbart von ihm wollten. Er hatte eigentlich gar keine Zeit für solche Spielchen. Er müsste sich viel dringender um den Miró kümmern. Nicht dass der noch von den Ratten angefressen würde. Das wäre wirklich jammerschade.
Doch vor allem machte er sich die größten Sorgen um Zoe, insbesondere nach dem bedrohlichen Anruf von Franca. Was führte diese Schlange Francesca Zenga im Schilde? Wo steckte Zoe bloß? Sie war vorhin nur kurz losgegangen, um nach einer farmacia zu suchen. Er musste sie unbedingt warnen. Harry konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und dann diese unglaubliche Hitze!
Eben hatte er das Keuchen des dicken Ispettore ganz dicht im Nacken gespürt. Den war er erstmal los. Doch jetzt schien auch der Motor des Bootes Schwierigkeiten zu machen. Er nagelte ungesund und nahm das Gas immer erst mit einiger Verzögerung an. Aber Harry steuerte das Boot geschickt durch die engen Nebenkanäle. Als er zum dritten Mal die Fondamenta della Misericordia passierte – dieses Mal in normalem Tempo –, schien er die Polizei endgültig abgehängt zu haben. Dafür bemerkte er den Hund, der auf einmal im Boot vor ihm stand. Er war von undefinierbarer Farbe und Rasse, irgendwo zwischen Riesenschnauzer und Collie, und musste wohl im vorderen Teil des Bootes gepennt haben. Jetzt stand er mit den Vorderpfoten auf der Reling und hielt genüsslich seine Schnauze in den Fahrtwind.
Harry fuhr an dem »Antica Mola« vorbei, dem Restaurant, wo er und Zoe in den letzten Tagen immer wieder risotto nero und vor allem sarde in saor gegessen hatten. Ein paar Deutsche saßen an einem der Tische draußen. Die anderen Mittagsgäste waren aus der Sonne nach drinnen geflüchtet. Zwei Männer in blauen Overalls trugen einen gigantisch großen venezianischen Spiegel mit einem wuchtigen goldenen Rahmen von den Ausmaßen eines Handballtores über eine Brücke.
Verzweifelt versuchte Harry sich zu orientieren. Er wohnte zwar schon seit fast einer Woche in Cannaregio, aber vom Wasser sah alles ganz anders aus. Die Straßennamen waren, wenn überhaupt, nur schwer zu lesen. Und statt der verschiedenfarbigen Häuserfassaden hatte Harry vom Boot aus vor allem die moos- und algenbewachsene Wasserkante auf dem maroden Mauerwerk im Blick.
Er reduzierte das Tempo und steuerte das Boot nach rechts in einen kleinen Seitenkanal. Hoch über ihm hingen schlapp schon wieder die beiden Garnituren schwarz-blau-gestreifte Inter-Mailand-Bettwäsche. Auf dem Wasser dümpelten eine halb verrottete Obstkiste und ein ausgedienter Gummihandschuh. Das Wasser roch faulig.
Er bog noch einmal rechts ab. Auf jeden Fall musste er von diesem Rio della Misericordia wegkommen. Wer weiß, ob die Typen von der Getränkebude inzwischen nicht schon ein anderes Boot organisiert hatten, um ihn zu verfolgen.
Ganz eng schob Harry sein Boot an einem anderen vorbei, auf dem ein kleiner Schaufelbagger montiert war, mit dem ein Mann Sand auf eine Schubkarre lud. Als er das Bauboot gerade passiert hatte, zuckte Harry zusammen.
Ein Stück weiter links, parallel zu sich im nächsten Kanal, sah er wieder das schnittige Holzboot des jungen Commissario. Harrys Puls schnellte augenblicklich in die Höhe. Er überlegte nicht lange und gab Gas. Der Motor hüstelte kurz und dann streckte das Boot seinen Bug aus dem Wasser. Der Hund wechselte schwanzwedelnd auf die andere Seite. Das Hämmern des Motors hallte von den Wänden der engen Kanalschlucht wider. Harry bog erneut in den Rio della Misericordia ein.
Im selben Moment drehte sich auch das schlanke Holzboot des Commissario in den größeren Kanal. Während Harry auf der Bank am Heck des Bootes neben dem Außenborder hockte, stand dieser eitle Fatzke von Kommissar in seinem blauen Polohemd mit hochgestelltem Kragen hinter einem richtigen Steuerrad. Seine Spiegelsonnenbrille blitzte in der Sonne. Harry drehte den Gasgriff bis zum Anschlag. Schon von Weitem sah er den Bootsbesitzer in dem Azzurri-Trikot aufgeregt schimpfend auf den Fondamenta entlangtigern.
»Porca miseria! Da ist er, der verdammte Idiot mit dem Gipsbein«, rief der Mann. Der zottelige Hund an Bord bellte freudig ein paar Mal.
Die gefärbte Blondine in dem orangefarbenen Trainingsanzug, die in der Bude den Sprizz ausschenkte, drohte ihm mit der Faust. »Gambadigesso! Wir kriegen dich.«
Der Ispettore stand immer noch keuchend daneben. Er hatte seine Mütze abgenommen und sah ihm traurig hinterher mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er noch etwas sagen.
In einem Abstand von vielleicht fünfzig Metern pflügten die beiden Boote durch das brackige Wasser. Der Hund drehte sich kurz zu Harry um. Er guckte recht freundlich, als würden sie jeden Tag zusammen so über die Kanäle jagen.
