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Prudence ist eine hübsche, intelligente und beruflich sehr erfolgreiche Frau. Um Ruhe und Kraft zu finden, zieht sie in ein kleines Haus auf dem Land, das dem unfreundlichen, verbitterten Davie McVeigh gehört. Durch tragische Ereignisse wird Prudence in die Geheimnisse um ihn und seine Familie hineingezogen.
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Seitenzahl: 333
CATHERINE COOKSON
Verborgenes
Glück
Roman
Aus dem Englischen
von Kristiana Ruhl
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Prudence Dudley hat fast alles, was eine Frau sich wünscht: gutes Aussehen, Intelligenz und Erfolg im Beruf. Im Herzen jedoch ist sie ein misstrauischer Mensch, geprägt von schweren Enttäuschungen. Den einzigen Ausweg sieht sie darin, sich von ihren Mitmenschen zurückzuziehen. Mit ihrer einzigen Vertrauten, ihrer Tante Maggie, zieht sie in ein kleines Haus auf dem Land. Der Besitzer, Davie McVeigh, begegnet den beiden Frauen mit Arroganz und Feindseligkeit. Prudence erkennt bald, dass sich dahinter ein warmherziger Mann verbirgt, der wie sie vom Schicksal gezeichnet ist. Nur die Liebe kann die Verbitterung dieser beiden Menschen besiegen.
Die Autorin
Catherine Cookson (1906-1998) wurde in Nordengland geboren und wuchs, wie viele ihrer Romanfiguren, in einfachsten Verhältnissen auf. Bereits als 16-Jährige schrieb sie Kurzgeschichten, der Durchbruch als Autorin kam 1950. Seitdem hat sie fast 90 Romane veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Durch ihre treue Leserschaft ist sie eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Welt. 1985 wurde sie mit den Orden des Britischen Königreichs ausgezeichnet und 1993 von Königin Elizabeth II. in den Stand einer »Dame of the British Empire« erhoben.
Die Originalausgabe THE IRON FACADE erschien 1976 bei William Heinemann Ltd., London
Vollständige Deutsche Taschenbuchausgabe 03/2006 Copyright © 1976 by Catherine Marchant Copyright © 2006 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München; Unter Verwendung von Bildmaterial von Schutterstock Images LLC Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen
eISBN: 978-3-641-18100-0V001
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www.randomhouse.de
»Mir wird schon wieder schlecht.«
»Ach, Tante Maggie!«
»Ich … ich kann ja nichts dafür. Mir … ist das genauso unangenehm wie dir … Halt bitte an!«
»So hab ich es doch nicht gemeint. Aber ich muss warten, bis eine Stelle kommt, wo ich halten kann.«
Als ich sah, wie ihre Hand zum Mund schnellte, trat ich sofort auf die Bremse, stieg aus und hastete um den Wagen herum auf ihre Seite. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um sie zu stützen, während sie sich würgend über den Straßengraben krümmte.
Im Aufrichten wischte sie sich mit der Hand über den Mund. »Es tut mir so Leid«, murmelte sie.
»Aber Tante Maggie, du musst dich doch nicht entschuldigen. Komm.« Ich drehte sie an den Schultern und führte sie zurück zum Auto.
»Das sehe ich aber anders. Ich soll doch auf dich aufpassen, nicht umgekehrt.«
»Es tut mir ganz gut, auch einmal an etwas anderes zu denken.«
»Das mag sein, aber müssen das ausgerechnet ich und mein empfindlicher Magen sein?« Sie war so schwach, dass sie nicht frei stehen konnte, doch aus ihrem Blick sprach längst wieder ihre gewohnte schelmische Wärme. »Ein Glas Wasser, und ich bin wieder wie neu. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, liegt hier ganz in der Nähe ein Dorf. Wir haben den Eden überquert und sind an Appleby, Colby und Strickland vorbeigefahren. Als Nächstes müsste Brampton kommen, und wenn ich mich recht entsinne, gibt es hier ein kleines Nest namens Borne Coote.«
»Wir hätten doch in Appleby halten und etwas essen sollen, wie ich vorgeschlagen habe.«
Meine Tante warf mir einen beredten Blick zu, ließ dann den Kopf hängen und lehnte sich schwer gegen das Auto. Ich ging ein paar Schritte am Grünstreifen entlang. Vor meinen Augen erstreckte sich eine grüne Hügellandschaft; in einem Tal glitzerte schwach die spiegelglatte Wasseroberfläche eines Sees. Dahinter erhoben sich abermals Hügel, auf deren abgewandten Flanken sich, wie ich wusste, kleine Flüsse und reißende Wildbäche zu Tal schlängelten. Cumberland … Ich war zum ersten Mal in dieser Gegend, die ebenso lieblich und schön wie von wild-rauer Einsamkeit war. Und genau das war es, was ich hier suchte: die Einsamkeit.
Kurz nach fünf Uhr früh waren wir an diesem Morgen in Eastbourne aufgebrochen. Nachdem Tante Maggie im ganzen Haus überprüft hatte, ob Fenster und Türen geschlossen waren, hatte sie im Flur einen Augenblick lang innegehalten, um mir sanft über die Wange zu streicheln. »Du wirst heute gut einschlafen, Pru, und zwar ganz ohne Pillen, das verspreche ich dir.« Mit einem schelmischen Lächeln hatte sie hinzugefügt: »Prudence, Pein und Pillen … Zwei von den drei P-Wörtern lässt du aber lieber hier, wenn wir jetzt fahren, nicht wahr?« Wäre mir der Humor nicht längst vergangen gewesen, hätte mich die liebevolle Spöttelei zum Lachen gebracht. So gelang mir nur ein müdes Lächeln.
