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Dieses Buch vermittelt alle wichtigen Konzepte, um auch komplexe Verhandlungsprozesse zielorientiert und erfolgreich zu steuern. Neben Verhandlungstechniken lernt der Leser psychologische Hintergründe und Hebel kennen, um sein Ziel zu verwirklichen. Anhand von Praxisbeispielen wird das empfohlene Vorgehen überprüft und die wirksame Nutzung der drei Hebel Power, Prozess und Beziehung diskutiert. Inhalte: - Entscheidertypologien: Selbsttest inklusive Auswertungsmöglichkeit zur eigenen Präferenzen und Kommunikationsstil - Personenkarte zur individuellen Analyse eines Stakeholders - Auktionen: Checkliste zur Auktionsplanung - Verhandlungsplaner: Vorbereitungsdokument für einzelnen Verhandlungsrunden - Gesprächsplaner zur Vorbereitung anderer Gesprächsformate - Stakeholder-Power-Map: Template für die Analyse unterschiedlicher Stakeholder-Organisationen - Template für SWOT-Analysen - Verhandlungsprojekte - Negotiation-Roadmap: Template für die Arbeit mit Lösungsoptionen in Verhandlungsprojekten
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Seitenzahl: 374
Haufe Lexware GmbH & Co KG
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.
Print:
ISBN 978-3-648-14826-6
Bestell-Nr. 10627-0001
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ISBN 978-3-648-14828-0
Bestell-Nr. 10627-0100
ePDF:
ISBN 978-3-648-14829-7
Bestell-Nr. 10627-0150
Christoph Kuzinski
Verhandeln mit Empathie und Strategie
1. Auflage, Januar 2021
© 2021 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg
www.haufe.de
Bildnachweis (Cover): © Alex from the Rock, Adobe Stock
Produktmanagement: Jutta Thyssen
Lektorat: Peter Böke, Berlin
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Was ist eine Verhandlung und was gehört zu ihren Rahmenbedingungen? Bei einer Vielzahl von Definitionen und Herangehensweisen lautet ein oft genanntes Verständnis, dass zwei oder mehr Parteien zusammentreffen, um eine Vereinbarung zu einem strittigen Thema abzuschließen. Daher liegt der Fokus vieler Verhandler auf diesem einen Zusammentreffen.
Dass in einer einzigen Verhandlungsrunde ein Ergebnis, ein »Deal« erzielt wird, der dann auch umgesetzt wird, ist schlicht unrealistisch. Wir nehmen daher in der Betrachtung von Verhandlungen den gesamten Prozess in den Blick. Dieser startet mit der Erkenntnis, dass ich ein Thema nicht allein entscheiden und lösen kann, und endet damit, dass eine Vereinbarung getroffen und umgesetzt wird. Innerhalb dieses kompletten Verhandlungsprozesses liegen die erfolgskritischen Aktivitäten im Regelfall abseits des Verhandlungstisches und finden in den klassischen Verhandlungskonzepten wenig Beachtung. Der Fokus der typischen und weithin empfohlenen Vorgehensweisen sind Optimierungsstrategien, Taktiken und Rhetorik, die angewandt werden, um vorteilhafte Ergebnisse zu erzielen. Ohne Zweifel gutes Handwerkszeug für eine einzelne Runde, die emotionale Ebene wird dabei meist ausgeblendet. Das ist nahezu verrückt, wenn man bedenkt, dass für die menschliche Entscheidungsfindung emotionale Faktoren ausschlaggebend sind.
Für eine sinnvolle Betrachtung von Verhandlungen gilt es, die Kombination von Empathie und Emotion, Strategie und Taktik in Gesprächsterminen in den Blick zu nehmen, um die Zielerreichung über vollständige Verhandlungsprozesse zu optimieren. Die Schwierigkeit, diese Komplexität zu managen, wird dabei regelmäßig unterschätzt. Die dafür notwendigen Konzepte und Vorgehensweisen aufzuzeigen, ist Anliegen dieses Buches.
Wenn Sie in einer Situation nicht allein entscheiden können und somit in einer gewissen Abhängigkeit von dieser anderen Seite sind, gibt es keinen Ausweg: Sie müssen eine Lösung finden, um die unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen unter [14]einen Hut zu bringen. Dazu gibt es verschiedene Wege. Entweder Sie lassen eine dritte Seite entscheiden, wer richtig und wer falsch liegt. Das erledigen üblicherweise Schiedsstellen und Gerichte. Alternativ könnten Sie versuchen, die andere Seite von Ihrer Sichtweise zu überzeugen, oder Sie treten in eine Verhandlung ein und lösen den zugrunde liegenden Konflikt über einen Ausgleich der Interessen.
An vielen Stellen des Lebens finden Verhandlungsprozesse statt: Natürlich überall dort im Wirtschaftsleben, wo Produkte und Dienstleistungen gekauft oder verkauft werden. Dabei geht es sowohl um vertriebliche Aktivitäten in Richtung des Endverbrauchers (B2C-Bereich) als auch um das weite Feld des sogenannten B2B-Bereichs. Jenseits vertraglicher Verhältnisse zwischen Lieferant und Kunde gibt es noch eine Vielzahl weiterer Bereiche, die oft weniger Beachtung finden:
Projekte und deren Abläufe führen häufig zu Verhandlungsnotwendigkeiten, ebenso wie Restrukturierungen von Unternehmensteilen, Sanierungen und Übernahmen, Investments und Veränderungsvorhaben jeder Art. Auch in der Politik, beginnend mit Koalitionsgesprächen bis hin zu Tarifvereinbarungen wird unter den Parteien und Interessengruppen verhandelt. Wobei Grenzen nie ganz klar sind, sie fließen. Mal steht die Verhandlung mit einer oder mehr Parteien im Vordergrund, dann die Schwierigkeit, die andere Seite zu überzeugen, oder es gibt die Möglichkeit einer eigenständigen Wahl.
Je stärker Sie dabei auf die Entscheidung einer anderen Seite angewiesen sind, desto größer die Notwendigkeit zu verhandeln, um ein »Ja« von der anderen Seite zu bekommen, also die andere Seite in irgendeiner Form zu überzeugen.
