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Die Mittvierzigerin Kate kämpft täglich um das Fortbestehen ihres kleinen Hotels an der Südküste Irlands, das ihre Existenzgrundlage und die ihres griesgrämigen Vaters bildet. Als der attraktive Chirurg Angus in ihr Leben tritt, hat sie endlich das Gefühl, es ginge wieder bergauf. Doch dann geschehen merkwürdige Dinge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verkauf des alten Gutshauses zu stehen scheinen, zu dem früher ihr Hotel gehörte. Als wäre das nicht genug, steht plötzlich Angus älterer Bruder vor der Tür und stellt ihre Welt noch mehr auf den Kopf. Behauptet er doch das völlige Gegenteil von dem, was sie bisher von Angus gehört hat! Nie kann sich Kate sicher sein, wem sie vertrauen kann. Welcher der Brüder meint es ehrlich und wer versucht, ihr Leben zu zerstören?
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Seitenzahl: 390
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Eine verdammte, ganz gewöhnliche Bananenschale brachte sie zu Fall. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb Caitlin ihren rechten Fußknöchel und schaute sich hilfesuchend um. Doch wie nicht anders zu erwarten, war die regennasse Straße menschenleer. Nachts um halb zwei pflegten die Menschen hier zu schlafen, um in aller Frühe ihr Tagewerk zu beginnen. Alle, bis auf Caitlin.
Sie schimpfte vor sich hin und verfluchte mehrfach die Idee, noch ein paar Schritte zu gehen. In einer schlaflosen Nacht bewegte sie sich lieber draußen, als sich im Bett umher zu wälzen oder in die Flimmerkiste zu starren. Das hatte sie nun davon.
Mühsam rappelte sie sich hoch, trat vorsichtig auf und stellte fest, sie würde nach Hause laufen können. Der Knöchel schmerzte nicht so heftig, wie sie befürchtet hatte und in ihr keimte die Hoffnung, es wäre nichts weiter passiert. Langsam machte sie sich auf, das letzte Stück des Weges zu ihrem Haus zurückzulegen. Dabei betrachtete sie die dunklen Fassaden der Häuser ihres Heimatorts Calglen mit den gepflegten Vorgärten. Hier aufgewachsen, lebte sie mit nunmehr sechsundvierzig Jahren noch im selben Ort, wenn auch nicht mehr im Elternhaus. Dieses verkauften ihre Eltern vor zehn Jahren, als Caitlin und Padraig unbedingt die Pension ins Leben rufen wollten.
Padraig. Er war immer noch der Grund für ihre schlaflosen Nächte, wenn die Gespenster der Vergangenheit nach ihr griffen. Die Gedanken an ihn verscheuchend, humpelte sie die schmalen Gassen Calglens entlang, bis sie etwas außerhalb des Ortskerns vor ihrem Grundstück stand. Calglen hatte nicht viele Einwohner und nur wenige Straßen, dafür umso mehr Touristen. Das Dörfchen lag direkt am Meer, mit einem kleinen Fischerhafen ausgestattet, von dem aus die Männer täglich hinausfuhren. Caitlin war damit aufgewachsen, dennoch verstand sie die Faszination der Besucher, die Fischer bei ihrer Arbeit an Land und auf den vertäuten Booten zu beobachten. Ihr erging es nicht anders, sie ging gern hinunter und hielt das eine oder andere Schwätzchen.
Ihr Ziel befand sich an der rückwärtigen Wand ihres Cottages und für alles andere hatte sie kein Auge. Weder für den kräftigen, grünen Rasen oder die bunten Blumen, noch für die Obstbäume, die Massen an Früchten trugen. An den Stämmen hingen Schilder für die Gäste: »Selbstbedienung ausdrücklich erwünscht!«. Vollmond, alles war deutlich zu sehen, und sie rutschte auf einer Bananenschale aus, wie in einem schlechten Sketch!
Sie trat durch die Gartentür zur Küche und verriegelte sofort. Dieser Bereich konnte von den Gästen weder eingesehen, noch betreten werden. Padraig hatte bei seiner Planung darauf geachtet, dass die Familie einen ganz privaten Abschnitt im Haus hatte, wo sie ungestört sein konnte.
Caitlin ließ sich, immer noch wütend, auf einen Stuhl in dem gemütlichen Raum fallen. Das Mondlicht spendete ausreichend Helligkeit, aber sie hätte sich natürlich auch blind zurecht gefunden. Ungeduldig fuhr sie mit der Hand durch die dichten, braunen Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen. Tagsüber band sie ihr Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen, wenn sie mit Gästen zu tun hatte. In der Freizeit trug sie es lieber offen.
Sie hoffte, mit zusammengebundenem Haar kompetenter auf die Gäste zu wirken. Oft wurde sie aufgrund ihres Körperbaus unterschätzt und niemand ahnte, welche Willenskraft und Energie in ihr steckten. Noch nicht einmal einssechzig groß und zierlich, trauten ihr viele Gäste nicht zu, die Pension akkurat zu führen. Bis zur Abreise wurden sie immer eines Besseren belehrt. Die grünen Augen mit den langen Wimpern geschlossen, versuchte sie, den pochenden Schmerz zu ignorieren. Ein wenig ausruhen, dann würde sie die Treppe nach oben erklimmen, wo sich die anderen privaten Räume befanden.
Außer ihr lebte noch ihr Vater im Haus, dessen Stimme sie aus ihren Gedanken holte. Am oberen Treppenabsatz stehend, brüllte er in die Küche hinunter, als wenn sie allein wären und nicht fünfzehn Gästezimmer besaßen. Durch seine eigene Schwerhörigkeit sprach er schon in einem normalen Gespräch laut.
»Kate, was machst du da unten? Wo warst du denn, zum Kuckuck?«
Schwerfällig erhob sie sich, huschte so schnell wie möglich zu der schmalen Holztreppe und zischte nach oben: »Hör auf, so zu schreien. Wir haben Gäste, die schlafen. Ich komme gleich hoch.«
Zunächst zufrieden mit dieser Aussicht, trollte sich Darragh Quinn und schlurfte in sein Wohnzimmer zurück. Er bewohnte zwei Räume im oberen Stockwerk, in einem davon schlief er und der andere diente als ›Salon‹, wie er ihn gern bezeichnete. Nur die Küche der Familie befand sich im unteren Teil des Hauses, mit einer Verbindungstür zum Tresen, welcher die Rezeption darstellte. Gäste betraten die Pension durch die vordere Tür, direkt gegenüber der Anmeldung. Links führte eine separate Treppe ins Obergeschoss, wo die Gästezimmer lagen. Es gab einen Durchgang zum privaten Bereich der Familie, nur von dort aus zu öffnen.
Der untere Teil des Hauses wurde durch einen Speiseraum ausgefüllt, auf der rechten Seite lag ein Aufenthaltsraum mit gemütlichen Sitzgruppen, einem Kamin, einem großzügigen Bücherregal sowie einem Billardtisch. Da das Wetter an der irischen Westküste sehr schnell wechselte und manchmal unwirtlich sein konnte, hatte Padraig auf diesen Freizeitangeboten bestanden.
»Nichts findet ein Gast behaglicher, als bei Sturm- und Regenwetter am Kamin zu lesen, zu spielen oder sich zu unterhalten«, betonte er immer wieder. Insgeheim gab ihm Caitlin Recht, die Augen vor den zusätzlichen Kosten verschließend. So war es bei ihnen: Padraig setzte sich mit seinen Ansichten durch, weil er es verstand, Kate von der Notwendigkeit seiner Ambitionen zu überzeugen. Rückblickend musste sie eingestehen, damit immer gut gefahren zu sein. Kaum jemals hatte sie eine Entscheidung Padraigs bereuen müssen, nachdem sie ihr zugestimmt hatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn musizierend vor dem Kamin, umringt von Gästen, die im Takt dazu klatschten. Er hatte es verstanden, den Menschen das Gefühl von Wärme und Heimat zu vermitteln.
