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Ein Mann, eine Frau, ein Verbrechen aus Leidenschaft. Der Architekt Konrad Walbaum entdeckt seine ehemalige Geliebte Carla unter Passanten am Potsdamer Platz. Die Liaison liegt 15 Jahre zurück. Aber kann das wirklich der Grund dafür sein, dass Carla ihn nicht mehr erkennt? Konrad stellt ihr nach, doch Carla bleibt spröde. Über ihr Leben erfährt er nicht viel. Carla hat gute Gründe für diese Zurückhaltung: Sie hat einen Mord auf dem Gewissen und ist dafür ins Gefängnis gegangen. Doch seit sie Konrad wiedergetroffen hat, scheint ihr, als habe sie den Falschen getötet.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2009
Sabine Alt
Vergiss Paris
Roman
Roman
Fischer e-books
I walked into this empty church, I had no place else to go When the sweetest voice I ever heard whispered to my soul I don’t need to be forgiven for loving you so much It’s written in the scriptures It’s written there in blood …
Leonard Cohen: Ain’t No Cure For Love
Als Carla zu der Party ging, wusste sie, dass sie dort auf jenen Mann treffen würde, den sie nie hatte wiedersehen wollen. In ihrer Handtasche befand sich eine Waffe. Sie war klein, schwarz und unauffällig. Und sie war echt.
Carla hielt sich im Hintergrund. Dass sich immer wieder Partygäste zwischen sie und diesen Mann schoben, war ihr nur recht. So konnte sie ungestört seine weiche Artikulation belauschen, die die Worte einzeln durch den Raum trieb, ihr entgegen, von deren Anwesenheit er nichts ahnte. Jedes Mal, wenn das Objekt ihrer Beobachtung den Gesprächspartner und damit den Ort wechselte, geschah dies mit langsamen Bewegungen, zeitverzögert, als spiele man einen alten Film mit der falschen Geschwindigkeit ab. Der verhaltene Tonus, mit dem sich sein Körper durch den Raum schob, bedächtig und gleichzeitig entschieden, verhüllt energisch, bestätigte aufs Heftigste Carlas Vorsatz, diesen Bewegungen ein Ende zu setzen.
Der Mann bemerkte Carla auch später nicht. Verblüffenderweise gelang es ihr, beständig außerhalb seines Blickfelds zu bleiben, vielleicht weil es genügend andere Menschen gab, auf die er seine melancholischen Augen richten konnte. Er flirtete nicht. Er war ernst, gefasst, leise. Wie bei einer Beerdigung, dachte Carla und überlegte, ob er sie vielleicht doch längst entdeckt hatte.
Als sie sich sattgesehen hatte, verließ Carla die Party, grußlos und ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie wartete lange unten im Treppenhaus. Er war einer der letzten Gäste, die die staubigen Stufen hinunterstiegen. Er kam allein und ging wie im Traum. Der Schuss aus der Pistole war leiser, als es sich Carla vorgestellt hatte, aber es gab viel mehr Blut, als sie erwartet hatte. Natürlich hatte sie weglaufen wollen, das perfekte Verbrechen sollte es sein. Wer hatte schon von ihrer kurzen Ehe gewusst? Doch nun lag sein Körper leblos vor ihr am Boden, und Carla war Witwe. Vor dem Tod hatte ihre Ehescheidung keinen Bestand mehr. Carla lief nicht weg. Sie blieb neben dem Toten im Treppenhaus stehen und dachte über das Wort Hinterbliebene nach.
Wie fremd ich aussehe. Ich bin nicht mehr die Frau, die zehn Jahre im Knast gesessen hat. Ich trage einen hellen Mantel und dunkle Stiefel, in denen ich kaum laufen kann, weil sie so hoch sind. Ich habe mich sogar geschminkt. Mit Nadjas Stiften. Ich trage ihre Farben und ihre Kleidung, ich wohne in ihrer Wohnung. Ich kann nicht aus meiner Haut, aber ich kann diese Haut abdecken und zum Verschwinden bringen. Doch was wird mit mir, was wird mit Carla Salina, verschwindet sie auch? Die Menschen auf den Straßen scheinen etwas zu ahnen. Sie sehen mich an, als gehörte ich nicht hierher. In der S-Bahn bietet mir ein Herr seinen Platz an. Ich reagiere verstört. Anstatt gar nicht aufzufallen, falle ich zu sehr auf.
Am Ziel meiner Fahrt, am Potsdamer Platz, gibt es nur gehetzte Touristen und gelangweilte Jugendliche. Die Touristen tragen Rucksäcke und bequeme Schuhe, den Jugendlichen hängen Handys um den Hals, kleine blitzende Geräte, die eine ganze Welt ersetzen und darum an Nabelschnüren befestigt sind. Ich bin nicht bereit für die Stimmen, die Klingeltöne, das Lachen. Und die Motorengeräusche der Autos, Busse, Lastwagen bedrängen und ängstigen mich. Ich flüchte hinter eine der Glasfassaden.