»Die Aussicht ist überwältigend, nicht?«
Ich hatte nicht bemerkt, dass sie neben mich getreten war. »Hast du dich etwas erholt?«
»Ja, ja«, erwiderte sie mit einem Nicken. »Bis zum nächsten Anfall. So viel zur Wirksamkeit von Tabletten gegen Reisekrankheit.«
»Es ist die Hitze«, sagte ich. »Es ist unglaublich heiß.«
Tante Maggie hatte ihren Blusenkragen im Nacken gelupft und fächelte sich damit Luft zu. »Weit über dreißig Grad, und wir haben schon Ende August. Das einzig Gute daran ist, dass es nicht mehr lange dauern kann. Ich vertrage diese Temperaturen einfach nicht … Aber sieh doch mal, ist es nicht wunderschön hier?«
Sie beschrieb mit der Hand einen Halbkreis, dem ich mit den Augen folgte. Tatsächlich, es war ein herrliches Panorama. Früher hatten mich Landschaften wie diese in Erregung versetzt, mich innerlich aufgewühlt. Ja, der Atem hätte mir stocken müssen angesichts dieser wogenden Weite, mein Herz hätte jubilieren müssen bei der Aussicht, dass ich nun ganze drei Monate in diesem ländlichen Idyll verbringen würde. Stattdessen regte sich nichts. In meinem Inneren herrschte ein eisiges Vakuum. Das einzige Gefühl, das ich noch kannte, war die Angst. Eine Angst, die mich so beherrschte, dass ich beim Gehen den Kopf gesenkt hielt und starr zu Boden blickte.
»Weißt du noch«, hatte mich Tante Maggie geneckt, »wie du immer Angst hattest, ein Doppelkinn zu bekommen? Also, Kopf hoch.«
War ich immer noch dieselbe Frau, deren schlimmster Albtraum es gewesen war, ein Doppelkinn zu haben und die im Sitzen stets den Rücken gerade hielt und nie die Beine überschlug, damit ihre Hüften nicht breiter wirkten? Es war noch gar nicht so lange her, da hatte man über Prudence Dudley gesagt, sie sei nicht nur klug, sondern habe auch eine hübsche Figur und ein anziehendes Gesicht – nicht schön, wohlgemerkt, anziehend. Nur einer hatte sich anders ausgedrückt, hatte gesagt, ihr Gesicht sei mehr als nur schön. Es gebe attraktive, hübsche – und bezaubernde Gesichter. Das habe nicht nur etwas mit dem Aussehen zu tun, sondern sei eben viel mehr als das … Ja, solche Dinge waren über sie gesagt worden, früher, in einem anderen Leben.
»Nun komm schon, du bist müde. Hör auf damit.«
Tante Maggie hatte ihre Hände auf meine gelegt und löste sie mit sanftem Druck vom Revers meiner Kostümjacke. »Du bist müde, Pru«, wiederholte sie in strengerem Ton. »Das ist alles. Hör auf zu grübeln. Du hattest schon öfter Pechsträhnen im Leben – du weißt, dass sie auch wieder zu Ende gehen. Alles geht vorüber, das darfst du nie vergessen.«
Ich saß wieder im Wagen hinter dem Steuer. Das Zittern hatte aufgehört, doch der Schweiß rann mir noch immer übers Gesicht, und meine eigene Stimme drang dumpf, wie aus weiter Ferne, an mein Ohr. »Ich sollte ein paar Tabletten nehmen.«
»Aber wir haben nichts zu trinken dabei.«
»Dann schlucke ich sie eben trocken hinunter.«
»Nein, oh, nein, das wirst du mitnichten tun, Liebes. Mir kommt diese Straße irgendwie bekannt vor … Fahr noch ein Stück und bieg dann links ab. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir gleich in Borne Coote sind. Dort wird es bestimmt ein Café oder etwas Ähnliches geben. Wir müssen unbedingt etwas trinken, Wasser oder vielleicht lieber eine Tasse Tee.«
Als ich den Wagen anließ, begannen meine Hände erneut zu zittern, aber ich wiederholte wie eine Beschwörungsformel im Stillen immer wieder Tante Maggies Satz: Alles geht vorüber.
Wenige Minuten später kam die Straße aus ihrer Erinnerung in Sicht und kaum einen Kilometer weiter erreichten wir bereits das Dorf. Überrascht stellten wir fest, dass hier irgendetwas im Gange war. Die meisten Ortschaften, die wir passiert hatten, waren so menschenleer und verschlafen gewesen, dass sie geradezu verlassen wirkten – ob das immer so war oder nur an der außergewöhnlichen Hitze lag, war nicht zu sagen. Hier jedenfalls herrschten, obwohl es Viertel vor zwei am Nachmittag und somit der heißeste Teil des Tages war, Trubel und Leben. Mindestens ein Dutzend Autos, alles nicht gerade Edelkarossen, parkten entlang einer niederen Granitsteinmauer. Der dahinter liegende Kirchhof glich mit seiner üppigen Blumenpracht einem Park. Zwischen Beeten und Gräbern standen auf dem Rasen Menschen in kleinen Gruppen zusammen. Menschen mit strahlenden Gesichtern. Entlang der Hauptstraße setzten sich das Lachen und die frohsinnigen Grüppchen fort.
Keine von uns sagte ein Wort. Tante Maggie enthielt sich des einzig logischen Kommentars zu dieser Szenerie. Es war nicht zu übersehen, dass hier eine Hochzeit stattfand. Erst als wir das Ende der Straße erreicht hatten und auf einem kleinen Platz mit einem steinernen Kruzifix in der Mitte ankamen, brach sie das Schweigen. »Sieh mal, dort drüben steht ›Eis‹, da bekommen wir bestimmt etwas zu trinken.«
In dem Laden bekam man schlichtweg alles, sogar Paraffin, wie ich feststellte – leider war er verwaist. Tante Maggie klopfte mehrmals auf die Theke. »Hallo, ist da jemand?«, fügte sie beim dritten Mal in energischem Ton hinzu. Selbst als noch immer keine Antwort kam, verzichtete sie auf die offensichtliche Erklärung – ›Sind bestimmt alle auf der Hochzeit‹ –, sondern hob stattdessen stumm einen Korb voller Lebensmittel von einem umgedrehten Limonadenkasten und ließ sich darauf nieder, auf eine Art Butterfass deutend. »Setz dich doch da drauf. Dann warten wir eben. Immerhin ist es kühl hier drinnen.«
Ich wollte mich nicht setzen. Ich wollte weglaufen. Weg von allem, aus diesem Dorf und weg von seinen fröhlichen Bewohnern. Ich kannte dieses Gefühl, diese Symptome, und ich wusste genau, was sich in meinem Innern gleich abspielen würde. Mein Herz würde sich wie eine Faust ballen, dann zu rasen beginnen. Meine Glieder würden zittern, und mein Hirn wäre erfüllt von einer lähmenden Vorahnung: Gleich falle ich tot um. Aber wollte ich nicht ohnehin am liebsten sterben? Sicher. Aber nicht vor Angst. Dabei hatten die Ärzte gesagt, ich sei nun in der Lage, meine Emotionen zu beherrschen. Sie meinten, es liege von nun an allein in meiner Hand.