Commissario Lompo war hartnäckiger, als Harry gedacht hatte. Jetzt wollte er es offensichtlich wissen. Wenn diese jungen Italiener in Venedig schon nicht Vespa fahren konnten, dann karriolten sie wenigstens in ihren Motorbooten durch die Kanäle, dachte er. Dieser Lackaffe mit seiner blöden Sonnenbrille, der nicht wie ein Beamter, sondern eher wie ein verzogener Playboy aussah, jagte ihn mit Feuereifer durch die engen Kanalschluchten.
Das japanische Paar hatte die Fotoapparate gezückt und die Restaurantgäste im »Antica Mola« hatten ihre Stühle zum Kanal gedreht. Die beiden Typen im Blaumann bogen mit ihrem antiken Riesenspiegel gerade Richtung Campo San Marziale ab, gleich um die Ecke, wo Harry und Zoe die letzten Tage gewohnt hatten. Harry sah sein Spiegelbild im Boot einmal durch den venezianischen Goldrahmen fahren. Und als er erneut bei Gianna Nannini vorbeikam, war das Boot des Kommissars auf einmal verschwunden.
Den Gasgriff auf der kleinsten Stellung, sodass der Motor gerade eben am Laufen gehalten wurde, tuckerte Harry eine Weile durch Seitenkanäle. Wie durch ein Wunder hatte er Commissario Lompo abgehängt. Das war Harrys Chance. Jetzt müsste es ihm doch gelingen, aus dem Cannaregio-Viertel herauszukommen und sich wenigstens zum Canal Grande durchzuschlagen oder auch Richtung Lagune zu den Fondamenta Nuove. Wenn er nur wüsste, wo er hinmusste.
Plötzlich glaubte er, Zoe in einer dunklen Hausunterführung verschwinden zu sehen. Er sah die Frau nur von hinten. Sie hatte Zoes Frisur, soweit er das erkennen konnte. Aber sie trug so eine schwarze Leinenjacke wie diese Francesca. Harry konnte sich darauf keinen Reim machen. Er musste sich getäuscht haben.
Vielleicht sollte er es doch wieder zu Fuß versuchen, trotz des blöden Gipsbeins. Das Sportboot von Lompo war nicht in Sicht und auch der Ispettore war weit weg. Aber es war nicht möglich, einen freien Platz zum Anlegen zu finden. Warum sollte er das Boot nicht einfach seinem Besitzer wieder zurückbringen? Die Sprizz-Trinker wären ihm beim Anlegemanöver ganz sicher behilflich. Oder würden sie ihn gleich der Polizei übergeben? Harry hielt das für unwahrscheinlich. Und er hatte recht. Der Mann im Azzurri-Trikot war einfach nur froh, dass er sein Boot wiederbekam. Er war sogar richtig freundlich. Und mit der Polizei schien er nicht allzu viel am Hut zu haben.
»La barca è super«, radebrechte Harry und drückte dem verduzten Typ zwei Zehntausend-Lire-Scheine in die Hand. »Per benzina.«
»Signore fahre nicht das erste Mal Boot«, versuchte Maldini das Kompliment auf Deutsch zu erwidern. Und damit hatte er ja gar nicht mal unrecht.
Im Weggehen sah er noch, wie sich der Hund mit einem beleidigten Blick im vorderen Teil des Bootes wieder zum Schlafen legte.
Den Fußweg Richtung Rialtobrücke kannte er in- und auswendig. Einfach die Strada Nova hinunter. In dem quirligen Straßenleben mit den zahlreichen Läden und Bars, mit afrikanischen Taschenverkäufern und Touristen aus aller Welt fühlte er sich gleich sicherer.
»Look, look, Sweety, these beeeauuuutiful masks«, flötete eine nicht mehr ganz junge, grell geschminkte Amerikanerin, die aussah, als hätte sie schon eine Maske auf.
»Gugge mal, alle möschlische Diere aus Glas«, kam es aus einer größeren Touristengruppe. Trotz der Hitze trugen alle Jacken, die Älteren graue Anoraks und die Jüngeren seltsam gefleckte Jeansjacken. Den Dialekt kannte Harry nur aus albernen DDR-Witzen und Katharina-Witt-Interviews. Als er Deutschland vor ein paar Jahren verlassen musste, war die Mauer noch nicht gefallen. Leibhaftige Sachsen hatte er noch nie gesehen, soweit er sich erinnern konnte.
»Gaddsen, Hasn un gugge mal – ä Granisch«, sagte eine Frau mit Dauerwelle, die als Einzige keine Jacke, sondern ein T-Shirt mit der Aufschrift »I love Venice« trug. Statt des »Love« ein rotes Herz.
»Scheeen«, fand eine andere.
»Nu, subbr«, bestätigte ein kleiner Typ mit längeren Nackenlocken über der gelblich verwaschenen Jeansjacke mit Blick auf das Tierleben aus Glas.