Filmmuseum. Ein leeres Foyer mit dem Geruch nach Papier und Ewigkeit. Auf den Plakaten die Dietrich und zwischen den Postern eine Ruhe, die an Friedhöfe erinnert und mich tröstet. Selbst im Museumsshop flüstern alle, die Cineasten haben die Köpfe gesenkt und blättern schweigend in den Filmbüchern, als wollten sie die toten Schauspieler noch einmal beerdigen. Niemand nimmt Notiz von mir. Nur diese Frau da hinten beobachtet mich. Aber ich bin verkleidet, die Mörderin steckt in einem weißen Mantel, weiß wie die Unschuld. Soll sie mich doch anstarren, denke ich trotzig. Jetzt flüstert sie ihrem Begleiter etwas zu, er hebt den Kopf und sieht ebenfalls in meine Richtung. Doch sein Blick ist leer. Zum Glück, denn ich kenne diesen Mann. Es ist Konrad, den ich schon vor Jahren vergessen haben wollte. Er ist älter geworden, aber der abwesende Blick ist noch derselbe wie damals. Jetzt wendet er sich wieder seiner Begleiterin zu und redet leise auf sie ein. Ich nutze den Moment und fliehe ins Freie, die Straße hinunter, der S-Bahn zu. Ich remple Menschen an und stolpere in den hohen Stiefeln. Es sind nur noch wenige Meter bis zur Rolltreppe, als ich es endlich wage, mich umzusehen. Da ist niemand. Konrad ist mir nicht gefolgt. Konrad hat mich nicht erkannt. Ich sollte mich darüber freuen, dass mein Körper ihm entkommen ist, denn meine Erinnerungen werden dazu nie in der Lage sein.
Der Tag beginnt für Konrad mit einer Verlusterfahrung.
Irina, seine ewig unzufriedene Freundin, zieht ihm im Schlaf die gemeinsame Decke vom Körper. Er friert. Zusätzlich fühlt er sich von Irina bedrängt. Wie soll er ausschlafen, wenn sich unaufhörlich ihr Elfchenkörper an seinen drückt? Im Halbschlaf versucht er, sich an die Zeiten zu erinnern, zu denen er das erotisch gefunden hat.
Vor zwei Jahren, als er Irina kennenlernte, war er gerade fünfzig geworden. Ein Alter, in dem jeder Mann Kinderschänderphantasien entwickelt. Passenderweise lief ihm Irina über den Weg. Sie war klug und hübsch und anhänglich und vorzeigbare fünfunddreißig Jahre alt. Die perfekte Kindfrau. Doch seit einigen Wochen geht ihm ihr Zwergenkörper auf die Nerven. Mit Schuhen einssiebenundsechzig. Irinas ganze Person endet zwei Köpfe unter seiner, und seine Hände, die sie Pranken nennt, können ihr Vogelköpfchen ganz und gar umfassen.
Gesine, Konrads Schwester, macht sich seit Beginn der Liaison darüber lustig. Ihr blankgeputzter Verstand findet immer wieder neue und überaus treffende Bilder für die beiden. Bilder, die naturgemäß wenig schmeichelhaft sind. Konrad vermeidet es seit einiger Zeit, seiner Schwester mit Irina zu begegnen. Folglich sieht er Gesine seltener, und manchmal fehlen ihm ihre Schärfe und ihr klarer Blick.
Er selbst hat nach Nächten wie der letzten immer häufiger Probleme mit der Konzentration. Diese Decke in Irinas Bett, zwei mal zwei Meter, ist eine Zumutung für einen ausgewachsenen Mann, denkt er noch beim Frühstück. Für ihn allein würde sie reichen, aber neben Irina weiß er nie, ob er längs oder quer darunter liegen soll. Und an Schlaf ist nicht zu denken, wenn auch aus anderen Gründen als noch vor wenigen Monaten.
Gesine hat diese Entwicklung natürlich längst vorhergesehen.
Während Konrad wortkarg seinen Kaffee trinkt und an Irinas beleidigter Mine vorbei aus dem Fenster sieht, fragt er sich, warum seine Schwester immer alles durchschauen muss. Oder tut sie nur so und wartet insgeheim auf seine Bestätigung ihrer Thesen? Fehlt denen womöglich ohne diese Bestätigung jeglicher Wahrheitsgehalt? Vielleicht weiß das die kluge Gesine sogar und freut sich heimlich darüber, dass er wie ein tumber Tor immer wieder in ihre Fallen läuft und brav nickt, sobald sie ihm eine ihrer psychopathischen Behauptungen an den Kopf wirft.
»Konrad, verdammt nochmal, warum sagst du nichts? Ich rede mit dir.«
Da ist er wieder, der gereizte Tonfall einer überarbeiteten Stationsärztin, den Konrad an Irina nicht ausstehen kann, und den sie in letzter Zeit nicht mehr loszuwerden scheint.
»Was? Wie bitte? Entschuldige, ich bin ein bisschen unkonzentriert, ich habe schlecht geschlafen.«
»Es ist so schönes Herbstwetter draußen und ich habe das ganze Wochenende frei, wir könnten in Richtung Innenstadt fahren. Zum Potsdamer Platz vielleicht. Und dann ins Filmmuseum gehen.«
»Warum nicht.« Konrad bemüht ein Lächeln.
