Gretas Verwandlung - Sabine Alt - E-Book

Gretas Verwandlung E-Book

Sabine Alt

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mallorca kann sehr kalt sein York und Greta fehlt es an Geld. Da ist das Angebot des vermögenden Roland verlockend, den Sommer in seiner Villa zu verbringen. Doch anstelle der erwarteten Idylle emfängt die beiden ein Rätsel. Überall treffen sie auf Spuren einer mysteriösen Frau. Wer ist sie? Wo hält sie sich auf? Lebt sie überhaupt noch?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sabine Alt

Gretas Verwandlung

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Mallorca kann sehr kalt sein

 

York und Greta fehlt es an Geld. Da ist das Angebot des vermögenden Roland verlockend, den Sommer in seiner Villa zu verbringen. Doch anstelle der erwarteten Idylle emfängt die beiden ein Rätsel. Überall treffen sie auf Spuren einer mysteriösen Frau. Wer ist sie? Wo hält sie sich auf? Lebt sie überhaupt noch?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

And then I cliffhang--

I

Montag: Die Bucht

Montag: Die Yacht

Montag: Das Haus

Dienstag: Der Jeep

Dienstag: Das Dorf

Dienstag: Der Pool

Dienstag: Der Berg

Dienstag: Das Zimmer

Dienstag: Der Schrank

Dienstag: Der Grill

Mittwoch: Die Schuhe

Mittwoch: Die Farben

Mittwoch: Das Fenster

Mittwoch: Das Bild

Donnerstag: Die Villa

Donnerstag: Die Straße

Donnerstag: Das Meer

Donnerstag: Der Ring

Donnerstag: Der Dieb

Donnerstag: Die Hand

Freitag: Das Gitter

Freitag: Die Kammer

Freitag: Die Dusche

Samstag: Der Gast

Samstag: Der Schatten

Samstag: Die Sonne

Samstag: Das Büfett

Sonntag: Der Morgen

Sonntag: Die Wand

Sonntag: Das Porträt

Sonntag: Die Kleider

II

Erste Woche: Der Vertrag

Zweite Woche: Die Stacheln

Zweite Woche: Das Zeichen

Zweite Woche: Die Leiter

Dritte Woche: Der Stein

Dritte Woche: Das Foto

Vierte Woche: Die Spuren

Vierte Woche: Das Blut

Vierte Woche: Die Fremde

Vierte Woche: Der Wein

Vierte Woche: Die Klinge

Fünfte Woche: Die Puppe

Fünfte Woche: Die Hose

Fünfte Woche: Der Kuss

Fünfte Woche: Die Nacht

Fünfte Woche: Der Schrei

Fünfte Woche: Das Messer

Fünfte Woche: Die Drohung

Fünfte Woche: Das Lied

Epilog: Die siebente Woche

And then I cliffhang--

Death is below and I know it.

And I know that I shall pass

Through this crazy looking-glass

To a world no less deranged but more constructive.

 

Patricia Highsmith: The Mobile Heart

I

Sieben Tage

Montag: Die Bucht

Die Insel hatte seit April keinen Regentropfen mehr gesehen, und jetzt war Juli. Tag für Tag dorrten die Sträucher und Bäume in der trockenen Hitze, längst war das saftige Grün, das die Hügel im Frühjahr getragen hatten, ausgeblichen. Doch hier, in der engen Schlucht, die nur auf einem schmalen gewundenen Weg zu erreichen war, störte das nicht.

Neben und hinter Greta gab es nichts als Klippen und Steine. Und vor ihr lag das weite, türkisblaue Meer. Eine feuchte Hitze nahm den Klippen alle Farben und hängte ihren dunstigen Mantel über die Felsen. In vollkommener Symmetrie rahmten sie das Meer. Am Horizont gingen Wasser und Himmel ineinander über, als seien sie Farbschleier auf einer ungrundierten Leinwand. Oben befand sich ein fast weißes Grau, das sich sinkend mit Blautönen mischte und auf Höhe des Horizonts ein smaragdenes Grün aufnahm, körnig durchsetzt mit türkisfarbenen Tupfen, die wie Kiesel oder wie Töne über das Wasser hüpften, auf- und abschwellend im Gleichklang mit dem Lachen der spanischen Kinder und den gurgelnden Rufen der jungen Männer, von denen die Bucht widerhallte. Ab und zu sprang blubbernd ein Motorboot an, nahm Fahrt auf und verließ die Bucht. Greta, deren Blick unter gesenkten Lidern hindurch auf das spiegelnde Wasser gerichtet war, verfolgte träge den Weg der Boote und ließ sich zu ausgedehnten Tagträumen animieren.

Es half ihr, den Hunger zu vergessen.

Vielleicht war es aber auch so, dass der Hunger der letzten Tage sie in eine Art Trance versetzt hatte, in einen Zustand, der es ihr erlaubte, schneller und geübter als sonst mit dem Schiff ihrer Phantasie über den Ozean der Möglichkeiten zu pflügen. Greta wollte das gern glauben. Es klang besser – vor allem interessanter – als die Wahrheit, nämlich dass ihr während der Fahrt über die Insel das Geld ausgegangen war und sie sich seit Tagen von Weißbrot und Orangen ernährte.

Das Brot griff sie sich im Vorbeigehen aus den Körben auf den Tischen des Strandrestaurants – nachdem die Gäste gegangen waren und bevor die Kellnerinnen, glücklicherweise alle von trägem Gemüt, die Speisereste abgeräumt hatten. Die Orangen stahl Greta nachts in den Gärten. Wasser gab es auf jeder Restauranttoilette, und bisher hatte sie das spanische Leitungswasser gut vertragen. Am Abend, wenn in der Strandbar Hochbetrieb herrschte, schlich sie sich mit einer großen Plastikflasche in die Toilette hinter der Küche und füllte einen Vorrat für die Nacht ab.