Kennengelernt hatten sie sich während eines Urlaubs, den er in Calglen verbrachte. Der Pub im Dorf vermietete einige wenige Zimmer, die besonders in den Sommermonaten ausgebucht waren. Padraig – blauäugig im wahrsten Sinne des Wortes – kam angereist, ohne zuvor die Frage seiner Unterkunft geklärt zu haben. Hilflos stand er deshalb mit seiner Sporttasche auf der Wiese neben dem Pub und überlegte, ob er weiterziehen oder versuchen sollte, privat unterzukommen. So sah ihn Kate auf dem Nachhauseweg vom Hafen, blieb stehen und beobachtete seine schlanke Gestalt. Der Wind blies durch die kurzen, dunklen Haare, während er sein gebräuntes Gesicht in die Sonne hielt. Sein Radar erfasste sie jedoch schnell, er öffnete die Augen und blickte Kate direkt an. Das Himmelblau seiner Augen zog sie sofort in ihren Bann, dann die leicht schief stehenden Schneidezähne, als er sie anlächelte. Um Caitlin Quinn war es augenblicklich geschehen und nicht viel später gestand er ihr, dass es ihm genauso ergangen war.
Padraig fand Unterschlupf im Gästezimmer ihrer Eltern. Oft hatten sie in den Jahren danach darüber gelacht, Darragh und Millie Quinn so ausgetrickst zu haben. Obwohl sie sicher waren, alles getan zu haben, um nächtliche Besuche zwischen dem Gast und der eigenen Tochter zu verhindern, konnten sie es nicht. Ein Jahr später heirateten Kate und Padraig und klärten das Ehepaar Quinn bei dieser Gelegenheit über ihre Aktivitäten Seinerzeit auf. Millie nahm es mit Humor, doch Darragh verzieh seinem Schwiegersohn nie völlig.
Von Beginn an träumte Padraig von einer Pension in Calglen. Mit seiner Arbeit als Koch verdiente er gut und hatte genügend zu tun. Dennoch traute er sich zu, nebenbei ein Haus zu einer Pension umzubauen, sollte sich eine Gelegenheit ergeben.
»Kate, die paar Zimmer im Pub sind doch ständig voll. Überleg mal, wie viele Touristen in den Nachbarorten bleiben, weil sie hier keine Unterkunft finden. Und dabei haben wir die herrlichste Landschaft überhaupt, inklusive Hafen.«
»Was interessiert es dich, wo die Leute übernachten?« fragte sie und schaute von den Kartoffeln auf, die sie schälte.
»Im Prinzip kann es mir egal sein, aber wenn wir ein Bed and Breakfast eröffnen, könnten wir beide zuhause arbeiten. Ich als Koch und du könntest deine Ambitionen als Gastgeberin ausleben.«
Langsam steckte er sie mit seinen Plänen an.
»Aber hier gibt es doch gar nichts, was man als Bed and Breakfast nutzen könnte«, gab sie zu Bedenken. »Dazu bräuchten wir ein passendes Haus, du kannst doch keins aus dem Boden stampfen.«
»Das Cottage am Ortsende steht zum Verkauf. Du weißt doch, das mit dem großen Gutshaus im Hintergrund. Gehört das eigentlich zusammen?«
Sie legte das Messer beiseite, stützte das Kinn auf die Hand und dachte nach. Viel zu klein, entschied sie.
»Ich weiß, welches du meinst. Das gehörte früher mal zum Gutshaus, aber jetzt nicht mehr. Es ist zu klein, Paddy. Damit geht das nicht, oder willst du die Gäste direkt neben unserem Schlafzimmer haben? Sozusagen mit Familienanschluss? Das kannst du vergessen. Schon mein Vater würde mit seiner Art alle vergraulen.«
Padraig wanderte in der Küche auf und ab, seiner Ansicht nach war das alles kein Problem.
»Es hat viele Zimmer, die nicht besonders groß sind, jedoch als Gästezimmer mit kleinem Bad auf jeden Fall reichen. Wir könnten das Cottage komplett als Pension nehmen und für uns selbst hinten anbauen, Parterre und Obergeschoss. So sind wir für uns und dein Vater kann nicht auf die Gäste losgehen.«
»Wie willst du das denn bezahlen? Natürlich kriegen wir einen Kredit, allerdings würde der gerade zum Kauf reichen, nicht für einen Anbau. Ganz von weiteren Investitionen abgesehen, um einen Gästebetrieb eröffnen zu können.«
Das Problem Darragh Quinn mochte sie erst gar nicht weiter erörtern. Zeitweise störte ihren Vater die Fliege an der Wand und anstatt sie zu entfernen, regte er sich lieber darüber auf. Nicht auszudenken, wie der cholerische Mann auf wildfremde Leute im Haus reagieren würde. Mal ganz von der Unmöglichkeit abgesehen, ihn aus seinem Haus in ein fremdes umzuquartieren.
Sie warf Paddy einen Seitenblick zu und stutzte bei dem Schalk, den sie in seinen Augen sah. Meistens heckte er dann etwas aus oder es gab für sie gleich eine Überraschung. In diesem Fall traf die zweite Variante zu.
»Einen Kredit könnten wir vollständig für den Anbau und die Ausstattung der Zimmer nehmen. Zum Kauf haben wir das Geld.«
Kate runzelte die Stirn. Wie kam er denn auf die Idee?
»Ich weiß nicht, wie viel das Cottage kosten soll, Paddy. Aber ich bin mir sicher, das Geld auf unserem Sparbuch wird nicht ausreichen.«
»Nein, das nicht«, murmelte er grinsend.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und baute sich mit ihren ganzen einsachtundfünfzig vor dem Mann auf, der sie um anderthalb Köpfe überragte.
»Padraig Butler! Jetzt sag mir endlich, wie du auf die irrsinnige Idee kommst, wir hätten das Geld für einen Kauf. Und hör auf, mich so anzugrinsen!«
Diese Aufforderung brachte ihn zum Lachen. Er schlang die Arme um ihre schmale Taille und zog sie an sich.
»Ich habe vor ein paar Jahren, noch während meiner Sturm- und Drangzeit, öfter mal gewettet. Pferdewetten. Ein Mal hatte ich den richtigen Riecher und einen hübschen Batzen Geld gewonnen. Das liegt immer noch auf einem Sparkonto und wartet nur darauf, einer sinnvollen Bestimmung zugeführt zu werden.«
Kates Augen weiteten sich, das war die Höhe!
»Und wann hattest di vor, mir davon zu erzählen?«
»Wenn es für uns relevant wird, und das ist jetzt.« Er fuhr sich verlegen durch das kurze, dunkle Haar. »Komm schon, Kate. Ich habe es schlicht vergessen, so lange es keinen Grund gab, an das Geld überhaupt zu denken.«
Sie kuschelte sich weiter in seine Arme, legte den Kopf an seine Schulter. Dumpf klang es zu ihm hinauf: »Ist schon okay, ist ja sowieso deins.«
Eine Weile standen sie eng umschlungen in der Küche, deren Schränke in der Dämmerung eigenartige Schatten warfen. In stiller Übereinkunft beschlossen sie, die Gelegenheit wahrzunehmen.
Unterstützung bekamen sie vom ersten Moment an von Kates Mutter Millie, die sich immer über Menschen freute, mit denen sie sich unterhalten konnte. Die Kommunikation mit Darragh bestand eher aus wütenden Tiraden ihres Mannes, die sie im Laufe der Jahre gelernt hatte zu ignorieren. Dafür nahm sie jede Gelegenheit wahr, mit Nachbarn oder auch Fremden in Kontakt zu kommen.
Darragh wurde einfach überstimmt und knabberte lange daran herum, seinen Kopf nicht durchgesetzt zu bekommen. Schließlich aber gab er klein bei und fand sich mit den Plänen seiner Familie ab. Sogar dem Verkauf des Hauses stimmte er zu, um möglichst viel aus der eigenen Tasche finanzieren zu können. Er gab es nie offen zu, aber das Glück von Frau und Tochter stand für ihn an erster Stelle. Dafür steckte er gern zurück, wenn es sein musste.