Die Frage ist immer, welches Ziel wir vor Augen haben und was der beste Weg dahin ist. Zu diesem »Wie«, nämlich zur Frage, wie ich die andere Seite dazu bewege, mir zuzustimmen oder mit mir eine Lösung zu finden, gibt es eine Unmenge von Empfehlungen.
Wir alle haben schon zahlreiche Tipps und Empfehlungen für Verhandlungen gehört oder gelesen, wie zum Beispiel:
»Beharren Sie möglichst lange auf Ihrer Position oder Forderung.«»Treffen Sie sich nie in der Mitte.«»Sprechen Sie den Konflikt immer sofort an.«»Verhandeln Sie nur mit dem Entscheider.«[15] »Wer den ersten Vorschlag macht, verliert.«»Wer den ersten Preisanker setzt, gewinnt.«Das Problem ist, dass es durchaus Fälle gibt, in denen genau dieser spezielle Tipp, diese Vorgehensweise sinnvoll ist, aber eben nicht in dieser Verallgemeinerung.
Daneben gibt es eine Reihe von Mythen und Legenden rund um das Thema Verhandlungsführung, die sich hartnäckig halten. Vielleicht haben Sie auch schon diese oder verwandte Thesen gehört:
»Am Ende geht es immer nur um einen Deal.«»Wer die richtigen Tricks oder Taktiken beherrscht, hat immer Erfolg.«»Verhandelt wird nur im Geschäftsleben, nicht in meinem Bereich.«»Der Einkauf / der Vertrieb ist besser geschult.«Letztlich kommen noch Missverständnisse dazu, wie zum Beispiel der Klassiker, dass Sie denken, allein entscheiden zu können, obwohl Sie doch eine andere Partei brauchen, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Die beste Voraussetzung für erfolgreiches Verhandeln wird aus meiner Sicht durch zwei Dinge geschaffen: Erstens das Wissen um gute und empfehlenswerte Vorgehensweisen und zweitens die Erfahrung in der Anwendung.
Ich finde, es ist an der Zeit, das Thema Verhandeln zu entmystifizieren und als das zu betrachten, was es ist: Eine Kompetenz, die jeder von uns tagtäglich benötigt. Je besser wir darin sind, desto größer werden unsere Erfolge beruflich wie privat sein. Einzelne Techniken und Arbeitsschritte, Beherrschung des Handwerkszeugs hilft, Meisterschaft wird durch Übung, Routine und den sicheren Umgang mit Komplexität erreicht.
Diese Komplexität ist es, die Verhandlungen in der geschäftlichen wie politischen Realität häufig auszeichnet: Am besten sind sie als Prozesse zu verstehen. Leider passen dafür viele der einfachen Weisheiten und »Tipps«, die es landauf landab zu hören gibt, in den seltensten Fällen. Gleiches gilt für eine Reihe von Konzepten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht zwingend zielführend sind.
[16]Beispiele: Geschäftliche Verhandlungen haben andere Dynamiken als polizeiliche in Grenzsituationen. Daher betrachte ich die Techniken nur als bedingt übertragbar. Nicht jeder Verhandlungsprozess ist ein »Deal«, eine singuläre Transaktion, die es zu »gewinnen« gilt. Und wo wir schon beim Gewinnen sind: Leider ist auch die »Win-Win«-Maxime des altehrwürdigen, weit verbreiteten Harvard-Konzeptes nicht immer sinnvoll oder realisierbar.
Für viele Berater und Trainer geht es um die rhetorische Kompetenz, die Art der Argumentation, um den anderen zu überzeugen, die Behandlung von Einwänden und die Lösung von Konflikten. Ich stimme insofern zu, dass diese Aspekte zum Handwerkszeug gehören, das es zu beherrschen gilt. Nur, wer sagt Ihnen, welches das richtige ist und wie und wann Sie es im Verlauf eines Verhandlungsprojektes einsetzen? Dazu gibt es leider wenig Ausführungen, obwohl das doch die Schlüssel zum Erfolg wären.
Mein Ansatz besteht in einer pragmatischen Vorgehensweise, die zwei Ziele verfolgt: Ich möchte Ihnen mit diesem Buch einen Leitfaden geben, auch komplexe Verhandlungen zu meistern, und denen, die schon erfahrene Verhandler sind, Anregungen geben, wie sie bessere Ergebnisse als bisher erzielen. Dazu werde ich immer wieder fünf Erfolgsprinzipien betrachten und damit argumentieren:
Es erscheint wie eine Selbstverständlichkeit, aber eine Vielzahl von Projekten und Prozessen scheitern an Intransparenz. Dabei kann es um die Ziele, die Qualität der Ziele oder um Zuständigkeiten gehen, aber auch um die Verbindlichkeit beim Abschluss und der Umsetzung von Vereinbarungen.
Wenn es einen ultimativen Schlüssel für Verhandlungserfolg gibt, dann dieses Prinzip. Gegenüber anderen einen Schritt voraus zu sein, vorbereitet zu sein, die Situation vorab durchdacht zu haben, ist Voraussetzung für besseres Abschneiden in Verhandlungsrunden. Eine weiter gefasste Proaktivität gilt der Ausgestaltung von Prozessen und der Rahmensetzung von Aktivitäten. Diese Bedeutung wird regelmäßig unterschätzt von denen, die das Heft des Handelns eben nicht in der Hand halten und sich später als Opfer der Umstände und Situation sehen.
Flexibilität ist in Verhandlungen in mehrfacher Hinsicht hilfreich: Erstens dann, wenn es um eine konstruktive Lösung von Konflikten geht, indem nicht auf der eigenen Haltung beharrt wird. Zweitens ist Flexibilität eine notwendige Kompetenz, um Lösungsideen in komplexen und aufgeladenen Situationen entwickeln zu können. Sie ist zwingend erforderlich, wenn eine Win-Win-Vereinbarung das Ziel ist.
Letztlich geht es um die geistige Beweglichkeit. Je besser Sie sich auf unterschiedliche Menschen, Organisationen und Situationen einstellen können, desto besser Ihre Erfolgsaussichten.
