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Der Gestaltwandler Mitja Amurow wurde in eine Welt des Verbrechens hineingeboren. Um zu überleben, musste er das Raubtier in sich stets bereithalten, und heute ist sein Leopard eine wilde Bestie, die sich ihren Weg immer weiter an die Oberfläche bahnt. Erst eine Begegnung mit einer Fremden bringt dieses Raubtier in ihm zur Ruhe. Ein verzweifeltes Begehren zu Ania hat Mitja gepackt, während es nur eine Frage der Zeit ist, bis seine Vergangenheit ihn einholt. Doch auch Ania hat mit eigenen Gefahren zu kämpfen, und sie ist stärker, als Mitja ahnt …
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Seitenzahl: 679
Veröffentlichungsjahr: 2024
DAS BUCH
Der Gestaltwandler Mitja Amurow wurde in eine Welt des Verbrechens hineingeboren. Um zu überleben, musste er das Raubtier in sich stets bereithalten, und heute ist sein Leopard eine wilde Bestie, die sich ihren Weg immer weiter an die Oberfläche bahnt. Erst eine Begegnung mit einer Fremden bringt dieses Raubtier in ihm zur Ruhe. Ein verzweifeltes Begehren zu Ania hat Mitja gepackt, während es nur eine Frage der Zeit ist, bis seine Vergangenheit ihn einholt. Doch auch Ania hat mit eigenen Gefahren zu kämpfen, und sie ist stärker, als Mitja ahnt …
DIE AUTORIN
Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als siebzig Romane veröffentlicht, die in den USA mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Auch in Deutschland ist sie mit den Drake-Schwestern, der Sea-Haven-Saga, der Highway-Serie, der Schattengänger-Serie, der Leopardenmenschen-Saga und der Shadows-Serie äußerst erfolgreich.
Mehr über Christine Feehan und ihre Romane finden Sie auf:
www.christinefeehan.com
Christine Feehan
Verführte Jägerin
ROMAN
Aus dem Amerikanischenvon Eva Stefan
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
LEOPARD’S WRATH
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Deutsche Erstausgabe 07/2024
Redaktion: Sabine Kranzow
Copyright © 2019 by Christine Feehan
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und
der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
Umsetzung e-Book: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-31261-9V002
www.heyne.de
Für Carol Cridge
Danke, dass es dich gibt! Danke für unsere mitternächtlichen (oder manchmal auch um zwei Uhr nachts geführten) Gespräche von einem Bundesstaat zum anderen. Deine Briefe erreichen mich immer zum genau richtigen Zeitpunkt.
Mitja Amurow beobachtete, wie der Regen am Fenster hinunterlief. Die Limousine hatte getönte Scheiben, was die Welt da draußen noch dunkler erscheinen ließ, aber vielleicht lag es eher an seiner düsteren Stimmung, dass er nichts anderes wahrnahm als den scheinbar endlosen Regen. Er hatte ständig Schmerzen. Die Kugeln hatten nicht nur ihn, sondern auch seinen Leoparden durchbohrt und beinahe getötet. Er wünschte, sie wären wirklich daran gestorben.
Er war nicht zum ersten Mal angeschossen worden, doch diesmal hatte er gewissenhafter Physiotherapie betreiben und härter trainieren müssen als jemals zuvor – auch wenn er nicht wusste, weshalb er das alles auf sich nahm. Sein Leopard, schon immer eine grausame und ständig um ihre Freiheit kämpfende Kreatur, ließ sich inzwischen kaum noch bändigen. Oder vielleicht war Mitja einfach nur müde von der Auseinandersetzung, die er Tag für Tag mit seiner Raubkatze führen musste. Eigentlich war es ihm aber auch egal, woran es lag. Er hatte die Hoffnung auf ein Leben, das diese Bezeichnung auch verdiente, längst aufgegeben.
Seit der Stunde seiner Geburt hatte er gewusst, was er war, und sein Leopard hatte keinen Zweifel daran gelassen, welches Schicksal ihm vorbestimmt war. Er war schon als Kind zu einem Kriminellen geworden, und nun war er ein Mann, der das Leben anderer zerstörte. Ein Mörder. Was er auch tat, um sich aus dieser Welt aus Blut und Verrat zu befreien – es gab kein Entkommen, jetzt nicht und auch später nicht. Er hatte nichts, wofür es sich zu leben lohnte.
Sein Leopard drängte an die Oberfläche, kratzte und schlug mit der Pranke nach ihm. Er wollte die Kontrolle übernehmen. Während Mitja dagegenhielt und ihn wieder zurückdrängte, kam ihm der Gedanke, dass seine Raubkatze vielleicht auf seine missmutige Stimmung reagiert hatte. Doch dann warf sich sein Leopard so abrupt herum, dass er Mitjas Körper mit sich riss. Er sah die Scheinwerfer eines Wagens am Straßenrand.
»Miron, halt an.«
Sein Fahrer trat sofort auf die Bremse, die beiden Autos vor und hinter ihnen hielten ebenfalls.
»Dreh um und fahr zurück zu dem Auto, das da am Straßenrand steht.«
Sie befanden sich auf der kaum befahrenen Straße, die zu seinem Landhaus in den Hügeln bei San Antonio führte. Auf dem riesigen Anwesen konnte er seinen Leoparden frei laufen lassen, ohne befürchten zu müssen, dass dieser zufällig einem Menschen begegnete.
»Mitja, was soll das werden?«, fragte Sewastjan besorgt. Er drehte sich zu dem Wagen da draußen in der Dunkelheit um. Die hellen Scheinwerfer verhinderten einen genaueren Blick auf das Auto. Er griff nach seiner Waffe und bedeutete den anderen Insassen, es ihm gleichzutun. Über Funk gab er den Sicherheitsleuten in den Fahrzeugen vor und hinter ihm Bescheid, sich für alle Fälle einsatzbereit zu machen.
Mitja antwortete nicht. In dem Moment, in dem sie neben dem am Straßenrand abgestellten Wagen hielten, öffnete er die Tür, bevor Sewastjan, sein Cousin und Bodyguard, ihn aufhalten konnte. Am Heck des liegen gebliebenen Autos stand eine Frau mit einem Reifen in der Hand. Der Regen prasselte erbarmungslos auf sie nieder, was sie jedoch kaum zu kümmern schien. Sie beobachtete, wie er auf sie zuging.
Umso näher er der Frau kam, umso verrückter benahm sich sein Leopard. Mitja war kein junger Mann mehr. Er war Mitte dreißig und hatte zusammen mit seiner Raubkatze in jedem einzelnen seiner Lebensjahre mindestens ein ganzes Leben gelebt. Doch ein solches Verhalten war ihm völlig neu. Sein Leopard schlug weiterhin nach ihm und versuchte, die Oberhand zu gewinnen, aber ohne das sonst übliche Verlangen nach Blut, Gewalt und Menschenfleisch. Diesmal fühlte es sich beinahe verspielt an.
Verspielt? Sein Leopard? Mitja konnte sich nicht daran erinnern, sein Raubtier jemals verspielt erlebt zu haben, nicht einmal während seiner Kindheit. Sie hatten ein enges Verhältnis. Sein Leopard passte auf ihn auf und umgekehrt. Aber ein spielerisches Element hatte es in dieser Beziehung noch nie gegeben.
Mitja bekam weder mit, dass sich seine Bodyguards eilig um ihn herum positionierten, noch, dass sich Sewastjan bereit machte, ihm mal wieder eine Strafpredigt zu halten. Es war ihm egal – er war viel zu beschäftigt damit, die Frau anzustarren, die da vor ihm im Regen stand.
Sie war eher klein und hatte nichts gemein mit den hochgewachsenen, schlanken Models, die bisher seine Vorstellungswelt beherrscht hatten. Sie trug ein Kostüm mit einem weiten Rock, der ihre wohlgeformten Beine zeigte, und dazu einen kurzen Blazer, der sich perfekt an ihre Taille und die Rundung ihrer Brüste anpasste. Beides war weiß. Kein Off-White oder Elfenbeinton, nur reines Weiß. Die dunklen Knöpfe hatten die Form von kleinen Autos. Sie forderten ihn geradezu heraus, näher heranzutreten und sie genauer anzuschauen – nicht, dass er dagegen etwas einzuwenden gehabt hätte.
Sie kam ihm vage bekannt vor, aber wenn er ihr schon einmal begegnet wäre, würde er sich sicher an sie erinnern. Als er näher kam, fiel ihm auf, dass auch auf den Stoff ihres Kostüms kleine Autos geprägt waren. Ihre Stiefel hatten dieselbe dunkle Farbe wie die ungewöhnlichen Knöpfe.
