Verhandlungswissenschaft - Georg Nagler - E-Book

Verhandlungswissenschaft E-Book

Georg Nagler

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Beschreibung

Gut zu verhandeln und damit gute Ergebnisse zu erzielen, ist eine Schlüsselqualifikation im modernen (Wirtschafts-)Leben, eine Kernkompetenz, die auf einer breiten interdisziplinären Grundlage beruht. Als wissenschaftliche Einführung liegen diesem Buch einschlägige Ansätze aus der Verhaltensökonomie und -psychologie, der Kommunikations-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft sowie der Rhetorik zugrunde. Im Zentrum dieser gut lesbaren Darstellung mit vielen Praxisbeispielen steht ein neuartiger dualer Aufbau des Verhandlungssettings: Neben der Verhandlung von objektiven Positionen spielen dabei gerade die Transaktionen auf nonverbaler Ebene eine entscheidende Rolle. Daraus wird ein Verhandlungskonzept in 11 Doppelstufen entwickelt, mit dem Verhandlungen beschrieben und umgesetzt werden können.

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Georg Nagler

Verhandlungswissenschaft

Grundlagen – Strategie – Taktik

Verlag W. Kohlhammer

Für meine Enkelkinder Jonathan, Paula und Lotta, die schon jetzt wunderbare Verhandlungspartner sind

Mein herzlicher Dank gilt meinem Lektor Dr. Uwe Fliegauf als wissenschaftlicher Sparringspartner auf höchstem Niveau! Danke auch an meine Tochter Eva Maria Nagler für ihre große Unterstützung und Herrn Christian Höhn für die grafische Betreuung des Manuskripts

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041334-4

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-041335-1

epub: ISBN 978-3-17-041336-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel I: Verhandeln – eine neue Wissenschaftsdisziplin als Querschnittswissenschaft