Die Bedeutung von Emotionen spielt in der Welt der Verhandlungen gegenwärtig eine untergeordnete Rolle, und das ist gänzlich unberechtigt. Unser emotionales System – bewusst oder unbewusst – ist der Schlüssel zur Entscheidungsfindung.
Wir benötigen Empathie und das Verständnis persönlicher Präferenzen und Muster unserer Verhandlungspartner, um in Verhandlungsprozessen überzeugend zu wirken. Außerdem sind viele Situationen in und rund um Verhandlungen emotional stark aufgeladen, und es gilt, mit aufkommenden Emotionen umgehen zu können. Das betrifft unser Selbstmanagement genauso wie das Handling der Situation und des Gegenübers.
Verhandlungen, Verhandlungsprozesse durchzuführen und Abschlüsse zu erzielen sind keine Kunst. Nicht das Talent zählt, sondern erlernbares Können im Sinne eines Handwerks. Erfahrung und Wissen um die richtige Technik hilft. Keine Magie, keine Tricks oder Showeffekte sind die Erfolgsschlüssel. Nein, es geht um gut geplantes und durchdachtes Vorgehen. Gleichzeitig ist es heute notwendig, Flexibilität und Agilität in das handwerklich sinnvolle Vorgehen in Projekten einzubeziehen, was zur Möglichkeit führt, die entsprechenden Konzepte auch in der digitalen Arbeitswelt zu nutzen.
Aufgrund meiner langjährigen eigenen Erfahrung als Verhandler einerseits und meiner theoretischen Überlegungen andererseits kann ich diese fünf Prinzipien immer wieder als Schlüssel für erfolgreiche Verhandlungsprozesse nachvollziehen. Die Bedeutung dieser Erfolgsprinzipien wird sich je nach Art des Projektes signifikant unterscheiden.
Der erste Teil enthält die wichtigsten Werkzeuge, die Sie in Schattenverhandlungen, wie ich komplexe Verhandlungsprozesse nenne, einsetzen können. Sie erkennen hier sicher den Bezug zum handwerklichen Prinzip.
Wir beginnen in Kapitel 1 mit der Frage, wie Menschen Entscheidungen treffen. Ein wichtiger Faktor dazu ist unser Denken, denn das »Ja« zu einem Vorschlag entsteht in unserem Kopf. Wir gehen der Frage nach, wie wir in geschickter und sinnvoller Form darauf Einfluss nehmen können, das »Ja« unseres Gegenübers zu gewinnen. Dazu betrachten wir die Funktionsweise unseres Gehirns auf Basis der für den Mensch typischen kognitiven Verzerrungen und Denkabkürzungen. Insbesondere werden wir die Funktionsweisen betrachten, die für die Entscheidungsfindung und in Verhandlungssituationen relevant sind, und analysieren, wie wir sie für uns nutzen können.
Weiter gilt es zu analysieren, mit welcher Art von Gegenüber im Sinne von Personen und Organisationen wir interagieren. Unterschiedliche Persönlichkeitstypen haben eben unterschiedliche Herangehensweisen und orientieren sich an unterschiedlichen Kriterien. Ich nenne sie die Entscheidertypologien mit klassischen Motivationslagen auf der individuellen Ebene ebenso wie Rollen und Werte auf der Organisationsebene. Hier ist es entscheidend, sich auf den jeweiligen Typus einzustellen, um erfolgreich zu sein.
Auktionen und Ausschreibungen sowie eine Vielzahl von Gesprächsformaten sind wichtige Elemente eines Verhandlungsprozesses oder ersetzen ihn ggf. komplett. Sie werden in Kapitel 3 hierzu einige Empfehlungen für die jeweilige Maßnahme finden, insbesondere zu der Frage, unter welchen Umständen bestimmte Vorgehensweisen sinnvoll sind und was dabei zu beachten ist.
Die Kapitel 4 und 5 beschäftigen sich mit den klassischen Verhandlungsrunden und empfehlen Vorgehensweisen rund um und während dieser Termine. Zwei meiner Erfolgsprinzipien stehen hier natürlich im Vordergrund: Einerseits das Handwerkszeug, um Erfolg in dieser Runde zu haben, von der Rahmensetzung und der Technik bis hin zu spezifischen Verhandlungstaktiken. Andererseits das emotionale Prinzip: Wir werden uns in Kapitel 5 im Detail ansehen, wie mit eigenen und fremden Emoti[19]onen in Verhandlungsterminen umzugehen ist, um selbst in schwierigen Situationen gut und erfolgsorientiert zu agieren.
Der zweite Teil des Buches basiert wesentlich auf dem Prinzip der Proaktivität und dem handwerklichen Prinzip: Wir analysieren, wie Sie die maximale Steuerung von Verhandlungsprozessen erreichen und wie das Konzept praktisch umzusetzen ist. Dazu benötigen wir zunächst Klarheit über die Zielfunktion, die angesichts der Komplexität mancher Verhandlungsprozesse nicht einfach zu erreichen ist. In weiterer Folge widmen wir uns der entscheidenden Frage dieses Buches: Wie gelingt es Ihnen, Ihre Verhandlungsposition strategisch auf- und ausbauen, um Ihre Ziele bestmöglich zu erreichen?
Drei Hebel geben Ihnen dafür die notwendige Unterstützung: Power, Prozesse und Beziehung. Wie Sie diese drei Hebel über ein geeignetes Stakeholder-Management, über Kampagnen und damit ein gesamtes Verhandlungsprojekt maximieren, zeige ich Ihnen in den Kapiteln 6 bis 8. Ergänzend stelle ich Ihnen dafür unterstützende Werkzeuge zur Verfügung.
Im abschließenden dritten Teil finden Sie zwei ausgewählte Beispiele komplexer, realitätsnaher Verhandlungsfälle. Für beide Fälle habe ich einige Stationen im Verhandlungsablauf beschrieben und analysiert. Am Schluss erhalten Sie Empfehlungen im Sinne einer Manöverkritik: Was ist gut gelaufen, was hätte man optimieren können?