Ihr dichtes, dunkles Haar glänzte im Scheinwerferlicht. Ihre Augen waren groß und schienen einen Moment lang rot zu schimmern. Dann blinzelte sie mehrmals. »Hört auf, sie zu blenden«, rief Mitja daraufhin seinen Männern zu. Gleichzeitig nahm er ihr den schweren Reifen aus der Hand. »Sie machen sich noch schmutzig. Sie sind schon völlig durchnässt vom Regen.«
»Vielen Dank, dass Sie extra angehalten haben, aber das war wirklich nicht notwendig. Ich habe schon öfter einen Reifen gewechselt.«
Beim Klang ihrer Stimme wurde ihm heiß und in seinem Inneren verkrampfte sich etwas. Selbst sein Schwanz reagierte auf ihre rauchige Stimme, heiser als die Sünde in der Nacht, wie das Flüstern eines Liebespaares. Selbst unter Idealbedingungen konnte man Mitja nicht gerade als eloquent bezeichnen. Falls sie einen Auftragsmörder brauchte, war er genau der Mann dafür, aber kultiviert und weltgewandt zu klingen, überstieg seine Fähigkeiten.
Er balancierte den Reifen in einer Hand, während er mit der anderen sein Jackett auszog und einem der Leibwächter zuwarf, ohne darauf zu achten, wer es auffing. Er zeigte auf sein Auto, dann auf ihres. »Bringen Sie sich vor dem Regen in Sicherheit«, sagte er und versuchte, es nicht wie einen Befehl klingen zu lassen. Doch da er daran gewöhnt war, anderen Anweisungen zu erteilen, klang es wohl doch danach – zumindest ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Sie wirkte allerdings eher amüsiert als verärgert. Vielleicht auch ein wenig verwirrt. »Damit Ihnen nicht kalt wird«, ergänzte er schroff und wandte sich schnell von ihr ab.
»Boss«, zischte Sewastjan. »Miron kann zwar ums Verrecken nicht Auto fahren, aber einen Reifen wird er ja wohl wechseln können. Miron, komm her!«
»Ich komme sehr gut allein klar!«, fuhr Mitja ihn an. Sie sollte keinesfalls den Eindruck bekommen, dass er dazu nicht in der Lage war. Er wollte, dass sein Leopard sich weiter so ungewöhnlich benahm und hätte sie am liebsten für den Rest des Abends einfach nur angesehen. Er konnte spüren, dass diese Frau – wie auch immer sie das anstellte – das gefährliche Raubtier in ihm zähmen konnte. Und diese Ruhe nach einem ganzen Leben in der Hölle war, sollte sie auch nur kurz währen, ein Wunder.
Der Blick der Frau wanderte nun zu Miron, und sie formte ihren Mund zu einem kleinen Lächeln, was sofort Mitjas Aufmerksamkeit erregte. Von einem solchen Mund hatte er geträumt. Leoparden neigten zur oralen Fixierung, und er geriet beinahe sofort in den Bann des perfekten Schwungs ihrer Lippen. Er wollte, dass sie seinen Schwanz fest umschlossen, während diese riesengroßen Augen ihn unverwandt ansahen. Schon möglich, dass sich das Raubtier in ihm gerade immer noch verspielt gab, trotzdem gewann nun etwas anderes die Oberhand. Etwas Besitzergreifendes und Eifersüchtiges. Er wollte sie schmecken. Sich in ihr verlieren. Anspruch auf sie erheben.
»Darum kümmere ich mich schon, Boss«, sagte Miron und nahm ihm den Reifen aus der Hand.
Mitja zeigte auf seine Limousine. Sie zögerte und betrachtete die Männer, die sie umringten. Zum Glück hatte Sewastjan seine Pistole weggesteckt. Wikenti und sein Bruder Sinowi standen ebenfalls in der Nähe. Auch sie hielten ihre Waffen verborgen. Die beiden Brüder waren kräftig und stämmig und sahen – ebenso wie Miron – genauso aus, wie man sich solche Männer eben vorstellte. Sewastjan wirkte noch am zivilisiertesten. Doch keiner von den Männern war so einschüchternd wie Mitja selbst, auch wenn er sich dessen nicht einmal bewusst war. Man hatte ihn von Kindesbeinen an zu einer menschlichen Waffe gemacht, und genau das würde er bis zu seinem Tode bleiben.
»Ich heiße Mitja Amurow«, sagte er.
Wieder schien sie zu zögern. Vielleicht hatte sie von ihm gehört. Es hätte ihn nicht überrascht, denn es war kein Geheimnis, dass er angeschossen worden war. In den Nachrichten wurde lang und breit darüber spekuliert, ob er zu einem Verbrecherclan gehörte – und sie hatten völlig recht mit ihren Vermutungen. Zumindest oberflächlich betrachtet.
Mitja öffnete ihr die Tür, während Wikenti in seiner unbeholfenen Art den Schirm über ihn hielt statt über sie. »Sei gefälligst ein Gentleman und sieh zu, dass sie nicht nass wird«, fuhr Mitja ihn auf Russisch an.
Wikenti reagierte sofort und schwenkte den Regenschirm herum. Das Lächeln, das sie Mitja daraufhin schenkte, ließ etwas in seinem Inneren zusammenkrampfen und sein Glied zu purem Stahl werden. Sie war schön. Wirklich wunderschön. Er war ihr so nahe, dass er sehen konnte, wie weich ihre Haut sein musste. Er hätte sie gerne berührt. Ihre Wimpern waren lang und dicht, und ihre Augen wirkten in Regen und Scheinwerferlicht eher violett als blau. Sie ging an Mitja vorbei und glitt anmutig auf den beheizten Ledersitz.
Mitja war sich sicher, einen wohligen Seufzer zu hören, als sie die Wärme des Wageninneren umschloss. Er warf seinen Leibwächtern einen warnenden Blick zu, bevor er sich neben sie setzte. Sewastjan nickte kurz, aber das Ganze gefiel ihm offensichtlich überhaupt nicht. Auch deshalb würde er ihm später völlig zu Recht eine Standpauke halten. Aber das war Mitja in diesem Moment egal. Er wollte es. Sein Leopard wollte es. So eine Gelegenheit würde sich ihm ganz sicher nie wieder bieten, daher würde er sie garantiert nicht verstreichen lassen. Die Konsequenzen waren ihm dabei herzlich egal. Er nahm sein Jackett wieder an sich, setzte sich neben die Frau und schlug die Tür zu.
»Ihre Leibwächter werden darüber sicher nicht glücklich sein«, sagte sie leise.
Sie roch nach Regen und nach irgendeiner unbekannten würzigen, exotischen Blume. Sie war vor Kurzem zusammen mit einem Mann in einem Restaurant gewesen, das konnte er an ihr riechen. Das gefiel ihm ebenso wenig wie seinem Leoparden, aber er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie ja immerhin allein nach Hause gefahren war. Den ausgeprägten Geruchssinn hatte er seinem tierischen Gegenstück zu verdanken. So konnte er auch wahrnehmen, dass sie nicht im Geringsten nach Sex roch.
»Sie kommandieren einen gerne herum«, stimmte er ihr zu. Er hatte beschlossen, dass er am besten gleich von Anfang an zugab, von lauter Bodyguards umgeben zu sein. Es ließ sich schließlich auch nicht wirklich leugnen. »Es tut mir leid, dass ich kein Handtuch für Sie habe. Aber Sie können sich gerne mit meinem Jackett abtrocknen. Das ist sicher besser als nichts.«
»Ich möchte es nicht nassmachen.« Trotz der Wärme im Auto durchfuhr sie ein Schauer.
Er legte ihr das Jackett um die Schultern. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« Dann schwieg er, weil er alles gesagt hatte, was ihm einfiel, und bemühte sich, sie nicht anzustarren. Dabei kam er sich ebenso albern vor, wie sein Leopard sich gerade benahm.
»Ich heiße Ania«, sagte sie. »Darf ich Du sagen? Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Aber natürlich. Ich bin Mitja, Mitja Amurow.« Zum Glück saß Sewastjan nicht bei ihnen im Wagen. Sie hatte einen russischen Namen und einen kaum hörbaren russischen Akzent. Sein Cousin wäre deswegen sicher sofort misstrauisch geworden und hätte sie für eine auf ihn angesetzte Auftragskillerin gehalten. Doch selbst das wäre Mitja egal gewesen – seine Raubkatze war zufrieden und er ebenfalls. Es wäre ein guter Moment zum Sterben.
»Ich hätte den Reifen wirklich selbst wechseln können«, sagte sie, »aber das Wetter ist einfach scheußlich und hätte mir noch mein Outfit ruiniert. Das wäre sehr schade gewesen.« Sie griff nach dem Stoff und ließ ihn nervös durch die Finger gleiten.
Mitja war es gewohnt, selbst die kleinsten Reaktionen eines Menschen wahrzunehmen. Schließlich musste er wissen, was in denen, die er verhörte, vor sich ging. Es machte sie eindeutig nervös, allein mit ihm im Auto zu sitzen.
»Wieso steigst du so vertrauensvoll in mein Auto?«, fragte er und legte dabei sanft eine Hand über ihre, damit sie nicht weiter nervös an ihrem Outfit herumnestelte. Ihre Haut fühlte sich tatsächlich seidenweich an, und ihm wurde sehr warm. Sie zog ihre Hand nicht weg.