1         Verhandeln als Querschnittswissenschaft

2         Verhandlungen – ein kurzer geschichtlicher interdisziplinärer Abriß

2.1      Die Konstantinische Schenkung

2.2      Der Kauf von Louisiana

2.3      Der Nato-Vertrag

2.4      Der »EU-Vertrag« einst und jetzt

2.5      Die OPEC und ihr geheimer Gegenspieler

2.6      Fazit der historischen Betrachtung

3         Life is negotiation: Wichtige Fallgruppen für Verhandlungsszenarien

4         Die Interdisziplinarität der Verhandlungswissenschaft

Kapitel II: Grundlagen und Elemente der Verhandlungswissenschaft

1         Basisstrukturen und -funktionen des Verhandelns

1.1      Verhandeln setzt einen ungewissen Zustand voraus, der überwunden werden soll

1.2      Verhandeln knüpft an der Unsicherheitsbewältigung an und regelt die Konditionen der Einigung

1.3      Verhandeln setzt eine Situation voraus, die eine gemeinsame gleichgerichtete Entscheidung nicht zulässt

1.4      Verhandeln setzt einen oder mehrere Partner voraus

1.5      Verhandeln setzt die Erkenntnis voraus, was überhaupt erreicht werden kann

2         Die Erreichung des Verhandlungsziels – rationaler Prozess oder emotional-rationales Szenario?

2.1      Verhandlungen sind ein rational abbildbarer Prozess?

2.2      Die Kritik am rationalen Ansatz der Harvard Negotiation School

2.3      Verhandeln aus Sicht der Verhaltensökonomie

3         Verhaltensökonomische Heuristiken, Biases und Fallacies in Verhandlungssituationen

4         Geld als Forschungsgegenstand in der Verhandlungswissenschaft

4.1      Geld und das unbewusste System 1

4.2      Geld und das bewusste System 2

4.3      Verhandlungen mit Geld für sich beeinflussen – 10 Tipps

5         Wer verhandelt eigentlich – das Unbewusste als Verhandlungspartner

5.1      System 1 und System 2

5.2      Der Konflikt-Bias

5.3      Verhaltenspsychologisch basierte Empfehlungen für Verhandlungssituationen

6         Die Kommunikations- und die Verhandlungswissenschaft

6.1      Verhandeln ist Kommunikation

6.2      Das Kommunikationsmodell in der Verhandlungswissenschaft

6.3      Das Transaktionsmodell in der Verhandlungswissenschaft

6.4      Welcher Verhandlungstyp sind Sie?

7         Rhetorik, Argumentationslehre und Dialektik in der Verhandlungswissenschaft

7.1      Verhandeln, um zu überzeugen

7.2      Verhandeln mit Gefühl

7.3      Wahrscheinlichkeit und Plausibilität schlagen Wahrheit

7.4      Argumentationsformen und ihre Wirkungsniveaus

7.5      Verhandeln als Beziehungsgestaltung

7.6      Verhandlungsblockaden und -hemmer

7.7      Destruktive Argumentation

7.8      Der Verhandlungspartner als Rüpel

8         Die Fortentwicklung des Harvard-Konzeptes: Das Mannheimer Doppelkreisdiagramm

Kapitel III: Das Verhandlungsszenario – Kernfragen und Kernelemente des Verhandlungssettings

1         Die Leitplanken des Verhandlungssettings – das Mannheimer Verhandlungsphasenmodell

2         Informationsbeschaffung: Möglichkeiten und Grenzen

3         Die Vorbereitung der Verhandlung

4         Einzelfragen bei der Vorbereitung auf Verhandlungsgegner

4.1      Das Grundproblem: Denken in Positionen – weniger in Interessen

4.2      Die Gegenleistung

4.3      Die Zielsetzung der Verhandlung und ihre unterschiedlichsten Varianten

4.4      Brainstorming

4.5      Simulation

4.6      Selbstsuggestion

5         Einzelfragen der taktischen Verhandlungskommunikation

5.1      Aktives Zuhören

5.2      Fragetechnik – der Verhandlungspartner am Schlepphaken

5.3      Taktische Empathie und Wertschätzung

6         Die nonverbale Verhandlungskommunikation

7         Die wichtigsten Elemente des Codes der Körpersprache für Verhandlungen

8         Das richtige Äußere

9         Sprechen – aber richtig

10       Einzelfragen der konkreten Verhandlungsgestaltung

10.1      Verhandlungsort/-zeit/-ambiente

10.2      Verhandlungsgruppe

10.3      Der Verhandlungsbeginn

10.4      Die Verhandlungsformalia

11       Der Verhandlungsabschluss: Die Vereinbarung und Sonderfragen

11.1      Die – schriftliche – Vereinbarung

11.2      Das Vertragscontrolling und die Vertragsevaluation

11.3      Die Umsetzung

11.4      Moderation – Mediation – Arbitration

11.5      Verhandlung und Diplomatie

12       Ausblick

Literaturverzeichnis

Vorwort

»Haben Sie heute schon verhandelt?« – diese Frage dürfte eine der wenigen sein, die bei den meisten Menschen weltweit mit »Ja« beantwortet werden kann. Das menschliche Leben besteht aus einer unablässigen Reihe von Verhandlungen und es gibt vermutlich kaum einen Tag im normalen Leben, an dem keine Verhandlung stattfindet – von der Wiege bis zur Bahre: Bereits der Schrei des hungrigen Babys kann als nonverbales Verhandeln bezeichnet werden. Es ist die Kundgabe eines Wunsches, der erfüllt werden soll. Die Mutter kann alternativ reagieren: Sofort stillen – warten – hungern lassen. Es gibt ein Verhandlungsziel – den Hunger im wahrsten Sinn des Wortes stillen. Daneben verfolgt die Mutter möglicherweise schon erzieherische Ziele. Mit der Sättigung ist die Verhandlung erfolgreich beendet, aber es gilt schon hier ein Satz, den wir noch eingehend behandeln werden: Nach der Verhandlung ist vor der Verhandlung.

