Verhaltenstherapie - Erwin Parfy - E-Book

Verhaltenstherapie E-Book

Erwin Parfy

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Beschreibung

Das Lehrbuch bietet in seiner 3., vollständig überarbeiteten Auflage ein zusammenhängendes Erklärungsmodell psychischer Vorgänge, sowohl der gesundheitsfördernden als auch der störungsverursachenden. Dabei legen die Autorinnen und Autoren großen Wert auf die Einbeziehung neuer behandlungstechnischer Erkenntnisse. Die therapeutische Beziehung wird als zentraler Faktor gewertet und therapeutische Prozessphasen werden besonders beachtet. Auf Ansätze der sogenannten „3. Welle" der kognitiven Verhaltenstherapie wird eingegangen: Darstellungen von Schematherapie und achtsamkeitsbasierten Therapiekonzepten helfen dabei, die vielfältigen aktuellen Entwicklungen zu überblicken.

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Teil der Reihe:

PSYCHOTHERAPIE: ANSÄTZE UND AKZENTE

Band 1

Hg. von Jürgen Kriz und Thomas Slunecko

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Herausgeber oder des Verlages ist ausgeschlossen.

3., vollständig überarbeitete Auflage 2024

Copyright © 2016 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreichwww.facultas.at, [email protected]

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitungsowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Lektorat: Ursula Narath; Astrid Fischer, BerlinFahnenkorrektorat: Rebecca David, Hameln

Satz: Wandl Multimedia-Agentur, Groß Weikersdorf

Umschlagbild: © Robert Zahornicky, o. T. (Ausschnitt), 1988, www.zahor.netEinbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

utb-Nummer 2423

ISBN 978-3-8252-6342-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8385-6342-8 (Online-Leserecht)

ISBN 978-3-8463-6342-3 (E-PUB)

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort

1 Das Menschenbild der Verhaltenstherapie

1.1 Der Körper als Ort der physischen und psychischen Entwicklung

1.2 Organisation von Erfahrung

1.3 Die Gefühle

1.4 Das Denken

1.5 Der Rückgriff auf Erfahrungen

1.6 Pläne und Bedürfnisse

1.7 Die Fähigkeit zur Selbstregulation

1.8 Die wichtigen anderen

2 Wie psychische Probleme entstehen

2.1 Was uns schützt und was uns gefährdet

2.2 Fehlende Kompetenzen

2.3 Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen

2.4 Problematische Denkgewohnheiten und Schemata

2.5 Konflikte zwischen verschiedenen Plänen

2.6 Einseitigkeit von Persönlichkeitsstilen

2.7 Wiederholte Krisen in Beziehungen

3 Die therapeutische Beziehung

3.1 Die therapeutische Beziehung im Lichte der Psychotherapieforschung

3.2 Die Beziehung im Rahmen der Therapie

3.3 Überlegungen zu Therapiebeginn

3.4 Die Beziehung im weiteren Verlauf der Therapie

4 Der therapeutische Prozess

4.1 Klinische und verhaltenstherapeutische Diagnostik

4.2 Die individuelle Fallkonzeption – gemeinsame Zielsetzungen

4.3 Der Abschied von der Therapie

5 Die verschiedenen therapeutischen Methoden

5.1 Die Arbeit mit Emotionen

5.1.1 Die „klassischen“ Verfahren

5.1.2 Die emotionsorientierte Therapie

5.1.3 Die Schematherapie

5.1.4 Der Aufbau von Fertigkeiten zur Emotionsregulation

5.2 Die Arbeit mit Kognitionen

5.2.1 Identifikation und Veränderung problematischer Gedanken

5.2.2 Die „Sokratische Gesprächsführung“

5.2.3 Die Metakognitive Therapie

5.2.4 Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie

5.3 Die Veränderung des Bezuges zu sich selbst

5.3.1 Der Aufbau von Selbstkontrollfertigkeiten

5.3.2 Die Einübung selbstsicheren Verhaltens

5.3.3 Der Aufbau von Selbstwertgefühl

5.3.4 Die Förderung selbstfürsorglichen Verhaltens durch euthyme Verfahren

5.3.5 Die Einübung von Achtsamkeit, Empathie und Mitgefühl

5.4 Die therapeutische Beziehung als Raum für neue Erfahrungen

5.5 Die Arbeit mit dem Körper

5.5.1 Die Progressive Muskelentspannung

5.5.2 Die Bauchatmung

5.5.3 Biofeedback und Neurofeedback

5.6 Die Nutzung von lerntheoretischem Wissen

5.6.1 Operante Methoden

5.6.2 Modelllernen

5.7 Die Stärkung allgemeiner Gesundheitsfaktoren

5.7.1 Die Aktivierung von Ressourcen

5.7.2 Die Förderung von Resilienz

6 Störungsspezifische Behandlungskonzepte der Verhaltenstherapie

6.1 Von A(ngst) bis Z(wang)

6.1.1 Angststörungen (Demal)

6.1.2 Alkoholismus (Andorfer)

6.1.3 Borderline-Persönlichkeitsstörung (Lenz)

6.1.4 Depression (Butschek, überarbeitet von Gerhard Lenz)

6.1.5 Essstörungen (Ohmann)

6.1.6 Persönlichkeitsstörungen (Schuch)

6.1.7 Posttraumatische Belastungsstörungen (Pucher-Matzner)

6.1.8 Schizophrene Störungen (Lenz)

6.1.9 Schmerz (chronischer) (Bach)

6.1.10 Sexualstörungen (funktionelle) (Kinzl)

6.1.11 Somatische (körperliche) Belastungsstörungen (Bach)

6.1.12 Soziale Angststörung/Soziale Phobie (Demal)

6.1.13 Zwangsstörungen (Demal)

6.2 Störungsspezifisches Arbeiten aus medizinischer Perspektive

6.2.1 Verhaltensmedizin (Bach)

6.2.2 Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie (Aigner & Lenz)

7 Kurze Geschichte der Verhaltenstherapie – ein Blick in die Zukunft

AutorInnen

MitarbeiterInnen

Abkürzungen

Sachregister

Geleitwort

Mit diesem Werk zur Verhaltenstherapie von Erwin Parfy, Bibiana Schuch und Gerhard Lenz wird jener Band neu und aktualisiert aufgelegt, der vor rund 20 Jahren unsere UTB-Reihe zu den Hauptströmungen der Psychotherapie im Facultas-Verlag eröffnet hat. Der Beginn dieses Projektes war für uns ermutigend, insofern sich schon in diesem ersten Band unser Grundanliegen realisieren hat lassen, fundierte Tradition mit innovativen Perspektiven zu verbinden.

Die Vorzüge dieses Bandes, die sich bereits für die Erstauflage in einer weiten Rezeption sowie in ausgezeichneten Rezensionen dokumentieren, liegen nicht zuletzt also darin begründet, dass er auf der einen Seite – der Konzeption dieser Reihe entsprechend – traditionelle verhaltenstherapeutische Konzepte in einführender, prägnanter Darstellung vermittelt und so den Ausbildungserfordernissen dieser Therapieschule Rechnung trägt. Bisher Bewährtes wird somit weiter tradiert und damit für eine Kontinuität des verhaltenstherapeutischen Wissensbestandes gesorgt. Auf der anderen Seite muss ein in gesellschaftliche Entwicklungen so stark eingebetteter Bereich wie die Psychotherapie sich ständig erneuern, neue Forschungsbefunde integrieren, aktuelle Diskurse sowie sich verändernde gesellschaftliche Sinn- und Wertorientierungen reflektieren, also ständig Impulse aufnehmen und integrieren. In diesem Sinn hat das Wiener AutorInnenteam den damaligen Text überarbeitet und zu einem modernen verhaltenstherapeutischen State of the Art weiterentwickelt, der an einigen Stellen durchaus auch deutlich über das hinausgeht, was man in klassischen Lehrbüchern zu dieser Therapierichtung findet.

Die hier skizzierte Verhaltenstherapie eröffnet viele Berührungspunkte mit dem Wissen und Handeln anderer Therapierichtungen und erweist sich dabei als anschlussfähig an das, was an anderen Orten der Psychotherapielandschaft gedacht und getan wird. Insbesondere wird deutlich, dass ihre Entwicklung nicht bei der viel zitierten kognitiven Wende stehen geblieben ist, sondern heute auch stärker emotionale Aspekte und lebensgeschichtlich begründbare Beziehungsdynamiken berücksichtigt. Ebenso sind einige ursprünglich in der humanistischen Psychotherapie entwickelte Prinzipien in modifizierter Form übernommen und – um die vor ein bis zwei TherapeutInnengenerationen wohl am wenigsten vorhersehbare Entwicklungslinie zu nennen – mit der sogenannten „dritten Welle der Verhaltenstherapie“ auch Meditations- und Achtsamkeitspraktiken integriert worden, in denen sich das klassisch-verhaltenstherapeutische „Hier & Jetzt“-Prinzip in einer ganz neuen Weise realisiert.

In ähnlicher Weise behält die vorliegende Darstellung zwar auch einige seit jeher für die Verhaltenstherapie typische Elemente bei – so etwa den engen Kontakt mit Ergebnissen empirisch-experimenteller Forschung und, damit verbunden, den Fokus auf störungsspezifische Behandlungskonzepte, die sich an den Ordnungen klinischer Diagnostik orientieren –, und doch zeigt sich auch, wie gerade dieser störungsspezifische Fokus mittlerweile von einer transdiagnostischen Perspektive herausgefordert wird.