Der Touristenrummel, den Harry eigentlich verachtete, kam ihm jetzt äußerst gelegen. Nur sein blödes Gipsbein fiel natürlich auf. Zumal sich niemand mit einem Gehgips so hektisch bewegen würde wie Harry gerade die Calle San Felice hinunter. Tatsächlich, die Leute drehten sich um, sobald sie seinen ungewöhnlich groß geratenen Gips bemerkten. Je näher er Rialto kam, desto dichter wurde das Treiben. Kleine Japaner, die Venedig durch die Sucher ihrer Minoltas betrachteten, Deutsche, die einen über den Haufen rannten, weil sie sogar im Gehen in ihren Reiseführern lasen, und schwergewichtige Amis in Bermudas und Hawaiihemden, die kaum durch die schmalen Gassen passten und laut »Amaiiizing« riefen.
Harry brach schon wieder der Schweiß aus, obwohl er nur Shorts und T-Shirt trug. Unter dem Gips spürte er ein unangenehmes Jucken. Statt sich weiter schwitzend und humpelnd an den Andenkenläden vorbei über die Brücke zu schleppen, wollte er das Traghetto am Campo San Sofia nehmen, eine öffentliche Gondel, die Passanten für wenige Lire über den Canal Grande setzte. Sollte er sein Gipsbein einfach mal kurz abnehmen? Nur solange er sich hier im Schutz des Touristenstromes bewegte? Nein, das war zu riskant. Ohne Gipsbein durfte ihn niemand sehen. Dann wäre der ganze schöne Plan dahin.
Bis auf die kleine Bootstour eben hatte doch alles perfekt geklappt. Zoes Idee mit dem Gips hatte sich hervorragend bewährt. Die Vorbereitungen für den Raub des Miró und vor allem der Giacometti-Figur waren sehr viel aufwendiger gewesen als bei seinem ersten Kunstcoup. Zoe und er hatten die Örtlichkeiten im Guggenheim-Museum am Canal Grande sorgfältig ausgekundschaftet, die Abläufe ganz genau geplant. Gott sei Dank war er mit Zoe wieder im Reinen. Sie hatten sich versöhnt nach seinem Ausrutscher. Aber damit schien die Affäre noch nicht erledigt zu sein. Dabei war es doch nur diese eine Nacht auf der Giudecca gewesen. Sollte sich das jetzt doch noch als verhängnisvolle Affäre entpuppen? Harry hatte damit abgeschlossen, aber ob Francesca das auch so sah? Die Dame hatte schon ein erstaunliches Temperament. Das hatte Harry in dieser stürmischen Nacht auf der Giudecca erfahren. Und schließlich hatten sie die rassige Franca ja auch ziemlich clever in ihren Plan integriert. Sollte sich das jetzt rächen? Auf jeden Fall musste er sich um Zoe kümmern.
Wenn nur dieses verfluchte Jucken unter dem Gips nicht wäre. Aber das war sehr schnell nebensächlich. Denn plötzlich sah er die dicke blaue Uniform mit den roten Streifen die Stufen eines sich elegant über den Kanal schwingenden Ponte alles andere als elegant herunterpoltern. Hatte er Harry überhaupt schon bemerkt? Harry überlegte nicht lange und versuchte in der sächsischen Reisegruppe unterzutauchen.
»Nichts passiert«, sagte Harry, als die Frau mit der Dauerwelle und dem roten Herz ihm auf seinen Gipsfuß trat.
»Ach, Sie gomm ooch aus Deutschland. Mir gomm ausm Osten. Mir sin zum erschdn Mal in Venedisch.«
Eine andere Dauerwelle in Regenjacke war weniger zutraulich: »Muddi, pass auf, die Dasche.«
Harry lächelte bemüht und versuchte zwischen DDR-Jeansjacke und »I-love-Venice«-Shirt in Deckung zu gehen.
»Mir sin aus Pirna, das is bei Dräsdn, ä Stickl de Älbe nuff«, sagte der Hänfling.
So genau wollte Harry es im Augenblick gar nicht wissen. Unterdessen war der schwitzende Ispettore mit dem kleinen Schnurrbart bedrohlich näher gekommen. Harry hatte das Gefühl, dass er entdeckt worden war. Der Knirps in der Jeansjacke bot keine ausreichende Deckung mehr.
Harry stürmte humpelnd los, ein Stück die Strada Nova hinunter und dann in ein Gassen- und Kanälelabyrinth hinein. Stellenweise war an den Touristenknäueln kaum vorbeizukommen. Es gab auch eine farmacia. Aber von Zoe nichts zu sehen.
Fast hätte Harry sich in den Henkeln eines falschen Louis-Vuitton-Täschchens eines afrikanischen Straßenverkäufers verheddert. Wenn er sich umdrehte, tauchte hinter ihm im Touristengewimmel immer mal kurz die blaue Uniform auf. Aber einige Meter Vorsprung hatte er noch.
Ruga due Pozzi, Calle Zotti, Campo dei SS Apostoli. Die auf die Hausecken gemalten Namen, die Hinweisschilder auf RIALTO oder den Bahnhof, FERROVIA, mit abgeknickten Pfeilen darunter, flogen ebenso wie die Geräuschfetzen an ihm vorüber. »Look here! Beautiful« – »Subarashi« – »Unbelievable!«
Die Schaufenster in den engen Gassen quollen über von Plastikgondeln mit Innenbeleuchtung, einem wahren Horrorkabinett von Muranoglasfiguren und immer wieder Masken, Masken, Masken. Es muffelte aus den Sielen und nach Touristenpizza zum Mitnehmen.