Sein schnelles Einlenken macht Irina sprachlos.
Eine Stunde später laufen sie unter einer knisternd trockenen Sonne durch Benzinschwaden und vorbei an Touristenpulks auf die Büro- und Hoteltürme des Potsdamer Platzes zu. Konrad hat seine Architektur-Entwürfe im Kopf und lässt Irina plappern. Über das Wetter, den kommenden Winter und die Menschen auf der Straße. Wie einfach es doch ist, sie glücklich zu machen. Es reicht ein Spaziergang nach dem Samstagsfrühstück, eine minimale Abweichung vom Plan, denn am Abend vorher hat er noch angekündigt, den Tag im Büro verbringen zu wollen. Woher soll Irina wissen, dass das, was Konrad gerade zu entscheiden hat, zufällig auch ohne Rechner und Skizzen zu entscheiden ist, dass sein Hirn ein korrekt arbeitender Automat ist, der auch im Schutz des Samstagvormittags mitten im Getümmel brav seine Aufgaben erledigt. Bürostunde unter Menschen. Kugel oder Kubus, es gibt vermutlich unpassendere Orte, um über Architekturkonzepte nachzudenken.
Noch nicht einmal die Touristen stören Konrad. Sie sind nicht mehr als beliebige Figuren jenseits seiner Wahrnehmungsbereitschaft. Obstfliegen am Bildschirmrand.
Bis Irina in drängendem Tonfall sagt: »Jetzt schau doch endlich, Konrad. Genau so einen Wintermantel hätte ich gern. Das ist ja ein Zufall, gerade red ich davon und will dir beschreiben, was mir vorschwebt, und dann kommt diese Frau hier vorbei und trägt es auf dem Leib. Dort drüben, Konrad, hinter dem Büchertisch.«
Längst sind sie im Filmmuseum angekommen. Notgedrungen und mit minimaler Aufmerksamkeit sieht Konrad in die angewiesene Richtung. Wenn Irina jetzt anfängt, außer ihren OP-Plänen auch noch ihre Bekleidungssorgen mit ihm zu verhandeln, sind die Tage ihrer Beziehung gezählt. Aber auch eine Trennung kostet Energie. Und die hat er gerade nicht. Also beschließt Konrad, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Er wirft einen Blick auf helle Wolle, eng geschnitten, eine gute Figur darunter, dazu schwarze Stiefel. Schwarze Stiefel zum weißen Mantel, er stutzt kurz.
»Das ist keine Frau, sondern eine Dame, mein Schatz. Wollen wir’s jedenfalls hoffen.«
Irina lacht. Konrad hört es kaum, denn innerlich ist er schon auf dem Rückweg zu dem Entwurf, zu der Frage Kugel oder Kubus, die blöd ist, wie er sehr genau weiß. Schließlich handelt es sich bei dem neuen Auftrag um die Konzeption einer Gemäldehalle. Es sollen zwar auch Skulpturen hinein, hat der Sammler erklärt, aber nur wenige. Vorwiegend sammle er Bilder. Und die, so sagt sich Konrad immer wieder, sind nun mal nicht rund, sondern gerade, vor allem die Rückfront, warum also sollen sie an gebogenen Wänden hängen?
Trotzdem lässt ihn die Vorstellung eines runden Museums nicht los. Rund wie ein Musikstück, die Fülle des Wohllauts eingemauert in eine perfekte, in die ewige Form.
Konrad ist es gewohnt, sich auf seine Eingebungen zu verlassen. Der Zweifel macht ihn unsicher. Und dann steht seinen Überlegungen plötzlich ein Frauenname im Weg. Carla. Was zum Teufel macht dieses Wort in seinem Hirn? Es hat doch mit dem Museumskonzept nichts zu tun. Wie kommt er überhaupt darauf? Er hat schließlich seit Jahren nicht mehr an Carla gedacht.
Und jetzt ist sie hier.
Oder ist es eine Sinnestäuschung?
Konrad verabschiedet sich von dem Architekturentwurf und schickt seine Augen auf die Suche. Sicher hat er sich getäuscht. Carla hier. Das ist kaum möglich.
»Sag mal, Irina, wo ist sie denn jetzt hin, deine schwarzweiße Dame? Komm, wir suchen sie nochmal, ich will mir ihren Mantel noch einmal genau anschauen, wenn er dir so gut gefällt, dann wollen wir ihn auch studieren, wozu bist du denn mit einem Architekten liiert, und dazu noch mit ebenjenem Architekten, dem man als einzigem diesen fotografischen Blick nachsagt. Wir sollten den Mantel gleich einrastern, Schnitt, Farbe, Struktur und die Silhouette, die vor allem, denn darauf kommt es an bei der Kleidung, ebenso wie beim Gebäude. Und dann suchen wir dir einen Schneider, und dem beschreiben wir das Ganze, und er näht es dir.«
Konrads Blicke gehen ins Leere. Die Frau im Mantel ist verschwunden.
Und Irina ist sprachlos, zum zweiten Mal an diesem Samstag.