»Vielen Dank, dass du angehalten hast, um mir zu helfen«, sagte sie. »Da warst du der Einzige, allerdings waren hier heute Abend auch nicht viele Leute unterwegs.«
»Wohin wolltest du denn?«
Sie drehte den Kopf und musterte ihn nun mit einem eindringlichen Blick. Er war sich der Tatsache bewusst, dass er ganz und gar nicht harmlos aussah. Im Gegenteil: Er wirkte eher wie der Teufel persönlich. Es hätte sicher auch nicht geholfen, wenn er versucht hätte, sie anzulächeln, um sie zu beruhigen – das hätte sie sicher nur erst recht in die Flucht geschlagen. Ihm blieb nur die Wahrheit. »Bitte entschuldige, du musst darauf natürlich nicht antworten. Ich hätte dich das gar nicht erst fragen sollen. Ich rede nur selten mit Frauen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. Einen so bezaubernden Gesichtsausdruck hatte er noch bei keiner Frau gesehen. Sie wandte sich nun mit dem ganzen Oberkörper zu ihm und sah ihn dabei weiterhin mit diesem eindringlichen Blick an, der über alle Ecken und Kanten seines Gesichts glitt und dabei von jeder einzelnen Narbe Notiz nahm. Seine Augen waren blaugrün und dunkler als die der meisten Amur-Leoparden, die normalerweise eisblaue oder grüne Augen hatten. Wenn er sich verwandelte, waren sie kaum noch von den dunklen Rosetten seines langen, dichten Fells zu unterscheiden.
»Man sollte doch meinen, dass sich die Frauen förmlich um dich reißen.«
Sie hatte recht, in dieser Hinsicht konnte er sich nicht beklagen. »Das liegt nur daran, dass sie mich für jemand Aufregendes halten – oder glauben, dass ich viel Geld habe.«
»Aufregend im Sinne von ›gefährlich‹?« Sie deutete auf die Bodyguards. »Oder vielleicht berühmt? Sollte ich dich kennen? Dein Name kommt mir irgendwie vage bekannt vor.«
Er seufzte. Er war müde. Viel zu müde. Sein Körper schmerzte so sehr, dass er sich am liebsten selbst den Gnadenstoß versetzt hätte, damit es endlich vorbei war. Als Gestaltwandler konnte er keine Schmerzmittel nehmen. Er durfte es nicht riskieren, wegzudämmern und seinem Leoparden die Gelegenheit zu geben, auszubrechen und jemanden zu töten. Mitja lehnte sich zurück und genoss ihre Nähe. Seine Raubkatze schien völlig zufrieden mit ihrer Anwesenheit. Und dann war Mitja es auch.
»Ich bin niemand Besonderes. Und sobald eine Frau das merkt, verliert sie auch das Interesse an mir.« Er verkniff sich ein Grinsen. Sobald besagte Frauen auch nur den kleinsten Blick auf seinen Leoparden erhaschten, bekamen sie Todesangst und machten sich so schnell wie möglich aus dem Staub. Keine war an ihm interessiert – nur an dem, was er hatte. Oder besser gesagt an dem, was er ihr bieten konnte. In Wirklichkeit war das nicht viel. Sein Cousin Fjodor besaß tatsächlich etwas Wertvolles: seine Frau Evangeline. Timur – ein weiterer Cousin von Mitja – hatte seine Gefährtin Ashe. Mitja selbst konnte einer Frau nur Schlimmes bieten: Gefahr. Schießereien. Tod. Sonst nichts, außer … sich selbst. Und das war kein besonders tolles Angebot. Er würde nie ein guter Fang sein.
»Jeder Mensch ist etwas ganz Besonderes«, sagte sie leise.
»Vielleicht ist das so. Wieso heißt du Ania? Das klingt nach einem russischen Namen, nicht nach einem amerikanischen.«
»So hieß meine Großmutter mit Vornamen. Sie war eine wirklich bewundernswerte Frau. Sie kam schon als Kind mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten – keiner von ihnen konnte Englisch, und es dauerte eine Weile, bis sie es lernte. Man hat ihr auch immer sehr deutlich angemerkt, dass ihr diese Sprache nicht gefiel. Daheim hat sie nur russisch gesprochen, genau wie mein Großvater und meine Eltern. Ich selbst übrigens auch, daher mein Akzent.«
»Konnte deine Großmutter auch Reifen wechseln?«
Sie brach in Gelächter aus, was bei ihr kein bisschen schrill, sondern geradezu melodiös klang. Es war derselbe weiche, rauchige Ton, nun aber gemischt mit einer lieblichen Note, die sein Herz erklingen ließ und ihn bis ins Mark traf. Normalerweise lachten Frauen in seiner Gegenwart nicht. Er war daran gewöhnt, dass sie ihn begehrten, aber nicht daran, dass sie irgendetwas von dem, was er sagte, amüsant fanden.
»Allerhöchstens das Rad einer Kutsche. Das wiederum hätte mich nicht überrascht.«
»Lebt sie denn nicht mehr?«
Sie nickte. »Sie ist vor ein paar Jahren bei einem Autounfall gestorben. Sie war zusammen mit meiner Mutter und meinem Großvater bei einer Aufführung von Phantom der Oper gewesen – das war ihr absolutes Lieblingsmusical. Auf dem Rückweg ist es dann passiert. Ich hätte eigentlich mitkommen sollen, aber ich war krank und sehr enttäuscht darüber, obwohl ich mit Musicals aufgewachsen bin und das Stück schon gut kannte. Mein Vater ist bei mir daheimgeblieben.«
»Das tut mir leid«, murmelte er. »Ich wollte keine traurigen Erinnerungen aufwühlen.« Er konnte hören, wenn jemand log. Wie alle Gestaltwandler. Irgendetwas an dieser Geschichte stimmte nicht so ganz, aber er hätte nicht sagen können, was.
»Das Ganze ist ja schon drei Jahre her – und ich habe ganz wunderbare Erinnerungen an meine Mutter und meine Großeltern. Magst du Musicals? Oder gehst du gern in die Oper?«
In Mitja stieg eine Erinnerung auf. Eine Oper in Russland, ziemlich dunkel und etwas kühl. Laute Musik. Eine Frau sang mit so unwahrscheinlich schöner Stimme, dass er einen Moment lang wie verzaubert war. Herausgeputzte Männer und Frauen rochen nach Rasierwasser und Parfüm. Sie alle waren gekommen, um die Aufführung zu sehen. Er dagegen war gekommen, um vier Menschen zu ermorden.
Seine Zielpersonen saßen weit oben in den teuren Logen. Sie besuchten regelmäßig die Oper und wussten schon im Vorhinein, wann es etwas zu lachen oder zu weinen gab. Einen Moment lang hatte er daran gedacht, das Unvermeidliche noch etwas aufzuschieben, um die Sängerin noch einmal zu hören. Doch je länger er blieb, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden. Er hatte die Zielpersonen schnell und unauffällig erledigt und war gegangen, ohne noch einmal diese wunderschöne Stimme zu hören.
»Oh ja«, antwortete er vorsichtig. »Auch wenn ich fast nie Gelegenheit dazu habe.« Würde er so etwas wagen, wäre er nur beständig damit beschäftigt, neben der Aufführung auch seine Umgebung im Auge zu behalten. Damals hatten sich die Leibwächter seiner Zielpersonen so sehr von der Oper in den Bann ziehen lassen, dass sie unachtsam geworden waren. Sie hatte er zuerst getötet.
Ania bewegte ihre Finger auf dem Sitzpolster und erinnerte ihn so daran, dass seine Hand immer noch auf der ihren lag. Er nahm sie nur ungern weg, aber er hatte auch keinen guten Grund, sie weiter dort liegen zu lassen. »Es tut mir leid. Ich bin es nicht gewohnt …« Er unterbrach sich, bevor er ihr ein weiteres Mal gestand, wie wenig Erfahrung er im Umgang mit Frauen hatte. »Es tut mir leid«, wiederholte er stattdessen.
»Deine Hand hat mich nicht gestört. Du bist wirklich ungewöhnlich. Solche Männer trifft man nicht besonders oft. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, uns zu unterhalten, aber wie ich sehe, ist der Reifen inzwischen gewechselt, und deine Männer stehen da draußen im Regen herum und sind schon völlig durchnässt. Ich sollte mich also besser verabschieden.« Sie rutschte zur Tür, um sie zu öffnen.
Fieberhaft überlegte er, wie er sie dazu bringen konnte, noch einen Moment zu bleiben. »Falls du mal in San Antonio bist, meine Schwägerin hat dort ein Café – das Small Sweet Shoppe. Da bin ich oft.« Wenn sie es tatsächlich hin und wieder besuchte, würde er ab sofort jeden Tag dort herumhängen in der Hoffnung, sie noch einmal wiederzusehen.
»Im Geschäftsviertel?«
»Ja, das hat sich mittlerweile bis dahin ausgedehnt.« Er hielt den Atem an und umklammerte den Türgriff auf seiner Seite.