»Ist das die Möglichkeit! Ich wusste ja nicht, dass Kundschaft im Laden ist. Die Hochzeit, wissen Sie … Ich war hinten und hab über die Mauer gelinst. Man kann von dort auf den Seitenpfad zur Kirche sehen. Jetzt aber …«
Ein verhutzeltes Weiblein mit schmerzhaft streng zurückgehaltenem Haar und leuchtenden, wachen Augen blickte uns abwechselnd an. »Sie brauchen was zu trinken«, stellte sie mitfühlend fest, den Blick auf mich gerichtet. »Das ist nicht zu übersehen. Sie sind ja weiß wie ein Laken. Die Hitze … Haben Sie so was schon mal erlebt? Jetzt haben wir schon fast September! Ist das nicht verrückt? Aber für eine Hochzeit kann man sich natürlich nichts Schöneres wünschen.«
»Haben Sie zufällig Sprudelwasser?«
»Sprudelwasser?« Die kleine Frau wandte ihren Blick Tante Maggie zu. »Das ausgerechnet führen wir nicht. Wir haben hier praktisch alles, was es auf Gottes weiter Erde gibt …« Sie breitete ihre kurzen Arme aus. »… aber kein Sprudelwasser. ›Einen Sprudelwasserbereiter‹, hab ich zu Talbot gesagt, ›wir brauchen einen Sprudelwasserbereiter. ‹ ›Und wer legt deiner Meinung nach ein Pfund oder mehr hin für Sprudelwasser?‹, hat mich Talbot gefragt. ›Das wäre doch nur beim ersten Mal‹, hab ich gesagt, ›man könnte die Flaschen dann für ein paar Penny immer wieder auffüllen.‹ Aber er wollte nichts davon wissen. Also, wir haben kein Sprudelwasser. Was ich Ihnen anbieten kann, ist Limonade … Sehen Sie!« Sie deutete auf eine Reihe bunter Flaschen. »Wie wär’s damit?«
»Mir ist alles recht.« Tante Maggie nickte ergeben.
»Und Sie, Miss?« Die wachen Augen waren auf mich gerichtet. »Wollen Sie eine eigene Flasche, oder trinken Sie mit?«
»Könnte ich vielleicht eine Tasse Tee bekommen?«
»Aber hallo!« Ihre Augen wirkten wie ferngesteuert, als sie mehrmals zwischen meiner Tante und mir hin und her blickte. Es war nicht zu missdeuten, dass Tee augenblicklich nicht im Angebot war, und so beeilte ich mich, hinzuzufügen: »Ach, ist schon in Ordnung. Ich nehme auch eine Limonade.«
»Also, nicht dass ich das nicht gerne für Sie machen würde, und wenn Talbot im Laden war, hätt ich das sofort gemacht, wie ein geölter Blitz, aber wissen Sie, ich möcht so gern die Hochzeit sehen, und ich will den Laden nicht so lange allein lassen. Aber wenn Sie möchten, könnt ich schon mal das Wasser aufsetzen und in ein paar Minuten wiederkommen.«
»Ist schon in Ordnung, ich nehme Limonade.«
»Sicher?« Sie beugte sich zu mir, als wollte sie prüfen, ob ich mir die Entscheidung auch reiflich überlegt hätte.
In diesem Augenblick öffnete sich unerwartet die Ladentür, und man hörte schweres Atmen. Wir blickten zum Eingang und sahen in ein rundes, hochrot angelaufenes weibliches Gesicht, in dem leise Empörung zu lesen war. Ein Finger schnellte deutend in Richtung von Tante Maggie, die immer noch auf dem Limonadenkasten saß.
»Oh, es steht auf dem Boden auf der anderen Seite.« Die kleine Frau bückte sich eilends nach dem voll gefüllten Lebensmittelkorb und drückte ihn der Fremden in die ausgestreckte Hand. »Die Dame wollt halt gerne sitzen … Kommt sie schon?«
Die Frau machte noch ein paar keuchende Atemzüge, ehe sie antwortete. »Nein, aber in spätestens fünf Minuten soll sie da sein. Ich bin den ganzen Weg gerannt.«
Als die Besucherin samt Korb verschwunden war, erklärte die kleine Frau, an Tante Maggie gewandt: »Das war Alice Merely. Sie hat viele Jahre für die McVeighs gearbeitet, so wie schon ihre Eltern vor ihr. Die Hochzeit wird von den McVeighs ausgerichtet, aber es ist keine von ihnen, die heiratet. Miss Doris, die Braut, ist ja eine Slater. Aber sie und die kleine Janie waren Nichten der jüngeren Schwester vom alten McVeigh, und seit dem Tod ihrer Mutter leben sie bei den McVeighs, Sie verstehen, was ich meine.« Das Weiblein verstummte und legte, offenbar als Ausdruck des Erschreckens über ihre eigene Vergesslichkeit, mit einer geradezu kindlichen Geste eine Hand auf den Mund. »Ach je, Sie wollen ja bestimmt Gläser.«
Als sie ins Hinterzimmer verschwunden war, sah mich Tante Maggie mit spöttisch hochgezogenen Brauen an.
»So, bitte schön«, verkündete die Frau im Zurückkommen. »Passen Sie auf beim Einschenken, das sprudelt. Nicht dass Sie sich Ihre Sachen versauen … Sie sind nicht aus der Gegend, stimmt’s?«
»Nein. Ich nicht.«
»Das dacht ich mir schon. Aber Sie vielleicht.« Ihr neugieriger Blick war über die Schulter Tante Maggie zugewandt. »Sie haben so einen ganz leichten Einschlag, ähnlich wie man hier spricht.«
»Nun ja, das ist nicht verwunderlich, denn ich bin nicht weit von hier zur Welt gekommen – in Evenwood bei Bishop Auckland.«
»Ist das die Möglichkeit! Dann kennen Sie ja die McVeighs! Sind Sie womöglich wegen der Hochzeit hier?«
Limonadenschaum troff auf meine Bluse. Sanft schob ich die Hand der Frau von mir weg und nahm ihr das Glas ab.