Harry lief, so schnell er konnte. Er musste diesen Polizisten abhängen. Ihm lief der Schweiß jetzt in Strömen über das Gesicht und unter seinem Shirt fühlte er das Wasser herunterlaufen. Sein Gesicht musste knallrot sein. Aber sein Oberkörper fühlte sich durch den Luftzug beim Laufen stellenweise fast kühl an. Calle – Campiello – Rio – die einzelnen Worte der längeren Straßennamen gerieten im Vorbeihetzen durcheinander. Parrocchia, Sottoportego. In seinen Augenwinkeln verwischten die Buchstaben wie auf einem unscharfen Foto.
Sottoportego? War das nicht so etwas wie ein Durchgang? Viele dieser kleinen Gassen endeten im Nichts. Harry lief trotzdem hinein. Er landete vor einem Hauseingang voller blank geputzter goldener Klingelknöpfe. Er wurde langsamer, um wieder etwas zu Atem zu kommen. Sein Puls schlug ihm bis zum Hals. Er hatte keine Ahnung mehr, wo er war. Verdammte Scheiße! Er hatte schon wieder die Orientierung verloren. Aber dann sah er auf der abgeblätterten Hauswand das Hinweisschild auf das Traghetto, mit dem er über den Canal Grande setzen wollte.
Und er hörte die Stimmen der sächsischen Reisegruppe. »Gugge mal. De ganze Wäsche da ohm.«
»Scheen.«
Schon schaukelte Harry zusammen mit seinem Freund in der Jeansjacke, zehn weiteren Sachsen und zwei Gondolieri über den Canal Grande, während »Muddi, die Dasche« sichtlich verstört am Traghetto-Anleger Santa Sofia zurückblieb. Der gesamte Bus des Radebeuler Reiseunternehmens passte schlecht auf eine Gondel.
»Ehnmolisch«, flötete das Venice-Herz, während ein Vaporetto der Linie eins die Gondel umschiffte. Das Traghetto steuerte auf den Campo della Pescaria zu, den Fischmarkt in der Halle mit den rot leuchtenden Stoffmarkisen.
Wo wollte Harry eigentlich hin? Er musste zurück in seine Wohnung und Zoe warnen, damit sie der verrückten Franca nicht in die Hände fiel. Aber erst mal musste er sicher sein, die Polizei abgehängt zu haben. Er suchte den Schutz der Touristenmassen, die sich in der brütenden Mittagshitze durch die Gassen zwischen Rialtobrücke und San Marco schoben. Es roch nach Schweiß, Desinfektionsmitteln und frittierten Calamari.
»Gondola! Gondola! You wanna ride?«
»Mensch Junge, lass mich bloß in Ruhe«, zischte Harry hechelnd mehr zu sich selbst, während er sich auf einer Brücke im Slalom durch eine Gruppe Amerikaner kämpfte.
»Look, look amaiiiizing.« Unter ihnen kam es zu einem regelrechten Verkehrsstau der Gondeln.
»Eccolo lì, Gambadigesso! Alt! Fermatelo!« Plötzlich war der Schnauzbart in Uniform wieder da. Irgendwie musste er ihm vor der Rialto den Weg abgeschnitten haben. Die umstehenden Touristen sahen den Polizisten verständnislos an.
Harry sprang kurz entschlossen auf die erste der in dem engen Kanalstück nebeneinanderliegenden Gondeln. Einer der Gondolieri, im traditionellen Ringelhemd, erzählte gerade in italienischem Englisch blumige Märchen aus der Zeit der Dogen. Eine in einem Brokatkissen im Heck der Gondel hängende Frau juchzte, zwei Asiatinnen kicherten und zückten blitzartig die Kameras, als Harry eher plump als behände, mit seinem Gips quer über die Gondeln trampelte. Die beiden Gondolieri fanden es weniger lustig. Da war Harry schon über die zweite Gondel ans gegenüberliegende Ufer gesprungen. Den Ispettore ließ er protestierend zurück.
Auf der Piazza San Marco stand die Mittagshitze. Die Fremdenführer aller Herren Länder hatten unter kleinen Fähnchen ihre Kohorten gesammelt und ließen sie jetzt kreuz und quer über den Platz aufeinander zumarschieren. Franzosen gegen Amerikaner, Italiener hinter einer Nationalflagge aus Papier gegen Japaner unter einem Regenschirm, eine deutsche Übermacht gegen ein paar hoffnungslos unterlegene Dänen. Ein Geschwader knatternder Tauben stürzte sich auf das von einem kleinen Mädchen im Rüschenkleid hingehaltene Vogelfutter.
Harry schlüpfte zwischen den Fronten hindurch, an Dogenpalast und Löwen vorbei über die Piazzetta Richtung Anleger San Zaccaria. Dort traf er wieder mit einigen Versprengten der sächsischen Reisegruppe zusammen und bestieg mit ihnen das Vaporetto Nummer eins.
»Rialto, Piazzale Roma«, rief der Kartenabreißer, während die Touristen von dem schwankenden Anleger massenhaft auf das Schiff drängten.