»Da war ich tatsächlich schon einmal«, sagte sie. »Wenn ich wieder mal hinkomme, werde ich nach dir Ausschau halten. Noch mal vielen Dank fürs Anhalten. Das war wirklich sehr nett von dir.«
Noch bevor er sie nach ihrer Telefonnummer fragen konnte, hatte sie die Tür geöffnet. Wenn er etwas haben wollte, ging Mitja üblicherweise sehr aggressiv vor. Er hatte auch kein Problem damit, eine Frau aufzugabeln, wenn ihm danach war. Aber das hier war etwas anderes. Etwas völlig anderes. Diese Frau war für ihn auf eine Art wichtig, die ihm noch nicht ganz klar war. Er wollte, dass sie in seiner Nähe blieb. Sein Körper verlangte mit jedem Atemzug nach ihrer Anwesenheit. Sein Leopard wollte in ihrer Nähe sein.
Doch sein Leben war die Hölle. So einfach war das. Was für ein Mann würde einer guten Frau so etwas antun? Was für ein Mann wäre er, wenn er das auch nur in Betracht zöge? Er holte tief Luft und ließ langsam den Türgriff wieder los. Er zwang sich, ihr nicht hinterherzusehen, während sie unter dem Schirm, den Wikenti über sie hielt, zu ihrem Auto zurücklief.
Sewastjan stieg ein, drehte sich zu ihm um und starrte ihn wütend an. Mitja hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, was ich getan habe, war völlig verrückt. Es tut mir leid, dass ich es dir so schwer mache. Es war keine Absicht.« Das war die Wahrheit. Er liebte seinen Cousin und hatte ihn trotzdem in eine unangenehme Lage gebracht. Und was noch schlimmer war: Auch Ania war durch seine Schuld in Gefahr geraten: Sewastjan hätte sie als Bedrohung ansehen und einfach erschießen können.
Sewastjan reagierte wesentlich nachsichtiger als erwartet. Er wartete, bis Wikenti und Sinowi in ihre Autos gestiegen und Miron sich wieder hinter das Steuer von Mitjas Auto gesetzt hatte. »Warum hast du wegen ihr angehalten?«
Mitja zuckte mit seinen breiten Schultern. »Das war wohl eine Art Reflex. Mein Leopard ist förmlich ausgeflippt, als wir an ihr vorbeigefahren sind. Und als wir dann umgedreht haben, hat er sich sehr seltsam verhalten.«
»Inwiefern?«, bohrte Sewastjan nach.
»Irgendwie anders. So habe ich ihn überhaupt noch nie erlebt. Er hat sich in ihrer Gegenwart völlig beruhigt. Als ich noch klein war, musste mein Leopard auf mich aufpassen. Es gab damals alle möglichen Intrigen. Ich weiß nicht, ob du dich noch an Onkel Filipp erinnerst, Gorjas Vater. Der lebte damals noch. Seine beiden Söhne, Dima und Grischa, waren um einiges älter als Gorja. Sie und Lazar wollten den Tod von Gorjas Mutter.«
Sewastjan runzelte die Stirn. »Woher weißt du das? Du bist doch auch nicht älter als wir.«
Mitja hatte dennoch das Gefühl, älter als die anderen zu sein, auch wenn sie ebenfalls ihre eigene, ganz persönliche Hölle durchlebt hatten. Es war in keinem Rudel einfach gewesen, vor allem nicht für seine Cousins. Sie alle hatten grausame Väter gehabt, die von ihren Söhnen erwartet hatten, in ihre Fußstapfen zu treten und jeden zu foltern und zu töten, der mit ihrer Herrschaft nicht einverstanden war.
Mitjas Vater hatte darauf bestanden, seinen Sohn bereits als Kleinkind überallhin mitzunehmen, damit er sich von klein auf an den Anblick von Folter gewöhnte. Damit er zusah, wie Frauen und Kinder getötet wurden, weil sich ihre Männer oder Väter etwas zuschulden hatten kommen lassen. Er hatte seinen Sohn so an Gewalt gewöhnen wollen, dass dieser, ohne mit der Wimper zucken, selbst Gewalt anwandte, wenn es von ihm verlangt wurde. Deshalb hatte Mitja bereits als Kleinkind viel von den Plänen seines Vaters mitbekommen.
»Mitja?«, fragte Sewastjan. »Was ist denn mit Onkel Filipp passiert? Hatten Onkel Lazar oder mein Vater etwas mit seinem Tod zu tun?«
Mitja sah nach vorne zu Miron, der am Steuer saß. Auch wenn Miron ihnen seine Loyalität längst bewiesen hatte, traute sich Mitja immer noch nicht so recht, in seiner Gegenwart über Familienangelegenheiten zu sprechen. Warum? Weil sein Vater ihm eingebläut hatte, in Anwesenheit von Personen, die nicht zur Familie gehörten, niemals auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Er war der felsenfesten Meinung gewesen, dass es so etwas wie Loyalität gar nicht gab. Jeder hatte seinen Preis und konnte zum Verräter werden – sogar der eigene Bruder.
Ursprünglich waren es vier Brüder gewesen: Lazar, Roland, Patwa und Filipp. Jeder war zu einem wor in der bratwa, der russischen Mafia, aufgestiegen und hatte über ein eigenes Gestaltwandlerrudel geherrscht. Alle vier waren grausame Sadisten gewesen. Mit seinem Cousin über sie zu sprechen, war eine Sache, sie vor Außenstehenden zu erwähnen, eine andere. Doch diese Denkweise musste er endlich überwinden. Schließlich stand er nicht mehr unter der Herrschaft seines Vaters. Aber wie auch immer: Miron war im Rudel mit aufgewachsen und wusste daher das ein oder andere über die Amurow-Brüder.
»Onkel Filipp hat Gorjas Mutter nicht getötet, das hat man nur allen so erzählt«, sagte Mitja. »Nachdem Filipp seine erste Frau ermordet hatte, hat er zufällig seine wahre Gefährtin gefunden. Zumindest glaubte mein Vater, dass das der Grund für seine Veränderung war – Filipp war plötzlich gegen viele Pläne der Familie und wollte seine Frau beschützen.«
»Was hatte die Familie denn vor?«, fragte Sewastjan stirnrunzelnd. »Mein Vater hat nie von irgendwelchen Plänen gesprochen.«
»Die drei Brüder wollten ihr Territorium erweitern. Das wäre wohl nicht so schwer gewesen, doch zu dieser Zeit waren die Leopardenmenschen so blutrünstig geworden, dass sie in nicht von Gestaltwandlern beherrschtes Gebiet eindrangen und ihre Leoparden auf die Familien der wors losließen. Sie brachten alle um – Männer, Frauen und Kinder.«
In Mitjas Kopf pochte es. Sein Leopard war völlig durchgedreht, als Ania aus dem Wagen gestiegen war, und hörte seitdem nicht damit auf, sich gegen die Wände seines Gefängnisses zu werfen. Er wollte sich befreien. Mitjas Körper schmerzte bereits von den Hieben der Katze, die ihn am liebsten von innen zerfetzt hätte. Er würde ihm bald den Dienst versagen.
»Hat dein Vater dich auch bei diesen Überfällen mitgenommen?«
Mitja nickte und schloss die Augen, aber auch das half nicht gegen die Bilder, die sich in seine Erinnerung eingebrannt hatten. Wenn er nachts zu schlafen versuchte, spulten sie sich immer wieder vor seinem inneren Auge ab, wie ein niemals endender Horrorfilm.
»Jedes einzelne Mal … Oft hat er seinen Leoparden auch auf irgendeinen arglosen Touristen gehetzt, der gerade vom Schiff gekommen war. Weil wir die Herrschaft über den Hafen hatten, mussten wir nur eine der Frauen dort losschicken, damit sie irgendeinen Mann von seiner Gruppe weglockte. Dann ließ Lazar seine Raubkatze auf ihn los, manchmal auch auf eine kleine Gruppe. Und er hat darauf bestanden, dass ich jedes einzelne Mal dabei war. Um zu verhindern, dass mein Vater mich schlug, übernahm mein Leopard die Kontrolle – und dann musste er zusammen mit Lazar auf die Jagd gehen.«
Mitja schämte sich. Er war damals viel zu jung gewesen, um sein tierisches Gegenstück zu beschützen. Sein Vater hatte ihn gnadenlos verprügelt und so seinen Leoparden zum Erscheinen gezwungen, auch wenn Mitja dagegen angekämpft hatte. Sobald die Raubkatze sich zeigte, verprügelte Lazar sie so lange, bis sie sich fügte und mit seinem Leoparden auf die Jagd ging. Jedes Mal war der jüngere und weniger erfahrene Leopard gezwungen, sich gegen den älteren zu verteidigen. Mitja war sich bewusst, dass sein Leopard damit zur Bösartigkeit erzogen wurde. Lazar sorgte dafür, dass er Erfahrung im Kampf sammelte, um ihn zu einem Killer zu machen. Es war schon schlimm genug, einem Teenager so etwas beizubringen – doch Mitja war noch ein kleiner Junge gewesen.
Er fuhr sich durch die Haare und bemerkte verärgert, dass seine Hand zitterte. Sewastjans prüfender Blick war ihm unangenehm und er wandte sich ab. Sewastjans Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass ihm nichts passierte, schließlich war er sein Sicherheitschef. Mitja hatte das bei San Antonio gelegene Territorium von Patrizio Amodeo übernommen, einem Gangsterboss, der sein Geld mit Menschenhandel verdient hatte.