»Nein, nein, ich kenne die McVeighs nicht. Bishop Auckland liegt ja nicht gerade um die Ecke«, erwiderte Tante Maggie.
»Ja, zugegeben, das ist wohl wahr.« Die kleine Frau wurde ganz aufgeregt. »Aber die McVeighs sind berühmt-berüchtigt. Wer hier in der Gegend lebt, kennt die verrückte Sippe. Für diesen Ruf haben der Alte und sein Vater vor ihm gesorgt. Die zwei, die heute noch leben, sind eigentlich gar nicht so verkehrt, wobei … Mr Davie ist im Grunde genauso verrückt wie sein Vater – eben nur auf seine Art …«
»Es ist bestimmt dreißig Jahre her, dass ich zuletzt hier war, Sie müssen schon entschuldigen.« In Tante Maggies Stimme schwang ein Anflug von Sarkasmus mit, ein Warnsignal, das mich aus meiner kauernden Sitzhaltung hochschnellen ließ. So liebenswürdig meine Tante auch war, sie besaß eine scharfe Zunge. Es ging mir nicht um Höflichkeit, schließlich war diese Frau nicht eben ein Muster für vorbildliches Benehmen. Nein, ich wollte nicht miterleben, dass sie verletzt wurde. Wollte nicht sehen, wie jemand seelische Verletzungen erdulden musste. Warum gab es bloß kein Wundermittel, das gegen Schmerz dieser Art immun machte?
»Was schulde ich Ihnen?«
»Gut, Sie nehmen die Flaschen ja nicht mit …« Ihre Augen wanderten zwischen den Limonadeflaschen hin und her. »Das wär’n dann eins zehn jeweils. Sie haben die Hälfte drin gelassen, aber dafür kann ich ja nichts, oder? Eins zehn dann bitte.«
Wir wollten gerade durch die Tür, als mich das Weiblein, das mir, Tante Maggie im Rücken, förmlich an den Fersen klebte, noch einmal ansprach. »Wollen Sie hier in der Gegend bleiben, oder sind Sie nur auf der Durchreise?«
Ich hatte schon den Mund geöffnet, um für eine Antwort Luft zu holen, da ertönte hinter mir bereits Tante Maggies schneidende Stimme. »Wir sind auf der Durchreise.«
Als ich den Wagen anließ und anfuhr, ließ sie ihren Blick starr geradeaus gerichtet. »So ein neugieriges Waschweib!«, zischte sie leise. »In Käffern wie diesen gedeiht so was anscheinend besonders prächtig.«
»Ich hätte sie nach dem Weg fragen sollen.«
»Wohl wahr. Zweifelsohne kennt sie hier jeden Quadratzentimeter. Ah, sieh mal, da vorne hält gerade ein Auto, sieht aus wie ein Taxi. Ich werde dort fragen.«
Ich hielt, und Tante Maggie lehnte sich aus dem Wagenfenster. Das vermeintliche Taxi war ein ehrwürdiger alter Bentley, ein Vorkriegsmodell. »Hallo! Könnten Sie uns den Weg nach Lowtherbeck at Roger’s Cross sagen?«, rief sie zu dem Fahrer hinüber, der gerade im Aussteigen begriffen war.
Der Mann trat zu uns herüber und beugte sich zu meiner Tante herunter. Er war groß und schlank, und sein Gesicht, das ein grauer Schnurrbart zierte, trug eine feierliche Miene – ein Ausdruck, den ich in diesem Ort zum ersten Mal sah. »Wollen Sie zur Hochzeit?«, erkundigte er sich mit würdevollem Ernst.
Obwohl Tante Maggie mir den Hinterkopf zuwandte, wusste ich, dass sie in diesem Moment die Augen schloss. Das verriet mir der Klang ihrer Stimme.
»Wir gehen mitnichten zur Hochzeit«, erklärte sie. »Wir möchten nur wissen, wie wir nach Lowtherbeck kommen, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«
»Es – macht – mir – nichts – aus.« Der Mann sprach gedehnt und mit demselben Unterton beherrschten Unmutes wie Tante Maggie. Es gab Zeiten, da hätte ich mich über diesen Ausdruck unterdrückter Indigniertheit königlich amüsiert. »Fahren Sie um das Steinkreuz dort herum«, fuhr er fort, »und folgen Sie der Straße aus dem Ort hinaus, bis Sie zu den drei Straßen kommen. Wenn Sie es eilig haben, nehmen Sie den Hohlweg scharf links. Er ist schmal und steil, aber er führt Sie direkt vor die Haustür und spart Ihnen ein paar Kilometer. Wenn Sie es lieber gemächlich angehen lassen wollen, dann nehmen Sie die mittlere Straße. Allerdings führt sie direkt über den Bergkamm, das heißt, es gibt keinen Schutz vor der Sonne, aber es ist eine schöne Straße mit herrlichem Ausblick, genau fünf Meilen lang. Kann ich sonst noch was für Sie tun?«
Tante Maggie zog ihren Kopf in das Wageninnere zurück und blickte nun von unten zu ihm hoch. »Nein, danke«, erwiderte sie, »Sie waren sehr freundlich.«
»Das Vergnügen – liegt – ganz – auf – meiner – Seite – Madam.«
Ach, wenn ich doch das Lachen nicht verlernt hätte! Ich fuhr langsam an, und als ich das Steinkreuz umrundet hatte, blickte ich durch das rechte Seitenfenster. Der lange Kerl stand neben dem Hutzelweiblein vor der Ladentür, und beide sahen uns nach.
»Das«, sagte Tante Maggie gedehnt, »kann nur Talbot sein, dafür verwette ich meinen Hintern.« Dann brach sie in Gelächter aus.
»Ach, Tante Maggie«, sagte ich.
»Ach, meine Liebe«, erwiderte sie, meinen Tonfall nachahmend. »So, jetzt wissen wir ja, wo es lang geht. Fünf Meilen oder durch den Hohlweg direkt vor die Haustür. Ich überlasse dir die Entscheidung.«
Ich entschied mich für den Hohlweg.
Der Weg sah aus, als hätte ihn die Natur selbst ins Gestein gehöhlt – ein Graben flankiert von zwei Wangen, auf denen hohe Bäume aufragten. Ihre Stämme waren von dichtem Unterholz umwuchert, sodass die Strecke vollständig im Schatten lag – eine Wohltat nach der langen Fahrt unter gleißender Sonne.