Solange die Nächte warm waren, schlief Greta auf der Terrasse eines noch nicht fertig gestellten Hauses an der Spitze der Klippe. In abenteuerlicher Weise hatte man es ebenso wie die drei Nachbarhäuser an die Felswand gesetzt, offenbar, um sie an regelmäßig wechselnde Feriengäste zu vermieten, an befreundete Paare oder Familien mit mehreren Kindern. Es war Hochsaison und alle Häuser waren bewohnt. Nur Gretas heimliches Domizil, das vierte und letzte in der Reihe, stand leer. Zwar waren die Wände aufgemauert, das Dach gedeckt, die Fenster eingesetzt und die Terrassen gefliest. Doch das Fehlen von Pflanzen in den Bruchsteinkästen, fest zugehakte Fensterläden und eine unfertige Außentreppe ließen Greta daran zweifeln, dass es sich um ein eifrig betriebenes Projekt handelte.

Niemand schien sich für das Haus zu interessieren, und niemand hatte Greta in den letzten Tagen in ihrer provisorischen Behausung aufgestört oder ihr weniges Gepäck bemerkt, das den Tag über unbeaufsichtigt auf der Terrasse zurückblieb. Denn gewöhnlich wartete Greta bis zur Dämmerung, bevor sie ihre Schlafstätte aufsuchte. Zu groß wäre die Gefahr der Entdeckung gewesen, hätte Greta es gewagt, unter den neugierigen Blicken der anderen Feriengäste die steile Treppe zum Haus zu erklimmen.

Jetzt war hoher Mittag, und die Bucht bot wenig Schatten. Wieder überließ sich Greta der Verführungskraft der Wasserspiegelungen und dem wollüstigen Brennen, das die Hitze auf der Haut erzeugte.

Weiter draußen auf dem Meer, dort, wo die Felsen zu beiden Seiten der Bucht ihre Nasen einander näherten, erschien eine Yacht. Schwerfällig schob sie sich um die Felskante herum und blieb genau in der Mitte des Panoramas stehen, als sei ihr schnaufend der Atem ausgegangen. Greta hatte vorzügliche Augen, sie sah Dinge, die andere nicht wahrnehmen konnten, und die Dinge, die auch andere erkennen konnten, sah Greta schärfer als sie.

Auf dem Deck der Yacht unterschied Greta die Silhouetten zweier Männer und einer Frau. Einer der beiden Männer ging leicht gebückt, er war schon älter und bewegte sich längst nicht so schnell und grazil wie der zweite, dessen schmaler, hoher Körper scharf vor der Sonne stand. Das Alter der einzigen Frau an Bord konnte Greta nicht schätzen, die weibliche Gestalt war in wehende helle Gewänder gehüllt, die ihr etwas Unwirkliches gaben, einen Hauch von Märchen vielleicht. Greta stellte sich eine gute Fee vor, aber im gleichen Augenblick holte die Frau auf der Yacht zu einer ganz und gar unfeenhaften Gebärde aus, streckte einen Arm nach hinten und ließ ihn sofort zurückschnellen, sodass ihre Hand den jüngeren der beiden Männer mitten ins Gesicht traf.

Eine Stille entstand, als habe ein Gott alle Bewegungen gestoppt.

Der ältere Mann starrte die Frau an, die Frau starrte den jüngeren an, der seinerseits über das leicht gekräuselte Wasser bis zur Bucht blickte, womöglich die Entfernung maß und dann die wenigen Meter Distanz den steinigen Strand hinauf bis zu Greta abschätzte. Ihr schien es, als sehe er ihr direkt in die Augen.

Der Hunger war schuld an dieser Einbildung, vielleicht auch die Erschöpfung, oder einfach nur die Sonne, das wusste Greta selbst. Wie von allein fand ihre Hand den Weg zum Mund. Was sie tat, hatte mit Hunger wenig zu tun, aber es tröstete Greta, sich das Gegenteil einzureden. Sie hatte scharfe Zähne, und ihre Zähne kannten die Stellen, wo es am meisten schmerzte.

Die Haut riss auf. Zuerst am unteren Nagelbett, wenig später auf den Seiten. Als diese winzigen Blutperlen seitlich der Fingernägel erschienen, wünschte Greta, sie hätte sich beherrscht. Aber vorher war der Drang zu zupfen, zu knabbern, zu beißen nicht zu unterdrücken gewesen. Nun tat es ihr Leid. Beschämt leckte sie das Blut von der verletzten Haut. Dann hob sie ihren Blick.

Es war, als habe die Zeit stillgestanden. Die Yacht, die Felsen, das Wasser, alles war gleich geblieben. Eine Ansicht für die Ewigkeit, dachte Greta, ein Gemälde der Natur, konserviert in der Mittagshitze.

Doch plötzlich kam Bewegung in das Bild. Der junge Mann sprang mit einem eleganten Kopfsprung von der Yacht ins Wasser, wo er unverzüglich zu kraulen begann. Er warf nicht einen einzigen Blick zurück zu dem Schiff, von dem ihn jeder seiner Schwimmstöße entfernte. Das Paar an Deck regte sich zunächst nicht. Dann begannen beide gleichzeitig zu rufen und zu winken, aber der Schwimmende reagierte nicht. Schließlich schallte ein dumpfes Hupen über das Wasser, drei langgezogene, monoton tiefe Töne, die klangen wie das Seufzen eines Wals. Der Schwimmer ließ sich nicht beirren.

Als er aus dem Wasser stieg, nur wenige Meter von Greta entfernt, warf die Yacht ihre Motoren an und setzte die Fahrt fort. Das Schiff ist nur gekommen, um den Jungen zu mir zu bringen, dachte Greta und richtete sich auf. Ihr war schwindlig und sie musste einige Male tief durchatmen, um ihren Kreislauf zu stabilisieren. Aber sie ließ den Ankömmling nicht aus den Augen. Schwankend stand er auf den Kieseln und schüttelte das Wasser vom Körper. Dann sah er sich um. Langsam, bedächtig. Greta stand auf und ging zu ihm. Ihre zerstörten Hände versteckte sie auf dem Rücken.

»Hallo. Ich habe dich beobachtet.«

Er atmete tief durch, aber es kam keine Antwort.