Wie die meisten Verbrecherbosse in den Vereinigten Staaten war Amodeo kein Gestaltwandler gewesen. Er hatte versucht, Mitjas Cousin Fjodor und dessen Frau Evangeline zu töten. Evangeline hatte sich bei dem Kampf über Fjodor geworfen, und Mitja wiederum war zwischen die beiden und ihren Angreifer gesprungen, um sie mit seinem Körper zu schützen. Dabei hatte er die Kugeln abbekommen, die eigentlich für Fjodor und Evangeline bestimmt gewesen waren.
Er hatte reflexhaft gehandelt, ohne nachzudenken. Trotzdem hatte ihm das bewusst gemacht, dass er über keinerlei Selbsterhaltungstrieb zu verfügen schien. Seine Zeit war bald abgelaufen, dessen war er sich sicher. Er war müde vom immerwährenden Kampf gegen seinen Leoparden, den er mehr liebte als alles andere auf der Welt. Die Raubkatze traf keine Schuld. Sie war heftigen Prügeln von Lazar – und noch viel schlimmeren Angriffen seines Leoparden – ausgesetzt gewesen. Lazar und sein Leopard hatten Spaß an der Grausamkeit gehabt. Mitja gab seinem Leoparden nicht die Schuld dafür, dass er war, wie er war, aber er konnte ihn trotzdem nicht frei herumlaufen lassen. Das bedeutete einen immerwährenden Kampf – und dass er niemals auch nur einen Moment lang unachtsam sein durfte, egal, wie müde, krank oder einsam er sich fühlte. Oder wie sehr er sich nach einer Frau verzehrte.
»Mitja«, sagte Sewastjan leise. »Du warst doch noch ein kleiner Junge.«
Mitja konnte sich nicht erinnern, irgendwann einmal ein kleiner Junge gewesen zu sein. Mit einem Vater wie Lazar hatte es keine Kindheit gegeben. Er rieb sich die Augen und wünschte sich, alles einmal hinter sich lassen zu können, und sei es auch nur für einen Moment. Und genau das war ihm gerade ein paar wertvolle Minuten lang widerfahren. Einen Moment lang war der Drang, diese Frau wiederzusehen, überwältigend. Ania. Wenn er sie für sich gewinnen und bei sich behalten konnte, würden sie beide – er und sein Leopard – endlich Frieden finden. Und danach sehnte er sich weiß Gott.
»Ich war erst drei oder vier, als ich ihn zum ersten Mal begleiten musste. Wenn ich weinte, verprügelte er mich noch schlimmer. Ich glaube, meine allererste Erinnerung ist die an seine Faustschläge. Und der erste Geschmack, an den ich mich erinnere, ist der von meinem eigenen Blut.«
»Und Onkel Filipp?«
»Einmal habe ich mitbekommen, wie er sich mit Lazar unterhalten hat. Er hat ihm gesagt, dass zu viele Sünden auf seiner Seele lasten und dass sich alles ändert, wenn man die richtige Frau findet. Filipps Leopard war zufrieden und hat ihn nicht mehr verrückt gemacht. Dadurch konnte er alles viel klarer sehen.
Lazar schäumte vor Wut. Sobald Onkel Filipp gegangen war, hat er Filipps ältere Söhne Dima und Grischa um ein Treffen noch am gleichen Abend gebeten. Sie waren voller Hass auf Gorjas Mutter und Gorja selbst, obwohl der noch ein Baby war. Lazar hat ihnen befohlen, zuerst ihren Vater außer Gefecht zu setzen. Sie sollten warten, bis er mit Gorjas Mutter schlief und nach dem Höhepunkt entspannt und arglos auf ihr lag. Lazar sagte ihnen, dass ihr Vater selbst schuld an seinem Schicksal war, weil er so dumm gewesen war, sich zu verlieben. Weil ihn diese Frau schwach gemacht hatte, angreifbar. Dass sie in Wirklichkeit seine Mörderin war.«
»Er hat Dima und Grischa eingeredet, dass ihr Vater den Tod verdiente, weil er sich verliebt hatte?« Sewastjan klang nicht so überrascht, wie man es hätte erwarten sollen.
Mitja nickte. »Lazar sagte, dass Filipp weich und nachlässig geworden sei und man ihn nun leicht überrumpeln könne. Er befahl ihnen, in sein Schlafzimmer zu gehen und ihn bewegungsunfähig zu machen, ihn aber erst zu töten, wenn sie seine Frau und deren Leopardin in Stücke gerissen hatten. Und sie sollten ihm unbedingt Bescheid geben, wenn sie sich auf den Weg machten. Er wollte zusehen, ohne einzugreifen. Sie sollten es ganz allein tun.«
»Warum wollte er denn dabei sein?«
»Er war wütend auf Filipp, weil er es als ›Verrat‹ empfand, dass er sich in Gorjas Mutter verliebt hat. Er wollte ihn bestrafen. Filipp hatte es gewagt, glücklich zu sein – ein Zustand, der für Lazar, Roland oder Patwa unerreichbar war.« Mitja betrachtete seine Hände. »Genau wie für die meisten von uns.«
Sewastjan holte hörbar Luft. Mitja wagte es nicht, seinen Cousin anzusehen, denn Sewastjan entging nichts.
»Mitja, es gibt so viel, wofür es sich zu leben lohnt. Fjodor und Timur haben beide ihre wahren Gefährtinnen gefunden. Und diese Frau, die du heute Abend …«
»Ich habe sie ganz absichtlich nicht nach ihrer Telefonnummer gefragt. Oder auch nur nach ihrem Nachnamen. Die Vorstellung, dass sie mich – und Dymka – retten könnte, ist viel zu verlockend.« Mehr als alles andere wünschte er sich Rettung für seinen Leoparden. Dymka bedeutete »Rauch« beziehungsweise »Nebel«, ein passender Name für eine Raubkatze, die sich außergewöhnlich gut darauf verstand, sich unbemerkt anzuschleichen.
»Mein Leben ist eine Hölle, die ich niemals einer Frau zumuten könnte. Du weißt so gut wie ich, dass Lazar hinter mir her ist. Er hat Filipps Söhne damit beauftragt, dessen geliebte Frau vor seinen Augen und dann ihn selbst zu töten. Und das nur, weil er sich von ihm verraten fühlte. Du kannst dir also vorstellen, was er mit mir anstellen würde.«
Sewastjan schwieg so lange, dass Mitja schon dachte, er würde ihm überhaupt nicht mehr antworten. Als er sich schließlich zu seinem Cousin umdrehte, sah er, wie dieser aus dem Fenster hinaus in die Nacht starrte.
»Sie war wunderschön«, murmelte Sewastjan schließlich. »Die Frau von gerade eben. Sie ist ganz bestimmt ein Leopardenmensch – wir haben es alle gespürt. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
Darüber hatte Mitja noch gar nicht nachgedacht. »Sie hat mir erzählt, dass ihre Großmutter aus Russland stammte und dass man sie nach ihr benannt hat: Ania.«
Sewastjan hob ruckartig den Kopf. »Wirklich? Sie ist Russin? Mitja, das könnte eine …« Er brach ab und machte eine finstere Miene. »Sie kam mir irgendwie bekannt vor, und sie ist auf genau der Straße liegen geblieben, die zu unserem Anwesen führt. Das Grundstück neben unserem gehört den Dovers. Ich habe mir die Familie genau angesehen, bevor wir das Anwesen gekauft haben. Die Dovers haben Kontakte in Russland. Und sie haben eine Tochter – das könnte sie sein. Ich werde das überprüfen, sobald wir zu Hause sind.«
»Das würde erklären, weshalb sie hier auf dieser Straße unterwegs war. Sie mag Musicals.«
»Es ist wirklich lange her, dass ich eines gesehen habe«, sagte Sewastjan. »Vielleicht sollten wir auch mal etwas anderes tun als immer nur herumsitzen und planen, wie wir Kriminellen das Handwerk legen. Auch wenn wir selbst welche sind.« Er grinste seinen Cousin an.
»Wenn ich dann irgendwann einmal fertig mit dieser beschissenen Physiotherapie sein sollte, die sich ganz offensichtlich ein Sadist für mich ausgedacht hat, dann sollten wir das mal machen.« Vielleicht würde ihm ein Musical wieder zu etwas Freude am Leben verhelfen. Vielleicht lief er dort ja auch Ania über den Weg.
»Wie hat Gorja diese Nacht bloß überlebt?« Sewastjan sah seinen Cousin fragend an.
Mitja holte tief Luft. »Mein Vater hat mich mitgenommen. Er wollte, dass ich mit eigenen Augen einen Verräter sehe und was die Konsequenzen einer solchen Tat sind. Sobald wir das Haus betraten, hörten wir Schreie. Die Schreie meiner Tante.« Mitja schreckte bis zum heutigen Tag mit dem Klang dieser Schreie aus dem Schlaf.