Padraig mobilisierte Freunde aus seiner Heimat und selbstverständlich aus Calglen, um in jeder freien Minute seinen Traum umzusetzen. Manchmal sorgte sich Kate, dass er sich übernehmen könnte, aber Padraig wurde von einer Energie angetrieben, die ihr fast unheimlich erschien. Wo sie konnte, packte sie mit an, wobei ihre Möglichkeiten beschränkt blieben. Sein Traum, mit seiner Küche nicht nur Pensionsgäste zu bewirten, sondern Menschen von weit her zum Essen anzulocken, trieb ihn an.
Stattdessen konzentrierte sich Kate mit Millie auf die Inneneinrichtung. Die Zimmer sollten gemütlich und günstig eingerichtet sein, aber nicht billig wirken. Sie stöberten stundenlang im Internet, um nach und nach alles anzuschaffen, was sie für nötig erachteten. Padraig ließ ihnen dabei freie Hand, er war mehr der Mann fürs Grobe. Etwas später als geplant, aber einigermaßen im zeitlichen Rahmen, eröffneten sie schließlich ihr Bed and Breakfast. Padraig bestand darauf, es ›Landhotel‹ zu nennen.
»Sowie der Laden richtig läuft und die Zahlen passen, kündige ich und stelle mich bei uns in die Küche. Dann können wir auch ein warmes Abendessen anbieten, ein Rundum-Paket.«, stellte er in Aussicht.
Geschickt platzierte er Werbung in Zeitungen, erstellte eine Internetseite, verhandelte mit Reisebüros. Daraus resultierte der baldige Einzug Padraigs in die heimische Küche, wo er sich kulinarisch austoben konnte. Den Fisch, der sich unter anderem in vielen Variationen auf der Speisekarte fand, bezog er direkt aus dem Hafen.
Alles hätte wunderbar sein können, wenn das Schicksal nicht anderer Meinung gewesen wäre.
Kate stieg langsam die Treppen hinauf, um pflichtschuldig bei ihrem Vater vorzusprechen. Die Tür zu seinem Salon war nur angelehnt, eine Stehlampe spendete diffuses Licht, unter dem er in einem großen Ohrensessel saß. Der Tür abgewendet, zeigte er ihr die kalte Schulter. Seiner Meinung nach stellte es einen Affront dar, wenn Kate das Haus verließ, ohne ihn darüber zu informieren.
»Ich konnte nicht schlafen und war mir nur ein wenig die Beine vertreten«, rechtfertigte sie sich ohne Einleitung.
Über der Lehne des Sessels konnte sie sein schlohweißes Haar sehen, das in allen Richtungen vom Kopf abstand. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die buschigen Augenbrauen, das faltige Gesicht mit den eingefallenen Wangen. Obwohl er erst vierundsiebzig war, verfiel er immer mehr. Kate führte das auf sein Bestreben zurück, überall mindestens ein Haar in der Suppe zu finden. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum er unzufrieden mit seinem Leben zu sein schien. Millie war ihm eine tolle Frau gewesen, über seine Tochter konnte er sich nicht beschweren. Trotz seiner Launen und ruppigen Art hatte sie ihn noch nie im Stich gelassen, obwohl sie es manchmal zu gern getan hätte.
»Dad, du solltest wieder ins Bett gehen«, riet sie ihm sanft. »Ich lege mich jetzt auch hin.«
Wortlos stand er auf und schlurfte in das angrenzende Schlafzimmer.
»Gute Nacht, schlaf gut!« rief sie ihm hinterher, aber erwartungsgemäß kam keine Antwort.
Seufzend verließ sie das Zimmer, um zwei Türen weiter ihr eigenes zu betreten. Dort zog sie sich aus, betrachtete noch einmal prüfend ihren Knöchel und ließ sich dann ins Bett fallen. Müde schloss sie die Augen, bemüht, gegen die Bilder in ihrem Inneren anzukämpfen. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt, Padraigs regelmäßige Atemzüge nicht mehr neben sich zu hören. Dabei war es jetzt fast zwei Jahre her, aber Kate schien es, sie wäre erst seit einigen Wochen allein. Warum nahm der Schmerz kein Ende? Lag es an ihr? Befand sie sich nicht in der Lage, das Geschehene zu verarbeiten oder war es einfach normal, wenn man einen Mann so sehr geliebt hatte wie sie ihren Paddy?
In einem war sie sich sicher: Niemals gäbe es wieder einen Mann, der in ihrem Leben denselben Stellenwert einnehmen könnte. Mit diesem Gedanken schlief sie endlich ein.
Morgens haute Kate mit Schwung auf den Wecker, der sie aus tiefstem Schlaf riss. Nach der kurzen Nacht fühlte sie sich hundemüde und ausgelaugt, dennoch musste sie aufstehen. Zwei Zimmer waren derzeit vermietet und die Gäste erwarteten ihr Frühstück. Bevor sie sich in die Küche stellte, trank sie für gewöhnlich in aller Ruhe einen riesigen Becher Kaffee, um auf die Beine zu kommen und den heranbrechenden Tag zu genießen.
So hielt sie es auch heute. Mäßig motiviert von der Aussicht auf das dampfende Aroma quälte sie sich aus dem Bett, erschrocken über die Blaufärbung ihres Knöchels. Nur mit Schmerzen konnte sie auftreten, musste sich abstützen, um das Gewicht etwas zu verlagern. Humpelnd erledigte sie ihre Morgentoilette und tappte dann nach unten in ihre eigene Küche. Mit etwas Glück hätte sie ihre Ruhe, weil ihr Vater noch schlief oder zumindest in seinen Räumen blieb. Am liebsten war es ihr immer, wenn er erst zur Frühstückszeit unten erschien, damit sie alle zusammen versorgen konnte. Tauchte er jedoch vorzeitig auf, musste sie schon vor ihrem Koffeinschub seine schlechte Laune ertragen und außerdem doppelt Frühstück herrichten. Darragh sah überhaupt nicht ein, warten zu müssen, bis sie alles für die Gäste vorbereitete.
Müde rieb sie sich über die Augen, als sie in kleinen Schlucken trank. Sollte ihre Information richtig sein, würden beide Gastfamilien den heutigen Tag über Land verbringen und erst am Abend zurückkehren. Das verschaffte ihr etwas Zeit, den Rasen zu mähen und sich vielleicht am Nachmittag eine Stunde hinzulegen. Immer vorausgesetzt, Darragh ließ sie in Ruhe und ihr Fuß würde mitspielen.
Im Stehen trank sie den letzten Schluck, stellte die Tasse ins Spülbecken und hüpfte einbeinig hinüber in die Pensionsküche. Dort holte sie Würstchen, Schinkenspeck, Bohnen, Eier und Milch für das Porridge aus dem Kühlschrank. Sie hatte längst eine Routine entwickelt, wie sie das aufwändige und reichhaltige irische Frühstück am effektivsten zubereiten konnte und widmete sich voll und ganz dieser Aufgabe. Cornflakes und Müsli bildeten hierfür den leichtesten Teil, da sie solche Zutaten nicht selbst herstellen musste. Wasser für Tee und Kaffee setzte sie ebenfalls auf.
Mit geröteten Wangen erschrak sie, als Darragh von der Tür her ihren Namen rief.
»Oh, guten Morgen, Dad. Möchtest du schon eine Tasse Tee? Das Frühstück ist auch gleich fertig.«
»Ich will heute Rühreier, keine gekochten.«
Ohne ein weiteres Wort ging er, um in der privaten Küche Platz zu nehmen. Kate nahm das als Zustimmung zum Tee und eilte ihm, so gut es ging, mit der Tasse in der Hand hinterher. Wehmütig dachte sie an ihre Mutter, die es genossen hätte, sich während des Essens zu den Gästen zu gesellen und zu plaudern. Für Darragh eine unmögliche Handlung. Lieber verkroch er sich, schaufelte griesgrämig sein Essen in sich hinein, um anschließend ruhelos über das Grundstück oder ins Dorf zu wandern. Seine Nachbarn akzeptierte er als Gesprächspartner, mit einigen wenigen verband ihn sogar eine Art Freundschaft.