Verhaltenstherapeutisches Denken präsentiert sich hier also sowohl in seinen essenziellen Konzepten als auch gleichzeitig in seinem Potenzial, durch innovative Sichtweisen den klinisch-therapeutischen Diskurs über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der therapeutischen Richtungen herauszufordern. Wir wünschen und hoffen, dass dieser Band gerade wegen dieser Grundspannung sowohl im Kontext der Aus- und Weiterbildung der Verhaltenstherapie als auch für erfahrene PraktikerInnen anregend sein wird.

Thomas Slunecko, Jürgen KrizWien und Osnabrück, 2024

Vorwort

Die Entscheidung, trotz der Fülle einschlägiger Literatur ein Buch über Verhaltenstherapie zu verfassen, entstand aus unserer Erfahrung im Zuge der Vortrags- und Lehrtätigkeit bei Veranstaltungen, die primär nicht von VerhaltenstherapeutInnen besucht wurden, sondern von PsychotherapeutInnen anderer Schulen sowie von KollegInnen, die erst eine Psychotherapieausbildung beginnen wollen. Die Palette psychotherapeutischer Schulen ist sehr breit und Orientierungshilfen – zumindest in Österreich – scheinen notwendig. Der Wunsch, unsere seminaristisch vermittelten Inhalte in komprimierter Form nachlesen zu können, wurde wiederholt an uns herangetragen. Wir sind diesem Anliegen erstmals im Jahre 2003 nachgekommen, und wegen der raschen Verbreitung des Buches folgte im Jahre 2016 eine umfassend überarbeitete 2. Auflage. Es freut uns, dass auch diese anhaltend gut angenommen wurde, sodass wir nun bereits die 3. neuerlich aktualisierte Auflage vorstellen dürfen.

Es erschien uns von Anfang an reizvoll, eine zeitgemäße Sicht auf die Verhaltenstherapie zu ermöglichen, die die jeweils jüngsten Entwicklungen bereits berücksichtigt (ohne allzu detailliertes Eingehen auf die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Befunde). Die Vielfalt zeitgenössischer Einflüsse sollte mit der verhaltenstherapeutischen Tradition zu einem Bild verschmolzen werden, das nicht nur den außenstehenden InteressentInnen neue Perspektiven, sondern auch den langjährig tätigen VerhaltenstherapeutInnen ein erweitertes Selbstverständnis eröffnen kann.

Vieles von dem, was für VerhaltenstherapeutInnen heute selbstverständlich scheint, ist für andere oft neu: die basale Funktion der Therapiebeziehung, das systemische Denken oder die Berücksichtigung unbewusster Prozesse – Letzteres aufgrund der aufregenden Ergebnisse der modernen Emotions- und Gedächtnisforschung. Überraschend ist vielleicht die Geschwindigkeit, mit der die Verhaltenstherapie ihr Vorgehen den aktuellen Vorstellungen anpassen konnte. Das therapeutische Repertoire wurde in den letzten Jahren deutlich erweitert, so etwa um erlebnisorientierte Methoden, die mit dem Ziel der Problemaktualisierung emotionales Erleben und implizite Gedächtnisinhalte stimulieren, oder um achtsamkeitsbasierte Ansätze, welche in der kognitiven Therapie gänzlich neue Herangehensweisen nahelegen.

Hinsichtlich einer geschlechtergerechten Sprache wird in diesem Buch zwischen Binnen-I-Schreibung sowie abwechselnden weiblichen und männlichen Varianten gewechselt.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Erwin Parfy, Bibiana Schuch, Gerhard LenzWien, 2024

1 Das Menschenbild der Verhaltenstherapie

Um den Wandel des verhaltenstherapeutischen Menschenbildes der Leserin, dem Leser näherzubringen, ist es hilfreich, den Begriff „Verhalten“ genauer zu betrachten. Ursprünglich beschränkten sich die am Verhalten ansetzenden Forscherinnen auf die Beobachtung des rein äußerlichen Tuns von Tier und Mensch. Damit wollten sie spekulativen Aussagen über innerpsychische Abläufe einen naturwissenschaftlichen Ansatz entgegenstellen: Nur jene Verhaltensweisen, die wiederholt beobachtet und beschrieben werden konnten, sollten dabei als Basis für ein Verständnis des Menschen herangezogen werden.

Das Verhalten wurde bezüglich der beobachtbaren vorausgehenden Bedingungen und nachfolgenden Konsequenzen untersucht und das Ergebnis ermöglichte die Beschreibung von Prinzipien, die beim Erlernen, aber auch bei der Veränderung menschlichen Verhaltens wirken. So können Angst auslösende Bedingungen (etwa eine schwierige Prüfung) zu Vermeidungsverhalten führen (der Prüfling tritt nicht an) und eine kurzfristig positiv erlebte Konsequenz eintreten lassen (die Angst fällt schlagartig weg). Diese Erfahrung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch künftig Angst machende Situationen vermieden werden.

Die systematische Beschreibung dieser und auch anderer Prinzipien (= Lernprinzipien) formte die therapeutische Praxis und führte zu neuen Konzepten von Behandlung, die zunächst durch überraschende therapeutische Erfolge auf sich aufmerksam machten. Gerade bei Angststörungen wurde die Konfrontation mit den Angst auslösenden Situationen zum wirksamsten Mittel, wobei darauf zu achten ist, dass gleichzeitig das Vermeidungsverhalten unterbunden wird. Bei komplexeren Störungsbildern rückten jedoch auch Faktoren ins Blickfeld, die im frühen Ansatz noch ausgeklammert wurden. Insbesondere gedankliche Abläufe (d. h. ein Teil der sogenannten „kognitiven Prozesse“, siehe auch Kap. 1.4) und die dabei erkennbaren Muster konnten in ihrer Bedeutsamkeit für menschliches Handeln und Befinden nicht mehr ignoriert werden, selbst wenn sie der Forderung nach direkter Beobachtbarkeit nicht entsprachen. Zum Beispiel erwies sich die Behandlung der Depression als besonders erfolgreich, als die charakteristischen Denkgewohnheiten der Patientinnen ins Zentrum der therapeutischen Bearbeitung gerückt wurden. Diese nur über Kommunikation erschließbaren Besonderheiten der individuellen Informationsverarbeitung gingen daher als „kognitiver Aspekt“ in die Verhaltenstherapie ein.

Die körperlich-physiologische Dimension des Menschen war von Anbeginn an Gegenstand der Verhaltensforschung. So kann beispielsweise psychische Erregung beim Erleben von Angst anhand körperlicher Parameter wie der Herzfrequenz oder des Hautleitwerts gemessen und damit operationalisiert werden. Diese Anerkennung der biologischen Grundlagen menschlichen Erlebens ist in der Verhaltenstherapie bis heute wichtig. Nach Hinzunahme des kognitiven Aspektes gingen die Forscherinnen dann zunächst davon aus, dass die vom Menschen erlebten Gefühle primär ein Resultat von physiologischer Erregung und kognitiver Bewertung dieser Erregung wären.

Diese Auffassung änderte sich jedoch abermals unter dem Einfluss der Emotionsforschung, die den Gefühlen eine eigenständige Funktion innerhalb des psychischen Geschehens zuspricht. Zwar werden Gefühle oftmals durch bestimmte Gedankengänge ausgelöst, aber Gefühle können auch ohne Beteiligung kognitiver Einschätzungen direkt von bestimmten situativen Reizen aktiviert werden. Beispielsweise könnte uns beim Betreten des längst verlassenen Hauses unserer Kindheit der typische Geruch unmittelbar traurig machen. Mitunter führt die emotionale Gestimmtheit dann zu einer gedanklichen Verarbeitung, welche lediglich die in das vorgegebene Stimmungsbild passende Information auswählt. Im obigen Beispiel einer traurigen Stimmung fallen uns vielleicht eher die äußeren Zeichen allgemeiner Vergänglichkeit auf, als wenn wir glücklich sind und die Welt durch die berühmte „rosarote Brille“ sehen. Die Einsicht in die zentrale Rolle unserer Gefühle hatte schließlich zur Folge, dass der Verhaltensbegriff um den „emotionalen Aspekt“ erweitert wurde.

Verhaltensweisen stehen in engem Bezug zu den Bedingungen der Umwelt, was bereits in den Lernprinzipien hervorgehoben wurde. Diese Bezogenheit des Menschen auf sein Umfeld begründet auch seinen sozialen Charakter. Wir stehen zeit unseres Lebens in Beziehung zu anderen Menschen und die Bedeutung dieser Beziehung spiegelt sich in unseren Gefühlen und Gedanken wider. Ein wesentlicher Teil unserer Grundbedürfnisse ist auf Beziehungen ausgerichtet, in denen wir hoffen, sie befriedigen zu können. Unser Denken ist dabei vielfach von Vorstellungen bestimmt, welche die Reaktionsweisen des sozialen Gegenübers vorwegnehmen. Angenehme und unangenehme Gefühle begleiten das Handeln in Beziehungen, je nachdem, ob der oder die andere den eigenen Wünschen entgegenkommt oder nicht. Diese von Geburt an angelegte Wechselseitigkeit wird zu einem Einflussfaktor für menschliches Verhalten auf unterschiedlichen Ebenen: In der Zweierbeziehung, in der Familie und in Gruppen, Völkern und Kulturen – immer ist das individuelle Verhalten am Schnittpunkt komplex wirkender sozialer Bedingungen angesiedelt.

Fassen wir an dieser Stelle noch einmal die bisher betrachteten Aspekte des verhaltenstherapeutischen Menschenbildes zusammen. Einerseits werden die biologischen Gegebenheiten des Körpers berücksichtigt, andererseits werden die individuellen Charakteristika des emotionalen Erlebens und der kognitiven Verarbeitung hervorgehoben. Diese persönlichen Faktoren stehen nun wiederum im Wechselspiel mit den Bedingungen der Umwelt. Dabei spielen soziale Momente eine besondere Rolle. Im Zusammenwirken aller genannten Aspekte wird jenes Verhalten hervorgebracht, das von der Interaktionspartnerin unmittelbar wahrgenommen werden kann. Dieses Verhalten ereignet sich in der Gegenwart, bezieht dabei aber vorausgehende Bedingungen und nachfolgende Konsequenzen mit ein.