Sie heißt Gesine Breitenbach und wird mich auf meinem Weg zurück ins Leben begleiten. Ihre Worte. Meine erste Therapiesitzung. Ob ich ihr etwas über meine Erfahrungen im Knast erzählen wolle? Will ich nicht. Sie schweigt. Ich auch.
Ich mag ihre höfliche Neugier nicht. Aber sie lässt sich nicht provozieren. Das enttäuscht mich. Die Frau reagiert wie eine Gummiwand. Die ganze Welt ist eine Gummiwand. Ich trete dagegen, sie dellt sich ein und dellt sich anschließend wieder aus. Ich war zehn Jahre nicht da und komme zurück. Alle tun, als sei nichts gewesen. Sie wollen mir helfen, verschaffen mir eine Wohnung und einen Job. Die Wohnung verdanke ich Nadja, meiner ehemaligen Kommilitonin, die mir damals Emilio vorgestellt hat und sich seitdem auf rührende Weise mitschuldig fühlt. Und den Job verdanke ich ihrer toten Tante, die Nadja lästigerweise einen schlecht laufenden Antiquitätenladen samt Inventar hinterlassen hat. Natürlich habe ich keine Chance, wieder als Ärztin zu arbeiten. Ich habe den hippokratischen Eid gebrochen. Vorsätzlich. Noch nicht einmal betrunken war ich.
Gesine Breitenbach räuspert sich und reißt mich aus meinen Gedanken. Meine Therapeutin schlägt vor, ich solle ein Tagebuch kaufen und aufschreiben, was geschehen sei. Als ob das so einfach wäre, entgegne ich. Das lässt sie nicht gelten und ereifert sich. Ich solle mir nach dem Kauf des Tagebuches Zeit lassen, das Buch zunächst nur betrachten, es erst später in die Hände nehmen, es begreifen im wörtlichen Sinn. Es zwischen den Händen drehen, mich daran gewöhnen. Dann käme der Tag, an dem ich die Kladde aufschlagen werde. Am besten in der Mitte an einer beliebigen Stelle. Der Griff nach dem Stift werde der Griff sein, der mir die Dinge wieder in die Hand geben werde, die Macht über mein Leben. Warum in der Mitte aufschlagen, frage ich. Das könne die Bedeutung der ersten Sätze mindern. Denn vor und hinter diesen ersten Sätzen werde es etliche freie Seiten geben, Seiten, die es mir erlauben würden, die ganze Geschichte zu erzählen. Später, wenn ich bereit dazu sei. Sagt Gesine Breitenbach. Ich will lachen, aber es klingt wie ein Röcheln. Warum sollte ich das tun? Um zu begreifen, wie gesagt, antwortet sie.
Sehr früh am Samstagmorgen schellt das Telefon in Konrads Apartment. Er fährt aus dem Schlaf und wankt zum Hörer. Obwohl Konrad seine Schwester seit Jahren nicht weinen gehört hatte, erkennt er ihre Stimme noch im Schluchzen. Jetzt hat sie Brustkrebs, denkt Konrad. Oder Mutter ist tot. Es dauert lange, bis Gesine den ersten zusammenhängenden Satz herausbringt. Ein Patient habe sich … nein … habe sie … verklagt.
»Wie konnte es dazu kommen, was hast du getan?«, will Konrad wissen. »Hast du ihn in die Mangel genommen, so wie du mich immer in die Mangel nimmst?«
Genau das ist es nämlich, weiß er plötzlich, sie saugt gewohnheitsmäßig an seiner Seele, bis sie vollkommen leer ist und er sich hohl und gläsern und schutzlos fühlt. Mit ihren Patienten macht sie es vermutlich genauso, und nun hat sich endlich einer gewehrt.
Was er für eine Vorstellung von ihrem Beruf habe, entrüstet sich Gesine. Konrad denkt nicht daran, sich zu entschuldigen. Soll sie sich doch aufregen. Wer sich aufregt, ist ehrlicher. Aber die Strategie hilft nicht. Gesine bricht das Telefonat ab. Auf Konrads Rückruf gibt es keine Reaktion, vermutlich hat sie den Stecker aus der Buchse gezogen. Konrad weiß, sie wird ihm nach einigen Tagen verzeihen und alles erzählen. Keine Psychologin schmollt lange, unmöglich kann sie sich dieses infantile, lächerliche und gänzlich unangebrachte Verhalten zugestehen. Ein Umstand, der für Konrad außerordentlich praktisch ist. Zurück in den Schlaf findet er trotzdem nicht.
Unter der Dusche macht er einen Plan fürs Wochenende. Zumindest Irina wird ihm erspart bleiben. Sie ist mit einer Kollegin in die Sonne gejettet. Konrad hat vergessen, wohin. Spanien vermutlich, es klang banal. Ein paar Tage Entspannung für zwei überarbeitete Ärztinnen. Doch obwohl Konrad sich auf die Irina-freien Tage gefreut hat, ist er jetzt unentschlossen. Ins Büro will er nicht. Joggen wäre gut für die Schwimmringe auf den Hüften, aber er kann sich nicht durchringen. Vielleicht sollte er ein wenig flanieren. Friedrichstraße, Leipziger. Jazz-CDs bei Dussmann kaufen.