»Ah, das sieht gut aus.«
Ich musste heftig am Lenkrad kurbeln, denn auf dem Weg folgte eine Haarnadelkurve der nächsten. Da es steil bergab ging, stand ich mit einem Fuß die ganze Zeit halb auf der Bremse, als wir jedoch um die nächste Kehre bogen, trat ich das Pedal intuitiv ganz durch. In einem Tempo, das bei dieser Steigung eigentlich unmöglich war, kam uns ein großer schwarzer Wagen entgegen. Ich registrierte gerade noch die Marke: Es war ein alter Rover.
Obwohl ich den Motor abgestellt und die Handbremse gezogen hatte, ließ ich meinen Fuß auf dem Bremspedal stehen, während ich von oben herab durch zwei Windschutzscheiben hindurch in ein großes Gesicht blickte, das nicht nur fassungsloses Erstaunen zeigte.
Die Wagen standen sich Stoßstange an Stoßstange gegenüber. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Mit den Augen folgte ich den Bewegungen des Fahrers. Er stieß seine Tür auf, stieg aus und trat mit ein paar Schritten an mein geöffnetes Autofenster, um ins Wageninnere zu sehen. Zunächst glaubte ich, einen alten Mann mit weißem Haar vor mir zu haben. In Wirklichkeit konnte er kaum älter als fünfunddreißig sein, aber sein Haar war so hellblond, dass es fast gebleicht aussah. Die Leuchtkraft wurde noch verstärkt durch die dunkle Färbung seiner Haut, die von Sonne, Regen und Wind gegerbt war. Freilich machte ich mir über seine äußere Erscheinung erst viel später am Tag Gedanken, denn in diesem Augenblick löste er in mir ein Gefühl aus, das ich seit vielen Monaten nicht mehr gespürt hatte: Wut.
»Was zum Teufel machen Sie auf dieser Straße?«
Meine Antwort war alles andere als geistvoll – aber auch dafür konnte ich mich erst viel später, als mir dieser Zwischenfall wieder durch den Kopf ging, rügen. Sie gehörte genau zu der Art abgegriffener Repliken, die ich stets versuchte zu vermeiden und auch bei anderen aufs Heftigste kritisierte. »Was glauben Sie, mit wem Sie reden?«, fauchte ich ihn an. »Das hier ist ein freies Land. Zumindest dachte ich das bislang.«
Ich beobachtete, wie sich vor Wut die Pupillen in den dunkelblauen Augen des Mannes weiteten. Er holte tief Luft. »Wären Sie bitte so freundlich«, sagte er mit betonter Langsamkeit, die seine höflichen Worte zu einer Beleidigung machten, »und würden einen geneigten Blick in dieses Auto werfen?« Er streckte seinen Arm aus. »Sie werden bemerken, sofern Ihre Sehkraft nicht ebenso unterentwickelt ist wie Ihr Gespür für den Straßenverkehr, dass eine Braut darin sitzt, die sich selbstredend auf dem Weg zu ihrer Hochzeit befindet – zumindest war sie das bis jetzt … Und sie ist bereits spät dran.«
Ich ignorierte seine Aufforderung. Die Braut im Wagen war mir nicht aufgefallen, obwohl ich ein silbriges Schimmern hinter dem dunklen Schatten des Fahrers bemerkt hatte. Ich wollte ihm gerade entgegenschleudern, dass er gefälligst zurückstoßen solle, weil ich diese Steigung nicht rückwärts bewältigen könne, da nahm mir Tante Maggie die Worte aus dem Mund – allerdings drückte sie sich wesentlich kühler und vornehmer aus, als es mir je gelungen wäre. Sich an mir vorbeineigend, blickte sie in sein blasiertes Gesicht. »Wenn Sie es so eilig haben, sollten Sie nicht herumstehen und Zeit vergeuden. Stoßen Sie bergab zurück, bis wir an Ihnen vorbeifahren können, denn wir können nicht im Rückwärtsgang um diese Kehren herum.«
Abermals hielt der Mann den Atem an, wenn auch diesmal nicht so lange. »Madam«, drängte er, und seine Stimme klang nun entnervt, »zwei weitere Wagen sind bereits auf dem Weg hier herauf.«
»Nun denn!« Tante Maggie betonte genüsslich die Worte, die sie sonst immer einem Tadel vorwegschickte. »Nun denn! Dann müssen die eben auch zurückstoßen. Je eher Sie sich in Bewegung setzen, desto höher sind Ihre Chancen, bald in der Kirche zu sein – wenn schon nicht pünktlich, so doch immerhin noch am richtigen Tag.««
»Davie!««
Der Mann wandte sich abrupt um, als eine Hand aus dem Wagenfenster winkte. Offensichtlich wollte die Braut ihre Haarpracht nicht gefährden, indem sie ausstieg. Als ich sie durch die Windschutzscheibe betrachtete, wallte ein Gefühl von Groll durch meinen Körper wie eine Sturmwelle. Je länger ich sie aufhielt, umso besser.
Nein, nein! Hör auf, so zu denken. Die Stimme tönte laut in meinem Schädel. Ich sah den Mann an. »Ich will es nicht riskieren, rückwärts durch diese Spitzkehren zu kurven. Die Straße ist viel zu holprig. Wie weit müssen Sie zurück, bis ich an Ihnen vorbeifahren kann?«
Ich blickte nicht in seine Augen, sondern auf seinen Mund – der in seinem großen Gesicht irgendwie sehr dünn wirkte. Es ist ein grausamer Zug um diesen Mund, dachte ich. Alle Männer sind grausam. Ich hasse sie alle. Schon begannen in meinem Kopf wieder die altbekannten Gedanken zu rasen. Das stimmt doch gar nicht. Wieder sprach die Stimme in mir. Du hasst nur einen einzigen.
»Nein – zwei«, wollte ich schon widersprechen, denn in diesem Augenblick hasste ich auch dieses große Gesicht, diese dunkelblauen Augen, diesen sonderbar gebleichten Haarschopf.
Meine Augen ließen gewiss keinen Zweifel über meine Gefühle, und es hätte mich nicht überrascht, wenn er mir in diesem Moment eine Ohrfeige verpasst hätte. Stattdessen saß er nach zwei großen Schritten wieder hinterm Steuer und redete auf das Mädchen hinter sich ein. Durch die Motorengeräusche hindurch konnte ich nicht hören, was er sagte, aber ich ging davon aus, dass er in geharnischten Worten über mich herzog.