»Verstehst du mich überhaupt? Sprichst du Deutsch?«

»Das schon. Aber ich bin ein bisschen außer Puste. Hab mir gleich gedacht, dass mich alle hier beobachten.«

»War keine schlechte Vorstellung. Fast filmreif.«

Er lachte kurz und hart. »Danke. Ich bin auch ziemlich fertig. Hast du vielleicht was zu trinken?«

»Komm mit.«

Als Greta den schmalen Felsweg zu ihrer provisorischen Bleibe hinaufstieg, hoffte sie inständig, dass niemand sie und den jungen Mann, der ihr schweigend folgte, beobachten möge. Doch kaum hatten beide die Terrasse hinter dem Haus erreicht, war er zu Gretas Überraschung nicht mehr am Wasser interessiert, sondern kletterte weiter die Klippe hinauf. Greta folgte ihm über wacklige Steine und felsige Abhänge. Und als sie ihn endlich eingeholt hatte, eine reglose, wie erstarrt wirkende Gestalt auf der Spitze der Klippe, sah auch sie, was er fassungslos zu begreifen suchte: Die Yacht war weg.

Greta kniff ihre Hochleistungsaugen zusammen, konnte aber allenfalls einen unscharfen Schatten seitlich des nächsten Landvorsprungs erkennen. Vielleicht war es das Schiff, vielleicht auch nicht. Kurze Zeit später war auch dieser Schatten verschwunden.

Montag: Die Yacht

Das Klatschen der Wellen an die Seitenwand seiner Kabine hatte York geweckt. Die Erinnerung an den Streit vom Vortag war sofort da, und als York entsprechend schlecht gelaunt an Deck erschien, gönnte ihm der Vater keinen Gruß. Schweigend steuerte er das Schiff an einem beeindruckenden Felspanorama entlang. Die See war ruhig, der Fahrtwind kühlte, die Vormittagssonne wärmte. Aber niemand schien ein Auge für die paradiesischen Umstände zu haben. Die Mutter musterte York wortlos über den Rand ihrer Tasse hinweg. Der Vorwurf in ihrem Blick war nicht zu übersehen. Sie war wie immer in ihre wehenden Gewänder gehüllt, lehnte in einer Ecke der gepolsterten Sitzbank und trank ihren Gesundheitstee. Zwei Liter in einer Stunde, dreimal am Tag. Angeblich der Garant für eine straffe, faltenfreie Haut, die aber seit Jahren niemand zu sehen bekam. Natürlich äußerte sich Yorks Vater nicht zu diesem Thema, aber zuweilen sprachen seine Blicke Bände.

York zog sich aus, langsam und provokant, er wusste, dass die Mutter ihn beobachtete. Mit der Suche nach seiner Badehose ließ er sich Zeit, bis die Mutter aufstand, sie aus dem Teakholzschrank nahm, in dem die Badesachen schon immer aufbewahrt wurden, und ihm die Hose zuwarf. York schlüpfte hinein und legte sich aufs Vorderdeck. Er schloss die Augen und dachte an den vergangenen Abend.

Es war wieder einmal um seine Zukunft gegangen. Kaum hatte er – mühsam und im zweiten Anlauf – das Abitur geschafft, wollten ihn seine Eltern in ein Jurastudium hetzen. Ausgerechnet Jura, hatte er gesagt, aber nach einer nervtötenden Diskussion voller Vorwürfe zugeben müssen, dass er an anderen ernst zu nehmenden Fächern ebenso wenig interessiert war. Wie er sich denn sein Leben vorstelle, hatten die Eltern wissen wollen. Auf das Erbe müsse er leider noch eine Weile warten, sie gedächten nicht, vor der Zeit abzutreten. Sie waren zynisch geworden, vor allem der Vater. York hatte zu viel getrunken und gegen Ende der Diskussion in ohnmächtiger Wut eine halb volle Weinflasche über Bord geschleudert. Seine Mutter hatte ihm Umweltverschmutzung vorgeworfen, der Vater die Verschwendung des Weins. Er war immer noch wütend und würde heute kein Wort mit York wechseln. Der Alte war stur, er konnte diese Taktik tagelang durchhalten, übrigens auch Yorks Mutter gegenüber.

Aber hier vorn am Bug war nichts von seiner mürrischen Anwesenheit zu spüren. York schloss die Augen, fühlte den Wind auf der Haut, in jeder Pore, an jedem Härchen. Er hatte nach dem Duschen noch einen Rest Dope in seinem Kulturbeutel gefunden. Was seine Eltern wohl sagen würden, wenn sie erführen, dass er ungern ohne die eine oder andere Prise unterwegs war? Oder wenn sie wüssten, was er für seine Zukunft wirklich plante. Autorennen fahren, ein wilder Maler werden – so stellte sich York sein Leben vor. Die Spießernummer würde er ganz bestimmt den anderen überlassen.

Im Heck redeten die Eltern miteinander. York verstand den Sinn der Worte nicht, nur ihr Klang drang zu ihm. Der Vater sprach in kurzen, abgehackten Sätzen. Er hatte noch nie Widerspruch geduldet. Die Mutter antwortete in ihrer verschliffenen Diktion, sie war in Frankreich erzogen worden und kultivierte das fremde Idiom auch im Deutschen. Immer wieder fiel ihr der Vater ins Wort. Ein einzelner, entschiedener Ausruf von ihm beendete schließlich das Gespräch. York stellte sich vor, wie der Vater basta! sagte oder Schluss jetzt! und mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett seiner Yacht schlug.

Langsam setzte York sich auf. Die bunten Bilder auf den Wellen verblassten eins nach dem anderen. Das Dope war zu wenig zum Träumen und zu viel zum Denken gewesen. Unschlüssig stand er auf und ging mit schwankenden Schritten nach hinten. Seine Mutter schaute ihm mit diesem Du-musst-jetzt-ganz-stark-sein-mein-Junge-Blick entgegen, den er hasste. Sie selbst war schwach und feige, war es schon immer gewesen. Der Vater sah ihm direkt in die Augen, fixierte ihn finster. Es war unwahrscheinlich, dass ihm das leichte Schwanken in Yorks Schritten entging. Und er war sicher nicht so naiv, das Schwanken auf das minimale Schlingern des Schiffes zurückzuführen.