Konrad läuft wie aufgezogen. Natürlich bleibt ihm nicht verborgen, wohin die Reise geht. Gut, denkt er, dann eben zum Potsdamer Platz ins Filmmuseum. Er wird zehn Minuten im Foyer herumstehen, oder besser im Museumsshop in einigen Büchern blättern, es wird ihn schon nicht gleich jemand erkennen. Es geht nur darum, dass endlich diese unerwünschte Erregung von ihm abfällt und der Ort sich wieder neutralisiert. Es geht darum, das Gespenst Carla zu vertreiben.
Aber Carla ist widerspenstig. Konrad meint, sie sogar riechen zu können. Pfirsiche und Himbeeren. Die Haare, der Nacken, die Arme. War es ein Parfüm oder ihr Körper? Carlas Scham jedenfalls hat nach Himbeeressig gerochen, dessen ist sich Konrad sicher. Wie hat er es nur so lange ohne diesen Duft aushalten können? Und wem gehört der Duft jetzt?
Diese Frage verwirrt Konrad. Und diese Verwirrung zu spüren, verstört ihn. Er wird sich unglücklich machen. In seinem Alter kommt das Unglück schneller als erwartet, vielleicht weil niemand damit rechnet, weil alle saturiert leben und sich eingerichtet haben. Und wenn es einmal da ist, das Unglück des Alters, wird es sich nicht so leicht abschütteln lassen, es wird länger anhalten als jemals vorher und hässliche Spuren hinterlassen.
Oder könnte so ein kleines Unglück ihn nicht vielmehr wachrütteln und seine Sinne schärfen, ihn möglicherweise sogar verjüngen? Selbst damals, während der gemeinsamen Zeit mit Carla, ist er schließlich nicht immer glücklich gewesen. Manchmal hat er sich insgeheim gewünscht, es möge jemand kommen, ein anderer Mann, und ihn erlösen. Keine Nacht, keinen Tag länger, hat er dann gedacht. Carlas Absolutheitsanspruch war kaum zu ertragen. Und das Unglaubliche war, dass dieser Anspruch jenseits ihrer Eifersucht auf seine kleine Familie existierte. Denn Carlas Eifersucht war grundlos, schließlich arbeitete Konrad damals die ganze Woche in München, wo Carla wohnte, während Ingrid mit Saskia in Berlin lebte. Als Ingrid Konrad kurz nach der Trennung eröffnete, sie wolle mit dem Kind ausgerechnet nach München ziehen, hielt er das für einen schlechten Scherz. Seine Frau konnte einen sehr schwarzen Humor haben. Aber es war ihr Ernst. Vielleicht hatte sie die Geschichte mit Carla schon lange vor diesem verhängnisvollen Abend in Bonn geahnt.
Es war im Sommer vor Saskias Einschulung geschehen. Ingrid und Konrad waren mit dem Kind unterwegs auf dem Weg in die Bretagne gewesen und hatten am Rhein bei Freunden Station gemacht. Während die Erwachsenen sich unterhielten, saß Saskia am Boden und legte vollkommen hingerissen aus Holzbuchstaben Nonsense-Wörter, die ihr anschließend vorgelesen wurden. Jedenfalls dann, wenn das Kind zufällig genug Vokale eingebaut hatte.
Nach und nach fanden die Erwachsenen Gefallen an dem Spiel und vergnügten sich damit, Erklärungen für diese zufälligen Wortschöpfungen zu finden. Einmal legte Saskia so etwas wie TRITFIT oder TRIPFIK. Die Bonner Freunde, beide im diplomatischen Dienst, krümmten sich vor Lachen und erklärten, als Tripfick würde man die Wochentags-Geliebten der Abgeordneten bezeichnen, die aus ihren Wahlkreisen allwöchentlich nach Bonn pendelten. Auf Ingrids Frage, ob der Hang zu diesen Zweitfrauen wirklich so verbreitet sei, antworteten sie, ohne würde es keiner lange aushalten. Ingrids Blick war ihnen entgangen, Kein Wunder, hatte er doch ausschließlich Konrad gegolten. Es hatte eine erschreckend umfassende Einsicht in diesem Blick gelegen.
Wenige Wochen später war Ingrid zum Anwalt gegangen. Konrads Beteuerungen, dass die Affäre mit Carla schon seit Monaten beendet sei, hatten nichts genutzt.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Der junge Mann hinter dem Tresen spricht Konrad von der Seite an. Sein Tonfall ist freundlich, aber in den Augen hinter der randlosen Brille liegt Irritation.
»Danke nein, ich habe nur nachgedacht.«
Hastig verlässt Konrad Museumsshop und Foyer.
Kann es sein, dass er eine geschlagene Viertelstunde neben der Kasse gestanden und Löcher in die Luft gestarrt hat? Kann es sein, dass ihn die Erinnerung an Carla so sehr vereinnahmt, dass er seine Umwelt vergisst?