Mit erstaunlichem Geschick manövrierte er das große Fahrzeug rückwärts den Hang hinunter. »Fahr vorsichtig«, warnte mich Tante Maggie, als ich den Wagen anrollen ließ, »Sei vernünftig, fahr vorsichtig.«
Woher wusste sie nur, dass ich am liebsten das Gaspedal durchgetreten hätte, um diesen arroganten Schnösel mit einem gezielten Stoß von der Straße zu fegen?
Einen Moment lang verschwand der schwarze Wagen hinter einer Biegung. Als er wieder in Sicht kam, stand er. Von meinem Standort aus konnte ich weiter unten auf der Straße noch zwei Wagen stehen sehen. Der Fahrer des Rover war ausgestiegen und eilte ihnen mit großen Schritten entgegen. Ich konnte ihn gut hören, er erteilte rufend Anordnungen, nur jetzt interessierte mich nicht mehr, was er sagte. Stattdessen musterte ich durch die Windschutzscheiben hindurch die Braut, die meinen Blick, über die Vordersitze nach vorne gebeugt, erwiderte.
»Ist sie nicht eine hübsche Braut? Schrecklich – dieses Durcheinander an so einem Tag.« Mir wäre lieber gewesen, Tante Maggie hätte geschwiegen.
Ich zog entschlossen die Handbremse an und stieg aus.
Tante Maggie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Pru, bitte«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang Besorgnis. Als ich ausgestiegen und auf die Straße getreten war, schickte sie mir die Warnung noch einmal in strengerem Ton hinterher: »Pru, bitte!«
Ich ging die paar Schritte zum Rover hinunter und trat an das Fenster, aus dem mir das Gesicht des jungen Mädchens entgegenblickte. Ich kann mich nicht erinnern, ob und welche Worte ich mir für diesen Moment zurechtgelegt hatte, aber ich weiß noch, dass ich aus unerklärlichen Gründen etwas völlig anderes sagte, das mich selbst überraschte.
»Das tut mir alles furchtbar Leid.«
»Ach, macht doch nichts.« Das strahlende Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens verursachte mir Qualen. Ebenso wie ihre Freundlichkeit. Es wäre mir erheblich besser gegangen, wenn sie mich angefahren hätte, so wie der Kerl. Stattdessen tat die Ehefrau in spe so, als wären wir alte Bekannte. »Jimmy wartet. Er wartet nun schon seit Jahren. Das macht wirklich nichts. Außerdem sind Sie nicht daran schuld, ganz gleich was Davie meint. Ich fand schon immer, dass an den Anfang dieser Straße ein Warnschild gehört.«
»Uns ist diese Strecke empfohlen worden.«
»Wie bitte?«, fragte das Mädchen verdutzt. »Von wem denn?«
»Von einem Mann aus dem Ort.«
»Wer mag das wohl gewesen sein?«, rätselte sie kopfschüttelnd.
Ihr Verhalten versetzte mich in ehrliches Erstaunen. Es war kaum zu glauben, dass sie auf dem Weg zu ihrer eigenen Hochzeit war, so wie sich nun ihr hübsches, nettes Gesicht in nachdenklicher Konzentration verzog, während sie überlegte, wer uns wohl den Weg gewiesen hatte. Als gäbe es in diesem Moment nichts Wichtigeres auf der Welt.
In den Augenwinkeln bemerkte ich, dass der blonde Kerl zurückgerannt kam, und mit einer weiteren Entschuldigung trat ich hastig den Rückzug zu meinem Wagen an. Ehe ich mich jedoch hinter das Steuer retten konnte, war sein Gesicht schon über mir, und seine Stimme bellte Befehle.
»Eine halbe Meile weiter unten kommt so etwas wie ein Grünstreifen am Straßenrand. Allerdings steigt er etwas an. Damit müssen Sie sich begnügen.«
Der Rover fuhr erneut rückwärts los, diesmal freilich etwas langsamer, weil er sich an das Tempo der Autos hinter ihm anpassen musste. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis wir zu dem Grünstreifen kamen. Und dass wir ihn erreicht hatten, wurde mir erst bewusst, als der Mann am Steuer gegenüber wild mit den Armen zu fuchteln begann.
»Da kannst du unmöglich ausweichen«, erklärte Tante Maggie. »Das ist kein Grünstreifen. Das ist eine Böschung.«
Ich hielt. Es war in der Tat eine Böschung, keine im üblichen Sinne, aber nichtsdestotrotz eine Böschung. Ich hatte ein modernes Auto, das wenig Gewicht auf die Straße brachte. Der alte Rover hätte sich wahrscheinlich sicher in den Hang gekrallt, aber ich würde zweifellos sofort einen Salto rückwärts auf die Straße drehen.
Ich streckte den Kopf aus dem Fenster. »Das ist viel zu steil«, rief ich.
Das große Gesicht blickte mich schief an. »Sie schaffen das schon. Warten Sie einen Augenblick, ich zeige Ihnen, wie Sie’s machen müssen.«
Der Rover erklomm den Hang und stoppte dann gefährlich nah an der Senkrechten.
»Das schaffst du nie. Um Himmels willen«, protestierte Tante Maggie.
»Ich lasse mich doch von diesem Fatzken nicht unterkriegen«, widersprach ich, ohne sie anzusehen. Als der Rover wieder auf der Straße stand, legte ich den ersten Gang ein und tastete mich langsam, ganz langsam die Böschung hoch.
»O mein Gott, wir werden uns überschlagen! Ich schwör’s dir, gleich kracht’s!«
»Sei still, Tante Maggie.«
Und zu meiner Überraschung verstummte sie tatsächlich. Die Hand fest um den Türgriff klammernd, bemühte sie sich, trotz der Schieflage nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. »Nicht bewegen«, befahl ich kurz angebunden.
Statt zu antworten, machte sie nur einen tiefen Atemzug, der jedoch im Lärm der anderen Autos unterging, die unterdessen mit Vollgas an uns vorbeipreschten. In den zwei folgenden Wagen drängten sich die Fahrgäste. Ich erkannte ein paar hüpfende Köpfe und Augen, die in unsere Richtung blickten, dann waren sie verschwunden und wir wieder allein.