Bevor der Vater seinen Beschluss verkünden konnte, ergriff York das Wort.

»Ihr wolltet doch wissen, was ich mir für mein Leben vorstelle.«

Schweigen.

»Wie wär’s mit Rennfahrer? Ich würde Autorennen fahren.«

Die Eltern blickten ihn an, als habe er den Verstand verloren.

»Oder Maler. Ich könnte mich auf der Kunstakademie bewerben. Ich habe im Internat viel über Farben und Formen gelernt. Auch Handwerkliches. Mein Kunstlehrer war der Einzige, den ich …«

Die Mutter sprang von der Bank auf, ihre Gewänder flogen. Der Vater öffnete den Mund, um loszutoben. York unterbrach seine Rede und setzte das überlegene Grinsen auf, von dem er wusste, dass es den Alten zum Ausrasten brachte. Aber der Vater beherrschte sich. Noch. Mit kontrollierter Stimme verkündete er:

»Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich habe beschlossen, dass …«

»Halt’s Maul, du Wichser.«

York war noch nicht einmal laut geworden, doch der Effekt seiner Worte war verblüffend. Dem Vater fiel die Kinnlade herunter, mit offenem Mund glotzte er wie ein Fisch, der unversehens gegen die Aquariumscheibe geprallt war. Die Mutter hatte bessere Reflexe. Sie holte aus und versetzte ihrem Sohn eine Ohrfeige. York konnte sich nicht erinnern, jemals von ihr geschlagen worden zu sein. Vom Vater übrigens auch nicht. Aber jetzt hatte die Mutter ihre ganze Kraft in den Schlag gelegt, und die Wucht des Aufpralls musste das restliche Dope in Yorks Hirn mobilisiert haben. Er fühlte das unwiderstehliche Bedürfnis, die Richtung dieses Schlages fortzusetzen. Irgendetwas in ihm drängte seinen ganzen Körper zur Seite, über die Reling, der Küste zu, die sich, wie er jetzt erst sah, in einer verführerischen Bucht öffnete. Ohne nachzudenken, sprang er über Bord.

Montag: Das Haus

Der Saft der Orangen lief über Gretas Finger, er brannte in den Wunden und würde sie am Verschorfen hindern. Wenn sie mit den schmerzenden Händen eine der Fruchtspalten zum Mund führte, neutralisierten sich die Wahrnehmungen. Der Schmerz an den Nagelbetten entsprach in seiner Intensität dem Genuss, den es Greta bereitete, die prallen Kammern der Orangenstücke zwischen den Zähnen platzen zu lassen. Und wenn die herbe Süße der Früchte ihre Mundhöhle vollständig ausfüllte, überwog die Wollust und ließ sie das Brennen der verletzten Haut für Sekunden vergessen.

Längst hatte Greta es aufgegeben, die Verstümmelungen rund um ihre Fingernägel vor York verbergen zu wollen. Zu mühsam wäre es gewesen, beim Klettern entlang der Felskante auf die Zuhilfenahme der Hände zu verzichten. Und zu verlockend war die Hilfestellung, die Yorks bereitwillig hingestreckte Hände den ihren immer wieder an schwierigen Stellen boten. Zu den Wunden hatte York nichts gesagt. Überhaupt war er schweigsam. Nachdem die Yacht, die ihn an Land gespuckt hatte, von dem diesigen Horizont verschluckt worden war, schien York seltsam benommen gewesen zu sein. Noch einmal hatte er sich wie ein nasses Tier geschüttelt, um anschließend in blindem Aktionismus den Felsen weiter hinaufzuklettern. Was war Greta anderes übrig geblieben, als ihm zu folgen? Vorbei an ausgedörrten Büschen mit heimtückischen Stacheln ging es über scharfkantige Steine und lose kippelnde Brocken bis ganz nach oben zur Kuppe der Landzunge, wo Greta und York erschöpft und erhitzt sitzen blieben, ohne Schatten und ohne Wasser.

»Keine besonders gute Idee, oder?«, fragte York nach einigem Schweigen und lachte unsicher.

»Kommt drauf an, was man vorhat.« Greta rieb sich die Wade, wo die Begegnung mit einem Dornenbusch zwei tiefe Kratzer hinterlassen hatte. »Falls du Sehnsucht nach einem spektakulären Absturz hast, sollten wir weitermachen.«

»Nicht unbedingt. Meinst du, du schaffst es zurück?«

»Wenn du mir hilfst. Bergab ist es schwieriger.«

Der Abstieg brachte Greta an den Rand ihrer körperlichen Kapazitäten. Als die beiden am frühen Abend wieder auf der hinteren Terrasse des verlassenen Hauses angelangt waren, zogen sie Gretas Schlafsack in den Schatten eines alten Olivenbaums und fielen erschöpft in einen unruhigen Halbschlaf. Doch später, als die Dämmerung sich bereits über die Bucht senkte, verlangten Hunger und vor allem der brennende Durst nach ihrem Recht. Da York nur seine Badehose am Körper gehabt hatte, half ihm Greta mit einem T-Shirt und einer Shorts aus. Dann führte sie ihn zu einem kleinen terrassierten Garten an der rückwärtigen Seite der Bucht, der über einen Schotterweg zu erreichen war. Einige Orangen- und Zitronenbäume ließen ihre Zweige über eine mannshohe Natursteinmauer hängen. Die Früchte leuchteten wie Windlichter in der anbrechenden Nacht. Obwohl York Greta hochhob und ihren leichten Mädchenkörper über Minuten stemmte, war die Beute kärglich. Vielleicht waren andere Diebe vor ihnen hier gewesen. Sie stahlen fünf Orangen, von denen sich zwei später als ungenießbar herausstellen sollten. Auf dem Rückweg schlenderte Greta über die Restaurantterrasse, ein Umweg, der ihnen immerhin sieben Brotscheiben einbrachte.