Wenn wir Verhandeln als einen Prozess verstehen, in dem mindestens zwei Parteien interagieren, um am Ende zu einem Ergebnis zu kommen, dann ergibt sich allein aus dieser sehr allgemeinen Definition die Notwendigkeit, einige sehr menschliche Themen zu verstehen:
Wie denken wir und wie bilden wir Überzeugungen?Wie reagieren wir in der Interaktion mit anderen?Was bringt uns dazu, dem anderen, einem Vorschlag oder der Lösung zuzustimmen?Am Ende braucht es nämlich genau das: Die wechselseitige Zustimmung zu einer gemeinsamen Lösung. Auf dem Weg dahin braucht es dieses »Ja« auf verschiedenen Ebenen.
Das Denken meines Gegenübers und dessen Entscheidung in unserem Sinne zu beeinflussen, ist grundsätzlich als Teil unserer Absicht zu betrachten. Wir haben es immer damit zu tun, den anderen von unserer Sichtweise oder unseren Vorschlägen überzeugen zu wollen. Wie das geschieht, können wir nur verstehen, wenn wir das menschliche Denken und den Prozess der Entscheidungsfindung verstehen.
Zum Prozess der menschlichen Entscheidungsfindung gibt es eine Vielzahl von Theorien, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. So gingen wir bis vor einigen Jahren davon aus, dass Entscheidungen grundsätzlich rational getroffen werden. Das wesentliche Prinzip dieser klassischen Entscheidungstheorie ist, dass unter rationaler Abwägung der erwartete Nutzen einer Entscheidung optimiert wird. Das klingt absolut sinnvoll, nur lässt sich dieser Erwartungswert nicht immer gut bestimmen, und gelegentlich ist er auch schlicht das falsche Kriterium. Sie suchen sich ja Ihren [24]Lebenspartner nicht nach dem Kriterium des größten Nutzens aus, oder? Wenn doch, würde mich diese Analyse interessieren und Ihren Partner oder Ihre Partnerin sicher auch.
Für den Fall, dass eine Entscheidung intuitiv, aus dem Bauch heraus oder spontan, getroffen wurde, galt diese Vorgehensweise einer rationalen Entscheidungsfindung gegenüber lange Zeit als unterlegen. Diese Sichtweise hat sich doch im Laufe der Jahre deutlich verändert. Wenn ich heute Menschen begegne, die noch immer behaupten, rein rational zu entscheiden, dann lade ich Sie gerne zu dem folgenden Spiel ein:
Das Ultimatum-Spiel wurde von Werner Güth bereits Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts experimentell umgesetzt. Es funktioniert so:
Der Spielleiter gibt Person A einen Geldbetrag von 10 Euro mit der Maßgabe, diesen Betrag zwischen sich und Person B aufzuteilen und diesen Verteilungsvorschlag Person B zu unterbreiten. Nimmt Person B diesen Vorschlag an, so erhalten beide das Geld entsprechend dem gemachten Vorschlag, ansonsten erhält keiner der beiden Geld. Nachverhandlungen sind nicht möglich, es gibt nur einen Vorschlag, ein Ultimatum also.
Wenn Sie das Spiel noch nie gespielt haben, können Sie sich jetzt überlegen, welche Art Vorschlag Sie als Person A machen würden. Sie könnten ebenfalls darüber nachdenken, welche Aufteilungen Sie als Person B akzeptieren würden.
Meine Erfahrung mit dem Spiel entspricht nach vielen Wiederholungen genau den empirischen Erkenntnissen der Wissenschaftler: Die Aufteilung 5/5 ist die häufigste, gefolgt von 6/4, die beide fast ausnahmslos angenommen werden. Alle anderen Aufteilungsvorschläge sind nicht nur seltener, sie werden im Regelfall auch von der jeweiligen Person B abgelehnt, nur 7/3 wird gelegentlich akzeptiert.
Wir sind uns hoffentlich alle darüber einig, dass dieses Verhalten von B nicht rational ist, denn jeder angebotene Betrag ab 0,01 Euro ist ja mehr, als im Ablehnungsfall nichts zu bekommen. Es müssen also andere Faktoren noch eine Rolle spielen.
Das Ultimatum-Spiel ist nicht als eine Entwertung der klassischen Entscheidungstheorie zu sehen, die wesentlich auf der Optimierung des erwarteten Nutzens einer Entscheidung abzielt. Um allerdings andere Menschen in ihren Entscheidungen und ihrem Verhalten zu verstehen, benötigen wir ein erweitertes Verständnis. Dazu werden wir nachfolgend betrachten, wie uns beispielsweise die Konzepte der Verhaltensökonomik und der Überzeugungspsychologie weiterhelfen können.
Auf die einfache Frage, wie wir Menschen die Welt wahrnehmen, werden Ihnen sicher zunächst die fünf Sinne einfallen: Mit den Augen sehen wir, mit den Ohren hören wir, mit unserem Tastsinn und über die Haut fühlen wir, mit der Nase riechen wir und mit dem Mund schmecken wir. Das erscheint zunächst klar und überschaubar, ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich müssen wir den gesamten Input unserer Wahrnehmung, der über die fünf Sinne auf uns eindringt, in unserem Gehirn irgendwie verarbeiten. Wir schaffen uns dort ein Abbild, ein Modell von der Wirklichkeit. Dieses Modell hilft uns dabei, uns in der Welt zu orientieren. Es bildet die Grundlage für all unser Denken, Fühlen, Entscheiden und Handeln.
Nur um Ihnen eine Orientierung zu geben, wie wenig wir tatsächlich bewusst verarbeiten können: Wir alle kennen seit WLAN, DSL und Co. die Messgrößen, in denen Datenströme ausgedrückt werden. Mithilfe dieser Bits und Megabits lässt sich auch ausdrücken, welcher Datenflut unser Gehirn ausgesetzt ist. Experten gehen davon aus, dass der Datenstrom, den wir über unsere Wahrnehmung erhalten, ca. 100 Megabit pro Sekunde beträgt. Davon können wir allerdings nur deutlich weniger als 1 %, nämlich 40 bis 60 Bites pro Sekunde bewusst verarbeiten, und das, obwohl wir doch denken, alles mitzubekommen, was passiert.