Harry fühlte sich sicher, als das Boot den Canal Grande hinauffuhr und polternd an Salute anlegte und anschließend an der Accademia. Er fühlte sich so sicher, dass er an der Ca’ d’Oro aussteigen wollte, um endlich zu Zoe und seiner Wohnung zu kommen. Aber dann sah er neben dem Vaporetto das schnittige Polizeiboot auftauchen. Irgendwoher wusste der Kommissar, dass Harry sich auf dem Vaporetto der Linie eins befand. Sein Boot überholte nicht, sondern eskortierte das Vaporetto. Und dann tauchte ein zweites sehr viel kleineres Polizeiboot mit der offiziellen Aufschrift »Polizia« und mehreren Beamten an Bord auf. Harry wurde es mulmig, Panik machte sich in all seinen Gliedmaßen breit.
An der Station San Silvestro waren die Passagierzugänge gesperrt. Niemand durfte das Schiff verlassen oder betreten. Außer dem schnauzbärtigen Ispettore, der leicht schwankend und mit hochrotem Kopf zusammen mit zwei Kollegen das Schiff betrat und Harry triumphierend aufforderte mitzukommen.
»Signor Oolden-burg-e, per favore.«
Während der Commissario in seinem Boot vor dem Anleger kreuzte, wurde Harry unter den Blicken der neugierigen Touristen in das Polizeiboot bugsiert.
»Gugge mal, mir kam där do glei goomisch vor«, rief »Muddi, die Dasche« ihm noch hinterher.
In dem lächerlich kleinen Boot war grade mal Platz für zwei Personen. Zu viert war es unfassbar eng. Harry saß dem dicken Ispettore praktisch auf dem Schoß.
Auf dem Weg zur Questura sah er eine Brücke nach der anderen über sich hinwegziehen. Der Commissario war vorausgefahren. Als das kleine Polizeiboot an der Questura am Rio di San Lorenzo anlegte, war Lompo längst da und wischte die Holzplanken auf dem Bug seines Bootes mit einem flauschigen Lappen trocken.
Harry wurde über Steintreppen und Terrazzoflure in ein karges Zimmer geführt. Jetzt saß er auf einem Stuhl mit Stahlrohrbeinen und einem Sitz aus Kunststoff vor einem klobigen alten Holztisch mit einer abgestoßenen grünen Schreibunterlage. Das ganze Mobiliar hatte sicher schon bessere Zeiten gesehen. An der Wand hing eine italienische Flagge. Vom Fenster aus, das halb mit Jalousien verhängt war, konnte man wahrscheinlich auf den Kanal hinuntersehen. Als der Commissario den Raum betrat, hatte er seine Spiegelsonnenbrille abgenommen und der Kragen seines Shirts war heruntergeklappt.
»Signor Oldenburg«, setzte er an, und er tat dabei so, als wäre die ganze Verfolgungsjagd eine sportliche Veranstaltung gewesen. »Wohin wollten Sie denn so schnell?«, fragte er auf Englisch mit italienischem Akzent. »Wir hatten noch ein paar Fragen an Sie.«
Harry überlegte fieberhaft, wie er sein Verhalten erklären könnte. Dieser Polizist konnte ihm durchaus unangenehme Fragen stellen. Er untersuchte nicht nur einen Kunstdiebstahl, sondern auch einen Mordfall. Harry fragte, ob er rauchen dürfe, und zündete sich eine Chesterfield an. Als er den Stuhl rückte, hallte das Schrappen der Stahlbeine auf dem Terrazzo durch den ganzen Raum.
»Wir wollten Sie noch einmal zu den Vorgängen in dem Palazzo der Fondazione Guggenheim befragen, Signor Oldenburg. Und zu Ihrem Verhältnis zu Signora Francesca Zenga.«
Harry drehte nervös die Glut seiner Zigarette in dem nur notdürftig gesäuberten großen Aschenbecher. Der Commissario guckte ernst.
»Man hört … Wie soll ich mich ausdrücken? … Signora Francesca ist eine attraktive Frau.«
Dabei verzog er andeutungsweise einen Mundwinkel zu einem süffisanten Grinsen.
Die Lagune lag glitzernd unter ihnen. Harry Oldenburg versuchte an dem Dicken vorbei, der laut schnarchend neben ihm saß, einen Blick aus dem Flugzeugfenster zu werfen. Er beugte sich über ihn, soweit das zwischen dem zurückgestellten Vordersitz und dem Bauch in einem eierschalenfarben glänzenden Hemd, das irgendwie nach Kunstfaser aussah, überhaupt möglich war. Der Typ war erst kurz vor dem Start an Bord gekommen. Er hatte eine voluminöse Umhängetasche und sein himmelblaues Jackett in die Gepäckablage gestopft und ohne ihn anzusehen etwas Unverständliches gegrummelt. Obwohl er gar nichts Richtiges gesagt hatte, meinte Harry einen osteuropäischen Akzent erkannt zu haben. Als die Stewardess mit dem Getränkewagen kam, hatte er das Wort »Whiskey« ausgesprochen, dass es wie »Wodka« klang. Russisch vielleicht. Noch vor dem Start verschlang der Dicke in Rekordgeschwindigkeit den Inhalt zweier Alitalia-Snacktüten und spülte mit drei angesichts seiner Leibesfülle absurd winzig wirkenden Ballantine’s-Fläschchen nach. Jetzt rutschte er schwitzend und schnarchend noch ein Stück näher zu Harry herüber.
Im Fenster hinter dem eierschalenfarbenen Russen konnte Harry jetzt das Wasser sehen. Sie hatten die Reihe direkt über der Tragfläche. Aber an dem genieteten Metall des Flügels mit dem Schriftzug »Do not Walk Outside this Area« vorbei meinte Harry jetzt die Silhouette von Venedig erkennen zu können.