In diesem Moment fiel mir erst auf, dass die Straße gar nicht mehr von Schatten spendenden Bäumen überwachsen, sondern den sengenden Strahlen der Sonne ungeschützt ausgesetzt war. Langsam und vorsichtig ließ ich meinen Wagen rückwärts auf die Straße zurückrollen.
»Gott sei Dank!«
Tante Maggie verwendete diesen Ausdruck gern, aber nie in respektloser Weise. Wenn sie »Gott sei Dank« sagte, meinte sie das im wortwörtlichen Sinne, und in dieser Situation konnte ich mich ihrem Stoßgebet nur anschließen.
»Das hast du sehr gut gemacht, Liebes. Ich hätte alles darauf verwettet, dass es unmöglich ist, dort hinaufzufahren, ohne sich zu überschlagen. Puh, was für ein Erlebnis. Jetzt bin ich wieder um eine Erfahrung reicher, allerdings hätte ich auf diese, ehrlich gesagt, lieber verzichtet. Geht es dir nicht auch so?«
»Ich würde jetzt am liebsten diesem Rüpel ins Gesicht sagen, was ich von ihm halte.«
Immer wieder malte ich mir das in Gedanken aus. Freilich hegte ich nie die Absicht, die Fantasie in die Tat umzusetzen. Aber ich konnte nicht anders. Ich wollte niemanden verletzen, weder mit Worten noch Taten, aber ich vermochte meine Gefühle nicht zu kontrollieren. Genau das war einer der Gründe dafür, dass ich den Menschen aus dem Weg gehen wollte. Ich wusste, dass ich noch nicht bereit war, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Man konnte dort nicht einfach sagen, was man dachte. Alles, was andere verletzen oder in Verlegenheit bringen mochte, musste im Gehirn aussortiert werden, ehe die Worte den Mund verließen. Und dazu wäre ich nicht fähig gewesen. Ich konnte nur noch die Wahrheit sagen, die reine Wahrheit, unverblümt und ungefiltert – aber war das Leben nicht schrecklich, wenn man permanent mit nackten Tatsachen konfrontiert wurde?
Diese Phase – das hatten mir die Ärzte erklärt – war eine natürliche Reaktion darauf, dass ich mein Leben lang unter Lügen gelitten hatte, mit Lügen aufgewachsen war. Noch heute habe ich die Stimme meiner Mutter im Ohr: »Ich gehe mal eben rüber zu Kay, einkaufen.« Ich war noch keine acht Jahre alt, da war mir schon klar, dass Kay ein Kerl und ihr Liebhaber war. Mit zwölf hatte ich begriffen, dass Vater, wenn er geschäftlich ins Ausland fuhr, ganz bestimmte Vergnügungen suchte. Bei alledem hatten sie jahrelang zusammengelebt, hatten miteinander gesprochen und waren höflich zueinander gewesen, als wäre nie etwas geschehen.
Noch heute kann ich kaum glauben, dass ich erst vierzehn war, als diese Farce endete. Die Zeit, in der ich den Mummenschanz von der heilen Familie mitspielte, kommt mir in der Erinnerung endlos vor. Und von einem Ende der Farce kann eigentlich auch nicht die Rede sein, denn das Stück wurde auf zwei getrennten Bühnen weitergespielt – und es war beschämend und demütigend, zumindest für mich.
»Es wird dir gefallen, mein Schatz«, sagte meine Mutter. »Joey ist super. Er ist jung, immer gut gelaunt und hat sogar ein tolles Boot. Das wird dir gefallen.«
Es gefiel mir nicht. Ich hasste Joey.
Später, als ich im Internat war, verbrachte ich die Ferien je zur Hälfte bei einem Elternteil. Ich konnte nie sagen, was ich mehr verabscheute, Joeys Hand, die sich schmierig um meine Taille schob, oder Vaters Junggesellenbude, die mal eine französische, mal eine spanische, mal eine italienische Adresse hatte. In den Wohnungen residierte jedes Mal eine andere »Haushälterin«, die allerdings nie einen Finger rührte; die Frauen hatten alle eines gemein, nämlich große Brüste – außerdem hassten sie mich allesamt ebenso wie ich sie.
Als ich siebzehn war, ließ sich meine Mutter von Joey scheiden und nahm mich aus dem Internat. »Wir haben jetzt nur noch uns«, sagte sie, und ich glaubte ihr. Es fiel mir nicht schwer, den Gedanken an ein Universitätsstudium aufzugeben. Im Grunde hatte ich mich nie wirklich dafür interessiert. Ich wusste ohnehin längst, was ich werden wollte, nämlich Schriftstellerin, und ich war nicht davon überzeugt, dass mich drei oder vier weitere Jahre geistige Schinderei diesem Ziel in irgendeiner Weise näher bringen würden.
Die versprochene Zweisamkeit mit meiner Mutter währte genau sechs Wochen lang. Dann erschien Ralph auf der Bildfläche. Ralph war einunddreißig und somit vier Jahre jünger als meine Mutter. Ich wurde kurzerhand zu meinem Vater abgeschoben.
Ausgestattet mit Süßigkeiten, Zeitschriften und einer Reisedecke wie eine alte Dame verfrachtete sie mich in den nächsten Zug – immerhin erster Klasse –, drückte mir noch schnell ein Abschiedsgeschenk in die Hand, eine dreifache Perlenkette. Dann stand Mami auf dem Bahnsteig, Ralph neben sich, und winkte wie verrückt, während ihre Augen voller Tränen standen. Wahrscheinlich hatte sie ein Fläschchen Glyzerin im Taschentuch versteckt, denn in Wirklichkeit war sie heilfroh, mich endlich wieder los zu sein.
Aber ich hatte die Nase voll. Ich stieg an der nächsten Station aus, gab meine neuen gelben Koffer im Fundbüro ab und ging zum Taxistand. Eine knappe Stunde später stand ich in der Küche meiner Tante Maggie in Eastbourne. Sie schlang die Arme um mich, und ihre Tränen, echte Tränen, vermischten sich mit meinen, während sie mich fest an sich drückte. »Mach dir keine Sorgen, Liebes«, murmelte sie immer wieder. »Du bist jetzt hier, und du bleibst bei mir. Die sollen mal versuchen, dich zurückzuholen. Die sollen nur kommen.«
Sie versuchten es tatsächlich, allerdings nicht besonders hartnäckig. Meine Mutter kam in das kleine Haus und warf ihrer älteren Halbschwester vor, eine frustrierte alte Jungfer zu sein, die sich in alles einmischen wolle.