Kaum ein Kulturphänomen begleitet die Menschheitsgeschichte so intensiv und permanent wie das Verhandeln. So gibt es eine Fülle positiver Beispiele, in denen immenser Fortschritt durch Verhandeln erzielt wurde. In Deutschland ist es etwa der historische sog. »2+4-Vertrag«, auf dessen Grundlage die deutsche Einheit auf friedliche Weise besiegelt wurde. Aber auch die Kehrseite des Verhandelns, ein Rückschritt, gehört dazu. Dies mag objektiv so zu beurteilen sein, aber auch subjektive Empfindungen zählen dazu: Denken wir nur an den Versailler-Vertrag von 1919 der den Ersten Weltkrieg abschloß – aber in seiner Struktur gerade nach Meinung vieler Historiker schon eine relevante Ursache für den Zweiten Weltkrieg legte. In der Gegenwart erleben wir viel Ambivalentes zur Relevanz von Verträgen, etwa wenn die Vereinigten Staaten durch den damaligen US-Präsidenten Donald Trump einen jahrzehntelang gültigen Abrüstungsvertrag kündigen, der von vielen als die Grundlage für den nuklearen Frieden der letzten Jahrzehnte angesehen wurde.

Besonders auch im Privaten kann die Wirkmächtigkeit von Verhandlungen alltäglich nachverfolgt werden: Ein »gutes Geschäft« über den Kauf eines Grundstückes, die Abfindung beim Verlust eines Arbeitsplatzes, das Schnäppchen auf einem Flohmarkt, ein hart umkämpfter Scheidungsvertrag. Wenn der legendäre Satz von Paul Watzlawick stimmt: Man kann nicht nicht kommunizieren, dann muss die Folgerung ebenfalls zutreffen: Man kann nicht nicht verhandeln. Wir verhandeln immer – auch und gerade in der harten wirtschaftlichen und psychischen Realität (vgl. Jeske, 1998: S. 9).

Ein offensichtlicher Grund für die allgemeine Akzeptanz des Handelns mag auch sein, wenn man sich die Alternative vergegenwärtigt. Was geschieht, wenn destruktiv Handeln ohne Verhandeln erfolgt. Die Zahl von Beispielen hierfür ist endlos: Denken wir nur an die Unfähigkeit der europäischen Länder, einvernehmlich die Flüchtlingskrise zu bewältigen; aber auch ein Krieg, der angeblich historische Ungerechtigkeiten korrigieren soll, ein gewalttätig ausgetragener Konflikt zwischen Ehepartnern, die Rechtsanmaßung eines vermeintlich stärkeren Schülers, der dem schwächeren ein »Modegadget« abnimmt oder der offensichtliche Rechtsbruch durch Schutzgelderpressung, die ein ehrlicher Geschäftinhaber als »Angebot, das er nicht ablehnen kann« akzeptieren muss. Diese negativen Beispiele belegen ebenfalls die menschliche, soziale, psychologische und juristische Bedeutung des Verhandelns als eine der wesentlichen kulturellen Errungenschaften friedlichen Zusammenlebens. Ja, nach meiner Überzeugung ist die Fähigkeit zu verhandeln eine Kompetenz, die Menschsein erst ausmacht.

Es gibt hierzu nur ein Problem: Werden wir auf gutes Verhandeln vorbereitet oder im Verhandeln geschult? Ist es eine anerkannte Sozialkompetenz für ein erfolgreiches Leben? Die deutschen Lehrpläne – und wohl auch in den meisten europäischen und nichteuropäischen Ländern – sehen diese Lebensdisziplin nicht vor. Selbst für die »berühmt-berüchtigten Feilschkulturen« des Orients ist eine Schulausbildung hierfür nicht bekannt – ich habe mich da persönlich von Griechenland über die Türkei bis in den Fernen Osten nach Malaysia durchgefragt. Was nach der Recherche bleibt, ist die nüchterne Erkenntnis: Richtiges Verhandeln zu lernen ist dem schieren Zufall überlassen. So war es auch bei mir persönlich. Mein Vater und ein Onkel haben mir unisono mit dem folgenden Satz eine Lebensweisheit mitgegeben, die ich nie vergessen habe: »Georg, was du dir mit verhandeln ersparst – das brauchst du mit Arbeiten nicht verdienen«. Ich kenne keinen Lehrer, auch nicht im Fall »Wirtschafts- und Sozialwissenschaften«, der je auch nur Annäherndes verkündet hätte. Wie oder wann und wozu ich verhandeln sollte, dazu schwieg man sich aus.