Was tatsächlich – bewusst oder unterbewusst – in unserem Gehirn landet, hängt von unserem Modellierungsprozess ab, also davon, wie wir unsere Wahrnehmung filtern, um sie dann zu bewerten. Dieser Prozess ist zwar bei jedem Menschen unterschiedlich, allerdings lassen sich drei Arten der Modellierung von Wahrnehmung gut unterscheiden:
Generalisierung: Wir verallgemeinern unsere Beobachtungen.Tilgung: Wir ignorieren Wahrnehmungen.Verzerrung: Wir nehmen Situationen und Dinge nicht so wahr, wie sie wirklich sind. Die Gründe dafür sind beispielsweise naheliegende Assoziationen, Erfahrungen etc.Zentrale Bedeutung kommt dabei den Filtern und der Bewertung zu, mit denen wir unsere Wahrnehmungen steuern, Beobachtungen selektieren und einordnen. Hier beginnt es, komplex zu werden, denn wir müssen mit der gewaltigen Informationsflut, die auf uns einströmt, umgehen. Wir können nicht alles, was um uns herum [26]passiert, verarbeiten – auch wenn wir deutlich mehr wahrnehmen, als uns bewusst ist. Ein Großteil der Wahrnehmungsprozesse läuft für uns vollkommen unbewusst ab und wird nur durch die bewusste Steuerung der Aufmerksamkeit unterbrochen bzw. gelenkt.
Neben diesen Mechanismen, die bei jedem von uns wirken, spielen unsere individuellen Sichtweisen und Überzeugungen, die persönlichen Erfahrungen, Prägungen und Denkmuster bei der Modellierung eine wesentliche Rolle. Daneben sind kulturelle und familiäre Hintergründe wichtig, und besonders die kindliche Prägung bis zum Alter von sieben Jahren ist entscheidend.
Durch verallgemeinerte, fehlende oder schlicht falsche Repräsentation unserer Umgebung entsteht also das, was unser Modell der Welt ausmacht.
Wie wir mit der Informationsflut umgehen, hängt wesentlich von den Modellierungsprozessen unserer Wahrnehmung ab. Unserer Aufmerksamkeit, unserem Fokus kommt dabei eine wesentliche Bedeutung für die weitere Informationsverarbeitung, also unserem Denken, zu.
Sofern wir unseren Fokus nicht bewusst auf etwas richten, greifen wir auf unsere unbewussten Mechanismen zurück, die automatisiert ablaufen. Zum besseren Verständnis, wie unsere Aufmerksamkeit ohne unser Zutun automatisiert gesteuert wird, kann man ihre Arbeitsweise unter folgende Prinzipien zusammenfassen:
Mit unserem Fokus bleiben wir bei den naheliegenden Dingen.Uns fällt das auf, was sich ändert.Wir bemerken die Details, die unsere Sichtweisen und Überzeugungen stärken und bestätigen.Wir registrieren die Dinge, die sich häufiger wiederholen oder aus einer Menge herausstechen.Wir fokussieren das, was schon vorbewusst ist. Dies bezeichnet man auch als den Priming-Effekt. Priming wird meist mit »Bahnung« übersetzt: Ausgelöst durch einen bestimmten Reiz werden damit assoziierte, verwandte Begriffe oder Gedächtnisinhalte aktiviert. Dadurch wird die weitere Verarbeitung in unserem Gehirn in eine bestimmte Richtung gelenkt.[27]Diese Prinzipien unserer Aufmerksamkeitssteuerung sorgen für eine Reihe von gedanklichen Fehlern und Verzerrungen, wie wir später noch sehen werden. Wichtig ist mir zu betonen, dass all dies bei uns Menschen automatisiert und unbewusst abläuft, allerdings individuell unterschiedlich ausgeprägt ist.
Wie wir gesehen haben, sorgt die Art und Weise, wie wir mit der Informationsflut umgehen und unsere Umwelt wahrnehmen, bereits für systematische Fehler. Doch damit nicht genug. Eine weitere Quelle von Fehleinschätzungen und Irrtümern sind unsere Denkprozesse.
Auf diesem Gebiet hat der Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaft Daniel Kahneman gemeinsam mit seinem Kollegen Amos Tversky bahnbrechende Erkenntnisse erarbeitet. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit finden Sie in Kahnemans Buch »Schnelles Denken, langsames Denken«, in dem er unsere Denkweisen untersucht und auf Problemfelder aufmerksam macht. Um die Funktionsweise unseres Denkens zu verdeutlichen, spricht er von zwei unterschiedlichen Denkarten, die er durch Systeme repräsentiert: System 1 und System 2.
Im System 1 findet das Denken schnell, intuitiv und automatisiert statt. Es ist ideal dafür geeignet, umgehend Einschätzungen und Bewertungen vorzunehmen, und es schafft ein erstes Verständnis für die Lage. Die Prozesse, die das System nutzt, laufen unwillkürlich und automatisch ab. Dazu bedient es sich einer Reihe sogenannter Heuristiken, die hilfreiche Orientierung geben, aber keine präzisen Ergebnisse liefern.
Heuristiken sind Denkstrategien, die uns in die Lage versetzen, trotz begrenztem Wissen und wenig Zeit zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen. Einfach ausgedrückt, lassen sich Heuristiken als Denkabkürzungen verstehen. Die Basis dieser Denkstrategien bilden häufig Erfahrungen und Erinnerungen sowie die Vorstellungskraft der Person, grobe Kategorisierungen und Sinngebung.
Das System 1 ermöglicht es uns, schnell zu reagieren und dabei wenig Energie zu verbrauchen, was vor allem in akuten Gefahrensituationen wichtig ist. Es hat der Spezies des Menschen dabei geholfen, zu überleben und sich weiterzuentwickeln.
[28]Die neuere Hirnforschung konnte verdeutlichen, dass diesem System wesentlich das limbische System und das sogenannte Reptiliengehirn zuzuordnen sind. Das sind entwicklungsphysiologisch betrachtet die »alten« Teile des Gehirns, die für Emotionen, Gedächtnisbildung, Reflexe usw. zuständig sind.