»Gehst du mit mir nach Hause?«
Ich ging nicht.
Sie drohte, meinem Vater zu schreiben. Man werde etwas unternehmen.
Sie unternahmen nichts, und das demütigte mich am meisten. Die Erkenntnis, dass sie froh darüber waren, mich los zu sein, war schlimmer als das unablässige Hin-und-her-Gezerre der letzten Jahre. So sehr mich Tante Maggie auch mit Liebe und Zuwendung überschüttete, nichts konnte das Gefühl in mir auslöschen, zurückgewiesen, abgeschoben, ja weggeworfen worden zu sein.
Mit achtzehn wurde ich zum ersten Mal ernsthaft krank. Keiner von beiden kam mich besuchen. Mein Vater befand sich gerade in Australien. Er schickte mir eine eindrucksvolle Summe Geld, von der ich mir etwas kaufen sollte, und erklärte, dass er mit den Ärzten gesprochen habe; er könne mir nur raten, dass ich ausgehen und mich amüsieren solle. Meine Mutter war in Frankreich in Flitterwochen. Auch sie hatte sich mit den Ärzten in Verbindung gesetzt und denselben patenten Tipp parat: Ich solle ausgehen und Spaß haben. Wenn sie zurück sei, würde sie Ralph bitten, mir ein paar nette Jungs vorzustellen. Mit meinem Aussehen hätte ich ja die freie Auswahl. Bis dahin solle ich mich allein amüsieren. »Es gibt keine bessere Therapie für Neurosen.«
Weder der Arzt noch Tante Maggie hatten je in meiner Gegenwart von einer Neurose gesprochen. Der Arzt hatte ausgeprägte Erschöpfungszustände diagnostiziert. Und in der Tat war ich so schwach, dass ich kaum einen Fuß oder eine Hand heben konnte. Tagaus, tagein lag ich im Bett und starrte durch das Fenster auf die Schornsteine des gegenüberliegenden großen Hauses, das leer stand. Das Sinnieren über dieses Haus erfüllte mich schließlich wieder mit neuer Lebenskraft, und ich begann, im Geiste die verwaisten Räume mit Menschen zu bevölkern, über die ich mir Geschichten ausdachte.
Ich verfasste mehrere Geschichten über das Haus, und immer handelten sie von glücklichen Familien. Eines Tages zog tatsächlich eine Familie ein. Mir erschien es damals, als würden die Figuren aus meinen Geschichten auf wundersame Weise reale Gestalt annehmen. Doch die Realität bescherte mir alles andere als einen glücklichen Familienanschluss.
»Ja, ist das die Möglichkeit!« Tante Maggie mussten diese Worte herausgerutscht sein, denn normalerweise mied sie nach Kräften alle Themen, die an meine wunde Stelle rührten.
Der Mann im Dorf hatte gesagt, die Straße werde uns direkt vor die Haustür führen. Und er hatte nicht gelogen. Die Straße mündete in eine Auffahrt, die um eine große Rasenfläche herumführte. Dahinter erhob sich das Haus – das auf bestürzende Weise dem glich, an das ich gerade noch gedacht hatte. Vier Stufen führten zum Haupteingang hinauf, bei dem Haus in Eastbourne waren es sechs gewesen. Die Treppe wurde von großen Erkerfenstern flankiert. Darüber reihten sich über die ganze Frontfassade sechs hohe Fenster. Bei dem anderen Haus waren die Fenster mit schmiedeeisernen Balkongeländern versehen gewesen. Hier gab es das nicht, dafür schmiegte sich an eine Seite des Gebäudes ein Wintergarten, der dem des anderen Hauses in meinem Gedächtnis aufs Haar glich.
»Da sind wir«, sagte Tante Maggie leise. »Gehen wir hinein und stellen uns vor … Moment mal …«
Wir sahen uns an, und unsere Blicke verrieten, dass uns in diesem Augenblick der gleiche Gedanke durch den Kopf schoss. Wir befanden uns in einem Tal, das allem Anschein nach nur von einer Seite aus zugänglich war. Es war kein anderes Haus zu sehen. Die Hochzeitsgesellschaft musste also von hier stammen.
Tante Maggie biss sich auf die Lippe und nagte eine Weile nervös darauf herum. »Aber das kann unmöglich Lowtherbeck sein«, brachte sie schließlich heraus. »Die Frau sagte doch, der Bräutigam heiße McVeigh.«
»Nicht Slater? Doch, ich glaube, der Name war Slater.«
»Slater oder McVeigh – aber jedenfalls nicht Cleverly, stimmt’s? Miss Flora Cleverly – dieser Name stand in dem Schreiben.« Tante Maggie öffnete ihre Handtasche und fischte einen Brief heraus. Sie hatte mit der Eigentümerin des Landhauses, das wir gemietet hatten, mehrere Briefe gewechselt, und dieser war der letzte, den sie von ihr erhalten hatte. »Hier«, sagte sie, mit dem Finger auf die Unterschrift tippend, »Flora Cleverly.«
»Es muss ja irgendjemand hier sein. Statt zu raten, gehen wir besser rein und fragen einfach.«
Wir stiegen gleichzeitig aus und erklommen die Stufen zum Haupteingang. Durch die weit offen stehende Tür blickten wir auf eine Diele mit halbhoch getäfelten Wänden, an deren Ende eine Treppe nach oben führte. Auf einem polierten Tisch links von der Tür standen zwei gedrechselte Kerzenständer und dazwischen eine Vase mit Rosen. Auf dem Holzboden lag eine Brücke; die Dielen waren von vielen Füßen abgetreten, aber auf Hochglanz gewienert. Ich hatte schon immer ein gutes Auge und kann viele Details mit einem Blick erfassen – wahrscheinlich gehört das zum Handwerkszeug eines Schriftstellers. Jedenfalls war mir sofort klar, dass es hier an Geld mangelte. Zumindest war nicht genug da, um dem ganz normalen Verschleiß eines solchen Gebäudes entgegenzuwirken. Ich konnte zwar nur zwei der Stufen am Ende der Diele erkennen, aber es war nicht zu übersehen, dass der Teppichbelag abgenutzt, ja in der Mitte gar zerrissen war.