Es ist an sich verblüffend, dass vor diesem Hintergrund ein »Lehrbuch der Verhandlungswissenschaft« in Deutschland nicht existiert, ja selbst eine entsprechende wissenschaftliche Disziplin nicht gepflegt wird. Es gibt zwar viele populärwissenschaftliche Ansätze und Seminare wie etwa die sattsam bekannten »Verkaufsseminare«, die sich aber auch nur mit einem (nicht unwesentlichen) Teilaspekt des Verhandelns beschäftigen. Dabei ist schon verräterisch, dass »Käuferseminare«, also das Gegenstück, zumeist unbekannt sind! Lediglich die Berufsgruppe der Diplomaten beschäftigt sich auf einem zugegebenermaßen sehr abstrakten und zumeist formalen Niveau mit dem Verhandeln auf inter- bzw. supranationaler Ebene (vgl. Widmer, 2018: S. 344ff.). Die Praxistauglichkeit ihrer Instrumente für den ökonomischen und Alltagsgebrauch stand und steht aber in den meisten Fällen aus.

Die einzige seriöse methodische Annäherung seit den 1980er Jahren erfolgte in den USA durch das sog. Harvard-Negotiation-Projekt. Dieses Konzept wurde aber schon früh gerade von Praktikern vehement abgelehnt. Der Hauptansatz der Kritik war folgender: Nach dem Harvard-Negotiation-Konzept ist es bei Verhandlungen grundsätzlich immer möglich, die Sach- und Beziehungsebene zu trennen, Interessen auszugleichen und Entscheidungsalternativen unter Verwendung neutraler Beurteilungskriterien zu suchen, um so einen Gewinn für alle Beteiligten, also die berühmte »Win-Win-Situation« zu schaffen (vgl. Fisher/Ury/Patton, 2015: S. 10f.). Gerade in sog. verhandlungstechnischen Extremsituationen zeigte sich aber nach Auffassung der Kritiker, dass die Grundstruktur des Verhandelns völlig anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Ein Beispiel waren die sog. Geiselnahme-Verhandlungen. Anerkannte und professionelle Verhandler wie etwa Chris Voss schilderten nachdrücklich auch in ihren Büchern, dass solche Verhandlungen nur mit fundierten psychologischen und kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen geführt werden könnten, bei denen es unmöglich sei, Sach- und Beziehungsebene zu trennen (vgl. Voss 2017: S. 22, 25f.). Spätestens seit den wirtschaftspsychologischen Untersuchungen von Amos Tversky und des Nobelpreisträgers David Kahneman sowie den verhaltensökonomischen Publikationen des ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Richard Thaler steht fest, dass der ursprüngliche Ansatz des Harvard-Negotiation-Konzeptes keine schlüssige Theorie einer Verhandlungswissenschaft zu liefern imstande ist. Allein der neue Buchtitel des leitenden Wissenschaftlers am Harvard-Negotiation-Institut, Daniel L. Shapiro, spricht dazu Bände: »Verhandeln – Die neue Erfolgsmethode aus Harvard« (vgl. Shapiro, 2018). Damit wird letztlich die ursprüngliche Kernthese des Harvard-Negotiation-Konzeptes durch das Institut selbst negiert. Dies soll seine Aktualität in bestimmten Teilbereichen der Verhandlungslehre, etwa in der Mediation, nicht schmälern. Ein genereller wissenschaftlicher Ansatz kann daraus jedenfalls nicht mehr abgeleitet werden.