Argwöhnisch schaute er ihr entgegen, als sie durch die Tür hinkte.
»Was ist passiert?« brummte er, mäßig interessiert.
»Ich bin letzte Nacht ausgerutscht und nun ist mein Knöchel verstaucht, wie es aussieht. Wird sicher bald wieder besser.«
Sie stellte die Tasse ab und setzte sich ihm gegenüber.
»Mach dir eine Salbe drauf«, murmelte er in seine Tasse hinein. Kate wusste, für dieses Ausmaß väterlicher Besorgnis musste sie dankbar sein. Ganz bestimmt liebte Darragh seine Tochter, nur hatte er eine etwas merkwürdige Art, dies zu zeigen. Schon seit ihrer Kindheit kannte sie es nicht anders und hatte sich daran gewöhnt, konnte seine Reaktionen sehr gut einschätzen. Mehr als dieser Rat war bei ihm einfach nicht drin und bedeutete so viel wie: ›Es tut mir leid, dass du Schmerzen hast. Unternimm so schnell wie möglich etwas dagegen.‹
Sie lächelte ihn an und versprach: »Sowie ich das Frühstück fertig und aufgebaut habe, sehe ich mal im Medizinschrank nach. Da haben wir sicher Salbe und eine elastische Binde, die ich benutzen kann.«
Ein kurzer Blick, mehr gestand er ihr nicht mehr zu. Also erhob sie sich wieder und hüpfte in die Pensionsküche zurück. Zum Glück war diese nicht riesig, da Padraig mehr Wert auf Effizienz als auf Bewegungsfreiheit gelegt hatte. Möglichst viel mit minimalem Bewegungsaufwand erledigen, lautete seine Devise. So blieben die Wege kurz, um alles zusammenzustellen, und für den Transport ins Esszimmer benutzte Kate seit Jahren einen Servierwagen, der ihr heute doppelt gute Dienste leistete. Sie konnte sehr viel in einem Rutsch damit befördern und sich gleichzeitig darauf abstützen, um nicht vollständig auftreten zu müssen.
Zufrieden betrachtete sie dann ihr Werk, bevor sie vor den großen Medizinschrank hinter der Rezeption trat. Hier gab es einiges auf Vorrat, was ein Gast vielleicht benötigen könnte: Verbandszeug, Pflaster, diverse Salben gegen Verstauchungen, Insektenstiche, Brandwunden und leichte Medikamente beispielsweise gegen Kopfschmerzen und Sodbrennen. Häufiger, als sie anfangs angenommen hatte, wurde etwas daraus gebraucht und sie sah es als Service ihres Hauses an, dem Gast im Bedarfsfall helfen zu können. Selbstverständlich bediente sie sich auch selbst, wenn nötig.
Zielsicher griff sie nach Salbe und Binde, setzte sich auf den Hocker hinter dem Tresen und zog ihren Schuh aus. Nach dem Abstreifen der Socke wurde das ganze Ausmaß sichtbar, denn ihr Knöchel hatte sich noch weiter verfärbt, das Blau breitete sich weiter aus. Na wunderbar, dachte sie resigniert. Hoffentlich wird das nicht noch schlimmer, sonst muss ich Abbie anrufen, damit sie den Laden hier schmeißt.
Vorsichtig verteilte sie großzügig die Salbe, wickelte eine elastische Binde darum und versuchte anschließend, aufzutreten. Es klappte nur unwesentlich besser, aber immerhin würde sie sich so durch den Tag schlagen können. Nur gut, dass momentan lediglich zwei Zimmer belegt waren, die würde sie saubermachen können, aber mehr war nicht drin.
Nach dem Frühstück verabschiedete sie die beiden Ehepaare zu ihren Tagesausflügen und machte sich an die Arbeit, ohne erst noch auszuruhen.
»Was hast du denn gemacht?« Abbies Gesicht schien ein einziges Fragezeichen zu sein, als sie Kate in die Küche humpeln sah.
»Bananenschale, letzte Nacht«, grummelte Kate und warf der Köchin, die aber auch als Mädchen für alles und letzte Frau in Not fungierte, einen schiefen Blick zu. Ohne Abbie hätte sie Paddys ›Landhotel‹ schließen müssen. Die Zweiundfünfzigjährige war der rettende Anker, egal, in welcher Situation sich Kate befand.
»Wo?« fragte Abbie erstaunt. »Jetzt sag nicht, einer deiner Gäste hat seinen Abfall hier einfach irgendwo hingeworfen.«
»Nein«, wehrte Kate lachend ab. »Ich konnte nicht schlafen und war noch unterwegs. Sie lag auf dem Gehweg.«
Abbie schnaufte missbilligend und wendete ihren molligen Körper wieder dem Schrank zu, um die passenden Töpfe auszusuchen. Die Frauen kannten sich ihr Leben lang und lagen altersmäßig nicht sehr weit auseinander, doch Abbies kurzgeschnittenes Haar war bereits vollständig ergraut. Das läge in der Familie, pflegte sie immer zu sagen und lehnte es rigoros ab, an der Farbe etwas zu ändern.
Sie hatte die Küche völlig übernommen, seit Padraig nicht mehr da war. Nur das Frühstück überließ sie Kate, da Abbie sich tagsüber um Heim und Familie kümmern wollte. Dazu zählten ihr Mann, zwei Söhne, eine Tochter und fünf Enkel. Nicht zu vergessen drei Katzen, zwei Hunde und ein Zwergkaninchen.
Oft schon hatte Kate sie gefragt, woher all die Energie kam, mit der sie das bewältigte. Aber Abbies Rezept klang ganz einfach: »Wer rastet, der rostet. Ich habe immer eine Aufgabe, Dinge um die ich mich kümmern muss. Dabei habe ich keine Zeit, krank zu werden oder einfach nur weniger zu machen. Und das ist gut so, so bleibe ich nämlich in Schwung!«
Abbie drehte sich noch einmal um und taxierte Kate abschätzend von oben bis unten.
»Soll ich die Zimmer mal schnell saubermachen, wenn die Gäste essen?«
»Nein, das habe ich schon gemacht. Du brauchst dich nur um das Abendessen zu kümmern, wie sonst auch. Übrigens kommt heute Abend noch ein neuer Gast, ein Mann. Allein. Und in den nächsten zwei Wochen füllt sich alles wieder, dann sind wir für längere Zeit ausgebucht.«
»Das ist auch gut so«, nickte Abbie beifällig. »Du weißt, mit dem Kochen von kleineren Portionen für wenig Gäste habe ich so meine Probleme.«
Das stimmte, denn grundsätzlich hatten sie zu viel, weil Abbie Angst hatte, es könnte sonst nicht reichen. Nur zu gern gab Kate ihr abends genügend mit, dass die Familie am nächsten Tag eine komplette Mahlzeit zur Verfügung hatte.
»Demnächst kannst du dich wieder austoben«, grinste Kate und stibitzte sich eine Karotte, die Abbie inzwischen geschält hatte. Dabei fing sie sich einen Klaps auf die Finger ein.
»Sag mal», sinnierte Abbie weiter. »Kann es sein, dass wir weniger Teller haben als noch vor einiger Zeit? Irgendwie kommen mir die Stapel kleiner vor. Wie viel waren es denn mal?«
»Sechzig«, antwortete Kate wie aus der Pistole geschossen. »Wir haben damals von allem so viel angeschafft und es immer mal wieder aufgestockt, wenn es weniger wurde. Lass uns mal zählen.«
Sie öffnete den Geschirrschrank und tippte mit dem Zeigefinger die Teller durch.
»… achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig und der, den du da hast. Sind einundfünfzig, fehlen tatsächlich schon wieder einige.«
Plötzlich klirrte es hinter ihr laut, erschrocken fuhr sie herum. Abbie schaute erst betreten zu Boden, dann zu Kate. Die sagte nur: »Ich korrigiere: Wir haben noch genau fünfzig Teller.«
Abbie schlug die Hände vor das rotwangige Gesicht und flüsterte kaum hörbar: »Tut mir leid, Kate.«
»Ach was«, beruhigte Kate sie. »Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und das Geschirr, das dir im Laufe der vielen Jahre kaputtgegangen ist, seit du uns hilfst, kann man wirklich an einer Hand abzählen. Ich habe schon mehr zerdeppert, das kannst du mir glauben.«
Sie legte ihre Hand auf die Schulter der Frau und drückte sie leicht.
»Was kann ich dir helfen? Alles, was am Tisch erledigt werden kann, ist momentan wie gemacht für mich.«
In der Küche hatte Abbie das Kommando und Kate fügte sich gern, indem sie sich Hilfsarbeiten zuteilen ließ. Das System funktionierte wunderbar, so auch heute. Schwatzend erledigten sie die anfallenden Arbeiten, bis sie von der Türklingel unterbrochen wurden.
Um zu hören, wenn jemand das Haus betrat, hatte Padraig damals eine Glocke über der Tür angebracht. Daher stand Kate nun auf, um zur Rezeption zu gehen. Entweder kamen die Tagesausflügler zurück oder ein neuer Gast. Nachbarn und Freunde nutzten grundsätzlich die hintere Gartentür in die private Küche der Butlers.
Sie nahm den Weg durch die Küchen, um direkt hinter der Rezeption aufzutauchen. Dort stand ein Mann in mittleren Jahren, gepflegt, lässig und trotzdem teuer mit Designerjeans und Poloshirt bekleidet. Mit klaren, blauen Augen schaute er ihr entgegen, bequem auf den Tresen gestützt. Freundlich lächelte sie ihn an.
»Sie müssen Mr Murdock sein«, begrüßte sie ihn und versuchte, sich zu ihrer vollen Größe zu strecken.
»Angus Murdock, ja. Ich habe reserviert.« Seine Stimme klang warm und leicht rau.
Kate zog ein Formular aus einem der Fächer und legte es zusammen mit einem Stift vor ihn auf den Tresen.
»Wenn Sie mir das bitte kurz ausfüllen würden, Mr Murdock? Ich kann es selbstverständlich auch gern für Sie tun, wenn Sie möchten und mir die benötigten Informationen zur Verfügung stellen würden.«
Er zog beides näher zu sich heran.
»Nein, ich mache das schon. Dauert nur einen Moment.« Entschuldigend zeigte er seine ebenmäßigen Zähne, während er in der Reisetasche kramte. Schließlich hatte er gefunden, was er suchte und zog eine kleine Lesebrille aus dem Etui. Konzentriert zog er die Stirn in Falten, ging den Anmeldebogen Punkt für Punkt durch. Danach schob er das Blatt wieder zu ihr zurück.
Kate warf einen kurzen Blick darauf, bevor sie es in die Schublade schob, in der sie ihre Ablage sammelte. Dann nahm sie vom Schlüsselbrett einen kleinen Anhänger, an dem zwei Schlüssel baumelten.
»Einer ist für Ihr Zimmer, der andere für die Haustür. So können Sie jederzeit kommen und gehen, wie Sie möchten. Von abends um zehn bis morgens um sechs ist die Haustür verschlossen. Bitte, kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Zimmer.«
Etwas mühsam humpelte sie um den Tresen herum, als auch schon Abbie in der Tür zum Speisezimmer erschien. Sofort erfasste sie, was Kate vorhatte, überquerte den Flur und nahm ihr resolut die Schlüssel aus der Hand.
»Das mache ich, du leg mal deinen Fuß hoch und mach in der Küche weiter.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, bat sie Murdock, ihr zu folgen. Der drehte sich noch einmal zu Kate um und wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen.
»Links ist das Speisezimmer, Frühstück gibt es ab sieben Uhr. Wenn Sie aber früh zu einem Ausflug aufbrechen möchten, sagen Sie einfach Bescheid. Dann bekommen Sie natürlich auch früher etwas. Rechts befindet sich ein Aufenthaltsraum, wo Sie mit den anderen Gästen plaudern können. Da finden Sie auch Tageszeitungen, Bücher und einen Billardtisch. Falls Sie mal den Abend nicht allein verbringen möchten.«
Nachdem Abbie ihm das erklärt hatte, eilte sie die Treppe hinauf in der Annahme, er würde ihr folgen. Doch Murdock dachte gar nicht daran.
»Was ist mit Ihrem Fuß?«
Kate machte eine abwehrende Handbewegung.
»Nichts weiter. Ich bin gestern nur ausgerutscht und habe ihn mir verstaucht. Das geht bald wieder.«
Er nickte nachdenklich, blieb aber stehen.
»Waren Sie schon beim Arzt?«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich habe eine Salbe und Verband, das reicht.«
»Wenn Sie einverstanden sind, sehe ich es mir mal an. Nur um sicherzugehen, dass nicht doch was gebrochen ist. Ich bin zwar plastischer Chirurg, aber auch wir haben eine normale medizinische Ausbildung.« Der letzte Satz wurde von einem leisen Lachen begleitet.
Am oberen Treppenabsatz hörte Kate Abbie schnaufen, ignorierte sie aber.
»Das ist wirklich nicht nötig, Mr Murdock. Es ist nichts weiter, nur gerade etwas lästig.«
»Ich würde mich freuen«, bekräftigte er. »Es schadet doch nicht.«
»Okay, aber nur wenn Sie wirklich möchten und wenn es Ihnen zeitlich passt«, gab sie nach.
»Ich packe nur schnell aus, mache mich etwas frisch und komme dann wieder nach unten. Es ist doch ohnehin bald Essenszeit?«
»Ab achtzehn Uhr, das hat Abbie eben vergessen zu erwähnen.«
»Habe ich nicht!« dröhnte es von oben. »Das hätte ich schon noch erklärt, zusammen mit allem anderen.«
Murdock warf einen Blick nach oben und eilte dann die Treppe hinauf. Die gute Frau noch länger dort warten zu lassen, erschien ihm doch etwas unhöflich.
Kate tat, was Abbie ihr aufgetragen hatte und widmete sich weiter erst dem Gemüse, bevor sie sich mit dem Fisch beschäftigte. Auf ihrem Weg zum Harbour Hotel, wie Paddy und sie das Haus genannt hatten, kaufte Abbie am Hafen den Fisch. Um alles andere kümmerte sich Kate, die das Benötigte geliefert bekam. Obwohl die Pension nicht direkt am Hafen lag und somit den Namen ›Harbour‹ eigentlich nicht verdient hatte, fand Kate ihn passend. Es gab einen Hafen, der nur wenige Minuten entfernt lag und der immerhin die Grundlage ihrer Speisekarte darstellte. Außerdem konnte man von der einen Giebelseite des Hauses direkt auf die vertäuten Boote und das Meer hinaus schauen. Auf der anderen Seite erstreckten sich Wiesen, Felder und eine Ansammlung von Bäumen, vor denen das Gutshaus prangte.
Schon kurze Zeit später dampfte Abbie wieder zur Tür herein, setzte sich Kate gegenüber und ergriff ihr Schälmesser. Wie nebenbei sagte sie: »Das ist aber schon ein Leckerchen, dieser Murdock.«
Kate warf ihr einen schrägen Blick zu, die Absicht hinter Abbies Worten erschlug sie fast. Also drehte sie den Spieß um.
»Abbie, denk dran, du bist verheiratet. Und er sicher auch.«
»Glaube ich nicht, dafür habe ich einen Riecher.« Demonstrativ tippte sie an ihre ausgeprägte Nase. »Von mir rede ich ja auch gar nicht, das weißt du ganz genau, Caitlin Butler! Ich weiß, was ich an Mr Farrell habe. Aber für dich wird es höchste Zeit, dass du das männliche Geschlecht wieder wahrnimmst.«
Abbie nannte ihren Mann Max Dritten gegenüber immer nur »Mr Farrell«, keinesfalls verwendete sie seinen Vornamen. Eine Marotte, über die sich Kate auch nach all den Jahren noch köstlich amüsierte. Niemals konnte sie bei dieser Bezeichnung ein leichtes Schmunzeln verbergen.