Direkt unter ihnen zog ein Motorboot seine Spur durch das Wasser Richtung Venedig und zeichnete helle Linien in die blaue Lagune. In Harrys Erinnerung schoben sich ganz unterschiedliche Bilder übereinander: der letzte Sommer mit Zoe an der amerikanischen Ostküste in North Carolina, die erste Italienreise als Jugendlicher und nicht zuletzt Erinnerungen an seine norddeutsche Heimat, das flirrende Sommerlicht über dem Wattenmeer an der Nordsee. Ganz seltsam. Für einen Moment war alles eins. Schließlich war die Lagune von Venedig nichts anderes als ein kleines Wattenmeer. Als sich die Steuerruder ächzend hochstellten und die Maschine mit einem Ruck an Höhe verlor, sodass er auf einmal die einzelnen Wellen erkennen konnte, war alles wieder wie weggewischt. Er befand sich eindeutig im Anflug auf den Aeroporto Marco Polo.
Er war von New York nach Mailand geflogen und von dort mit Alitalia in einer kleinen Fokker nach Venedig. Zu der Reise hatte sich Harry ziemlich spontan entschlossen. Er wollte sich schon immer mal im Guggenheim-Museum umsehen. Insbesondere interessierte er sich für Mirós »Sitzende Frau II«. Und die Sicherheitsvorkehrungen in der denkmalgeschützten Villa von Peggy Guggenheim am Canal Grande sollten angeblich nicht auf dem allerneusten Stand sein. Nachdem er einmal in ein Museum eingestiegen war, hatte Harry Gefallen daran gefunden und immer von einem weiteren Kunstcoup geträumt. Und Zoe war von dieser Idee regelrecht elektrisiert. Immer wieder hatten sie in den letzten Jahren davon geträumt, durch Südeuropa zu reisen. Ab und zu wollten sie dem einen oder anderen Museum einen kleinen Besuch abstatten: dem Picasso-Museum in Antibes, Dalí in Figueres oder eben der Guggenheim-Foundation in Venedig.
Sie hatten in Hamburger-Delis in Midtown gesessen und sich ausgemalt, in verstaubten Grandhotels zu wohnen. In TriBeCa, in einem Kino mit Kord bezogenen Klappsesseln, hatten sie sich alte Filme von Fellini und Godard angesehen. Danach träumten sie davon, wie Mastroianni nachts auf einer Vespa über die Via Veneto zu fahren oder wie Belmondo und Anna Karina im offenen Alfa auf der Flucht die Côte entlang. Sie hatten sich vorgestellt, das Leben von amerikanischen Künstlern zu führen, die sich in Europa ihre eigene Moral erfanden.
Und dann war Zoe vor ein paar Tagen zum Frühstück mit diesen Maklerangeboten angekommen. Verkaufsprospekte schrecklich netter Häuschen in den Vororten schrecklich netter kleiner Collegestädtchen in Connecticut oder im Staat New York.
»Harry, you will love the countryside.«
Er stellte sich weiß gestrichene Holzhäuschen mit einer weiß gestrichenen Veranda und einem Holzzaun vor. Die Broschüre des Maklerbüros aus Albany, N. Y., zeigte allerdings keine Fotos, sondern nur eine gezeichnete Skizze einer Hausansicht, vermutlich um den schlechten Zustand ihrer Verkaufsobjekte zu verschleiern.
»Hier unten müssten wir natürlich alle Wände herausreißen!«, ereiferte Zoe sich. »Harry, schau dir wenigstens den Grundriss mal an! Und oben wäre Platz für ein Kinderzimmer.« Sie sah ihn prüfend an.
»Zoe, du bist Anfang zwanzig. Willst du es dir jetzt schon gemütlich machen? Kinder schaukeln, Quilts nähen und Blueberrycakes backen?«
Harry hatte sich trotzig eine Chesterfield angezündet.
Im Gegensatz zu dem nächtlichen Transatlantikflug von J. F. K. nach Mailand, bei dem die meisten bei »Stirb Langsam 2« im Bordkino in ihren Wolldecken friedlich eingenickt waren, waren die Passagiere der kleinen Fokker beim Anflug auf Venedig regelrecht aufgekratzt, mal abgesehen von dem schnarchenden Russen.
Zwei ältere Amerikanerinnen, beide vollständig in Rosa – eine hatte sogar rosa Haare – zeigten sich gegenseitig Tintoretto-Bilder in einem Kunstreiseführer.
»Is’t that beauuutiful?«
»Yeah, maaagical!« Dabei riss die mit der rosa Frisur ihren selbstverständlich ebenfalls grell rosa geschminkten Mund auf, als könnte sie kaum glauben, was sie da sah.
Ein niederländischer Junge vor ihm zeigte aufgeregt auf das sich knarzend aufstellende Querruder der Maschine und sagte zu seinem blonden Vater einen Satz, aus dem Harry mehrfach das Wort »dat« heraushören konnte. Und dann war da diese Frau, die im Gang gegenüber saß. Sie hatte eine wilde schwarze Mähne und trug einen schwarzen Hosenanzug aus Leinen und eine große Sonnenbrille, deren grünliche Tönung nach unten hin heller wurde. Vor allem fielen ihm ihre Schuhe auf. Es waren schwarze Westernstiefel mit Absatz und einer dicken Schnalle, durch die ein nietenbesetzter Riemen lief. Als sie direkt neben seinem Sitz mit dem Rücken zu ihm zwei große Einkaufstüten eines Mailänder Modehauses im Gepäckfach verstaute, musste er ihr einfach auf den Hintern gucken. Er hatte gar keine andere Möglichkeit. Ihr Parfüm roch nach Kokos und Limone.