Wenn wir die dynamischen Wechselwirkungen zwischen den gegenwärtig wirkenden Faktoren in Form einer Momentaufnahme festhalten, befinden wir uns auf der sogenannten „horizontalen Betrachtungsebene“. Diese hat ihren Namen durch die im Rahmen der Verhaltensanalyse entwickelte grafische Darstellung erhalten: Erst werden die vorausgehenden Bedingungen angeführt, horizontal daneben die im Augenblick der Betrachtung im Organismus wirkenden Faktoren sowie die gezeigten Verhaltensweisen und schließlich die nachfolgenden kurz- und langfristigen Konsequenzen. In einem vereinfachten Schema können wir uns diese Wechselwirkungen folgendermaßen vorstellen:

Abb. 1: Horizontale Betrachtung von Verhaltenssequenzen

Da wir aber mit unserem Verhalten auch lebensgeschichtlich bedeutsam gewordene Werte realisieren und die damit verbundenen Ziele erreichen wollen, weist eine Dimension des Menschen über die kleinräumigen Zusammenhänge des Augenblicks hinaus. Wir verfolgen mit unserem Verhalten überdauernde innerpsychische Pläne, die hierarchisch aufsteigend angeordnet sind: von nah am Verhalten angesiedelten konkreten Unterplänen zu den abstrakteren Oberplänen bis hin zu den dahinterstehenden Grundbedürfnissen (siehe Kap. 1.6). Diese Dimension wird in der sogenannten „vertikalen Betrachtungsebene“ erfasst, wie aus der folgenden Grafik ersichtlich wird:

Abb. 2: Vertikale Betrachtung von Verhaltenssequenzen

Bemerkenswert ist, dass im verhaltenstherapeutischen Menschenbild keine der genannten Dimensionen schon im Vorhinein als dominierend über die anderen angesehen wird. Vielmehr geht man davon aus, dass biologische, emotionale, kognitive und soziale Prozesse parallel laufen und sich wechselseitig beeinflussen. Dabei kann einmal der eine und einmal der andere Aspekt verhaltensbestimmend werden. Verschiedene Ursachen können zu ein und derselben klar umschriebenen Wirkung führen; andererseits können geringfügig variierende oder sogar gleiche Ausgangsbedingungen unterschiedliches Verhalten verursachen. In der Verhaltenstherapie geht man also weder davon aus, dass der Mensch ausschließlich ein Produkt seiner Umwelt ist („Umweltdeterminismus“), noch davon, dass er ausschließlich durch seine biologische und biografische Entwicklung bestimmt wird („Strukturdeterminismus“).

Der Mensch steht als physisches und psychisches System im regen Austausch mit der Umwelt, wobei sich stetig neue Wechselwirkungen entfalten können. Der Mensch ist also einerseits offen für dynamische Veränderungen. Andererseits betrachten wir das physische und psychische System des Menschen auch als in sich geschlossen und „selbstorganisierend“: Unter Selbstorganisation verstehen wir die Eigenschaft des Organismus, alle Aktivitäten der Erhaltung der eigenen Organisation unterzuordnen (Maturana, 1982). Menschliches Erleben und Verhalten realisiert sich in diesem Sinn also als Folge von selbstorganisierenden Prozessen, die die aktuellen biologischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Bedingungen in spezifischer Weise vernetzen.

In Therapien nutzen wir das Beziehungsangebot unseres Gegenübers, um in diese Prozesse mit einzutreten und Veränderungen anzuregen. Durch Anteil nehmende Beobachtung helfen wir, die individuellen Muster des Erlebens und Verhaltens der Patientin herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund des verhaltenstherapeutischen Menschenbildes ordnen wir unsere Wahrnehmungen, gemeinsam mit dem Gegenüber suchen wir nach einer angemessenen Sicht der bestehenden Probleme und nach möglichen Lösungsansätzen. Dabei hilft uns die Vielzahl wissenschaftlicher Modellvorstellungen, die aus unterschiedlichsten Disziplinen stammen: einerseits aus den Gebieten der Psychologie (Entwicklungs-, Persönlichkeits-, Kommunikations- und Sozialpsychologie; Gedächtnis-, Verhaltens-, Kognitions- und Emotionsforschung), andererseits aus jenen der Medizin (Physiologie, Neurologie, Psychiatrie).

Die Basis des verhaltenstherapeutischen Menschenbildes wird also von zahlreichen Teiltheorien gebildet, die alle empirisch fundiert sind, d. h., sie beruhen auf Erfahrungen, welche in Untersuchungen und Experimenten aufgrund systematischer Beobachtungen gemacht werden. Diese im Menschenbild zusammengeführten Teiltheorien können als „Patchwork“ oder „Mosaik“ von wissenschaftlichen Aussagesystemen beschrieben werden. Entsprechend ihrer Bewährung in der Praxis und durch den Einfluss der steten wissenschaftlichen Entwicklung verändert sich auch das verhaltenstherapeutische Menschenbild. Neue Theorien und Modelle finden Eingang, andere verlieren an Bedeutung.

Da die Verhaltenstherapie niemals von einem Schulengründer festgelegt wurde, sondern sich am lebendigen Wandel praktischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse orientiert, ist es von Zeit zu Zeit nötig, ein aktualisiertes Bild ihres Selbstverständnisses zu entwerfen. Das vorliegende Buch ist auch aus dieser Motivation heraus verfasst worden. Die nachfolgenden Kapitel bieten eine Zusammenstellung von theoriegestützten Auffassungen, welche sich aufeinander beziehen und aufeinander aufbauen, ohne dabei Vollständigkeit zu beanspruchen. Der Leserin, dem Leser kann aber eine aktuelle Version des verhaltenstherapeutischen Menschenbildes in wesentlichen Umrissen ersichtlich werden.

Wir halten uns dabei an die eingangs getroffenen Unterscheidungen: Im Kapitel „Der Körper als Ort der physischen und psychischen Entwicklung“ betrachten wir die biologischen Voraussetzungen des Menschen und seines Bewusstseins. Im Abschnitt über die „Organisation von Erfahrung“ fragen wir nach jenen Strukturen, in denen der Austausch mit der Umwelt seinen Niederschlag findet. Danach werden „Die Gefühle“ und „Das Denken“ auf Eigenart und Funktionalität hin untersucht, weiters bringt „Der Rückgriff auf Erfahrungen“ aktuelle Gedächtnismodelle ins Spiel. Im Kapitel über „Pläne und Bedürfnisse“ nähern wir uns den zielorientierten Vorstellungen, die Fühlen und Denken durchdringen und konkrete Verhaltensweisen hervorbringen können. „Die Fähigkeit zur Selbstregulation“ lässt Einblick in die selbstbezügliche Organisation des Menschen gewinnen und führt zu den Themen Identität, Selbstwert und Selbstkontrolle. Schließlich wird das bisher Gesagte in den Raum zwischenmenschlicher Beziehungserfahrungen gestellt, in welchem sich „Die wichtigen anderen“ als zentrale Bezugspunkte für unser Verhalten erweisen werden.

1.1 Der Körper als Ort der physischen und psychischen Entwicklung

Bereits vor der Geburt – im Verlauf des embryonalen Wachstums – ist der Körper in seiner stetig zunehmenden organischen Komplexität auch jener Ort, an dem sich menschliches Leben in seiner psychischen Dimension aufzubauen beginnt. Zunächst werden die zum Wachstum benötigten Nährstoffe aufgenommen, nach Bearbeitung durch die Stoffwechselvorgänge werden die Reste wieder abgegeben. Dieser für die Zellteilung notwendige Austauschprozess wird mithilfe von genetischen Vorgaben reguliert. Das biochemische Milieu des Uterus führt aber in seiner jeweiligen Beschaffenheit bereits zu unterschiedlich verlaufenden Entwicklungen, etwa in Abhängigkeit von den Ernährungsgewohnheiten der Mutter. Und auch die psychischen Bedingungen der frühen Umwelt beeinflussen die Entwicklung. Mütter, die beispielsweise chronisch unter starkem Stress stehen und heftige Gefühle erleben, produzieren entsprechende Botenstoffe, die wiederum auf den Embryo einwirken und damit zu seiner frühen Erfahrungswelt gezählt werden.

Schon hier ist das Prinzip der Wechselseitigkeit anzunehmen: Sowohl die genetischen Strukturen als auch die Angebote aus der Umwelt modulieren jene physischen und psychischen Prozesse, die das menschliche Leben ausmachen. Umgekehrt greifen diese Prozesse in die weitere Entfaltung genetisch vorbereiteter Strukturen ein und spätestens nach der Geburt wirken sie gestaltend auf die Umwelt zurück. Obwohl das Neugeborene in den ersten Lebensmonaten noch ganz von der Versorgungsleistung seiner sozialen Umwelt abhängig ist, fordert es bereits bestimmte Reaktionen ein und regt so zur Interaktion an (Stern, 1998). Dabei handelt es sich durchaus nicht nur um biologische Notwendigkeiten wie etwa das Stillen des Hungers. Vielmehr spielen auch psychische Faktoren wie das Interesse am Erkunden der Umwelt oder die Lust an motorischen Bewegungen eine große Rolle. In diesen Interaktionen beeinflusst bereits der Säugling sein Erregungsniveau gemäß seinen augenblicklich vorherrschenden Bedürfnissen. Er vermittelt durch sein Verhalten zwischen seinen Bedürfnissen und den Angeboten der Umwelt so, dass sich das Erleben von Spannung und Entspannung auf einem bestimmten Niveau ausbalanciert. Gelingt dies, sprechen wir vom Zustand der „Homöostase“, d. h. vom dynamischen Gleichgewicht sowohl des physischen als auch des psychischen Systems (Piaget, 1974).