Durch die Menge der Flanierenden schiebt er sich dem Tiergarten entgegen. Die Kälte zwischen den Bäumen lässt Konrad frösteln, er zieht den Mantel enger über der Brust zusammen. Was wird aus Carla geworden sein? Hat sie ihr Medizinstudium beendet und macht als Ärztin Karriere? Oder ist alles anders gekommen? Nur für die wenigsten hält das Leben bekanntlich, was es einmal jedem einzelnen in die Hand versprochen hat. Wie hoch ist eigentlich die Abbrecherquote bei Medizinstudenten? Und hat Carla nicht immer wieder von irgendwelchen Lernblockaden gesprochen? Damals hat sie in einem Copyshop gejobbt. Vielleicht betreibt sie heute einen eigenen. Oder ein Restaurant, wie ihr Vater. Vielleicht ist es auch nur eine Imbissbude. Pizza to go. Den ganzen Tag hinter dem Tresen und am Abend mit geschwollenen Füßen ins Bett. Vielleicht hat sie den falschen Mann geheiratet. Und ist jetzt unglücklich. Unglück macht hässlich.
Konrad ist froh darüber, dass die Frau, die er gesehen hat und für Carla zu halten geneigt ist, so attraktiv auf ihn gewirkt hat. Und wenn sie es doch nicht gewesen ist? Er hat Carla seit fünfzehn Jahren nicht getroffen, da ist ein Irrtum leicht denkbar. Außerdem ist seiner Erfahrung nach immer nur das wahr, was man auch bereit ist zuzugeben. Und die Frau im Mantel hat Konrad noch lange nicht zugegeben.
Er beschließt, den Eindruck dieser ungewöhnlichen Begegnung seinen Erinnerungen hinzuzufügen, ohne dessen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Er wird nicht so dumm sein, das allzu verführerische Bild zu zerstören.
Der Vorsatz hält keine halbe Stunde. Als Konrad den Tiergarten verlässt, sind es noch wenige hundert Meter am Ufer der Spree entlang, dann empfängt ihn das Foyer des Penthouseblocks, in den er sich eingekauft hat. Luxuriöse Lofts mit Blick aufs Wasser, citynah und sündhaft teuer. Wer hier wohnt, hat den Sprung in die Berliner Upperclass geschafft.
Konrad steigt aus dem Lift und sperrt die schwere Tür zu seiner Wohnung auf. Noch im Mantel fährt er den Rechner hoch und greift zum Telefon. Die Auskunft kann ihm nicht weiterhelfen, national und international: Fehlanzeige, keine Carla. Auch im Internet gibt es keinen Eintrag. Jedenfalls nicht unter ihrem Mädchennamen. Vielleicht hat sie geheiratet und den Namen gewechselt. Oder sie lebt unterhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Wahrscheinlich wohnt sie nicht in Berlin. Dann ist sie nur zufällig hier gewesen und längst wieder fort.
Wie ein Mantra wiederholt Konrad diese Überlegungen. Sie helfen ihm übers Wochenende. Er arbeitet den Sonntag durch und freut sich schon am Abend auf den Büroalltag der nächsten Woche. Noch nicht einmal die Berge von Post, die wie jeden Montag seinen Schreibtisch überfluten, stören ihn. Nur dass der neue Auftrag sich bereits herumgesprochen hat, ist misslich. »Walbaum und Menzel« entwerfen ein Museum für Gegenwartsmalerei. Der Tagesspiegel will möglichst schnell ein Interview bringen, das ist zwar schmeichelhaft, aber was sollen Wiebke und er denen erzählen? Danke für das Interesse, bitte fragen Sie in zwei Monaten noch einmal nach, dann haben Frau Menzel und ich uns vielleicht über das Konzept geeinigt. So kann niemand mit den Medien umgehen. Also stimmt Konrad einem schnellen Interview-Termin zu.
Die Dame vom Tagesspiegel kommt noch am selben Nachmittag. Sie ist jung, attraktiv, hochprofessionell und empfänglich für Schmeicheleien. Es fällt Konrad nicht schwer, sie zu loben. Bald wird aus dem Gespräch eine Plauderei. Die Journalistin entspannt sich und schaltet ihren Recorder aus. Sie sind allein im Büro, Wiebke hat sich entschuldigt, sie liegt mit einer Angina im Bett. Nach zwei Stunden erhebt sich die junge Frau zögernd, das übliche »Vielleicht sieht man sich mal wieder«, kommt deutlich fragend aus ihrem Mund und ist von einem hoffnungsvollen Blick aus Rehaugen begleitet. Ein verführerischer Köder, dem Konrad nicht widerstehen kann. Er zückt eine Visitenkarte, nicht die vom Geschäft, sondern die private, unterstreicht die E-Mail-Adresse und wirft auf die Rückseite mit fliegenden Buchstaben Carlas Namen hin. Carla Salina. Es wundert ihn, wie selbstverständlich sich der Name schreibt. Nach so vielen Jahren. Insgeheim sieht er Dutzende von Briefumschlägen vor sich, seine eigenen mit ihrer Adresse auf der Frontseite und ihre Antworten, immer nur mit diesen Initialen auf der Rückklappe:
C. S. in Carlas elegant-schlanker Handschrift.
Natürlich schaut die Journalistin sofort die Rückseite der Visitenkarte an. Sie ist naiv genug, um auf ein Date zu hoffen. Den fremden Frauennamen kommentiert sie mit einem nervösen Husten.