Sewastjan schüttelte den Kopf. »Du kannst damals doch höchstens erst drei oder vier Jahre alt gewesen sein.«
»Das Ganze passierte zwei Tage vor meinem fünften Geburtstag, und mein Vater schärfte mir ein, ich solle mir alle Tränen und überhaupt jeden Laut verkneifen, wenn ich nicht wolle, dass sein Leopard meinen in Stücke reißt. Bis heute denke ich, dass ich meinen Onkel vielleicht hätte retten können, wenn ich nicht gehorcht und ihm eine Warnung zugerufen hätte. Dass wir meine Tante schreien hörten, bedeutete natürlich, dass mein Onkel bereits außer Gefecht war – aber wie hätte ein traumatisiertes Kind zu diesem logischen Schluss kommen können?«
»Da hast du recht. Ich habe da auch so ein paar Kindheitserinnerungen, bei denen ich nicht unbedingt logisch gehandelt habe. Unsere Väter haben große Schuld auf sich geladen.«
Da konnte ihm Mitja nur zustimmen. »Ich glaube, dass die ganze Gewalt, die sie ihren Leoparden zugemutet haben, sie von innen heraus zerfressen hat. Das ist mein Ernst. Sie waren wirklich der Meinung, dass sie das Recht hätten, über Leben und Tod anderer zu bestimmen. Sie waren geradezu süchtig danach, andere zu verletzen. Sie zu jagen und zu töten. Sonst hatten sie ja nichts. Ihnen fehlte die Liebe einer Familie. Und als Lazar seinen eigenen Bruder ermordete und Dima und Grischa ihren Vater töteten, gab es dann auch keine Loyalität mehr – weder der Familie noch der bratwa gegenüber.«
Sewastjan nickte. Miron bog mehrmals hintereinander ab, um herauszufinden, ob sie beschattet wurden, auch wenn Mitja noch nie eingeleuchtet hatte, warum ihnen jemand auf dem Weg zu ihrem Anwesen folgen sollte. Schließlich machte er kein Geheimnis daraus, dass er dort unter seinem richtigen Namen wohnte. Lazar würde früher oder später auftauchen, und er hatte ganz bestimmt nicht vor, sich vor ihm zu verstecken.
»Als wir in das Zimmer kamen, lag Filipp neben seiner Frau, das Gesicht ihr zugewandt. Sie hatten ihm das Rückgrat gebrochen, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte und hilflos dabei zusehen musste, wie sie seine Frau totschlugen. Es war widerlich, wie viel Spaß es ihnen machte. Je härter sie zuschlugen, desto brutaler wurden sie. Als wären sie keine Gestaltwandler, sondern Dämonen im Blutrausch.«
Mitja drehte sich der Magen um, während die Erinnerungen auf ihn einstürzten. Sein Herz klopfte beängstigend laut, sodass es trotz des Presslufthammers in seinem Kopf zu hören war. Wie gerne wäre er diese Erinnerungen losgeworden, aber wenn sein Leopard nicht vergessen konnte, konnte er selbst es auch nicht. Jedes Detail hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. Einen Moment lang war es nicht seine Tante, auf die sie einschlugen, sondern er selbst lag mit gebrochenem Körper da und blickte in Anias violette Augen.
»Nachdem sie tot war, erschlugen sie Filipp, was ihnen genauso viel Spaß machte. Gorja lag in seinem Kinderbett und weinte. Er musste alles mit ansehen. Dann wandten sich seine Brüder ihm zu – ich glaube, dass sie ihn schon immer gerne tot gesehen hätten. Sie hassten ihn, weil er im Gegensatz zu ihnen eine Mutter hatte, die ihn liebte. Ich habe einmal gehört, wie Onkel Filipp Lazar gegenüber erwähnte, dass ihre eigene Mutter nichts von ihnen wissen wollte.«
»Und dafür haben sie Filipp dabei geholfen, sie zu töten, richtig?« Sewastjan wirkte erschöpft.
Mitja sah ihn scharf an. »Alles okay?« Es war egoistisch von ihm gewesen, nur an seine eigenen schrecklichen Erinnerungen zu denken. Er hatte dabei völlig vergessen, dass sein Cousin die Bürde einer eigenen entsetzlichen Vergangenheit trug. »Ich hätte dir das alles nicht erzählen dürfen, wenn es dir so nahegeht.«
Sewastjan schüttelte den Kopf. »Ich muss so etwas wissen. Und Gorja muss auch davon erfahren. Bis jetzt dachten wir ja, dass sein Vater seine Mutter getötet hätte. Und dass ihn Timurs Mutter aufgezogen hatte, weil er da noch so klein gewesen war.«
Mitja zuckte mit den Schultern. »Das ist die Geschichte, die auf Lazars Befehl hin verbreitet wurde, damit Roland oder Patwa nicht erfuhren, dass er etwas mit Filipps Tod zu tun hatte. Dima und Grischa erklärten sich bereit, Schweigen darüber zu bewahren, schließlich konnte sie sich dafür Filipps Territorium unter den Nagel reißen. Und sie fügten sich Lazar, weil er sonst allen erzählt hätte, dass sie ihren eigenen Vater auf dem Gewissen hatten – bevor er seinen Leoparden auf sie losgelassen hätte. Davor hatten sie natürlich Angst. Wer will sich schon mit Lazars Leopard anlegen.«
Mitja hatte sich jeden einzelnen Tag dieser bösartigen Raubkatze stellen müssen. Sobald er seinen Vater irgendwie verärgerte – egal ob als Kleinkind, Junge oder Jugendlicher –, war er dem Zorn dieses wilden Tieres ausgeliefert gewesen. Er hatte noch heute am ganzen Körper Narben davon, genau wie sein Leopard. Und er hatte es seinem Vater zu verdanken, dass auch sein eigener Leopard zu einer bösartigen Kreatur geworden war, einem Monster. Er stand der Raubkatze seines Vaters in Kampfstärke in nichts nach. Er war von Bösartigkeit und Blutdurst erfüllt, ungezähmt und wild und nur schwer unter Kontrolle zu halten. Das hatte Mitja seinem Vater zu verdanken: Er hatte dafür gesorgt, dass sein Sohn dieser Hölle niemals entkommen würde.
Mitja fuhr sich mehrmals grob durch die Haare. Eine Geste, die verriet, wie sehr ihn diese Gedanken aufwühlten. »Er hat behauptet, dass Onkel Filipp beim Kampf um ein benachbartes Territorium ums Leben gekommen sei. Dima und Grischa haben diese Geschichte bestätigt. Da ich ja noch ein kleines Kind war, hätte mir sowieso niemand geglaubt, aber Lazar hat mir trotzdem für alle Fälle die Seele aus dem Leib geprügelt, damit ich den Mund halte. Als ich acht Jahre alt war, habe ich die Schläge schon gar nicht mehr gespürt. Da war das alles längst völlig normal für mich.«
Sewastjan seufzte. »Ich weiß noch, dass sogar mein Vater sich Sorgen gemacht hat, Onkel Lazar könnte dich zu viel schlagen. Er hat seine Männer davor gewarnt und ihnen gesagt, dass sie großen Schaden anrichten, wenn sie ihre Söhne so schlagen wie Lazar dich.«
»Lazar ist es nicht gelungen, mir Loyalität ihm gegenüber einzubläuen«, sagte Mitja. »Er hat mir nur Hass eingeprügelt, und meinem Leoparden ebenfalls. Einen unstillbaren Rachedurst.« Mitja sah auf seine geöffneten Hände und ballte sie zu Fäusten. »Hoffentlich stellt er sich bald zum Kampf. Ich bin kein kleiner Junge mehr. Diesmal bin ich bereit zu sterben, wenn ich ihn dabei mit in den Tod nehmen kann.«
Sewastjan setzte sich auf, als das Auto vor dem hohen schmiedeeisernen Tor mit den schönen verschnörkelten Verzierungen hielt. Sie gaben den Code ein, die Torflügel öffneten sich und sie fuhren die lange Auffahrt zu Mitjas Anwesen hinauf. Die beiden anderen Wagen mit den Männern seines Sicherheitsteams folgten ihnen. Sewastjan bestand darauf, dass Mitja stets von einer Anzahl Leibwächter begleitet wurde. Dann schloss sich das Tor wieder hinter ihnen.
»Wirf dein Leben nicht weg, nur um Lazar zu töten«, sagte Sewastjan.
Mitja antwortete nicht. Er war nicht der Meinung, dass er sein Leben wegwarf, wenn er damit die Welt von der bösen, entsetzlichen, heimtückischen Macht Lazars befreien konnte. Alles, was Lazar berührte, befleckte er mit seinem alles verderbenden, widerwärtigen Einfluss. Er musste sterben. Allerdings gab es dabei ein Problem – und das war auch der Grund, warum Mitja seinen Cousins in die USA gefolgt war. Nicht etwa, weil er Angst davor hatte, sich seinem Vater zu stellen. Er kannte alle seine Tricks, ebenso wie Dymka Lazars Leoparden in- und auswendig kannte. Er zweifelte auch nicht daran, dass er seinen Vater im Kampf besiegen konnte. Aber er hielt es für unmoralisch, den eigenen Vater zu töten.