Das als angenehm erlebte Erregungsniveau unterscheidet sich in seiner Intensität von Mensch zu Mensch und von Situation zu Situation – und zwar von Anfang an. Manche Säuglinge fühlen sich rasch überstimuliert, während anderen viele Reize geboten werden müssen, damit sie sich nicht langweilen. Zudem ist die Zone des Wohlbefindens zwischen Über- und Unterforderung unterschiedlich breit angelegt, ebenso wie die Toleranz gegenüber zeitweiligen Abweichungen. Hier sind also unterschiedliche Eigenschaften beobachtbar, welche der Person als Charakteristika zugerechnet und auf biologisch-genetische Differenzen zurückgeführt werden können.

Dazu zählt auch die Besonderheit des emotionalen Erlebens: etwa die Schnelligkeit, mit der eine Gefühlsqualität entsteht, und die Intensität, in der sie erlebbar wird. Doch schon die ersten Erfahrungen mit der sozialen Umwelt wirken auf diese inneren Prozesse zurück und beginnen sie zu modulieren (Linehan, 1996a, b). Reagieren zum Beispiel die frühen Bezugspersonen rasch und angemessen auf emotionale Signale des Kindes, reicht bereits eine geringe Gefühlsintensität aus, um treffsichere Reaktionen der Bezugsperson hervorzurufen. Reagieren Bezugspersonen aber stark verzögert und oft unangemessen, dann müssen emotionale Signale zu höherer Intensität anwachsen, um überhaupt von den Bezugspersonen bemerkt zu werden. Und sie werden möglicherweise weniger genau auf die Anforderungen der Situation abgestimmt sein, weswegen diese Emotionen sowohl für das Individuum selbst als auch für die jeweiligen Sozialpartnerinnen nur in stark vergröberter Form wahrnehmbar werden.

Noch deutlicher zeigt sich der Einfluss der Umwelt auf die Ausformung der Sprache. Nur die von den Bezugspersonen zur Verfügung gestellten Begriffe können ins Repertoire des Kindes übernommen werden. Sind in einer Familie bestimmte Themen ausgespart und werden gewisse Aspekte der Interaktion nicht explizit benannt, kann das Kind nur schwer diesbezügliche Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, da die sprachlichen Voraussetzungen dafür fehlen. Aber auch hier muss noch vor jeder Betrachtung der zwischenmenschlichen Beziehungen der Entwicklungsgrad des Zentralnervensystems berücksichtigt werden. Zwar beginnt die erste sprachliche Kommunikation im Sinne einer gemeinsamen Nutzung von bedeutungshaltigen Worten im zweiten Lebensjahr (Stern, 1998), aber die kognitiven Fertigkeiten steigern sich bis in die Pubertät und ins frühe Erwachsenenalter. Dabei können immer komplexere Zusammenhänge erfasst und sprachlich thematisiert werden.

Emotionale und kognitive Erfahrungen sind also abhängig vom Medium des Körpers. Und insbesondere das Zentralnervensystem spielt dabei eine wesentliche Rolle: Es ist das menschliche Organ, das der Informationsverarbeitung dient. Wir denken hier nicht nur an die Großhirnrinde als den evolutionsgeschichtlich jüngsten Teil, sondern über die älteren Stammhirnregionen hinaus auch noch an die Nervenzellen rund um die menschlichen Eingeweide. Im Zentralnervensystem findet die engmaschige Vernetzung von wahrgenommenen Reizen mit den inneren Befindlichkeiten statt: Stoffwechselvorgänge, hormonelle Kreisläufe, Einschätzungen von Gefühlen, Denkleistungen und Rückgriffe auf Gedächtnisinhalte werden hier koordiniert. Abhängig von den dabei hervortretenden Bedürfnissen werden Handlungen entworfen, konkrete Verhaltenssequenzen gesteuert und neue Wahrnehmungen gemacht. Diese kontinuierliche Rückkoppelung zwischen inneren Prozessen, in die Umwelt hineinwirkenden Handlungen und der Beobachtung der daraus resultierenden Konsequenzen wird vom Nervensystem getragen. Der anatomische Aufbau der Nervenverbindungen spiegelt auf vielen Ebenen die angedeutete kreisförmige Anordnung wider – wir sprechen daher auch von „zirkulären Strukturen“ und „Feedback-Schleifen“.

Verhaltensgewohnheiten, wiederkehrende Denk- und Verarbeitungsmuster sowie emotionale Erlebnisse stehen also in unmittelbarem Bezug zu den etablierten Nervenzellverbänden, was jedoch nicht bedeutet, dass sie damit schon ein für alle Mal festgelegt wären – ganz im Gegenteil: Die feinen Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen besitzen eine erstaunlich hohe Plastizität, d. h., sie wachsen relativ schnell und können so stets neue Zellverbände bilden (Heim & Meinlschmidt, 2003). Das Erlernen von bislang unbekannten Inhalten, die Ergebnisse von Denkprozessen und neue emotionale Erfahrungen führen auch zu einer Veränderung der organischen Basis. Doch die jeweils vorhandene neuronale Struktur begrenzt in ihrer Beschaffenheit gleichzeitig die Möglichkeiten der daran anschließenden weiteren Entwicklung. Veränderungen des Zentralnervensystems können immer nur vom aktuellen Zustand ausgehend Schritt für Schritt erfolgen und sie verbleiben notwendigerweise innerhalb des physiologisch vorgegebenen Rahmens.

Ähnlich kann auch das Verhältnis zwischen menschlichem Bewusstsein und Zentralnervensystem gesehen werden. Wir erleben „Bewusstsein“ als unteilbares Ganzes, welches auf innere oder äußere Ereignisse mit mehr oder weniger konzentrierter Aufmerksamkeit gerichtet ist. Die Qualität dieser Aufmerksamkeit ist dabei nur der erlebenden Person selbst zugänglich. Um nun eine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Bewusstsein und Körper bekommen zu können, machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir an, eine Person würde ihre Bewusstseinszustände beschreiben und währenddessen hätte ein fiktiver Beobachter die Möglichkeit, zeitgleich die Prozesse im Zentralnervensystem zu betrachten: Zweierlei Beschreibungen von ein und demselben Vorgang würden nun einander gegenüberstehen – einerseits die psychischen („mentalen“) und andererseits die neuronalen Ereignisse.

Auf die in der philosophischen Tradition als „Leib-Seele-Problem“ bekannte Frage nach dem Verhältnis zwischen Bewusstseinszuständen und den Körpervorgängen fand sich bisher noch keine eindeutige Antwort (Bunge & Ardila, 1987). Keines der auf den beiden Ebenen beschriebenen Phänomene kann unserer Ansicht nach einseitig auf das jeweils andere zurückgeführt oder reduziert werden. Weder ist das Bewusstsein eine bloße Begleiterscheinung der Hirnaktivität ohne eigenen Einfluss auf das menschliche Verhalten, also ein sogenanntes „Epiphänomen“ der Nerventätigkeit. Noch ist das Bewusstsein im Rahmen wissenschaftlicher Psychologie als völlig vom Körper unabhängiges „Geistes- oder Seelenphänomen“ zu verstehen, das sich in extremer Auffassung sogar die Welt und das eigene Sein nur „ausdenkt“. Als konsequente Folgerung aus den bisher schon beschriebenen verhaltenstherapeutischen Grundannahmen über die Wechselseitigkeit von Person und Umwelt sowie zwischen kognitiven und emotionalen Prozessen bietet sich aber auch in dieser Frage eine vorläufige Lösung an: Demnach wäre das Zentralnervensystem zwar eine notwendige Voraussetzung für das Erleben von Bewusstsein, aber die Ereignisse im Bewusstseinsstrom können dann zu Entscheidungen führen, welche nicht durch die Nerventätigkeit selbst vorherbestimmt sind. Daraus hervorgehende Handlungen ziehen dann neue Erfahrungen nach sich, die auf die neuronalen Verbindungen verändernd zurückwirken. Das typisch verhaltenstherapeutische Verstehensprinzip der Berücksichtigung von wechselseitigen Einflüssen kann also auch hier geltend gemacht werden. Im konkreten Verhalten zeigt sich schließlich die Synthese aller beteiligten Prozesse, welche einzeln jeweils nur in der ihnen angemessenen Dimension beschrieben werden können.

1.2 Organisation von Erfahrung

Wenn Menschen mit ihrer Umgebung interagieren, ist der Ausschnitt, der bewusst erlebt wird, meist durch stark wechselnde Inhalte gekennzeichnet. Die mehr oder weniger konzentrierte Aufmerksamkeit schwenkt beispielsweise vom Mienenspiel des sozialen Gegenübers hin zum gerade auszusprechenden Gedanken. Wirkte der andere etwa teilnahmslos, könnte der Wunsch aufkommen, ihn zurechtzuweisen. Vielleicht wird aber das Aussprechen des Satzes gestoppt, da ein leichtes Schamgefühl wegen der plötzlich empfundenen Unangemessenheit der eigenen Forderung deutlich wird. In der entstehenden Pause könnte das Ticken der Uhr wahrgenommen werden, gefolgt von der Konzentration auf die plötzlich bekundete Bereitschaft des Gegenübers, selbst das Wort zu ergreifen.

Schon an diesem Beispiel sehen wir, dass der Ausschnitt des Bewusstseins dem Strahl einer Taschenlampe gleicht, der durch einen dunklen Raum voller Gegenstände wandert und dabei sehr rasch von einem Punkt zum anderen springt. Wenn auch mehrere Umstände gleichzeitig erfasst werden können, so verbleibt eine Vielzahl der kontinuierlich parallel ablaufenden psychischen Prozesse dabei notwendigerweise außerhalb unserer Aufmerksamkeit.