Im System 2 finden alle bewussten Prozesse statt. Es steuert unsere Aufmerksamkeit, kontrolliert unsere Impulse und ist für logisches, präzises Denken sowie für die Handlungsplanung zuständig. Dieses System in Kombination mit sprachlicher Ausdrucksmöglichkeit macht unsere Spezies einzigartig auf dem Planeten und der Tierwelt überlegen.
Der wesentliche Nachteil von System 2 ist, dass es, verglichen mit System 1, einen massiv höheren Energieverbrauch hat und langsamer ist. Da wir Menschen aber möglichst wenig unserer Energie verbrauchen möchten, vermeiden wir das langsame Denken, so gut es geht. Sie kennen das sicher von sich selbst: Konzentriertes Nachdenken wird als wirklich anstrengend erlebt. Böswillige könnten dieses Phänomen Denkfaulheit nennen. Andere Stimmen klassifizieren es als effiziente Steuerung des Gehirns. So oder so ist uns dieser Mechanismus angeboren.
Die beiden Systeme arbeiten in unserem Gehirn Hand in Hand. Wir wechseln automatisch zwischen ihnen hin und her, je nach Situation. Während System 1 zum Beispiel eine Gefahr aufgrund eines einzigen Bildes schnell und einigermaßen zuverlässig erfassen und verstehen kann, ist System 2 bestens dafür ausgelegt beispielsweise ein Mathematikproblem zu lösen. Man könnte auch sagen, die beiden Systeme arbeiten automatisch so zusammen, dass wir uns gut in der Welt orientieren und sinnvolle Entscheidungen treffen können.
Wie sich die beiden Systeme unterscheiden, lässt sich anhand einer einfachen Rechenaufgabe erklären, in Anlehnung an ein von Kahneman genutztes Beispiel: Ein Tischtennisball und ein Tischtennisschläger kosten zusammen 1,10 Euro. Der Schläger kostet genau einen Euro mehr als der Ball. Wieviel kostet der Ball?
Welche Zahl kommt Ihnen spontan in den Sinn? 10 Cent? Bei der überwiegenden Zahl der Menschen ist das der Fall. Die korrekte Lösung ist natürlich 5 Cent. Üblicherweise lautet die erste, spontane Antwort 10 Cent. Erst nach längerem Nachdenken [29]werden 5 Cent genannt. Und einige bleiben erstaunlich lange überzeugt von den 10 Cent. Manchmal solange, bis man ihnen die Lösung erläutert.
Dieses Phänomen lässt sich in Kenntnis der beiden Systeme erklären: Unser System 1 schlägt uns spontan 10 Cent vor. Das klingt plausibel, okay. Wir werfen System 2 also gar nicht erst an. Dazu habe ich Sie auch mit meiner Rahmensetzung bei der Aufgabenstellung (»spontan in den Sinn«) animiert.
System 1, intuitiv aber unpräzise arbeitend, ist jedoch nicht die richtige Denkart, die Aufgabe anzugehen. Wir brauchen dafür die analytische Vorgehensweise von System 2.
Und hier kommen wir bereits zu einem der Problemfelder unseres Denkens: Manchmal nutzen wir dafür schlicht das falsche System. Dies können wir ebenso verallgemeinern wie ein weiteres Problemfeld: Wir verlassen uns – in der Regel unterbewusst – auf die Denkergebnisse, die uns System 1 mit seinen Heuristiken liefert. Und genau dies ist der Grund für die sogenannten kognitiven Verzerrungen, die uns unterlaufen. Wir bewerten die Dinge, die wir wahrnehmen, falsch oder zumindest nicht ganz zutreffend. Wir neigen systematisch dazu, fehlerhaft zu denken und uns zu erinnern, mit direkten Auswirkungen auf unsere Entscheidungen, die Beurteilung von Personen und unser Handeln.
Kahneman und Tversky liefern uns eine wunderbare Erklärung, warum das so ist: Wir streben immer wieder einen Zustand der sogenannten kognitiven Leichtigkeit an. In diesem Zustand fühlen sich die Dinge gut und/oder vertraut an, Informationen scheinen wahr zu sein, und Ergebnisse werden vermeintlich mühelos erzielt.
Diese systematisch angelegten Fehler unseres Gehirns, die man im Englischen auch Cognitive Biases nennt, ergeben sich aus drei Faktoren: der Entwicklungsphysiologie des menschlichen Gehirns sowie unseren persönlichen und unseren kulturellen Prägungen. Das größte Problem an kognitiven Verzerrungen ist, dass sie uns nicht bewusst sind und dass die zugehörigen Prozesse automatisiert ablaufen. Hinzu kommt, dass wir nicht in der Lage sind, sie willentlich auszuschalten.
Neben der rationalen Entscheidungstheorie lohnt die Betrachtung der Verhaltensökonomik, wie der wissenschaftliche Zweig genannt wird, dessen bekannteste Vertreter neben Kahneman Richard Thaler, Cass Sunstein und Dan Ariely sind.
Die Verhaltensökonomik ergänzt und bestätigt Konzepte der Überzeugungspsychologie, als deren Vater Robert Cialdini gelten kann. Um zu erforschen, wie Überzeugen funktioniert, ging Cialdini für einen Professor ungewöhnliche Wege. Er suchte sich Jobs als Verkäufer und ließ sich von erfahrenen Kollegen ausbilden. Dies diente nur einem Zweck: Zu studieren, wie erfolgreiche Vertriebler tatsächlich agieren und was ihre Methoden sind. Diese fasste er dann in seinem Buch »Die Psychologie des Überzeugens« zusammen, das Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erschien und inzwischen als ein Standardwerk gilt.