»Ich nehme das männliche Geschlecht wahr, Abbie. Das überzeugt mich davon, mich nicht dafür zu interessieren.«
Sie biss die Zähne aufeinander und sagte sich im Stillen, Abbie meinte es nur gut. Sie wäre ohne ihre quirlige Familie nur ein halber Mensch und wünschte jedem, ein ebensolches Leben zu führen. Kinder waren Kate und Paddy nicht vergönnt gewesen und ein solch einsames Leben mit dem alten Vater war nicht das Gelbe vom Ei, fand Abbie.
Natürlich hatte sich auch das Ehepaar Butler Kinder gewünscht, aber es hatte nicht geklappt. Zuerst waren sie es entspannt angegangen, aber nach drei Jahren geschah noch immer nichts. Nun versuchten sie es etwas aggressiver, Kate zog ihren Menstruationskalender zu Rate, alle Tricks aus diversen Ratgebern wurden ausprobiert – ohne Erfolg. Anstatt jedoch herauszufinden, woran es lag, fanden sie sich damit ab und legten das Thema Kinder zu den Akten. Was hätte es ihnen genützt, einen von beiden als Schuldigen abzustempeln, wenn sie es ablehnten, alle medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen? Sie wollten auf natürlichem Wege ein Kind, ohne Mutter Natur nachzuhelfen. Da es nicht funktionierte, sollte es wohl nicht sein und sie respektierten das.
Abbie ließ das Thema ruhen, denn sie merkte, dass Kate nicht darüber diskutieren wollte. Allzu oft hatten sie schon alle Aspekte erörtert, jedes Mal mit demselben Ergebnis. Für Kate konnte niemand auch nur annähernd ihren Paddy ersetzen. Sie zog nicht einmal die Möglichkeit in Betracht.
»Kate! Wo zum Teufel ist mein kariertes Hemd?«
Darragh kam in die Hotelküche gepoltert, hochrot im Gesicht. Bekleidet mit einer dunkelblauen Latzhose und einem gerippten Unterhemd, das schon mehr grau als weiß war. Seufzend registrierte Kate diesen Umstand und nahm sich vor, am Abend dieses Hemd in die Schmutzwäsche zu werfen, um es gleich morgen zu waschen.
»Du meinst aber nicht dieses dicke Fleece-Hemd?«
»Natürlich, welches denn sonst?«
Sie fuhr sich schwerfällig durch die dunklen Locken. Es gab Zeiten, zu denen sie ihre Mutter mehr vermisste als sonst. Dieser Moment gehörte zweifellos dazu.
»Dad, es sind draußen fünfundzwanzig Grad. Du kannst doch nicht mit einem dicken Fleece-Hemd rumlaufen. Außerdem muss es mal gewaschen werden.«
»Blödsinn, das muss nicht gewaschen werden. Und was ich anziehe und wann, musst du schon mir überlassen. Ich bin ein erwachsener Mann und weiß selbst, was ich will.«
Das wage ich manchmal zu bezweifeln, dachte sich Kate bebend. Wortlos stemmte sie sich am Tisch hoch, humpelte wütend in den kleinen Hauswirtschaftsraum, zerrte das Hemd aus dem Stapel Schmutzwäsche und warf es ihm, kaum wieder zurück in der Küche, vor die Brust. Mit bemerkenswerter Reaktion fing Darragh es auf und verließ zufrieden grunzend den Raum. Gefolgt von Kates zornigem Blick.
»Lass dich von ihm nicht provozieren«, riet Abbie, deren Blick jedoch auch nicht viel freundlicher wirkte. »So, und jetzt ruhst du dich aus, während ich das Abendessen mache.«
Kate lehnte sich zurück und schaute der Freundin gedankenversunken zu, wie sie mit den Töpfen hantierte. Erst ein Ruf aus dem Eingangsbereich schreckte sie auf.
Der neue Gast, Angus Murdock, stand an der Rezeption und wartete geduldig auf sie.
»Wollen wir mal nach Ihrem Fuß sehen? Am besten, Sie setzen sich dazu gleich da ins Esszimmer.«
Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, ging er voraus in der Erwartung, sie würde ihm folgen. Da ihr nichts anderes übrig blieb, tat sie ihm den Gefallen und nahm an einem der Tische Platz. Abbie hatte bereits gedeckt, freundliche gelbe Tischdecken mit kleinen Vasen, bestückt mit Sommerblumen, zierten den Raum. Die Sonne malte Kringel auf manche Tische, von denen nur fünf Teller und Besteck aufwiesen. Mehr brauchten sie momentan nicht.
Murdock sah sich in Ruhe um und schien zufrieden mit dem, was er sah.
»Sie verstehen es, einem Gast Behaglichkeit und Freundlichkeit zu vermitteln.«
Kate zuckte nur die Schultern, für sie war das nichts Besonderes.
»Es ist wichtig, Mr Murdock. Wir haben viele Stammgäste, die unser Ambiente und vor allem die Ruhe in unserem Örtchen genießen. Die würden nicht wiederkommen, wenn sie sich hier unwohl fühlen würden. Deshalb war es für uns immer wichtig, dass sich hier jeder willkommen fühlt. Das A und O bei einem Gastbetrieb.«
»Wir?« Er zog fragend die Augenbrauen hoch. »Es gibt also auch einen Mr Butler?«
Kate beschloss, ihn in die Irre zu führen. Einfach, um von Anfang an jeden Gedanken auszulöschen, sie könne Interesse an einer Affäre oder sonstigem haben.
»Ja, es gibt auch einen Mann, der zu mir gehört.« Das war nicht wirklich gelogen, denn sie bezog diese Aussage auf Darragh. Wobei sie selbstverständlich wusste, Murdock ginge von einem Ehemann aus. Genauso beabsichtigte sie die Botschaft ihrer Aussage.
Nachdem er vorsichtig Schuh und Socke abgestreift hatte, tastete er einfühlsam ihren Knöchel ab, bog und drehte ihren Fuß. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, um ihre Reaktionen abzuschätzen. Zufrieden nickte er schließlich.
»Es scheint tatsächlich nichts Schlimmeres passiert zu sein. In ein paar Tagen sollte es besser werden. Aber wenn nicht, sollten Sie den Knöchel doch lieber mal röntgen lassen.«
»Werde ich machen, vielen Dank.«
Sie verhüllte ihren Fuß wieder und schaute ihn dann nachdenklich an.
»Bis zum Abendessen ist noch etwas Zeit. Wenn Sie mögen, können Sie sich ein wenig im Garten umsehen oder sich dort in die Sonne setzen. An der Seite vom Haus sind Liegestühle, ich würde Ihnen Bescheid geben, wenn wir so weit sind.«
»Das ist eine gute Idee, etwas frische Luft wird mir guttun. Aber Sie sollten den Fuß wirklich schonen, sonst dauert es nur umso länger, bis sie ihn wieder richtig gebrauchen können.«
Nickend stand sie auf, das wollte sie ihm gern versprechen. Inwieweit ihr das gelang, stand auf einem anderen Blatt. Immerhin gab es einiges zu tun, das allein auf ihren Schultern lastete.
»Ich gehe dann jetzt«, rief Abbie zur Rezeption hinüber, wo Kate die Ablage erledigte. Die letzte Stunde hatte sie damit verbracht, online Rechnungen zu begleichen, die jetzt in den Ordnern verstaut werden konnten. Beiläufig sah sie auf, lächelte dann aber.
»Hast du die Reste für euch dabei?« hakte sie nach. Abbie nahm sich niemals aus eigenem Antrieb etwas mit, sondern nur, wenn Kate sie dazu aufforderte.