Und mit der kühlen Frage: »Was soll das bedeuten?«
Konrad bittet sie, im Abonnentenverzeichnis ihrer Zeitung zu recherchieren, natürlich nur, falls das möglich sei. Erzählt etwas von einem dreißigjährigen Abiturjubiläum und einer Mitschülerin, der letzten, die auf der Einladungsliste fehle und nach der eine ganze Klasse fahnde. Die Journalistin weist ihn nicht nur aus Datenschutz-Gründen zurecht. Was er sich vorstelle? Und ob er ihr die Karriere ruinieren wolle, bevor sie richtig begonnen habe? Konrad bemüht sich um eine charmante Antwort, doch der Abschied ist frostig. Wahrscheinlich liegt seine Karte längst im nächsten Müllkasten.
Konrads Bürohaus hat keinen Pförtner, »Walbaum und Menzel« steht am Türschild, gegenüber ist ein Coffeeshop. Konrad kommt nicht vor zehn ins Büro. Aber welche der vielen Frauen, die zwischen acht und elf das Gebäude betreten, ist seine Partnerin Wiebke Menzel? Im Verlauf der letzten Woche ist es mir nicht gelungen, das herauszufinden. Allerdings weiß ich inzwischen, dass Konrad ein berühmter Architekt geworden ist. Das Büro in Mitte arbeitet für internationale Auftraggeber. Die Entwürfe werden in den großen Zeitungen besprochen.
Jetzt ist es kurz vor neun am Morgen. Der Briefträger stellt auf dem Bürgersteig gegenüber sein Fahrrad ab und verschwindet im Nachbarhaus. Ich lasse meinen Milchkaffee stehen, werfe zwei Euro auf den Tisch, laufe aus dem Coffeeshop, überquere die Straße und ziehe so unauffällig wie möglich die Post für »Walbaum und Menzel« aus dem Gepäckkorb des Rades. Ich klingle an der Eingangstür des Bürogebäudes und drücke die Tür auf, als es summt. Ich darf nicht nachdenken, und ich muss mich beeilen. Ich nehme die Treppe und nicht den Fahrstuhl. Seit meiner Zeit im Knast kann ich die engen Kabinen nicht mehr ertragen.
Wiebke Menzel steht schon in der Bürotür. Eine schmale Person mit zu großer Nase und sanftmütigen Augen. Schön ist sie nicht. Ich behaupte, die Urlaubsvertretung des Briefträgers zu sein. Der Hausbriefkasten sei mit Werbeprospekten verstopft. Wann habe ich mir das überlegt? Ich weiß es nicht.
Während Konrads Partnerin sich noch dafür bedankt, dass ich die Post die Treppe hinaufgebracht habe, läutet hinter ihr im Büro das Telefon. Eine Sekretärin scheint es nicht zu geben, denn die Menzel entschuldigt sich und nimmt das Gespräch an.
Ich bleibe allein im Vorzimmer zurück, von dem drei Türen abgehen, eine zum WC, hinter der zweiten telefoniert Wiebke Menzel, und hinter der dritten wird Konrads Büro liegen. Die Tür ist nur angelehnt, ich stoße sie auf.
Das Chaos auf dem Schreibtisch, Briefstapel, Bildbände, Computerausdrucke auf einer dicken Glasplatte, der Geruch nach Klebstoff und Pappe kommen mir sehr vertraut vor. Vor dem Fenster steht halbfertig das Modell eines windschiefen Gebäudes. Daneben liegt das Teppichmesser, mit dem Konrad die Pappe zuschneidet. Scharfe Klinge, orangefarbener Griff. Ich könnte schwören, dass es immer noch dasselbe Messer ist wie damals. Ich nehme es in die Hand. Es ist, als würde ich Konrad berühren. Im Nebenraum nähert sich das Telefonat seinem Ende. Abschiedsfloskeln werden ausgetauscht. Ich schließe leise die Bürotür von innen und schiebe einen der Papierstapel auf dem Schreibtisch zur Seite.
Ein Teppichmesser ist kein Glasschneider und auch kein Skalpell, aber mit ein wenig Druck kann man allerhand ausrichten.
Als Wiebke Menzel ihr Telefonat beendet hat, stehe ich schon wieder in der Diele. Sie blickt mich fragend an. Ich erkläre, ich habe die Eingangstür nicht offen stehen lassen wollen und darum auf sie gewartet. Es könne doch sonst jeder ins Büro laufen und etwas stehlen. Sie lächelt fast gerührt und bedankt sich noch einmal. Zehn Minuten später kommt Konrad, aber da sitze ich schon wieder im Coffeeshop.