Das wollte er allerdings lieber nicht laut aussprechen. Ganz bestimmt nicht Fjodor und dessen Bruder Timur gegenüber. Fjodor hatte schließlich den Vater der beiden getötet. Er verurteilte sie nicht dafür, denn Fjodor hatte damit Timur und Gorja vor dem sicheren Tod bewahrt. Und genauso wenig wollte er mit Sewastjan moralische Probleme diskutieren. Er wusste ja nicht einmal selbst, wie er dazu stand. Er hatte Russland verlassen und sich Drake Donovan und den anderen angeschlossen, um mit ihnen die Welt von den schlimmsten kriminellen Leopardenmenschen zu befreien, die in den USA ihr Unwesen trieben. So versuchte er, seine früheren Taten in Russland wiedergutzumachen. Aber nun war ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, und sie würden ihn niemals in Ruhe lassen. Die bratwa, vor allem die kriminellen Leopardenmenschen, würde ihm niemals vergeben.
»Wer keine Angst vor dem Tod hat, hat in einem Kampf auch nichts zu verlieren und deshalb immer einen Vorteil«, erklärte er seinem Cousin. »Das hat Lazar mir beigebracht, und er hat recht, sowenig es mir auch gefällt. Doch wie dem auch sei, ich habe diesen Vorteil.«
»Aber diese Frau …«
»Ich würde die Hölle, in der ich lebe, niemals einer Frau zumuten. Du weißt, dass Lazar im Anmarsch ist. Wenn ich sie dann auch noch beschützen muss, kann ich mich nicht voll auf ihn konzentrieren.« Sie würde seine Achillesferse sein, wenn sie es nicht schon längst war. Er musste sich von ihr fernhalten, damit Lazar keinesfalls auf sie aufmerksam wurde. »Was er ihr alles antun würde – nur um mich zu bestrafen …« Er brach mitten im Satz ab und schüttelte den Kopf. »Nein, das werde ich niemals zulassen«, sagte er entschlossen.
Sie sollte es wirklich besser wissen. Und normalerweise war sie sehr willensstark, doch in diesem Fall konnte sie sich nicht unter Kontrolle bringen. Ania Dover stand vor dem Schaufenster des Small Sweet Shoppe. Schon wieder. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie oft sie in den letzten Wochen in der Hoffnung, dass der Russe auftauchen würde, hier gewesen war. Anscheinend war er nicht ganz so hingerissen von ihr gewesen wie sie von ihm.
Es war schon das zweite heftige Unwetter in diesem Jahr. Der Regen fiel in silbrigen Schleiern. Im Schutze des Vordachs machte er ihr nichts aus – im Gegenteil, so konnte sie seine Schönheit bewundern. Und da sie ihren warmen Trenchcoat mit der Kapuze trug, fror sie auch nicht. Sie scherzte oft mit ihrem Vater darüber, dass sie sich in dem Mantel immer ein bisschen wie Rotkäppchen fühlte – auch wenn er blau statt rot war.
Ania betrat das einladende Café, das wunderbar nach Zimt und anderen Gewürzen duftete. Hier hatte sie immer das Gefühl, als hieße man sie mit weit geöffneten Armen willkommen. Ihr war auch aufgefallen, dass alle Gäste Evangeline und Ashe – die beiden Frauen, die das Café gemeinsam betrieben – persönlich zu kennen schienen. Die Arbeit ging den beiden leicht von der Hand, obwohl Evangeline anscheinend schwanger war. Ania war sich nicht sicher, aber sie glaubte, unter der Schürze einen kleinen Babybauch entdeckt zu haben.
Als die Glocke über der Tür ertönte, sahen beide Frauen auf. Evangeline lächelte. »Ania, wie schön, dass du uns mal wieder besuchst.«
Sie hatte Evangeline ihren Namen bei ihrem ersten Besuch im Café genannt, und diese hatte sich auch sofort an sie erinnert, als sie nach der Begegnung mit Mitja wieder hingegangen war. »Ich bin einfach süchtig nach eurem Kürbiskuchen«, sagte Ania wahrheitsgemäß und zog die Handschuhe aus.
Sie sah sich kurz um, obwohl sie bereits wusste, dass Mitja nicht hier war. Sonst hätte sie sich anders gefühlt. Sicher. Ruhig. Anders eben. Gut. Sie hätte, ohne hinzusehen, sagen können, ob er im Café war oder nicht. Egal, wie oft sie sich ermahnte, dass er ein Krimineller war, mit dem sie nichts zu tun haben wollte – sie kam immer wieder hierher aus einem Drang heraus, den sie nicht wirklich verstand. Nachdem sie Mitja kennengelernt hatte, hatte sie sich sofort über ihn schlaugemacht, sobald sie nach Hause gekommen war.
Er wohnte ganz in ihrer Nähe, nur ein paar Meilen weiter auf jener wenig befahrenen Straße, auf der sie ihn kennengelernt hatte. Als er angehalten hatte, hatte sie etwas Angst gehabt, aber wie alle anderen Nachbarn hatte sie bereits erfahren, dass jemand das Grundstück neben dem Haus ihrer Familie gekauft hatte. Ihr Vater hatte ebenfalls ein Gebot darauf abgegeben in der Hoffnung, seinen Besitz zu vergrößern, aber ohne Erfolg. Nun war Mitja Amurow ihr neuer Nachbar.
Sie hatte in den Nachrichten darüber gelesen, dass er beim Versuch, seinen Cousin und dessen Frau Evangeline zu beschützen, mehrfach angeschossen worden war. Evangeline war eine wunderbare Frau, und Ania konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie sich mit einem Kriminellen eingelassen haben sollte. Sie schien so offen und ehrlich. So warmherzig. Wie sie alle ihre Kunden mit Namen begrüßte und sich mit aufrichtigem Interesse nach deren Familien erkundigte – sie konnte einfach nur ein guter Mensch sein.
»Das Übliche?« Ashe – die Barista – drehte sich mit einem Lächeln zu Ania um.
Ania nickte. Ashe war ebenso nett wie Evangeline, wirkte aber so, als könne sie ganz gut auf sich selbst aufpassen. Sie war nicht ganz so offenherzig und vertrauensvoll wie Evangeline, die Besitzerin des Cafés, die in jedem Kunden einen potenziellen neuen Freund sah und sich für ihn interessierte. Ashe war freundlich, war aber offenbar immer auf der Hut: Nachdem sie Anias leichten russischen Akzent bemerkt hatte, schien sie etwas wachsamer und argwöhnischer ihr gegenüber geworden zu sein.
»Ja, gerne. Danke«, antwortete Ania. »Wenn erst einmal alles fertig renoviert ist, wird es sicher super aussehen.« Die Wände zum angrenzenden Laden waren eingerissen worden. Der Bereich war während der Geschäftszeiten abgesperrt, damit die Gäste nicht auf der Baustelle herumliefen. Ganz offensichtlich war eine Erweiterung des Cafés geplant. Die schien auch bitter nötig, denn die Kunden drängten sich im Laden – was Evangelines köstlichem Gebäck ebenso zu verdanken war wie Ashes ebenso köstlichem Kaffee. Das Geschäft dieser beiden Frauen war wirklich eine Goldgrube.
Ania kam absichtlich nicht während der Stoßzeiten her. Neben der Hoffnung, Mitja zu treffen, war sie auch hier, weil sie die beiden Frauen mochte. Obwohl sie Ania nicht kannten und nichts von ihr wollten, hatten sie sie im Lauf der letzten Wochen immer mehr so behandelt, als könnten sie wirklich einmal Freundinnen werden – und das war etwas, nach dem sie sich sehnte.
Evangeline strahlte Ania an. »Es ist wirklich aufregend, wenn ein Traum wahr wird. Ich wollte das Café schon so lange erweitern, weil sich meine Gäste manchmal mit Stehplätzen begnügen müssen. Es hat sich zwar niemand beschwert, aber trotzdem möchte ich, dass es jeder so gemütlich wie nur möglich bei mir hat.«
So war Evangeline. Sie sorgte sich um ihre Kundschaft. Ania sah sich noch einmal im Café um, während sie ihren Latte und den Kürbiskuchen bezahlte. Sie hatte auch bereits ein Auge auf die Zitronen-Himbeer-Tarte geworfen. Die würde sie ihrem Vater nachher mitbringen. Er liebte Kuchen und Gebäck, doch wenn sie nach Hause kam, war sie meist zu müde, um sich selbst noch in die Küche zu stellen.
Im Moment waren nur wenige Gäste im Café, ein paar Männer, die offenbar zum Sicherheitspersonal gehörten. Sie hatten sich im Raum verteilt und sahen betont entspannt auf ihre Handys, waren aber leicht als Leibwächter zu erkennen. Ania nahm ihren Latte und den hübschen kleinen Teller mit dem Kuchen und setzte sich an einen Tisch im hinteren Teil des Cafés.