In der Interaktion mit der Umwelt wird der Strom der Ereignisse meist selektiv über die Brücke des bewussten Erlebens in den bisherigen Erfahrungsschatz eingegliedert. Werden wir etwa von einer Reiseleiterin über die Besonderheiten der gerade bereisten Stadt informiert, werden ihre Aussagen und die bewusst wahrgenommenen Sehenswürdigkeiten aufgegriffen und in unser bisheriges Wissen über diese Stadt eingegliedert. Gleichzeitig wird die Aufmerksamkeit auf Grundlage der vorhandenen Erfahrungen gelenkt, da Menschen ihre Sinne oft dorthin orientieren, wo sie erwarten, etwas Relevantes wahrnehmen zu können. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Wir werden in der fremden Stadt auch nach den Sehenswürdigkeiten suchen, die uns schon vorher bekannt waren, selbst wenn uns die Reiseleiterin die entsprechenden Hinweise schuldig bleibt.

Im Allgemeinen registriert unsere Wahrnehmung vorhandene Unterschiede und hilft beim Erkennen von Regelmäßigkeiten und Mustern. Worin unterscheiden sich beispielsweise die Tischsitten in diesem fremden Land? Ist auf das regelmäßige Verschwinden des Morgennebels Verlass? Kann ich meine Wünsche der Bevölkerung gegenüber genauso zum Ausdruck bringen wie daheim? Ein großer Teil unserer Lernbereitschaft hat in diesem Sinne das Erkennen von Zusammenhängen zum Ziel. Diese Art, Erfahrungen zu organisieren, dient unmittelbar dem eigenen Überleben. Alles, was wir über die Relationen zwischen uns und unserer Umwelt lernen können, bekommt einen hohen Wert für die Selbstorganisation des Organismus.

Grundsätzlich werden drei Formen des Lernens unterschieden (Ehlers, 1996): einmal, dass bei bestimmten wahrzunehmenden Reizen eine bestimmte Folge eintreten kann. Hörte jemand im Straßenverkehr ein lautes Reifenquietschen und wurde unmittelbar danach von einem Auto angefahren, so wird künftig ein Bremsgeräusch häufiger als bisher eine Schreckreaktion auslösen – diese Verkehrsteilnehmerin hat zunächst gelernt, ein Geräusch mit unmittelbarer Gefahr zu assoziieren. Doch schon hier ist vorstellbar, dass das Erlernen von Zusammenhängen nicht unbedingt nur bewusst erfolgen muss. Vielleicht ist unsere Fußgängerin, kurz bevor sie das Reifenquietschen hörte, über eine Wasserpfütze gesprungen. Diese Bewegung erfolgte möglicherweise „gedankenverloren“, also hoch automatisiert. Der Zusammenhang zwischen Sprung und drohender Gefahr kann nun aber ebenfalls erlernt worden sein, ohne dass die Person bewussten Zugang zu dieser Gedächtnisverbindung besitzt. Erst wenn bei einem neuerlichen Sprung über eine Pfütze eine massive Schreckreaktion erfolgt, obwohl keinerlei Bremsgeräusch zu hören ist, kann der erlernte Zusammenhang bewusst werden. Diese Form des Lernens folgt dem Prinzip der sogenannten „klassischen Konditionierung“, die seit den Anfängen der Verhaltenstherapie den Einfluss von Bedingungen erhellt, die dem Verhalten vorausgehen. Das Prinzip besagt, dass an sich neutrale Reizquellen (hier der Sprung über die Pfütze) durch zeitliche und räumliche Koppelung mit bedeutungsvollen Ereignissen eine Signalfunktion bekommen und ein bestimmtes Verhalten auslösen können (hier vielleicht einen schreckhaften Blick über die Schulter).

Die zweite Form des Erkennens und Erlernens von Zusammenhängen betrifft die Konsequenzen, die bestimmten Verhaltensweisen nachfolgen. Es ist für Menschen sehr wichtig, die Folgen ihres Handelns in ihr Handeln mit einbeziehen zu können. Auch das geschieht oft nur teilweise bewusst. Sowohl das Eintreten von angenehm empfundenen Konsequenzen als auch der Wegfall von unangenehm empfundenen Konsequenzen machen es wahrscheinlicher, dass jemand in ähnlichen Situationen erneut ähnliche Verhaltensweisen wählt. Werden etwa in einem Gespräch die eigenen Gefühle von der Gesprächspartnerin aufgegriffen und anerkannt, so wird in einer künftigen Begegnung eher wieder diese oder sogar eine noch größere Bereitschaft zur Selbstoffenbarung bestehen. Umgekehrt verringert das Eintreten von unangenehm empfundenen Konsequenzen oder der Wegfall von angenehm empfundenen Konsequenzen die Wahrscheinlichkeit, dass die Verhaltensweise noch einmal gewählt wird. Kinder greifen eher nicht noch einmal auf die heiße Herdplatte.

Zunächst sei betont, dass das subjektive Einschätzen und Erleben der Konsequenzen von zentraler Bedeutung ist. Kognitive Einstellungen und Erwartungen eröffnen einen großen Spielraum unterschiedlicher Verhaltensmöglichkeiten in Abstimmung mit der jeweiligen Situation. Wenn ich durch riskantes Verhalten demonstrieren möchte, wie außergewöhnlich tapfer ich bin, werden mich auch wiederholt schmerzhafte Konsequenzen nicht unbedingt davon abbringen, vorausgesetzt ich stufe sie als nicht ernsthaft lebensbedrohlich ein. Gleichfalls beeinflusst die augenblickliche emotionale Befindlichkeit die Wahl des Verhaltens. Bin ich gerade ängstlich gestimmt, werde ich angesichts der Androhung negativer Konsequenzen vielleicht eher mit ausweichendem Verhalten antworten; bin ich hingegen verärgert, werde ich mich eher in eine Offensive begeben.

Diese komplexen Abstimmungsvorgänge in Bezug auf die Konsequenzen unseres Verhaltens können durchaus bewusst geschehen. Oft treten die Konsequenzen des eigenen Verhaltens aber so unterschwellig auf, dass sie von der Betroffenen gar nicht mit voller Aufmerksamkeit wahrgenommen werden und zuordenbar sind. Dennoch werden sie in die Synthese des Verhaltens mit einbezogen. Denken wir nur an das Beispiel von der Bereitschaft zur Selbstoffenbarung in Gesprächen: Treffen wir auf eine Gesprächspartnerin, die weder mimisch noch verbal auf die von uns gezeigten Gefühle reagiert, muss dieser Umstand zwar nicht bewusst werden, doch er wird auf die weitere Verhaltensbereitschaft Einfluss nehmen. Die entsprechenden Reize im Wahrnehmungsfeld können nämlich auch registriert werden, wenn sie nicht im Fokus der unmittelbaren Aufmerksamkeit stehen. In der Folge mag die Bereitschaft, sich mitzuteilen, allmählich abnehmen oder der Kontakt mit dem Gegenüber künftig ganz gemieden werden. Dieses Phänomen wird als „operantes Konditionieren“ bezeichnet. Es besagt, dass spontan gezeigtes („operantes“) Verhalten aufgrund der nachfolgenden Bedingungen in seiner Auftretenswahrscheinlichkeit beeinflusst wird.

Die dritte Form des Erkennens von Zusammenhängen bezieht sich auf die Tatsache, dass Menschen durch Beobachtung von anderen Menschen lernen. Die stellvertretenden Erfahrungen der anderen geben auch der Beobachterin Hinweise über vorausgehende und nachfolgende Bedingungen bei bestimmten Verhaltensweisen. Dieses sogenannte „Modelllernen“ kann auch mit unterschiedlicher Aufmerksamkeit einhergehen, sodass der Grad an Bewusstwerdung variiert. Konkrete Arbeitsschritte eines Handwerkers werden wohl konzentrierter verfolgt werden als zum Beispiel die subtile Veränderung der Gebärdensprache in einer Jugendgruppe. Die ausgeprägte soziale Komponente des Modelllernens wird hier übrigens gut ersichtlich. Sie reicht weit zurück bis in die frühe Kindheit. Schon mit zwei Jahren beginnen sich Kinder mit ihren Bezugspersonen zu identifizieren. Die Imitation von deren Verhaltensweisen stellt nicht nur Nähe her, sondern ermöglicht auch ein spielerisches Probehandeln. „Wie reagieren denn zum Beispiel die Erwachsenen, wenn ich mit ihnen genauso schimpfe, wie sie es mit mir tun?“ Auf diese Weise werden Grenzen ausgelotet und unausgesprochene Regeln und Unterschiede erfahren. Indem Kinder allmählich Gesten, Redewendungen und Symbole aus der Erwachsenenwelt übernehmen, können sie den gemeinsamen Erfahrungsraum immer differenzierter erfassen und gestalten.

Die Organisation menschlicher Erfahrung wurde in der Geschichte der Verhaltenstherapie zuerst durch diese drei Formen des Lernens beschrieben: klassische und operante Konditionierung sowie Modelllernen. In der solcherart erfassten Abfolge von Reizen, Reaktionen und Konsequenzen wurden Organisationseinheiten auf der Ebene des beobachtbaren Verhaltens abgegrenzt, d. h., menschliches Verhalten erwies sich als organisiert in Bezug auf eng umschriebene umweltbedingungen. Aber im Zuge des Lernens kommt es notwendigerweise auch zum Aufbau innerpsychischer Strukturen, die diesen Bezug des individuums zur umwelt leiten. Da diese nicht direkt beobachtbar sind, sondern nur indirekt aus dem gezeigten Verhalten und der Kommunikation über subjektives Erleben erschlossen werden können, bedarf es einer Abstrahierung. Der Begriff des „Schemas“ wurde daher ins verhaltenstherapeutische Menschenbild eingeführt, um diese innerpsychischen organisationseinheiten benennen zu können.