»Konrad und die Quadratur des Kreises«, höhnt Wiebke. »Sieh doch endlich ein, dass wir es uns unnötig schwer machen, wenn wir ein kugelförmiges Gebäude vorschlagen.«
»Wieso schwer? Kugel und Kubus, das liegt förmlich in der Luft, man kann es riechen, fühlen, schmecken, gerade hier in Berlin nach dem Kanzleramtsbau.«
»Tut mir leid, aber ich kann dein Konzept nicht nachvollziehen.«
»Du bist doch sonst nicht so phantasielos. Nichts füllt einen quadratischen Kubus so perfekt aus wie eine Kugel. Und gibt es nur sie, so wird der Würfel, der sie umhüllen könnte, automatisch mitgedacht.«
Konrad wippt mit seinem Drehstuhl, Füße auf dem Schreibtisch. Wiebke sitzt ihm gegenüber zwischen Strichskizzen, Polaroids, Kaffeetassen und Bildbänden auf der Glasplatte.
»Konrad, wir kennen uns jetzt seit über zehn Jahren … «
»Genau. Und ich will weiß Gott mit niemandem sonst zusammenarbeiten. Also warum bist du plötzlich so dickköpfig?«
»Weil du seit einigen Tagen nur unzusammenhängendes Zeug redest. Du solltest mal ausspannen. Hast du dir meinen Alternativ-Vorschlag für den Bau überhaupt angesehen?«
»Diesen liegenden Kamm? Natürlich habe ich. So ein Bau ergäbe mehr Wandfläche als meine Kugel, das gebe ich zu … «
»Pass auf, ich mache dir einen Kompromissvorschlag. Wir biegen meinen Kamm zum Kreis.«
»Mit den Zacken nach außen wird das Museum aussehen wie ein Stachelbällchen.«
»Oder wie der Flughafen Tegel. Aber solange der Bauherr zufrieden ist und nicht nach den Energiekosten fragt, soll es uns recht sein.«
Konrad schweigt und nickt. Plötzlich empfindet er sich als Wiebkes Konkurrent. Das ist noch nie vorgekommen, schließlich war sie seine Schülerin. Und er hat sie nicht ohne Grund zur Partnerin gemacht. »Walbaum und Menzel«, der Name gilt einiges in Architektenkreisen. Und wenn ihm auch nur das Geringste daran liegt, dass das so bleibt, dann sollte er sich jetzt aufs Wesentliche besinnen. Kubus, Kugel oder Kamm, darum geht es. Und diese schwarzen Stiefel, die ständig durch sein Hirn spazieren, sollen sich gefälligst andere Wege suchen. In seinem Leben ist kein Platz für sie.
Als das Telefon schellt, beugt sich Wiebke weit nach vorn, angelt nach dem Hörer, hält ihn an ihr Ohr und verdreht wortlos die Augen. Noch halb im Liegen reicht sie das Telefon an Konrad weiter, der Irinas Stimme schon auf halbem Weg erkennt.
»Du schaffst es noch nicht einmal, mich nach dem Urlaub vom Flieger abzuholen, so groß ist deine Sehnsucht nach mir. Gut, dass ich das jetzt weiß.« Die Tonlage schraubt sich hinauf, bis der letzte Satz in einem Crescendo endet.
Wiebke lächelt schadenfroh und stößt sich von der Tischplatte ab, um sich wieder aufzurichten. Dann geschieht alles gleichzeitig. Die Platte bricht. Glas splittert, Blut spritzt. Wiebke stürzt auf den Teppichboden.
Konrad wirft das Telefon in eine Ecke, ohne ein einziges Wort gesagt zu haben. Wiebke streckt ihm stumm ihre blutenden Hände entgegen. Als Konrad sie vorsichtig an den Handgelenken hochzieht, bohren sich unter seinen Schuhsohlen knirschend die Splitter der Schreibtischplatte in den Teppichboden. Es erstaunt Konrad, wie schwer Wiebkes graziler Körper ist. Sie kann nicht stehen und knickt sofort wieder weg, sodass er unter ihre Achseln greifen muss, um sie auf das Sofa neben dem Fenster zu setzen. Dort hängt sie wie ein verblüffter Junkie, der aus einem Horrortrip auf ein Designersofa geschleudert worden ist, und sagt kein Wort. Aus ihren zerschnittenen Händen tropft Blut aufs Leder. Aus dem Telefon kreischt Irina.
Konrad wird übel. Er geht zum Fenster, öffnet es und saugt die Luft ein. Kälte, Feuchtigkeit, der Geruch nach Heizung, Abgasen und faulenden Blättern vom Tiergarten.
Wiebke auf dem Sofa winselt. Irina in der Ecke verstummt.
Konrad atmet noch einmal tief durch, dann untersucht er Wiebkes Hände. Es scheinen oberflächliche Schnitte zu sein, es quillt zwar Blut heraus, aber gleichmäßig und langsam, weder schwallweise noch pulsierend. Die Hauptschlagadern sind nicht betroffen, die Schnitte vorwiegend in den Innenhandflächen. Trotzdem ruft Konrad die Feuerwehr. Er hat Wiebke noch nie so blass gesehen. Der Mann am Telefon verspricht, sofort einen Notarztwagen zu schicken. Der Wagen kommt nach siebzehn Minuten. In dieser Zeit, überlegt Konrad, wäre Wiebke bei einem anderen Unfallhergang längst verblutet.