Während des Fluges hatte Harry immer wieder zu ihr hinübergesehen. Aber er sah nur die schwarzen Haare, durch die sie sich ständig mit ihrer Hand fuhr. Dabei musste sie, während sie fahrig in einer italienischen Zeitung blätterte, immer wieder ihre Sonnenbrille, die sie sich ins Haar gesteckt hatte, zurechtrücken. Nur einmal drehte sie sich zum Gang und bestellte bei der Stewardess ein acqua, was wunderbar italienisch klang. Aber da versperrte die Alitalia-Dame mit ihrem Getränkewagen Harry schon wieder den Blick.
Die Maschine entfernte sich von der Küste und durchflog kurz ein paar wattige Wolkenfetzen, die über dem azurblauen Wasser lagen. Mit einem Gong leuchtete das Zeichen zum Anschnallen auf. Die Stewardess ging prüfend durch die Reihen, ob alle angeschnallt waren, und sammelte die letzten Kaffeebecher ein. Die beiden Amerikanerinnen in Rosa gerieten von einem Tintoretto zum nächsten immer mehr außer sich.
Harry konnte das Gefühl nicht loswerden, dass er mit seinem Abflug nach Italien reichlich übertrieben reagiert hatte. Irgendwie kam ihm das alles auf einmal komisch vor. Statt Zoe hatte er diesen schnarchenden Russen neben sich, der mit jedem Luftloch, in das die Fokker sackte, seinen Schnarchton änderte. Als die Maschine zu einem weiten Bogen über dem Meer ansetzte und sich kurz auf die Seite legte, fiel der Dicke fast ganz zu ihm herüber. Er roch nach Schweiß, Ballantine’s und billigem Rasierwasser. Als Harry sich zum Gang drehte, sah er im Fenster das Meer glitzern. Und dazu wehte wie zur Erholung kurz ein Hauch von Kokos zu ihm herüber.
Irgendwie hatte sich Zoe in den letzten Monaten verändert. Ihre Secondhandklamotten trug sie immer seltener. Sie kaufte nach wie vor im East Village ein, aber jetzt ging sie in die Boutiquen. Und auch ihre Haare trug sie anders, seit sie neulich beim Friseur gewesen war.
Vor drei Jahren, als Harry aus Deutschland gekommen war, war Zoe achtzehn, ein flippiges New Yorker Mädchen mit verzottelten schwarzen Haaren und dunkelbraunen schwarz umränderten Augen. Sie trug die unterschiedlichsten Klamotten und Lederjacken. Hauptsache schwarz. Ein bisschen punkig hatte sie ausgesehen, aber mehr noch wie ein It-Girl aus Andy Warhols Factory. Harry war sofort hin und weg.
Er war mit nichts als einer Zahnbürste, katastrophalem Englisch und drei Nolde-Aquarellen in New York angekommen, das heißt, die Aquarelle hatte er mit der Post vorausgeschickt. Das Ölbild, Emil Noldes »Feriengäste«, weswegen er eigentlich in das Museum in Seebüll eingestiegen war, hatte er auf der Nordseeinsel Amrum zurücklassen müssen. Er hatte nur die Adresse dieses geheimnisvollen Kunsthändlers Sam Lieberman in der Lower Eastside. Als sein Coup so gründlich danebengegangen war und Harry im letzten Moment über die Inseln fliehen musste, hatte er das nächste Flugzeug nach New York genommen und war einfach seinen Nolde-Aquarellen hinterhergeflogen. Das hatte ihn gerettet.
Zoe und ihr Vater Sam hatten ihn sofort bei sich aufgenommen. Sie lebten allein in einer großen dunklen Wohnung, in der es nach alten Büchern roch, in einem Brownstonehaus in der Zehnten Straße East. Die Mutter war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben.
Gleich am ersten Abend hatte Zoe ihn zu einer Tanzperformance in einer ehemaligen Kirche mitgeschleppt. Die wenigen Zuschauer saßen am Rand auf schmalen Holzbänken. In der Mitte wurde getanzt. In der Pause wurde Zoe von den Tänzern mit Küsschen begrüßt. Und anschließend saßen sie mit einigen der Besucher und Tänzer in einem düsteren Lokal in Chinatown. In dem vollkommen zugestellten Raum mit Riesenaquarium und Plastiktischdecken aßen sie Dim Sums, gefüllt mit Hühnerfüßen und Haifischflossen, und tranken Budweiser aus Flaschen. Harry meinte Dim Sums von der Reeperbahn zu kennen. Aber diese Dim Sums aus Chinatown hatte er noch nicht gegessen. Und auch so eine Hot and Sour Soup von dieser Schärfe nicht.
»You like lealy hot?«, hatte die dicke Chinesin gefragt und Harry hatte nichts verstanden. »Lealy spicy! Lealy!«,wiederholte die Bedienung.
Bedeutender als die erste Nacht oder der erste Kuss, ist vielleicht das erste gemeinsame Lachen.