»Ich packe mir was ein«, beschloss Abbie daraufhin und kehrte durch das Esszimmer in die Küche zurück. Ihr Geklapper und Rumoren drang durch die Tür zu Kate, die zufrieden grinste. Den Gästen hatte es geschmeckt, sie unterhielten sich noch im Aufenthaltsraum. Nur Mr Murdock befand sich bereits in seinem Zimmer, müde von der Anreise. Dachte sie zumindest.
»Die Schilder an den Bäumen sind ja herrlich!« lachte er, langsam die Treppe herunter schlendernd.
Besagte Schilder prangten deutlich sichtbar an den Stämmen, mit der Aufschrift: »Selbstbedienung ausdrücklich erwünscht!«
Kate sah zu ihm hinauf und gab Abbie insgeheim Recht, er war tatsächlich ein Bild von einem Mann. Aber nichts für sie, denn er war sicherlich in einer Partnerschaft und vor allem nicht Paddy. Punkt.
»Reiner Selbsterhaltungstrieb«, erklärte sie ihm. »Kaum ein Gast würde sich am Obst bedienen und wir haben solche Massen, dass wir tagelang nur mit der Herstellung von Mus, Marmelade und sonstigem beschäftigt wären. Da ist es uns lieber, jeder pflückt sich, was er gern mag und wir müssen nicht mit einer ganz so großen Obstlawine klarkommen. Die hauseigene Marmelade gibt es aber dennoch zum Frühstück, das ist Ehrensache. Dafür ernten wir jedes Jahr einen Teil, aber der Rest kann so verzehrt werden.«
Mittlerweile stand er vor ihr, lässig an den Tresen gelehnt.
»Für einen Städter wie mich ist es das Paradies. Grün, wohin man sieht und dann noch Obst, das man sich selbst pflücken kann. Völlig unbehandelt mit Pestiziden, mehr Bio geht nicht. Da, wo ich einkaufe, muss ich das sehr teuer bezahlen.«
»Die Stadt hat sicherlich einige Vorteile, aber ebenso viele Nachteile. Um ehrlich zu sein, ich könnte dort nicht leben. Ich brauche die Natur, die Weite. Wenn ich vor die Tür gehe, muss ich frische Luft atmen können und darf nicht sehen können, wo die Natur aufhört.«
»Sie sind hier aufgewachsen?«
»Ja, aber nicht in diesem Haus, sondern ein paar Straßen weiter. Dieses Cottage haben mein Mann und ich vor zehn Jahren gekauft, um- und angebaut. Allerdings habe ich Calglen nie verlassen, das ist richtig. Noch nicht mal für eine Ausbildung oder Arbeit.«
Sie stützte das Kinn in die Handfläche. Es wurde Zeit, etwas über ihn zu erfahren.
»Und Sie? Haben Sie nie auf dem Land gelebt?«
»Nein.« Ein wehmütiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Es hat sich nie ergeben. Zum Studieren muss man in die Stadt und zum Arbeiten für gewöhnlich auch. Zumindest in meinem Beruf.«
»Haben Sie denn eine eigene Praxis?«
Er schüttelte den Kopf und ahmte ihre Haltung nach, indem er ebenfalls das Kinn in die Hand legte. Nur wenige Zentimeter befanden sich zwischen ihren Gesichtern.
Kate wartete einen Moment, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, richtete sich dann aber wieder auf. Beiläufig nahm sie einige Papiere zur Hand, um einen Grund für ihren Rückzug zu haben.
»Ich arbeite in einer Klinik, als plastischer Chirurg ist das am sinnvollsten.« Neugierig reckte er sich in Richtung des Aufenthaltsraums. »Da scheint ja ganz schön was los zu sein.« Stimmengewirr drang zu ihnen, die anderen Gäste schienen sich lebhaft mit Nachbarn zu unterhalten, die gelegentlich vorbeischauten. Durchbrochen wurde das gleichförmige Geräusch durch ein Lachen hier und da sowie das Klacken der Billardkugeln.
»Gesellen Sie sich doch einfach dazu«, schlug sie vor. »Das sind zwei wirklich nette Ehepaare, mit denen Sie sich sicher gut verstehen. Früher hat mein Mann abends manchmal musiziert, dann war da drüben richtig Stimmung.«
Erschrocken biss sie sich auf die Zunge, nun hatte sie sich verplappert. Murdock hakte auch sofort nach.
»Und jetzt macht er das nicht mehr? Warum denn nicht?«
»Es hat sich nicht mehr ergeben«, wich sie aus, trat hinter dem Tresen hervor und winkte ihm, ihr zu folgen. Mit einer einladenden Handbewegung deutete sie auf das gemütliche Zimmer, in dessen Kamin um diese Jahreszeit ein großer Strauß bunter Blumen stand.
Damit ließ sie ihn stehen, schnappte sich hinter der Rezeption einen Ordner und verschwand durch die Tür in die Küche. Sie brauchte ihn nicht, er diente nur als Alibi, um sich von der Anwesenheit Murdocks zu befreien. Ähnlich wie ihre Mutter Millie, plauderte sie gern hin und wieder mit den Gästen, aber dieser Murdock kam ihr zu nah. Oder lag es daran, dass er scheinbar alleinstehend war? Wobei sie das gar nicht wissen konnte, möglicherweise hatte seine Frau nur anderweitig Verpflichtungen, sodass sie ihn nicht begleiten konnte.
Kate warf den Ordner auf den Küchentisch, brühte sich einen Tee auf und dachte über dem heißen Dampf der Tasse nach. Das Begleichen der offenen Rechnungen hatte ein Loch ins Budget gerissen, wie jedes Mal. Sie konnten recht gut leben, aber das – und da gab sich Kate keinen Illusionen hin – funktionierte nur mit der Rente ihres Vaters. Die Pension warf nicht genug ab, um die Raten für den Kredit abzubezahlen und auch noch genügend Gewinn zu erzielen, um beispielsweise Handwerkerrechnungen zu begleichen. Brauchte sie jemanden, musste meistens Max Farrell herhalten, der glücklicherweise sehr geschickt und mit vielfältigem Wissen gesegnet war. Eins jedoch stand fest: So konnte es nicht weitergehen.
Mit dem Cottage hatten sie Ländereien gekauft, die Kate erst abgeschreckt hatten. Was sollten sie damit? Ein großzügiger Garten würde ihr reichen, in dem sich Gäste aufhalten und erholen konnten, sofern sie nicht die Umgebung besichtigen wollten. Doch Paddy hatte auch hierfür eine Lösung. Die Wiesen und Felder wurden zur Verpachtung ausgeschrieben. Schnell fanden sich Farmer, die das Angebot nutzten und ihnen ein zusätzliches Einkommen garantierten. Inzwischen waren sie im Ruhestand, benötigten kein zusätzliches Land mehr und Kate konnte froh sein, dass sie ihr einen Gefallen taten, indem sie regelmäßig mähten. Trotz aller Anstrengungen hatte sie bislang niemanden gefunden, der an einer Nutzung interessiert war.
Bei diesen Gelegenheiten verspürte sie eine gewisse Wut auf Paddy. »Das Land ist nun mal beim Cottage dabei. Dafür finden wir eine Verwendung«, hatte er gesagt. Zunächst klappte das auch, doch nun schon lange nicht mehr. Diese Entwicklung hatte Paddy jedoch nicht mehr mitbekommen.
Woher also sollte sie das Geld für die dringend nötigen Renovierungen der Zimmer nehmen? In diesem Winter, wenn ständig Zimmer leer standen, musste das in Angriff genommen werden. Noch ein Darlehen konnte sie sich aber nicht leisten, die bisherigen Raten fielen ihr in manchen Monaten schwer genug.
Nicht zum ersten Mal entstand in ihrem Hinterkopf der Gedanke, das Hotel zu schließen und wieder einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, die ihr jeden Monat ein festes Gehalt garantierte.