Der Schemabegriff, der auf Arbeiten sowohl von Bartlett (1932) als auch von Piaget (1936) zurückgeht, bezeichnet einen innerpsychischen Prozess, welcher vorhandene Erfahrungen heranzieht, um aktuelles Verhalten auszurichten. Genauer betrachtet werden Prinzipien, die Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln strukturieren, von den spezifischen Merkmalen und Anforderungen einer Situation aktiviert. Wir sagen auch, dass das Schema „getriggert“ wird. Die Sinnesorgane werden dann gemäß den vorhandenen Erwartungen orientiert, was den ökonomischen Einsatz der zur Verfügung stehenden Aufmerksamkeit ermöglicht – allerdings zum Preis von selektiver Wahrnehmung. Wenn die wahrgenommenen Situationsmerkmale als Signal aufgefasst werden und den Einsatz des mit dem Schema verknüpften Verhaltensrepertoires zu rechtfertigen scheinen, kommt es zu konkreten Umsetzungsschritten. Erinnert uns etwa die Türklingel daran, dass wir seltenen Besuch erwarten, werden wir vielleicht besonders bemüht sein, die Gäste würdig zu empfangen: Das Schema „Sorge für das Wohlbefinden deiner Gäste“ wurde aktiviert und alles, was wir jemals über die Rolle des Gastgebers erfahren haben, wird unser Verhalten leiten. Beispielsweise werden wir selektiv darauf achten, dass den Besucherinnen bei Bedarf sofort Wein nachgeschenkt wird. Den gerade in der Küche überkochenden Topf könnten wir aber aufgrund der selektiv geleiteten Aufmerksamkeit eher übersehen.

Treten nun die erwarteten Konsequenzen auch tatsächlich ein, wurde das Schema als situationsangemessen bestätigt – im obigen Fall sind unsere Gäste hochzufrieden mit der Bewirtung. Die Erfahrung, dass die aktuelle Situation erwartungsgemäß bewältigt wurde, fügt sich in die bereits vorhandenen Erfahrungen ein. In diesem Sinn ist sie ans Schema „assimilierbar“: Als den Vorgang der Assimilation bezeichnen wir die problemlose Eingliederung neuer Erfahrungen in die vorhandenen Schemata.

Andererseits gibt es die Möglichkeit, dass die gegenwärtigen Erfahrungen den vorherigen Erwartungen widersprechen. Dies kann eintreten, weil entweder die Situationsmerkmale missdeutet wurden oder das Verhalten die Anforderungen nicht erfüllen konnte (da diese sich vielleicht geändert haben) oder aber weil überraschende Konsequenzen auftraten. In unserem Beispiel könnten unsere Gäste ein rebellisches Kleinkind im Trotzalter mitbringen, sodass keine unserer kulinarischen Bemühungen imstande ist, ihr Wohlbefinden herbeizuführen – vielleicht verlassen sie uns entnervt, noch bevor wir sie bewirten konnten. In solchen Fällen kann es zweckdienlich sein, die Erwartungen zu korrigieren und das Verhaltensrepertoire zu erweitern. Wenn wir öfter Besuch von Familien mit Kleinkindern bekommen würden, müsste das Schema „Sorge für das Wohlbefinden deiner Gäste“ eventuell dahingehend modifiziert werden, auch gezielte Spielangebote an den Nachwuchs zu machen. Das Schema muss sich also an die neuen Bedingungen anpassen, d. h. „akkommodieren“: Als den Vorgang der Akkommodation bezeichnen wir die nachhaltige Veränderung eines Schemas angesichts von Erfahrungen, die nicht assimilierbar sind.

Wir sollten aber nicht vergessen, dass die Benennung von „Schemata“ als sprachliche Hilfskonstruktion zur Abgrenzung und Erfassung von Prozessen erfolgt, die wir nicht direkt beobachten können. Sie zu vergegenständlichen hilft jedoch dabei, das konkrete Handeln von Personen verstehen zu können. Sollen kognitive Prozesse, die der Organisation von Erfahrung dienen, unterschieden werden, so spricht man von „kognitiven Schemata“ (Beck et al., 1994; Young, Klosko & Weishaar, 2005); sind primär emotionale Prozesse beteiligt, kann von „emotionalen Schemata“ gesprochen werden (Greenberg & Safran, 1987) und bei der Verschränkung von emotionalen und kognitiven Komponenten auch von „affektiv-kognitiven Schemata“ (Ciompi, 1997).

Die Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung der Schemata erfolgt unterschiedlich, je nachdem ob es sich um mehr emotional oder mehr kognitiv geleitete Prozesse handelt. Zahlreiche Forschungsbefunde legen nämlich die Annahme von zwei grundsätzlich verschiedenen psychischen Verarbeitungssystemen nahe (Epstein, 1990). Auch wenn beide Systeme eng miteinander verwoben sind, kann eine eher ganzheitlich-emotionale Art der psychischen Verarbeitung von einer eher analytisch-rationalen unterschieden werden. Die ganzheitlichemotionale Verarbeitung gilt als früheste Form, die schon beim Säugling das Verhalten steuert. Erst bei zunehmender Reifung des Zentralnervensystems und Ausbau der kognitiven Fertigkeiten wird diese frühe Form von der analytischrationaleren Verarbeitung flankiert.

Das ganzheitlich-emotionale Verarbeitungssystem orientiert sich primär an den emotionalen Grundqualitäten, welche grob in die Gruppen der Lust- und Unlustempfindungen unterteilt werden können. Diese werden als umfassende Reaktionen des Organismus auf die gegenwärtige Situation verstanden (deshalb auch „ganzheitlich“). Dabei wird die Wirklichkeit vorwiegend bildhaft metaphorisch erfasst und interpretiert. Die Verarbeitung ist weniger differenziert, sondern nach Kategorien und Analogien organisiert. Emotionale Komplexe, welche auf der Basis von Assoziationen aktiviert werden, spielen dabei eine wesentliche Rolle. Die Verarbeitung erfolgt deshalb sehr rasch und ist auf unmittelbares Handeln ausgerichtet. Ein neben uns bellender Hund kann blitzartig Angst auslösen, sodass wir intuitiv die Arme hochziehen.

Andererseits kann das emotionale Verarbeitungssystem nur überaus langsam verändert werden, aufbauend auf wiederholt korrigierenden Erfahrungen. Werden bellende Hunde nun einmal mit Gefahr assoziiert, bedarf es oftmaliger Begegnungen mit friedlichen Hunden, bis sich die Heftigkeit der Angstreaktion vermindert. Meist wird die ganzheitlich-emotionale Art der Verarbeitung passiv erlebt, teils auch wenig bewusst. Wir werden von unseren Gefühlen bestimmt, ob wir wollen oder nicht, und sie geben eine Einschätzung der Situation ab, die uns überaus plausibel erscheint.

Demgegenüber orientiert sich das analytisch-rationale Verarbeitungssystem an dem, was logisch und vernünftig erscheint. Verhalten wird dabei mehr durch überlegte und analysierende Einschätzung der Situation gesteuert. Zahlt es sich beispielsweise aus, die kaputte Waschmaschine reparieren zu lassen, oder ist es wirtschaftlicher, gleich eine neue anzuschaffen? Die Wirklichkeit wird in abstrakten Symbolen (Begriffen und Zahlenverhältnissen) und daher hochdifferenziert erfasst. Interessant ist, dass hier im Gegensatz zum emotionalen System die Verarbeitungsgeschwindigkeit sehr langsam ist. Vor wichtigen Entscheidungen und Handlungen bedarf es mitunter einer langen Phase analytisch-rationaler Bearbeitung. Und oft werden Ereignisse verarbeitet, die schon geschehen sind. Selbst da benötigt es einige Zeit, bis sich ein klarer Standpunkt etablieren kann. „War es richtig, die Arbeitsstelle zu wechseln?“, beispielsweise.

Andererseits lässt das analytisch-rationale System äußerst rasche Veränderungen zu. Mit der Schnelligkeit eines Gedankens kann uns ein neues Argument vom Gegenteil der vorherigen Ansicht überzeugen. Erfahren wir im obigen Beispiel etwa, dass der alte Arbeitgeber in Konkurs gegangen ist, werden wir plötzlich doch nicht mehr unsere Entscheidung hinterfragen. Ebenfalls im Gegensatz zum emotionalen System wird die rationale Verarbeitung aktiv und bewusst erlebt – wir gehen in unserem subjektiven Empfinden eher davon aus, dass wir unsere Gedanken selbst produzieren und kontrollieren können.

Auch wenn diese beiden Verarbeitungssysteme hier klar gegenübergestellt werden, ist zu berücksichtigen, dass weder emotionale noch kognitive Prozesse in absoluter Reinform existieren. Die gelungene Synthese von situationsangemessenem Verhalten erfolgt meist unter Beteiligung beider Systeme. Manchmal ist mehr das eine System handlungsleitend, manchmal das andere. Gefühle werden häufig von Gedanken begleitet und Gedanken führen vielfach zu emotionalen Resonanzen. Dies sollten wir in Erinnerung behalten, wenn wir in den nächsten Kapiteln noch näher und gesondert auf diese beiden Forschungsgebiete eingehen.