Während der kargen Mahlzeit warf Greta ab und an verstohlene Blicke auf York. Er wirkte nicht, als sei er ein entbehrungsreiches Leben gewohnt. Aber er beklagte sich nicht. Er aß mit großem Appetit, wobei er darauf achtete, ihr zuerst von jeder geschälten Frucht anzubieten. Als das Wasser zur Neige ging, schlich er mit der leeren Flasche nach unten zur Toilette des Restaurants und kam erst nach einer halben Stunde zurück. Greta, die ihn zunächst ungeduldig erwartet hatte, begann bald ganz an seiner Rückkehr zu zweifeln. Als York triumphierend um die zur Bucht gelegene Hauskante bog, war sie längst davon überzeugt, dass er auf einen Abschied verzichtet und sich heimlich mit ihrer einzigen Shorts aus dem Staub gemacht hatte.

Doch das Gegenteil war der Fall. Er hatte sich in der Nähe der Restaurantküche versteckt, deren hintere Tür offen stand. Es hatte ein wenig gedauert, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, in die Küche einzudringen und ein Brathuhn zu stehlen. Überdies war es York gelungen, zwei weitere Wasserflaschen zu ergattern, sodass ihr gemeinsamer Vorrat auf drei Behälter angewachsen war. Gierig stürzten sich Greta und York auf das Festmahl, verschlangen Brust und Keulen und nagten noch die letzten Fleischfasern von den Knochen. Erst als das blanke Gerippe vor ihnen lag, sanken sie ermattet auf den Schlafsack, wobei sie die letzten Reste der salzigen Hähnchenkruste von den Fingern lutschten. York tat dies mit sichtlichem Genuss, Greta unter Schmerzen.

Als sie leise jammerte, nahm er ihre Hände in seine, führte sie zum Mund und leckte vorsichtig um die Wunden herum. Gretas Hände waren klein, die Finger feingliedrig, aber knochig. Nachdem Yorks Zunge die letzten Salz- und Paprikakrümel aufgeschleckt hatte, wanderte sie über Gretas Handgelenke die Arme hinauf, die ebenfalls mager, jedoch muskulös waren. Nach einiger Zeit bog sich Gretas ganzer Körper sehnig dem seinen entgegen. Sie hatte für ihre zierliche Statur einen erstaunlich großen Busen, dessen Brustwarzen schnell unter Yorks Zunge hart wurden. Die Laute der Wollust, die Greta von sich gab, unterschieden sich kaum von denen des Schmerzes, fand York, und beide gefielen ihm. Auch Gretas Passivität, die nur von wenigen, aber entschiedenen Eroberungsexkursionen zu unterwerfungswilligen Bereichen seines Körpers unterbrochen wurde, sagte ihm zu. Eine Berührung zeugte die nächste, und nach einem kurzen, aber heftigen Liebesakt sanken Greta und York übergangslos in einen tiefen Schlaf.

Dienstag: Der Jeep

York erwachte von der Berührung eines Riesen. Zunächst hielt er das Stoßen für ein unerwartet heftiges Schlingern des väterlichen Schiffs, ein Anlegemanöver etwa oder eine überstürzt durchgeführte Kurskorrektur, und wollte sich nicht stören lassen in seinen weichen Träumen. Er griff nach dem Kissen in der Absicht, sich umzudrehen, doch da war kein Kissen, nur der Zipfel eines eigentümlich klumpigen Schlafsacks. Da fielen York das magere Mädchen ein, die nächtliche Mahlzeit und der Sex unterm Sternenhimmel. Erst verspätet kamen die Erinnerungen an den Streit mit den Eltern und die anschließende Flucht dazu.

Als York die Augen öffnete, erwartete er, den Vater vor sich zu sehen. Der Fußtritt hätte zu dessen cholerischem Temperament gepasst. Doch der Mann, dessen massiger Schatten schwarz im diesigen Morgenlicht stand, war größer und schwerer als Yorks Vater. Sein Kopf schien in unendlicher Ferne über York zu schweben und seine tiefe Stimme direkt aus einer unerwartet finsteren Vorkammer des Himmels zu kommen.

»Aufstehen ihr beiden, aber ein bisschen plötzlich!«

Greta lag mit schreckstarrem Gesicht neben York. Unter dem Schlafsack tastete ihre Hand nach seiner. York fing die flatternden Finger ein und streichelte sie beruhigend. Seine einzige Sorge war, dass die Eltern von seinem Aufenthaltsort erfahren könnten. Der Riese selbst machte ihm wenig Angst. Er sprach deutsch mit rheinischem Akzent, und sein Tonfall wies ihn als kultivierten Menschen aus. Mit denen konnte York umgehen.

Langsam setzte er sich auf und fragte: »Ist das Ihr Haus?«

»Bisher bin ich davon ausgegangen.« Eine Spur von Belustigung schwang in der Stimme mit.

»Phantastische Aussicht.«

York holte zu einer horizontumfassenden Bewegung aus und stellte gleichzeitig fest, dass die Bucht vollständig von Morgennebeln verhängt war. Der Riese grummelte, ließ sich aber zu keiner Entgegnung herab. Immerhin drehte er sich um und bohrte seinen Blick kurz in den Nebel. Greta nutzte den Moment, um sich ein T-Shirt überzuziehen. York bemühte sich weiter um einen versöhnlichen Tonfall.

»Gestern Abend sah man mehr. Es war wirklich beeindruckend. Warum vermieten Sie das Haus nicht?«

»Hab’s für meine Tochter gebaut, aber die will nichts mehr von mir wissen.«

Das Bild einer jungen unbekleideten Frau, die in hohem Bogen vom Heck eines Schiffes sprang, zuckte durch Yorks Hirn, doch er wies die verlockende Assoziation ab und konzentrierte sich ganz auf seinen Gesprächspartner. Eine Bedrohung ist er sicher nicht, dachte York, und vielleicht könnte er unsere Rettung sein.