Kate war kein Mensch, der Wert auf materielle Dinge legte. Glück basierte für sie auf ihrer Heimat und Menschen in ihrer Umgebung, die sie mochte und auf die sie sich verlassen konnte. Dennoch zermürbte sie der ständige Kampf ums Geld, die Ungewissheit, ob genug übrig bleiben würde, um die Rechnungen zu bezahlen, ohne bei der Bank ins Minus zu geraten.
Mit ausdruckslosem Blick sah sie durch das Fenster auf das große Herrenhaus, das immer mehr verfiel und offenbar keinen Eigentümer hatte, der damit etwas anfangen konnte. Nach ihrem Kenntnisstand gehörte es einem alten Zausel, der nie Interesse gezeigt und das Gebäude seinem Schicksal überlassen hatte. Ob der überhaupt noch lebte und wenn ja, wo, entzog sich ihrer Kenntnis. In Calglen wusste jeder alles über jeden, aber dieses riesige Gutshaus stellte ein Mysterium dar, um das sich einige Geschichten rankten. Kate hörte nur mit halbem Ohr zu, wenn mal wieder eine zum Besten gegeben wurde, was insbesondere im Pub manchmal seltsame Ausmaße annahm. Gerne berichtete man von einem reichen Amerikaner, der nicht wusste, wohin mit seinem ganzen Vermögen. Dann wieder war es ein veraltetes Adelsgeschlecht, das obendrein verarmt und damit der Möglichkeit beraubt war, das Haus in Schuss zu bringen. Am abenteuerlichsten fand sie die Geschichten um spukende Bewohner, die jeden vergraulten, der nur einen Fuß hinein setzte.
Fakt war für Kate nur eins: Wenn sich nicht bald jemand darum kümmerte, würde das Haus endgültig zerfallen und wäre nicht mehr zu retten.
Irgendjemand musste zumindest vor zehn Jahren dafür verantwortlich gewesen sein, denn andernfalls wäre nicht die Entscheidung getroffen worden, Harbour Hotel von dem Besitz abzusplitten und zu verkaufen. Wie groß die Ländereien waren, die zum Herrenhaus gehörten, bot zusätzlich Anlass für wilde Spekulationen. Einen kleinen Teil davon zumindest hatten sie und Paddy zusammen mit ihrem Cottage gekauft.
»Kate!« dröhnte es von oben.
Missbilligend verzog sie die Lippen. Wann konnte sie ihrem Vater endlich beibringen, dass er nicht jedes Mal das gesamte Haus zusammenschrie, wenn er etwas wollte? Außerdem wusste er genau, dass sie nur mühsam laufen konnte. Also beschloss sie trotzig, einfach sitzenzubleiben. Sollte er doch kommen.
Das tat er einige Minuten später, mit schwerem Schritt schlugen seine Hacken auf die Holzstufen der Treppe.
»Hast du mich nicht gehört?« polterte er hinter ihrem Rücken.
»Laut und deutlich. Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst nicht durch das ganze Haus brüllen.«
»In meinem Haus mache ich, was ich will. Und wem es nicht passt, kann gehen.«
Kraftlos sank Kate in sich zusammen, diese Diskussion wiederholte sich ständig. Allmählich ging ihr die Energie aus.
»Schon klar, die Leute bezahlen ja auch nichts. Deshalb ist es völlig egal, ob die Zimmer vermietet sind oder nicht.«
»Du immer mit deinen blöden Bemerkungen«, entrüstete er sich.
Nicht gewillt, diese Unterhaltung fortzusetzen, richtete sie sich auf und schaute ihn herausfordernd an.
»Also, was willst du?«
Er zog den Anzeigenteil der Tageszeitung hinter dem Rücken hervor und knallte sie auf den Tisch.
»Den will ich haben, das Inserat ist eingekreist.«
Kate zog die Zeitung zu sich heran und überflog die Anzeige, in der ein Aufsitzmäher angeboten wurde. Zugegebenermaßen zu einem recht günstigen Preis.
»Was willst du damit? Den Rasen mähe ich doch und mir macht es nichts aus, das mit einem normalen Rasenmäher zu machen. Im Gegenteil, die Bewegung hält mich fit.«
Darragh grunzte, nicht zu definieren, ob er zustimmte oder nicht. Klarheit brachte sein nächster Satz.
»Du brauchst jedes Mal zwei Stunden.«
Zwei schmale Falten erschienen über Kates Nasenwurzel.
»Na und? Stört es dich oder was?«
In diesem Moment kam ein Charakterzug ihres Vaters zum Vorschein, den er nur sehr ungern zeigte und deshalb meistens verbarg. Seine Güte und das Bestreben, seiner Tochter zu helfen.
»Du bist allein mit all der Arbeit, Mädchen. Mit dem normalen Motormäher schaffe ich das alles nicht, aber mit dem Gerät da in der Zeitung …« Er piekte vielsagend an die betreffende Stelle, die er markiert hatte. »Ich könnte dir zumindest das abnehmen.«
Sie kannte seit ihrer Kindheit seine Begeisterung für alles, was von Motoren angetrieben wurde. Deshalb gab es nicht nur einen Rasenmäher im Schuppen, sondern mehrere. Darragh zerlegte mit Begeisterung schrottreife Mäher, um aus den Einzelteilen funktionstüchtige neu zusammenzusetzen. Diese verkaufte er in Calglen und Umgebung, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Ein Aufsitzmäher war ein Traum, den er sich bislang nicht erfüllt hatte.
Kurz zuckte sie, um ihre Hand auf die ihres Vaters zu legen. Doch derartige Berührungen gab es nicht mehr, seit sie in die Pubertät gekommen war. So verkniff sie sich auch jetzt diesen Impuls, der schnell vorbei ging. Stattdessen zwinkerte sie ihm zu.
»Das ist wirklich lieb von dir, Dad. Das Problem ist nur, wir haben kein Geld dafür. Du weißt, dass ich ohne deine Unterstützung aufgeschmissen wäre.«
»Lass mal, darum kümmere ich mich schon.«
Er klopfte seinerseits leicht auf ihre Hand und verschwand ohne ein weiteres Wort nach oben.
Im Unklaren, woher er das Geld nehmen wollte, grübelte Kate über seine Möglichkeiten nach. Da ihr nichts einfiel, gab sie auf. Darragh würde schon wissen, was er tat. Wahrscheinlich gab es noch eine kleine finanzielle Reserve, die er angreifen würde. Wobei sie ihm nicht reinreden konnte und wollte, denn es handelte sich um sein Geld.
Gerade hakte sie das Thema ab, als er nochmals den Kopf durch den Türrahmen steckte.
»Rufst du da mal für mich an? Mach einen Termin aus, wann ich ihn abholen kann.« Dann war er wieder verschwunden, davon ausgehend, sie würde seinem Wunsch unverzüglich nachkommen. Was sie auch tat.
Darragh strahlte wie ein Honigkuchenpferd über die Nachricht, bereits am nächsten Tag könne er kommen und sein neues Gefährt in Besitz nehmen.
Kate wusste, als nächstes führte ihn sein Weg zu Max Farrell, dessen Auto und Hänger dafür benötigt wurden. Aber das regelte Darragh allein mit seinem Freund, die Männer machten das nicht zum ersten Mal.
Inzwischen brach die Dämmerung herein und ging schnell in Dunkelheit über. Während ihrer Überlegungen hatte Kate dies gar nicht bemerkt, aber als sie nach dem Telefonat auflegte, machte sie das Licht über dem Herd an. Nur ein sanfter Schimmer fiel durch die Küche, für sie gerade richtig. Grelles Licht, das in alle Ritzen drang, war ihr ein Gräuel.
Aus dem Aufenthaltsraum drang ein schwacher Lichtkegel, also hatten auch die Gäste inzwischen den Raum erhellt. Vermutlich mit den Stehlampen, die an den Sitzgruppen verteilt standen. Der Geräuschkulisse zufolge wurde noch Billard gespielt, sodass die Deckenleuchte darüber sicher ebenfalls brannte. Kate staunte über die Ausdauer der Familien am heutigen Abend, an anderen Tagen waren sie um diese Uhrzeit schon längst auf ihren Zimmern.