1.3 Die Gefühle

In den verschiedensten Kulturen ist der mimische Ausdruck von Gefühlen ähnlich. Die Emotionsforscherinnen betrachteten die paarweise aktivierten Gesichtsmuskeln, welche das Erleben eines Gefühls begleiten, und stellten fest, dass zu bestimmten Gefühlen bestimmte Ausdrucksmuster eindeutig zuordenbar sind (Izard, 1994). Es liegt daher nahe, unterscheidbare „Grundgefühle“ (Basisaffekte, fundamentale Emotionen) zu definieren. Das damit verbundene Konzept wird daher auch als „differenzielle Emotionstheorie“ bezeichnet.

Grundgefühle sind schon in der frühesten Mutter-Kind-Interaktion zu beobachten: der Ausdruck von Interesse (Neugier, Erregung), Überraschung (Schreck) und Ekel (Abscheu) ab der Geburt; Freude (Vergnügen) kommt nach 4–6 Wochen dazu; Ärger (Zorn, Wut, Aggression) und Traurigkeit (Kummer, Schmerz) folgen mit 3–4 Monaten und Angst (Furcht, Entsetzen) vor bestimmten Objekten stellt sich mit 6–8 Monaten ein. Auch könnte der Ausdruck von Geringschätzung (Verachtung) hier dazugezählt werden.

Manche Forscherinnen wählen abweichende Einteilungen und Benennungen dieser Grundgefühle, auch variieren die Angaben zum Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens, aber in groben Zügen stimmen sie überein. Der Ausdruck von Scham- und Schuldgefühlen und das Erleben dieser Gefühlsqualität treten erst später hinzu, nämlich sobald die Wahrnehmung der eigenen Person in Bezug auf jemand anderen möglich wird, etwa gegen Ende des zweiten Lebensjahres.

Erst nach diesen Grundgefühlen entstehen die komplexen Emotionen. Diese werden unter wesentlicher Beteiligung des kognitiven Systems hervorgebracht und sind relativ uneinheitlich beschrieben. Wir begnügen uns hier mit einer bloß unvollständigen Auflistung: Neid, Stolz, Sorge, Eifersucht, Enttäuschung, Ungeduld, Langeweile, Beleidigtsein, Rührung, Dankbarkeit, Begeisterung, Übermut und Glück sind einige der abgrenzbaren Gefühlszustände, die durch Vermischung verschiedener emotionaler Grundqualitäten mit gedanklichen Bewertungsprozessen zustande kommen (Sulz & Lenz, 2000).

Doch zurück zu den Grundgefühlen: Diesen können auch auf neurophysiologischer Ebene charakteristische Muster von hirnelektrischer Aktivität zugeordnet werden. Je intensiver die Emotion erlebt wird, desto deutlicher treten diese im Elektroenzephalogramm (EEG) aufgezeichneten Muster hervor. Gleichfalls wird vermutet, dass bestimmte Botenstoffe des Nervensystems (sogenannte Neurotransmitter wie etwa das bekannte „Adrenalin“) samt zugehörigen Rezeptoren für einzelne Grundgefühle zuständig sind. Emotionale Reaktionssysteme sind folglich als evolutionsgeschichtlich frühe Formen der Verhaltenssteuerung anzusehen, welche den Menschen über alle Kulturen hinweg bereits biogenetisch mitgegeben werden. Sie erfüllen wichtige Funktionen im Dienste der Arterhaltung.

Einerseits ist das Gefühlserleben ein wichtiges innerpsychisches Signal, das mit seinem jeweiligen Informationsgehalt zur Selbststeuerung des Organismus beiträgt. Zudem hilft es, die zum Handeln nötige Energie aufzubringen – es ist „motivierend“. Andererseits ist der Gefühlsausdruck ein wichtiges zwischenmenschliches Signal, welches das Gegenüber auf die aktuellen Bedürfnisse hin orientiert und daher auch passende Reaktionen hervorrufen kann. Physiologische, innerpsychische und kommunikative Aspekte des Gefühlserlebens können dabei als zusammengehörig begriffen werden. Wiederkehrende emotionale Prozesse organisieren sich für viele Forscherinnen in Form sogenannter „emotionaler Schemata“, die die genannten Aspekte umfassen.

Betrachten wir zunächst die innerpsychischen Wirkprinzipien der Grundgefühle (Ciompi, 1997). Interesse führt tendenziell zu Hinwendung, Angst zur Distanzierung von einem Gegenstand, einer Person oder einem Inhalt beziehungsweise von dessen gedanklichem Bild. Ärger setzt Grenzen oder weitet vorhandene Grenzen aus. Freude schafft neue Bindungen, während Trauer Bindungen löst. Jedes dieser Grundgefühle begünstigt daher auch bestimmte Handlungstendenzen. Beispielsweise kann Angst zu Vermeidungs- und Fluchtverhalten veranlassen oder Trauer die Suche nach Tröstung bewirken. Scham- und Schuldgefühle können Verhaltensweisen hervorbringen, die ein Ungeschehen- oder Wiedergutmachen zum Ziel haben.

Die zweite Wirkebene von Gefühlen ist in der zwischenmenschlichen Kommunikation zu suchen. Der mimische Ausdruck informiert das Gegenüber rasch und umfassend über die aktuelle Befindlichkeit der Kommunikationspartnerin. Die Schnelligkeit der nonverbalen Kommunikation lässt vermuten, dass direkt – mitunter auch ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit – das emotionale System des Gegenübers angesprochen wird.

Das Ausmaß der emotionalen Resonanzfähigkeit ist dabei freilich von Mensch zu Mensch und von Situation zu Situation verschieden. Im günstigen Fall können wir uns in das Bedürfnis einfühlen, das mit der gezeigten Emotion verbunden ist. Unsere Reaktion könnte dann zumindest das Bedürfnis des Gegenübers anerkennen, vielleicht in der Folge sogar befriedigen. Der Auslöser des emotionalen Signals wäre damit aufgehoben und der Gefühlsausdruck obsolet. Zum Beispiel ist das Weinen des eben hingefallenen Kleinkindes als Signal aufzufassen, das die Bezugsperson heranholen und eine angemessene Hilfestellung bewirken soll. Eilt diese nun rasch herbei, hebt das Kind auf und tröstet es durch körperliche Nähe und beruhigende Worte, wird das Weinen langsam aufhören.

Bereits an anderer Stelle wurde angedeutet, dass Gefühle in unterschiedlicher Intensität erlebt und ausgedrückt werden. Alle bis dahin gemachten Erfahrungen mit der Kommunikation von Gefühlen fließen ja mit ein. Auch die biogenetischen Anlagen sind in Rechnung zu ziehen, um die große Bandbreite von emotionaler Gehemmtheit bis zur impulsiven Übersteuerung von emotionalen Prozessen als Folge einer natürlichen Varianz betrachten zu können.

Abschließend soll noch darauf verwiesen werden, dass in vielen Konzepten „Affekt“ als übergeordneter Begriff für „Trieb“ und „Gefühl“ verwendet wird. Im Unterschied zu Gefühlen werden hier Triebe – wie Sexualität oder Hunger – als eng verknüpft mit den biologischen Notwendigkeiten zur Erhaltung von Organismus und Art gesehen. Begleitende Verhaltensweisen werden durch angeborene Instinktprogramme gesteuert, die relativ unabhängig von der jeweiligen Situation wie nach einem Muster ablaufen.

Außerdem können jene affektiven Kräfte als „Vitalitätsaffekte“ bezeichnet werden, die in Bewegung und Stimme zum Vorschein kommen (Stern, 1998). Der jeweilige Rhythmus, das Tempo und die Intensitätsveränderungen bilden unabhängig von möglichen Gefühlstönungen eine charakteristische Aktivierungskontur, d. h. einen klar unterscheidbaren Verlauf der in die kommunikative Äußerung eingebrachten Energie.

Weiters werden auch „Stimmungen“ von Gefühlen unterschieden. Diese treten seltener ins Bewusstsein, da sie zumeist nicht in Zusammenhang mit konkreten Situationen gebracht werden können. Sie halten im Allgemeinen länger an und modulieren als „Hintergrund“ in umfassender Weise unser Selbsterleben. Beispielsweise kann das Gefühl des Ärgers meist eindeutig auf den ärgerlichen Umstand bezogen werden, aber die Zuordnung einer „gereizten Stimmung“ zu einem auslösenden Ereignis fällt ungleich schwerer. Obwohl es diese Auslöser zweifelsohne gibt, sind sie dem Bewusstsein zunächst nur selten zugänglich. Gleichfalls tritt das Ende einer Stimmungsphase im Gegensatz zum Gefühl eher unbemerkbar und langsam ein. Der Ärger verschwindet, wenn der Anlass beseitigt ist, aber die gereizte Stimmung verändert sich erst allmählich – im Verlauf eines Tages – und selbst dies wird nur im Nachhinein bemerkt.

1.4 Das Denken

Eine Kognition kann im engeren Sinn als verbales oder bildhaftes Ereignis definiert werden, das im Bewusstseinsstrom des Menschen erlebbar wird. Weiter gefasst kann zu diesem Sammelbegriff jede Art von Informationsverarbeitung gezählt werden, selbst wenn sie ohne bewusste Aufmerksamkeit stattfindet. Teilaspekte der Informationsverarbeitung sind: Wahrnehmen, Denken (als Verknüpfung von Kognitionen mit einer bestimmten Logik), Entscheiden und Problemlösen, auch Vorgänge des Erinnerns, bei denen konkrete Inhalte eine Rolle spielen.