»Das ist Greta«, stellte York vor. »Und ich bin …«

Er stockte. Jetzt bloß nicht den eigenen Namen preisgeben, denn vermutlich würden ihn die Eltern schon bald suchen lassen. Die Verbindungen der deutschen Inselbewohner untereinander waren gut, es gab eine deutsche Zeitung und auch einen Rundfunksender, das wusste York.

»Greta also. Und wer bist du? Ich höre.« Die Stimme des Riesen klang jetzt wirklich belustigt.

»Hans.«

Verdammte Kindermärchen, dachte York noch, aber da war es schon heraus.

»Natürlich. Ich hoffe, euch hat’s in meinem Knusperhaus gefallen.«

York ignorierte den erstaunten Blick von Greta, der er am Abend seinen wahren Namen genannt hatte, und stürzte sich in einen Redeschwall.

»Gefallen ist gar kein Ausdruck. Ich bin Maler, müssen Sie wissen, und diese phantastische Aussicht hier hat mich inspiriert.«

»Maler. So.« In der Stimme des Riesen war ein Unterton, den York nicht zuordnen konnte. Amüsiert? Geringschätzig? Oder interessiert? »Ihr könnt Roland zu mir sagen. Was haltet ihr von einem Frühstück oben im Dorf?«

»Frühstück?« Gretas Stimme klang, als habe man ihr soeben eine Freikarte fürs Paradies angeboten.

»Deine Freundin scheint ausgehungert zu sein. Hast du sie nicht ordentlich gefüttert?«

Kollerndes Lachen folgte den Worten. Ein Witz unter Männern. Greta rümpfte die Nase. Der Riese sah es, verzichtete aber auf jede Entschuldigung.

»Mein Jeep steht oben an der Straße. Ich setze mich schon mal rein. Inzwischen könnt ihr hier aufräumen. Lasst nichts liegen, in einer halben Stunde kommen die Handwerker. Sie machen die Treppe fertig. Zum nächsten Ersten wird die Hütte verkauft.«

Kaum dass der Riese, der sich Roland nannte, hinter dem Haus verschwunden war, sprang Greta auf. Sie wusch sich mit einem fleckigen Handtuch und dem restlichen Wasser aus einer der Flaschen. Dann zog sie ein zerknittertes rotes Kleid aus ihrem Rucksack.

»Er lädt uns zum Frühstück ein, oder? Das hast du doch auch so verstanden?«

York nickte. »Lass mir ein bisschen Wasser übrig. Und hast du vielleicht einen Slip, den du mir borgen kannst?«

»Warte, ich muss nachsehen. Hier, wenn du hineinpasst.«

York drehte das schmale Baumwolldreieck zwischen den Fingern. »Ich glaube, ich steige lieber ohne den in deine Shorts.«

Greta zuckte die Achseln. »Hast du doch gestern auch gemacht.«

»Du hast mich beobachtet?«

»Was glaubst du denn? Ich musste dich ja kennen lernen.« Sie warf einen schnellen Blick nach oben zur Straße, von wo ein spanischer Schlager aus dem Autoradio zu ihnen drang. »Meinst du, der ist harmlos?«

»Bestimmt. Wahrscheinlich ist ihm langweilig. Diese Deutschen hier an der Nordküste sind alle zu früh in den Ruhestand gegangen. Jetzt suchen sie auf der Insel nach der Abwechslung, die sie daheim nicht gefunden haben.«

»Deine Eltern auch?«

»So ähnlich. Bist du fertig? Wir wollen unseren Gönner doch nicht unnötig warten lassen.«

Als Greta nickte, rollte York den Schlafsack in die Isomatte, klemmte sich das Bündel unter den Arm und warf Gretas Rucksack über die Schulter. Kaum dass die beiden an der Straße erschienen waren, ließ Roland das Auto an.

»Beeilt euch, ich habe Hunger.«

Die Tour über die schmale, kurvige Straße den Hügel hinauf glich einer Achterbahnfahrt. Roland gab ebenso expressiv Gas, wie er plötzlich und ruckartig bremste. Greta wurde blass im Gesicht und York fürchtete, sie würde sich auf die gepflegten Sitze des Jeeps übergeben.

Während der Wagen sich Kurve für Kurve den Hang hinaufschraubte und Yorks Hand mechanisch Gretas Oberarm streichelte, arbeitete sein Hirn auf Hochtouren. Aus dem mit den Eltern verkrachten Abiturienten wurde ein talentierter Kunststudent, dessen Schaffen sich an der Grenzmarke von gegenständlicher zu abstrakter Malerei befand. Der Kunstunterricht auf dem Internat hatte zu dem Wenigen gehört, das York interessiert hatte. Nun borgte er sich etliche Details aus der Biographie seines ehemaligen Lehrers aus, der oft und gern von seiner ambitionierten Vergangenheit als Meisterschüler an der Berliner Universität der Künste berichtet hatte.

Dienstag: Das Dorf

Immer wieder schloss Greta die Augen, um sich ganz auf die Gerüche zu konzentrieren. Den Duft des frischen Brotes, des Kaffees, das Schinkenaroma. Sehr langsam führte sie jeden Bissen und zwischendurch die Tasse zum Mund, registrierte genau die Wiederkehr, die Annäherung jedes einzelnen Geruchs, bis er alles ausfüllte und nur noch eine Steigerung blieb: das Abbeißen, Kauen und Schmecken, das Im-Mund-Wenden und schließlich das Hinunter-Schlucken, ein unwilliger Abschied, der immer wieder die gleiche Konsequenz hatte. Greta öffnete die Augen und tröstete sich mit der Betrachtung der anderen Köstlichkeiten auf dem Tisch. Honig, Ziegenkäse, Pfirsiche. Aber sie sah auch ihre Hände, die Finger, die schrundigen Nagelbetten mit den frischen Entzündungen. Und jedes Zum-Mund-Führen eines Bissens bescherte ihr nicht nur Genuss, sondern stellte auch ihre Selbstbeherrschung auf eine harte Probe. Ganz nah kamen die Fingerkuppen den Lippen, hinter denen die Zähne lauerten. Scharfe, spitze, gierige Zähne, die zugunsten von Schinken, Brot und Honig auf ihre liebste Beute, das elastische Horn der Nägel und die zarte, feine Nagelhaut verzichten mussten. Mehr als einmal hatte der Blick des Gastgebers auf Gretas Händen geruht, die zu verstecken unmöglich war, hätte es doch den Verzicht auf jegliche Nahrungsaufnahme bedeutet.