Inzwischen können wir auch Erkenntnisse der Neurowissenschaften, der Erforschung der Funktionsweise unseres Gehirns, nutzen, die uns Hinweise zu emotionalen Reaktionen und der menschlichen Interaktion geben. Gerade was das Thema Emotion und Entscheidungsfindung angeht, wird immer wieder der spektakuläre Fall des Phineas Gage herangezogen:
Phineas arbeitete als Vorarbeiter bei einer Eisenbahngesellschaft, als er im Jahr 1848 einen Unfall hatte. Beim Stopfen eines Bohrlochs kam es zu einer Explosion und eine über ein Meter lange und 3 cm breite Eisenstange durchbohrte seinen kompletten Schädel senkrecht hinter dem linken Auge. Das Erstaunliche an dem Fall waren zwei Dinge:
Er überlebte, und nicht nur das: Seine vollständige Wahrnehmung, Motorik, logisches Denken, Gedächtnis und Sprachfähigkeit waren nach wenigen Wochen wiederhergestellt.Phineas, der vor dem Unfall als freundlicher, umgänglicher Mensch bezeichnet wurde, war danach impulsiv, leicht erregbar und unzuverlässig. Neben dem veränderten Sozialverhalten zeigte sich auch eine dramatische Entscheidungsschwäche. Zwar konnte er rationale Abwägungen vornehmen, aber auch nur alltägliche Dinge zu entscheiden, war ihm nicht mehr möglich.Offensichtlich sind emotional-soziales Verhalten und das Treffen von Entscheidungen eng miteinander verknüpft bzw. in einer ähnlichen Gehirnregion zu verorten.
Das Wissen um die Existenz der kognitiven Verzerrungen, die Grundzüge der Überzeugungspsychologie und die Erkenntnisse der Neurowissenschaften ist kein Selbstzweck, auch wenn die Lektüre mancher Phänomene hier und da durchaus zum Schmunzeln anregt. Tatsächlich werden entsprechende Konzepte schon in der ein oder anderen Form ganz gezielt genutzt.
Denken Sie beispielsweise an das Konzept des »Nudgings«. Es wurde von Richard Thaler, einem Professor für Verhaltensökonomie und Nobelpreisträger im Bereich Wirtschaft, gemeinsam mit dem Juraprofessor Cass Sunstein entwickelt. In ihrem Buch »Nudge« beschreiben die beiden ausgewählte Nutzungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Kontext. In Kenntnis der Denkfehler im Sinne der Cognitive Biases wird auf Entscheidungen bewusst Einfluss genommen, um diese in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Schauen wir uns im nächsten Schritt genauer an, was wir mit dem Wissen und dem Verständnis rund um kognitive Verzerrungen in Verhandlungssituationen anfangen können. Wie können wir systematische Denkfehler bewusst nutzen, um andere in ihren Entscheidungen zu beeinflussen?
[32]Einige dieser Techniken werden sehr häufig in Vertrieb und Marketing benutzt. Sie auch im Bereich Verhandlungen einzusetzen, wird Sie in die Lage versetzen, einfacher und schneller eine Entscheidung zugunsten Ihrer Vorschläge zu erreichen.
Andererseits können wir unseren eigenen Denkfehlern entgegenwirken, um bessere Resultate zu erzielen. Dies wird »Debiasing«, also »Entzerren« genannt und ist besonders schwierig, da es ein großes Maß an Wissen und Reflexion erfordert. Wir müssen dazu in einem ersten Schritt auf kognitive Verzerrungen aufmerksam werden, also Kenntnis von dem Phänomen erlangen. Dann gilt es, sie uns ins Bewusstsein zu rufen, denn: Nur wer um die Denkfehler weiß, kann ihnen entgegenwirken und ungünstige, teilweise unsinnige Entscheidungen und Resultate vermeiden. Das ist kein einfacher Prozess, aber ein lohnenswerter.
Inzwischen sind rund 200 Cognitive Biases bekannt und dokumentiert. Die aus meiner Sicht bisher umfangreichste Sammlung und Kategorisierung hat Buster Benson von Designhacks.co erarbeitet. Er hat zwar eine Vielzahl von Biases benannt und kategorisiert, doch leider fehlt eine zumindest kurze Beschreibung und Erläuterung. Um einen Überblick zu gewinnen, nutzen Sie bitte meine Literaturhinweise am Ende des Buches.
Ich möchte in diesem Buch vor allem diejenigen Denkfehler erläutern, die Sie als Handwerkszeug in Verhandlungsprozessen sinnvoll nutzen können. Ergänzend finden Sie dazu passende Konzepte und Vorgehensweisen, die Ihnen helfen können, Ihr Gegenüber in Gesprächen und Verhandlungen wirkungsvoll zu überzeugen. Teilweise, so werden Sie feststellen, ergeben sich daraus bekannte und praxiserprobte Vorgehensweisen und Techniken.
Wer fragt, führt. Das ist eine alte Weisheit, denn das Gegenüber wird dazu gebracht zu antworten. Der Rahmen wird gesetzt. So würde ich für Verhandlungen sagen: Wer den Rahmen setzt, führt. Das gilt für Entscheidungs- und Verhandlungsprozesse in mehrfacher Hinsicht:
[33]Die Kontrolle über die Sequenz der Ereignisse, die Vorgabe des Rahmens für ein spezifisches Ereignis wie beispielsweise ein Gespräch. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Rahmensetzung für die Darstellung von Vergleich und Auswahl von Entscheidungsoptionen. In diesem Bereich liefert uns die Betrachtung unseres Denkens im Hinblick auf Heuristiken und kognitive Verzerrungen wertvolle Tools, um andere Menschen zu überzeugen.
Unsere Wahrnehmung ist nie absolut, sondern relativ. Informationen, also Wahrnehmungselemente, hängen von der Umgebung ab, in der sie uns präsentiert werden, den unmittelbaren Vergleichsmöglichkeiten und den ersten Referenzgrößen, die wir erkennen können. Gleichzeitig spielen unsere emotionalen Präferenzen eine Rolle.