Sie wollte jeden Bissen genießen. Wenn sie schon so oft herkam und sich Extrakalorien genehmigte, wollte sie ihren Kuchen nicht hinunterschlingen. Auch der Latte war perfekt. Ania sah auf, um sich bei Ashe mit einem Lächeln dafür zu bedanken, und bemerkte, dass diese den Blick bereits auf sie gerichtet hatte. Ashe erwiderte das Lächeln und kam hinter der Theke hervor. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mich in meiner Pause zu dir setze? Wenn du lieber deine Ruhe haben willst, ist das natürlich auch in Ordnung. Aber du siehst nie auf dein Handy, wenn du hier bist, deswegen dachte ich, dass du dich vielleicht nicht gestört fühlst.«
»Ganz bestimmt nicht.« Ania deutete auf einen Stuhl. »Ich nehme mir immer vor, jeden Bissen zu genießen, und dabei will ich Ruhe vor der Arbeit haben.«
»Arbeitest du hier in der Nähe?« Ashe setzte sich rechts von Ania.
Ania nickte. »Ich habe ein paar Büroräume im Bannaconni-Gebäude. Ich weiß gar nicht, warum ich das Café hier nicht schon früher entdeckt habe. In letzter Zeit wird es mir von allen Seiten empfohlen. Ihr habt wirklich einen guten Ruf.«
»Das freut mich zu hören. Wer hat dir uns denn empfohlen?« Ashe beugte sich vor, stützte das Kinn in die Hand und sah Ania interessiert an.
Ania war sich nicht sicher, ob das eine beiläufige Frage war oder nicht. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte eine Reifenpanne auf dem Heimweg von einem Date – das übrigens eine Katastrophe war. Und dann auch noch die Panne … Das passiert mir eigentlich nie, weil ich immer darauf achte, dass meine Reifen in Ordnung sind. Das ist so eine Macke von mir. Aber wie auch immer – es hat geregnet und ein Gentleman hat angehalten und mir geholfen. Er eilte mir ritterlich zu Hilfe und hat mir euer Café empfohlen.«
Ashe runzelte die Stirn. »Was war denn mit deinem Reifen?«
Ania trank noch einen Schluck von dem heißen Latte. Es regnete immer noch und sie genoss die Wärme des Raumes und des Kaffees in ihren Händen. »Er hatte ein Loch.« Das war die Wahrheit. Nur war sie sich gar nicht so sicher, ob das ein Zufall gewesen war.
»Ich bin neu in San Antonio«, sagte Ashe. »Wohnst du schon lange hier?«
Ania nickte. »Schon mein ganzes Leben. Meine Familie lebt seit drei Generationen hier: meine Großeltern, meine Eltern und jetzt ich. Ich fürchte, meine Eltern hätten lieber einen Sohn gehabt, aber leider Gottes bin ich ein Einzelkind.« Sie lachte leise, weil sie ganz genau wusste, dass ihre Eltern sie niemals gegen alle Söhne der Welt eingetauscht hätten.
Ashe zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Schon in der dritten Generation? Ich habe meine Großeltern leider nie kennengelernt. Wie ist es, Oma und Opa um sich zu haben?«
»Sie waren ganz wunderbare Menschen. Sehr liebevoll. Ich muss zugeben, dass ich als Kind wohl ziemlich verwöhnt wurde. In unserer Familie dreht sich alles um Autos. Mein Großvater hat mir schon im Vorschulalter beigebracht, daran herumzuschrauben. Ich habe ihm immer die Werkzeuge gereicht. Dabei habe ich ihre Namen und die der Autos und Motorteile gelernt. Da war ungefähr drei Jahre alt. Als mich mein Vater dann mit fünf zum ersten Mal hinters Steuer gesetzt hat, konnte ich das Gaspedal zwar nicht erreichen, aber er hat trotzdem von mir erwartet, dass ich zumindest theoretisch weiß, wie man mit und ohne Kupplung fährt.«
Ashe lachte und schien sich ein wenig zu entspannen. »Das gefällt mir. Timur wird das mit unseren Kindern bestimmt auch einmal so machen. Er will so viel Anteil an ihrem Leben nehmen wie möglich.«
»Ich habe ihn noch nie hier gesehen. Kommt er oft vorbei?«
Ashe nickte. »Ich habe ihn sogar hier kennengelernt. Timur ist der jüngere Bruder von Evangelines Mann. Der Job hier war also in vielerlei Hinsicht ein Glücksgriff für mich. Da du sagst, dass dein Date nicht so besonders gut lief, vermute ich mal, dass du Single bist.«
»Das stimmt. Ich habe einen wirklich schlechten Geschmack, was Männer angeht. Ich werde wahrscheinlich als verrückte alte Jungfer enden.«
Ashe lachte lauthals, und ihr Lachen war ansteckend. Ania fiel auf, dass die beiden Bodyguards ebenfalls grinsten. Keiner sah in ihre Richtung, aber Ashes Lachen war ihnen nicht entgangen.
»Kann ich mir nicht vorstellen, du siehst nämlich wirklich großartig aus«, erwiderte Ashe. »Ich habe noch nie jemanden mit so toller Haut gesehen und wollte dich schon lange fragen, was für Pflegeprodukte du benutzt. Aber dann dachte ich, dass ich das lieber erst mache, wenn wir uns ein bisschen besser kennen. Nicht dass du noch denkst, ich will dich anbaggern.«
»Baggerst du mich denn gerade an?« Ania bemühte sich um eine ernste Miene.
Ashe lachte wieder. »Führ mich nicht in Versuchung. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.«
»Danke. Im Ernst.« Ania berührte ihr eigenes Gesicht. Sie tat gar nicht erst so, als wüsste sie nicht, wie gut sie aussah. Aber so war sie eben auf die Welt gekommen und musste nichts dafür tun. »Meine Großmutter und meine Mutter hatten dieselbe tolle Haut, und ich hatte das große Glück, sie von ihnen zu erben. Ich habe die beiden vor ein paar Jahren bei einem Autounfall verloren. Doch ich sehe sie jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue.«
»Das ist doch schön«, sagte Ashe. »Sie waren sicher ganz wunderbare Menschen.«
»In der Tat. Sie waren immer fröhlich. Meine Großmutter hat zu mir gesagt: ›Du darfst nicht böse gucken. Ein Lachen macht die Welt um so vieles besser. Es ist ein Geschenk, dass du deiner Familie und deinen Freunden immer geben solltest.‹ Und daran hat sie sich auch selbst gehalten. Wenn ich mal nicht fröhlich war, hat sie mich so lange geküsst, bis ich gelacht habe. Manchmal habe ich absichtlich böse geschaut, damit sie mich küsst. Und mit Mama war es auch so.«
Während sie Ashe davon erzählte, stiegen all diese Erinnerungen wieder in ihr auf und machten sie gleichzeitig froh und traurig.
»Das ist wirklich schön. Daran werde ich mich erinnern, und wenn ich einmal Kinder habe, werde ich ihnen den Spruch deiner Großmutter beibringen. Ganz offensichtlich war sie eine sehr weise Frau.«
»Allerdings. Und es würde ihr sicher gefallen, wenn sie wüsste, dass du deinen Kindern von ihr erzählst.«
Evangeline kam zu ihnen und ließ sich auf den Stuhl zu Anias Linken fallen. »Ich muss mich auch mal setzen.«
»Solltest du denn überhaupt arbeiten?«, fragte Ania. »Ich habe gehört, dass du schwanger bist.«
»Da hast du richtig gehört. Und manchmal ist mir auch nicht gut. Wenn du mich also mal schnell nach hinten verschwinden siehst, dann weißt du jetzt, warum.«
»Fjodor ist dagegen, dass sie überhaupt arbeitet«, warf Ashe ein. »Er hat jedes Mal schlechte Laune, wenn er sie hier besucht.«
»Deswegen habe ich ihm für mindestens eine Woche Hausverbot erteilt«, fügte Evangeline hinzu.
»Ich habe versucht, für sie einzuspringen«, sagte Ashe kleinlaut.
Evangeline brach in Gelächter aus. »Sie hätte fast die ganze Backstube in Brand gesteckt. Ashe, sosehr ich dich auch mag: Hilf mir bloß nie wieder beim Backen. Das würde mein geliebtes Café wohl nicht überstehen.«
Ania hob die Augenbrauen.
Ashe zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht kochen. Ich kann nicht backen. Aber Timur liebt mich trotzdem, weil ich andere Sachen richtig gut kann.«
Ania fiel in das Gelächter der beiden Frauen ein. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, Freundinnen zu haben. Dazuzugehören. Sie war ein Familienmensch und verbrachte viel Zeit mit ihrem Vater, vor allem jetzt. Sie waren lange auf sich gestellt gewesen und er brauchte sie. Seine Gesundheit verschlechterte sich rapide, weshalb sie, sooft sie konnte, an seiner Seite war.
Sie führte nun auch das Familienunternehmen für ihn, und obwohl sie Pflegekräfte angestellt hatte, kümmerte sie sich in erster Linie auch darum und würde das niemals aus der Hand geben. All das nahm viel Zeit in Anspruch. Ihr blieb nur wenig für sich selbst, weshalb sie seit der Highschool auch keine Freundschaften mehr gepflegt hatte.
»Evangeline, wäre es nicht trotzdem besser, du würdest nicht arbeiten?«, hakte Ania nach. »Und hört dein Mann denn auf dich, wenn du ihm verbietest hierherzukommen?«