Der Mann, den sie mit Roland anreden sollte, was ihr schwer durchführbar schien, hatte sich bisher jeden Kommentars zu den Verletzungen enthalten, aber Greta spürte die latente Bedrohung, die von ihm ausging. Sie war froh darüber, dass er sich zunächst nur für York zu interessieren schien, den er nach den Inhalten seines Kunststudiums und diversen akademischen Lehrern fragte.

Greta ahnte, dass diese Unterhaltung nur einen Aufschub für sie bedeutete, dass die Neugier des massigen Mannes auch vor ihrer Lebensgeschichte nicht Halt machen würde. Doch noch war es nicht so weit.

Um nicht ständig auf die eigenen Hände starren zu müssen, ließ Greta den Blick schweifen. Sie saßen auf der Terrasse eines Bistros, das mitten im Dorf oberhalb der Durchgangsstraße lag. Ihr Tisch stand direkt an der hüfthohen Brüstung, die von violett blühender Clematis üppig berankt war. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein gut besuchter Lebensmittelladen. Gerade betraten ihn zwei blasse Engländerinnen fortgeschrittenen Alters mit fusseligen Haaren auf dem Kopf und ungünstig geschnittenen Shorts an den Beinen. Während sie ihre Vormittagseinkäufe tätigten, pinkelte ihr Hund an die vor dem Laden stehenden Obstkisten. Direkt neben den Kisten hielt ein älterer Herr, dessen Schädel von einem Strohhut bedeckt war, ein Schwätzchen mit dem Inhaber. Keiner von beiden scherte sich um den Hund. Wenig später erschien ein Hippiepärchen und interessierte sich für die appetitlich glänzenden Wassermelonen, freundlich ermuntert von dem jetzt heftig gestikulierenden Ladenbesitzer.

Währenddessen herrschte auf der Straße ein ständiges Kommen und Gehen, Vespas und Mietwagen kurvten aneinander vorbei, eine junge Frau im Indienkleid huschte über die Straße, ohne sich umzusehen, und verursachte fast einen Auffahrunfall. Ein nagelneues Cabriolet zwängte sich in eine der raren Parkbuchten. Als die Fahrerin, das Gesicht nahezu vollständig durch Sonnenhut und -brille verborgen, ausstieg, begrüßte der Strohhutträger sie mit mehreren Wangenküssen, bei denen die jeweiligen Kopfbedeckungen bedenklich ins Schwanken gerieten.

Das kollernde Lachen ihres massigen Gastgebers lenkte Gretas Aufmerksamkeit zurück auf die Terrasse des Bistros. Auch hier ging es lebhaft zu, und der Mann namens Roland grüßte häufig zu einem der Nachbartische hinüber. Als Greta noch versuchte, den Grund seiner Heiterkeit zu erraten, wechselte sein Gesichtsausdruck überraschend.

»Und du, Greta? Bist du auch Künstlerin?«

Obwohl er sie ansprach, mied er ihren Blick.

»Nicht direkt.« Greta stockte.

Sollte sie von ihrer abgebrochenen Buchhandelslehre in einer Kleinstadt bei Hannover erzählen? Von dem Versuch, als Au-pair bei einer in der Inselhauptstadt ansässigen Industriellenfamilie zu sich selbst und einer Idee von der künftigen Gestaltung ihres Lebens zu kommen? Von den sich häufenden Annäherungsversuchen des Familienvaters, denen Greta schließlich nur durch vorzeitige Kündigung entkommen konnte? Von ihrem mehrwöchigen Aufenthalt in einer billigen Pension an der Südküste, der ihre bescheidenen Ersparnisse aufgezehrt hatte, ohne dass es Greta gelungen wäre, einen neuen Job zu bekommen. Von ihrem Versuch zu trampen, und der halsbrecherischen Fahrt mit einem angetrunkenen jungen Spanier, dessen Wagen bei jeder Kurve auf der Küstenstraße ins Meer zu rutschen drohte? Von ihrer panischen Flucht aus dem mörderischen Gefährt und dem Warten auf den Linienbus, mit dem sie die Fahrt nach Norden hatte fortsetzen wollen? Von ihrem Schreck, als sie feststellte, dass ihr Geld noch nicht einmal für das Ticket reichen würde? Von der harschen Weigerung des Busfahrers, sie trotzdem mitzunehmen?

Sollte sie wirklich von der großen Mattigkeit erzählen, die sie plötzlich überfallen hatte, einer unheimlichen Sehnsucht nach dem Nichts? Von dem langwierigen Abstieg zur Bucht hinunter, zu dem sie sich schließlich hatte zwingen können? Von dem Hunger, den wiederholten Orangendiebstählen und den vier Nächten, die sie auf der Terrasse des Küstenhauses verbracht hatte, bis ihr die Yacht wie ein Traumgebilde und York wie eine Offenbarung erschienen waren?

Wohl kaum.

»Ich mochte mein Leben in Deutschland nicht mehr«, erklärte Greta knapp. »Vor zwei Wochen habe ich meinen Job gekündigt, meine Ersparnisse von der Bank abgehoben, einen One-Way-Flug gebucht und bin hergekommen. Als ich ein Konto eröffnen wollte, alle Formalitäten waren schon erledigt, stellte ich fest, dass jemand an meinem Rucksack gewesen sein musste. Mein ganzes Geld, ungefähr zweitausend Euro, waren weg. Das war vor einer Woche.«

»Du brauchst einen Job«, sagte Roland.