Beginnen wir mit ein paar einfachen Beispielen:
Stellen Sie sich vor, Sie bekommen zwei Steaks angeboten, eines mit einem Anteil von 98 % reinen Muskelfleisches, das andere mit einem Fettanteil von 2 %. Welches nehmen Sie?Wenn Sie Arzt sind und eine riskante Operation vor sich haben: Würden Sie zur OP raten, wenn der Patient eine Überlebenschance von 90 % hat? Und wie würden Sie entscheiden, wenn die Sterblichkeitsrate innerhalb eines Monats bei 10 % liegt?Würden Sie in einer Lotterie spielen, die Ihnen eine Chance von 10 % bietet, 95 Euro zu gewinnen, und ein 90-%-Chance, 5 Euro zu verlieren? Oder präferieren Sie eine Lotterie, bei der Sie 5 Euro zahlen, verbunden mit einer 10-%-Chance, 100 Euro zu gewinnen bzw. einer 90-%-Chance, nichts zu gewinnen?Ich hoffe, Sie konnten – zumindest nach kurzem Überlegen – feststellen, dass die Optionen in den Beispielen jeweils gleichwertig sind. Und trotzdem setzt die Art der Formulierung einen Rahmen, in dem wir uns – je nach emotionaler Präferenz – für die eine oder andere vermeintliche Option entscheiden.
Passend zum Thema Framing bin ich kürzlich über eine kleine Geschichte gestolpert, deren Urheber ich leider nicht kenne:
Ein alter Mann bot auf dem Markt Wassermelonen an. Auf seinem Preisschild stand »1 für 3 Euro und 3 für 10 Euro«.
Ein junger Mann kam vorbei und kaufte drei Wassermelonen – jede einzeln. Im Weggehen drehte er sich noch einmal um und rief: »Hey, alter Mann, ist dir klar, dass ich gerade für drei Melonen 9 Euro statt 10 Euro bezahlt habe? Business ist wohl nicht so dein Ding!«
Der alte Mann lächelte und murmelte dann zu sich selbst: »Die Leute sind komisch. Jedes Mal, wenn sie drei Wassermelonen statt einer kaufen, versuchen sie mich zu belehren, wie ich mein Geschäft führen soll ...«
Das bringt uns direkt zum nächsten Thema.
Schätzen Sie es, eine Auswahl zu haben? Ich denke, die Frage werden Sie alle mit »Ja« beantworten. Denn: Sich zu entscheiden ist natürlich überhaupt erst dann möglich, wenn wir zumindest eine weitere Alternative haben. Ansonsten stehen wir vor der so unbeliebten Alternativlosigkeit, die uns Stress und Unbehagen verursacht. Doch auch das Entscheiden kann negative Gefühle in uns auslösen. Nicht ohne Grund hat sich das Bonmot von der Qual der Wahl in unserem Wortschatz etabliert.
Sich zwischen Ja und Nein zu entscheiden kann bereits ein Dilemma sein, wir brauchen mehr Optionen. Aber wie groß sollte die Auswahl sein? In diesem Kontext hat die Psychologin Sheena Iyengar von der Columbia Business School ein schon fast legendäres Experiment durchgeführt, das als »Jam-Problem« oder Auswahl-Paradoxon bekannt wurde: Am Eingang eines Supermarktes wurde ein Verkostungsstand für Marmelade – im Amerikanischen Jam – aufgebaut. Die Kunden konnten an diesem Tag sechs Sorten Marmelade kostenlos testen. Sie erhielten dafür einen Gutschein im Wert von einem Dollar, den sie an der Kasse einlösen konnten, wenn sie ein Glas Marmelade kauften, das sie allerdings aus dem entsprechenden Regal nehmen mussten. Tatsächlich lösten ca. 30 % aller Marmeladen-Tester den Gutschein ein.
An einem anderen Tag wurde das Experiment wiederholt, allerdings mit einem Unterschied. Statt sechs Marmeladensorten konnten die Kunden nun 24 verschiedene Jam-Varianten testen. Das hatte zwei Auswirkungen:
[35]Die Anzahl derer, die stehenblieben, um Marmelade zu testen, sank.Gleichzeitig reduzierte sich der Prozentsatz der Tester, die die Marmelade kauften, dramatisch, und zwar auf unter 5 %.Was wir daraus lernen können: Unsere Entscheidungs- und damit auch die Kaufbereitschaft sinkt, wenn die Auswahl zu groß ist. Wir scheinen mental überfordert, fühlen uns innerlich gelähmt, treffen qualitativ schlechte Entscheidungen und werden unzufrieden, wenn uns zu viele Optionen geboten werden.
Uns fällt es schwer, etwas absolut, also losgelöst von Referenzen zu beurteilen. Deshalb befindet sich unser Gehirn immer wieder im Vergleichsmodus. Wir starten immer wieder unwillkürlich, ähnliche oder miteinander verbundene Dinge zu vergleichen und Unterschiede zu erkennen. In der Verhaltensökonomik würden wir vom Kontrasteffekt sprechen. Dessen Wirkungsweise verdeutlicht Dan Ariely anhand einer selbst erlebten Geschichte und eines Versuchs, den er mit seinen Studenten durchgeführt hat:
Die Geschichte hat folgende Struktur: Stellen Sie sich vor, Sie möchten ein Zeitungsabonnement abschließen. Dieses gibt es in drei Varianten:
Nur Online: Sie erhalten einen täglichen Online-Zugriff auf die Inhalte der Zeitung für 35 Euro im Monat.Nur Print: Sie erhalten die tägliche Druckausgabe Ihrer Zeitung für 70 Euro im Monat.Kombination aus Print und Online: Sie erhalten sowohl die tägliche Druckausgabe als auch einen Online-Zugriff Ihrer Zeitung für 70 Euro im Monat.Welche Variante hätten Sie gewählt? Auch das Kombinations-Angebot? Es ist ja offensichtlich, dass die dritte Variante besser ist als die Nur-Print-Variante. Ist dem Verlag hier ein Fehler unterlaufen? Nein, es ist Kalkül: Bestünde die Auswahl nur zwischen dem Online- und dem Kombinations-Angebot, dann würden mehr Menschen das Online-Angebot nehmen, weil es das günstigere ist. Aber das Print-Angebot wird geradezu automatisch mit dem Kombi-Angebot verglichen und ist klar unterlegen, also fällt die Wahl auf das Kombinations-Angebot.
Nebenbei: Müssen Sie gerade an die drei Wassermelonen denken?