Prozesse der Informationsverarbeitung zielen meist darauf ab, Unterschiede zu erkennen und Regelmäßigkeiten herauszufiltern, um dann die unterschiedenen Einheiten miteinander in Beziehung zu setzen. Die Wahrnehmung orientiert sich beispielsweise an Konturen und Bewegungen, die sich vom Umfeld abgrenzen lassen. Auch auf neurologischer Ebene sind Mechanismen auszumachen, die Kontraste verstärken und die Isolation von Mustern im Zuge der Wahrnehmung erhöhen. Welche Muster aber durch Isolation vom Umfeld herausgehoben werden, hängt durchaus mit den aktuellen Bedürfnissen und Erwartungen zusammen. Ein hungriger Mensch wird zahlreiche Restaurants im Straßenbild entdecken, während ein umweltbewusster Mensch eher die überquellenden Mülleimer wahrnehmen wird.

Wir haben dieses Phänomen bereits bei der Vorstellung der „Schemata“ kennengelernt: In Abstimmung mit inneren Bedürfnissen und äußeren Reizangeboten werden bisherige Erfahrungen aktiviert und dementsprechend die Sinnesorgane ausgerichtet. Die Wahrnehmung erfolgt somit aktiv und oft auch absichtsvoll, weshalb sie als Aspekt des menschlichen Handelns begriffen werden kann (Neisser, 1979).

Die dabei selektiv herausgehobene Information kann sich stimmig in die Erfahrungen und Erwartungen eingliedern. Damit wird sie ans Schema assimiliert. Oder aber die Information widerspricht den bisherigen Erfahrungen und Erwartungen und korrigiert sie in der Folge. Dann muss sich das Schema so weit verändern (akkommodieren), bis sich die neue information wieder problemlos einordnen lässt. Da aber die Beibehaltung von Schemata dem Menschen Stabilität und Orientierung ermöglicht, besteht eine Tendenz zur Herbeiführung von Wahrnehmungen, welche die vorhandenen Erfahrungen und Erwartungen bestätigen. Wir neigen eher dazu, Informationen, die die Erwartungen bestätigen, aufzusuchen und entsprechend den Schemata als Inhalte unseres Bewusstseins zu strukturieren. Die Wahrnehmung von widersprechenden und somit Änderung erzwingenden Informationen wird hingegen eher vermieden. Teilweise werden Informationen sogar im Zuge der schemageleiteten Wahrnehmung derart umgestaltet, dass sie sich leichter eingliedern lassen.

In der Beziehung zu den primären Bezugspersonen entstehen auf diesem Weg Strukturen, die kontinuierlich die Selbst- und Fremdwahrnehmung leiten. Dies sind einerseits sogenannte Körper- und Selbstschemata, andererseits die Schemata von den „wichtigen anderen“.

Diese Schemata bilden den Erwartungshintergrund für die Aufnahme von neuen Beziehungen: Wenn ich mich selbst und meinen Körper auf eine bestimmte Weise wahrnehme (etwa als unsicher und hässlich) und erwarte, dass das ebenfalls spezifisch wahrgenommene Gegenüber (etwa als überlegen, schön und kritisch) mich auch so sieht, dann resultiert daraus eine ganz bestimmte Beziehungsqualität (hier vielleicht die einer angstvollen Unterordnung). Obwohl es sich zunächst nur um Erwartungen handelt, kann im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung mein daraus hervorgehendes Verhalten genau jene erwartete Beziehungsqualität hervorrufen.

Die kognitiven Schemata beinhalten also sehr konkrete Annahmen über Eigenschaften, Werte, Kompetenzen und mögliche Konsequenzen, sie sind aber keinesfalls als „objektiv“ anzusehen. Es handelt sich um Prozesse, die durch die herrschenden Bedingungen (innere und äußere; erinnerte, gegenwärtige und vorweggenommene) nicht nur aktiviert werden, sondern in gewisser Weise auch geformt. Unser Erleben in Beziehung zu anderen Menschen ist immer das Resultat einer Synthese von früheren Erfahrungen, aktuell wahrgenommenen Umständen und deren Bewertung. Insbesondere Bewertungen gehen aus informationsverarbeitenden Prozessen hervor, die kontinuierlich Vergleiche zwischen diversen Informationsquellen ziehen und nach Ähnlichkeiten oder Differenzen suchen. Je nachdem, wie die Bewertung ausfällt, werden parallel laufende emotionale Prozesse in positiver oder negativer Grundqualität angestoßen.

Indem permanent Unterscheidungen hervorgebracht sowie Regelmäßigkeiten isoliert und in bestehende Erfahrungen eingegliedert werden, entstehen bedeutungshaltige Zusammenhänge („semantische Netze“). Die solcherart erfolgende Strukturierung zwischenmenschlicher Beziehungen durch kognitive Prozesse ist jedoch keinesfalls eindimensional. Weder gibt es nur ein abgegrenztes Bild von sich selbst noch vom Gegenüber, geschweige denn eine einzige dazugehörige Beziehungsqualität. Eher können wir davon ausgehen, dass Menschen sich selbst und andere in vielerlei teils völlig gegensätzlichen Facetten wahrnehmen können. Entsprechend der vorherrschenden Erwartung und emotionalen Gestimmtheit entstehen verschiedene Gruppierungen oder Bündelungen von kognitiven Schemata, welche die Interaktionen mit der sozialen Umwelt mit spezifischen Bedeutungen unterlegen. Gleiches kann übrigens auch für den Bezug zur unbelebten Umwelt – beispielsweise den persönlichen Gegenständen des täglichen Gebrauchs – geltend gemacht werden. Psychische Gesundheit zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass all die unterschiedlichen Facetten nebeneinander erlebt werden können, ohne für den inneren Zusammenhalt der Person bedrohlich zu werden.

1.5 Der Rückgriff auf Erfahrungen

Wenn wir von emotionalen und kognitiven Schemata sprechen, meinen wir also psychische Prozesse, die unter bestimmten Voraussetzungen aktiviert werden und eine wiedererkennbare Charakteristik aufweisen.

Diese Prozesse strukturieren die aktuellen Situationen anhand von Prinzipien, die im Zuge früherer Erfahrungen etabliert wurden. Insofern tragen Schemata zwar „Erinnerungen“ an schon einmal durchlebte Situationen in sich, aber dies nur in indirekter Form: Primär wird nicht das inhaltliche Detail erinnert oder wieder erlebt, sondern ein Prinzip der Strukturierung, das sich in der vergangenen Situation bewährt hat. „Erinnerung“ in diesem Sinn hat weniger mit bewusstem Zugriff auf Vergangenes zu tun als vielmehr mit der – oft gar nicht bewusst erlebten – Aktivierung von spezifischen Strukturierungsprinzipien. Die aktuelle Situation muss dabei bestimmte Merkmale in sich tragen, die den Aufforderungscharakter besitzen, sie durch ein bereits vorhandenes Schema zu strukturieren. Die Behandlung der neuen Situation durch ein altes Strukturierungsprinzip geht mit der mehr oder weniger bewussten Erwartung einher, die bevorstehenden Erfahrungen problemlos assimilieren zu können. Und sie setzt die meist implizite Annahme voraus, dass beide Situationen einander in irgendeiner Weise ähnlich sind.

Schemata können relativ unabhängig vom direkten Erinnern ihrer Entstehungsbedingungen wirken, auch wenn diese Bedingungen manchmal noch gut aus den Eigenheiten der schemageleiteten Prozesse zu rekonstruieren sind. Die Rekonstruktion kann aber dadurch erschwert werden, dass sich Schemata durch nötige Akkommodationsvorgänge schließlich immer mehr von den ursprünglichen Bedingungen entfernen. Dennoch stellt die Summe aller Schemata unzweifelhaft so etwas wie ein „Gedächtnis“ dar, das unter dem Einfluss von bestimmten situativen Auslösern ganz bestimmte Strukturierungsprinzipien wachrufen kann. Diese Auslöser wirken wie Schlüssel, die in die Schlösser der Schemata passen, welche nun die aktuelle Situation zu strukturieren beginnen.

Wir unterscheiden interne und externe situative Auslöser (Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen sowie den Einfluss von äußeren Bedingungen). Emotionale Schemata werden oft von emotionalen Schlüsselreizen aktiviert, kognitive Schemata oft von Reizen, die der Informationsverarbeitung entspringen. Mitunter sind beide Formen eng miteinander verwoben. So können die aus der Aktivität eines kognitiven Schemas resultierenden Bewertungen Gefühle hervorrufen, welche ihrerseits wieder zu einem Auslöser für ein emotionales Schema werden. Wenn zum Beispiel bei einer heiklen handwerklichen Aufgabe wie dem Ankleben eines ausgebrochenen Porzellanstücks an eine Vase der Klebstoff zu rasch aushärtet und daher das anzuklebende Stück nicht mehr richtig positioniert werden kann, wird der Vorgang zunächst als unbeeinflussbar und die Vase als nicht mehr zu retten bewertet. Die danach aufkommenden Ohnmachtsgefühle können nun einen emotionalen Prozess in Gang setzen, der die Situation nach dem Prinzip eines Wutanfalles strukturiert. Dieser emotionale Ausbruch ungezügelten Ärgers trägt vielleicht die Erinnerung an frühere Ohnmachtssituationen in sich, auch wenn in der Erlebnisgegenwart dies gar nicht bewusst wird. Und falls dieses destruktive emotionale Schema zur Zerstörung des bearbeiteten Gegenstandes führt (indem etwa die Vase auf den Boden geworfen wird), kann die Wahrnehmung der zerstörten Überreste einen kognitiven Prozess aktivieren, der „schematisch“ die eigene handwerkliche Kompetenz pauschal abwerten lässt („Ich bin völlig unfähig“). Dieser kognitive Prozess kann auf den vielleicht schon oftmals selbstverschuldet erlittenen Verlust von Gegenständen verweisen, auch wenn die dazugehörigen Bilder nicht unbedingt erinnert werden. Emotionale und kognitive Schemata operieren gegenwärtig und bedürfen keines direkten und bewusst erlebbaren Rückgriffes auf die inhaltlichen Details früherer Erfahrungen.