»Sie hat schon einen Job«, sagte York und blickte Greta beschwörend in die Augen. »Sie hilft mir beim Malen, wenn ich wieder anfange.«

»Sie hilft dir?«

»Farben mischen, Pinsel säubern«, präzisierte York.

»Wo hast du eigentlich deine Sachen?«, erkundigte sich Roland. »Leinwände, Farben, Pinsel. Ich würde auch gern mal was Fertiges sehen. Hast du ein Atelier auf der Insel?«

York zögerte, als sei ihm die Antwort auf diese Frage unangenehm. Mit einem entschuldigenden Lächeln gestand er schließlich: »Ich wollte frei sein von allen Bindungen, meine Kreativität neu spüren, wenn du verstehst, was ich meine. Ich habe nichts.«

»Hättest du denn Lust, hier zu arbeiten?«

Wieder ließ York sich Zeit. Greta dachte, er pokert zu hoch, doch dann sah sie, wie er mit überzeugender Gelassenheit dem saugenden Blick seines Gegenübers standhielt. »Lass mich nachdenken«, murmelte er und schloss die Augen, als könne er die Antwort in seinem Inneren finden. »Wenn ich’s recht überlege, hätte ich schon Lust. Wilde Steinformationen in Meeresfarben, dazwischen die Schattenrisse von Menschen.«

»Klingt gut«, entschied Roland. »Weißt du was? Dein Projekt interessiert mich. Und mein Poolhaus steht leer. Wenn ihr wollt, könnt ihr für den Sommer dort wohnen. Ihr habt Kost und Logis frei, dafür entwickelst du deine Ideen auf meinem Grundstück. Und Greta geht dir zur Hand.«

Greta wartete auf das anzügliche Lächeln vom Morgen, aber Rolands Gesicht blieb ernst. Er versuchte tatsächlich, York von der Attraktivität seines Angebots zu überzeugen.

»Ich beschaffe alles, was du brauchst. Und wenn deine Arbeiten gut sein sollten, kann ich vielleicht etwas für dich tun«, fügte er hinzu.

»Hast du irgendetwas mit Kunst zu tun? Ich meine beruflich«, wollte York jetzt wissen.

»Sei nicht so neugierig«, antwortete Roland, winkte der Kellnerin und verlangte die Rechnung.

Dienstag: Der Pool

Als sich das automatische Tor hinter dem Jeep schloss, fuhr York zusammen. Vielleicht lag es an dem Geräusch, einem metallischen Schnappen, das dem Zufallen einer Käfigtür glich. Die Auffahrt führte steil bergauf. Schon von der Küstenstraße aus hatte man die Villa sehen können. Sie beherrschte die weit vorspringende Klippe. Ein sorgfältig geschliffener Diamant in einer Fassung aus rohem Stein. Der Wagen hielt vor der Garage, die sich unterhalb des Haupthauses befand. Der Blick auf das Meer war verstellt von etlichen Olivenbäumen, einem lichten Wäldchen, hinter dem York das schillernde Blau eines Pools entdeckte, dessen Kante direkt am Horizont endete, sodass sich das Wasser über die Felsen ins Meer zu ergießen schien.

Roland sprang aus dem Wagen, ließ die Tür offen stehen und lief zügig die Treppe zum Haupthaus hinauf, ohne sich weiter um seine Gäste zu kümmern. Auch Greta stieg aus und blickte unschlüssig zu York.

»Und jetzt?«

»Keine Ahnung. Ist doch cool, dass er uns mitgenommen hat.«

Es war das erste Mal, seit sie das Haus an der Bucht verlassen hatten, dass beide ungestört miteinander reden konnten.

»Hast du nicht das Gefühl, dass mit dem Kerl irgendetwas nicht stimmt?« Greta wollte eine Hand zum Mund führen, hielt aber mitten in der Bewegung inne und starrte auf ihre zerschundenen Nagelbetten.

»Ach was. Ich hab dir doch gesagt, er langweilt sich.«

In diesem Moment tauchte Rolands Kopf über einer Brüstung auf dem Garagendach auf. Falls er ihren Wortwechsel gehört haben sollte, ließ er sich nichts anmerken.

»Geht schon mal vor zum Pool, ich suche noch nach den Schlüsseln für die Gästewohnung, dann komme ich nach.«

»Warum hast du ihm einen falschen Namen genannt?«, flüsterte Greta, als sie aus dem Schatten der Olivenbäume auf die Poolterrasse traten.

York blieb stehen und fuhr mit den nackten Zehen über die Fugen zwischen den Bruchsteinplatten, mit denen die Terrasse gefliest war.

»Wahrscheinlich suchen mich meine Eltern.«

»Sie werden sich Sorgen machen.«

»Eher werden sie wütend sein. Wie auch immer, es ist egal. Mensch, Greta, sieh dich doch um. Das hier ist ein Traum!«

Er wies auf den Pool, der die spiegelnden Reflexe der Sonne auf seiner blendend hellen Wasserfläche fing, und auf die großzügige Terrasse, die das Bassin auf drei Seiten umgab und am Abhang nur durch eine niedrige Steinmauer vom Himmel, vom Meer und dem steilen Sturz der Felsen getrennt war. Der Pool selbst unterbrach die Mauer, er schien ein Loch in sie zu schneiden, damit sich sein glänzender Inhalt mit den wässrigen Farben des Himmels mischen konnte.

Linker Hand endete die Mauer an einer überdachten Veranda, die mit einem Esstisch, Korbstühlen, mehreren Einbauschränken, einem Spülbecken und einem offenen Grill bestückt war. Auf der anderen Seite der Terrasse befand sich ein geschlossenes Gebäude von gleicher Breite, das ebenso wie die Mauer und die Seitenwände der Außenküche aus Bruchstein errichtet war und lediglich über ein winziges, vergittertes Fenster verfügte. Auch die hölzerne Eingangstür war mit einem schmiedeeisernen Gitter gesichert. Greta ging hinüber und drückte probeweise den Griff der äußeren Tür herunter. Sie war abgeschlossen.