»Lealy hot«, imitierte Zoe die chinesische Bedienung. Harry, dessen Englisch damals grauenvoll war, blickte verdattert.
»Lealy«, wiederholte Harry und Zoe musste loslachen.
Dabei zeigte sie ihre etwas zu großen, ein wenig vorstehenden Schneidezähne. Er musste mitlachen, obwohl er nicht recht wusste, worüber. In dem Moment war ihm klar, dass er sich verliebt hatte. Und er hatte eine Ahnung, dass das mit Zoe klappen könnte.
Die schwarze Tänzerin zuzelte an einem Teil, das als Hühnerfuß allerdings nicht mehr zu erkennen war. Irgendjemand bestellte eine neue Runde Budweiser und irgendetwas mit schwarzer Bohnenpaste. Sie redeten über Kunst und junge britische Bands. Die Tänzer lachten laut und die anderen machten ihnen Komplimente. Nur Harry hatte ständig in Zoes Kajal umränderte Augen sehen müssen.
Geküsst hatten sie sich zwei Tage später. Zuerst hatte Zoe ihn geküsst, in einem völlig unpassenden Moment. Sie hatte gesagt: »Ich zeig dir erst mal New York«, und dann das Standardprogramm mit ihm veranstaltet: Empire State Building in der Abenddämmerung, MOMA und Central Park, der zu der Zeit gerade in herbstlicher Färbung zwischen den Hochhäusern von Upper West und East lag.
Als sie im Whitney-Museum vor Calders anrührendem und komischem kleinem Zirkus standen, den er aus Gebrauchsgegenständen zusammengepuzzelt hatte, wandte sie sich kurz zu ihm und küsste ihn einfach auf den Mund. Sie küssten sich nicht richtig, darauf war Harry gar nicht vorbereitet. Aber es war auch kein kleiner Kuss. Mit ganz leicht geöffnetem Mund, dass kurz etwas von ihren vorstehenden Zähnen zu ahnen war, drückte Zoe ihre Lippen auf seine. Ganz selbstverständlich wie nebensächlich, aber satt und ein kleines bisschen feucht. Es war ein kurzer Augenblick. Und Harry war sich gleich danach nicht mehr sicher, ob er sich das nicht alles nur eingebildet hatte. Er hatte in den letzten beiden Tagen an nichts anderes gedacht, als Zoe zu küssen. Aber in diesem Moment war er ziemlich perplex gewesen. Verstört stierte er auf den Monitor, auf dem ein Film lief, in dem Calder gerade die Seiltänzerin aus Draht aus seinem kleinen Zirkus vorführte.
»Isn’t that realy cute?«, sagte Zoe und schüttelte ein bisschen verlegen ihre schwarzen Haare, als wäre nichts gewesen.
Abends hatten sie auf einer großen Wiese im Central Park gepicknickt. Es war ein sonniger, noch recht milder Herbstabend. Die Sonne war hinter dem Dakota-Building, vor dem John Lennon erschossen worden war, untergegangen. Auf den »Strawberry Fields«, der kleinen Gedenkstätte davor im Park, hatten ein paar Jungs aus jener Zeit, die inzwischen graue Haare hatten, nur so zum Spaß Beatles-Songs gespielt. Harry und Zoe hatten sich Tuna-Sandwiches und eine Flasche Rotwein mit Schraubverschluss mitgebracht. Und als sie ihre Wolldecke wieder zusammengelegt hatten, Zoe die Decke und den restlichen Müll in einer afrikanischen Umhängetasche aus Korb verstaut hatte, fasste Harry ihr ins Haar und sie küssten sich – stundenlang, die blöde afrikanische Tasche halb zwischen sich.
»Ich hab mich schon gefragt, wie lange du noch warten wolltest«, sagte Zoe und zeigte ihre Zähne.
In der folgenden Nacht war sie irgendwann zu ihm in das kleine Zimmer mit dem Blick auf die alte Ziegelwand geschlichen. Sie hatte lediglich ihr schwarzgrau gestreiftes unterhemdartiges Shirt an, das sie schon am Abend getragen hatte. Nachdem sie sich lange geküsst hatten, hielt sie Harry ihren Zeigefinger an die Lippen. Sie wollte offensichtlich nicht, dass ihr Vater sie beide hörte. Es machte nicht den Eindruck, dass sie hier mit täglich wechselnden Liebhabern aufkreuzte. Harry fand das ganz beruhigend.
Zunächst behielt sie ihr gestreiftes Hemd an. Erst als sie sich schon langsam auf ihm bewegte, zog er es ihr über den Kopf, wobei sich ihre silbernen Ketten zwischen Kinn und Haaren verfingen. Er versuchte ihre Brustspitzen zu küssen, was ihm in der Bewegung nicht recht gelang. Sie atmete heftig. Trotzdem war sie es, die Harry ihre Hand gegen seinen Mund presste, worauf beide lachen mussten.
Später hörten sie auf einem Walkman Neil Young, jeder mit einem der beiden Ohrstöpsel. Ihre wilden Haare kitzelten ihn im Gesicht. Die gegenüberliegende Backsteinmauer wirkte in der Nacht wie eine Theaterkulisse. Zwischen zwei Songs war von Weitem die Sirene eines Polizei- oder Unfallwagens zu hören, wie Harry sie nur aus dem Kino kannte.