Dieses Buch versteht sich als erster Ansatz, im deutschen Sprachraum für die Verhandlungswissenschaft als Querschnittwissenschaft mit interdisziplinärem Charakter eine Darstellung in Form eines Lehrbuches zu geben. Damit verbunden ist die Erkenntnis, dass es eine eigene Teildisziplin der Verhandlungswissenschaft gibt, die auf den Erkenntnissen einer Reihe namhafter wissenschaftlicher Disziplinen aufbaut. So werden die wesentlichen neurolingualen, verhaltensökonomischen, psychologischen und kommunikationswissenschaftlichen Grundlagen beschrieben und aus ihnen ein Instrumentarium an aktuellen und wirksamen Methoden für eine erfolgreiche Verhandlungsführung abgeleitet. Ziel ist es daneben, der immensen Bedeutung guten Verhandelns ein wissenschaftliches Forum zu eröffnen, das so – zumindest in der deutschen Diskussion – derzeit immer noch fehlt. Dabei kann auch auf moderne Forschungserkenntnisse zurückgegriffen werden, die sich der zentralen Frage widmen, wie Überzeugungsarbeit gelingen kann und von welchen psychologischen Gesetzen der Überzeugungsprozess maßgeblich beeinflusst wird (vgl. Cialdini, 2017: S. 24).

Die aktuelle Relevanz guten Verhandelns zeigt sich bereits exemplarisch in aufsehenerregenden Urteilen aus den USA und aus Deutschland: In dem einen Fall ging es um die Frage, ob es bei einer Geiselnahme eine Lösung durch Befreiung mit oder ohne Verhandeln geben könne? Das Urteil im sog. Downs-Geiselnahme-Prozess wirkt seitdem als verbindliches Präzedenzurteil und lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Vor einer taktischen Intervention muss ein vernünftiger Verhandlungsversuch unternommen werden (vgl. Voss, 2017: S. 20f.) Damit unterstellt ein Gericht letztlich implizit, dass ein Verhandlungsversuch selbst in Extremsituationen auch erwiesenermaßen sinnvoll ist. Der andere Fall ist hochaktuell und behandelt die Frage, ob bei der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses ein Arbeitgeber auch mit »gezinkten Karten« spielen kann. Dies wird vom Bundesarbeitsgericht verneint, in dem es den Grundsatz des »fairen Verhandelns« postuliert, der auch in einer derartigen, für beide Seiten sehr schwierigen Rechtssituation gelten müsse. Die Diskussion, was das konkret bedeutet, hat nach Auffassung eines Rezensenten des Urteils dabei gerade erst begonnen (vgl. Holler, 2019: S. 2206f.).

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Einsicht an Bedeutung, dass die Methodik der Verhandlung ein Niveau erreicht hat, das sie mit der Bezeichnung Verhandlungswissenschaft in den Rang einer wissenschaftlichen Disziplin erheben kann. Mit dem führenden Verhandlungspsychologen Cialdini kann man mittlerweile konstatieren, dass das Überzeugen Gesetzmäßigkeiten folgt und daher ganz anders als etwa die künstlerische Inspiration auch erlernbar ist. »Wissenschaftlich belegte Techniken, die es jedem von uns erlauben, mehr Einfluss zu erzielen, kann man erlernen« (vgl. Cialdini, 2017: S. 24). Wir sind an einer entscheidenden Wegmarke angelangt, die etwa auch im Verhältnis von Rhetorik und Dichtkunst schon seit Jahrtausenden bekannt ist: »poeta nascitur, orator fit« (»Ein Dichter wird geboren, ein Redner kann man werden«) – man kann ihr nun das verhandlungswissenschaftliche Pendant an die Seite stellen: »negotiator non nascitur sed fit« (»Zum Verhandler wird man nicht geboren, man kann es werden«)

Ich lade die Leserschaft ein, die Verhandlungswissenschaft als hochaktuelles wissenschaftliches Gebiet kennen zu lernen – und vielleicht aus der einen oder anderen präsentierten wissenschaftlichen Information auch persönlich einen Nutzen zu ziehen. Als Jurist und Manager*) habe ich jedenfalls in meiner jahrzehntelangen beruflichen Laufbahn Verhandlungen zu unterschiedlichsten Materien und mit Verhandlungssummen geführt, die insgesamt wohl viele hundert Millionen Euro ausmachen. Daraus sind auch die Erkenntnisse entsprungen, die ich in das Buch eingebracht habe. Die wichtigste Erkenntnis aber ist: Verhandeln ist spannend und macht Spaß – lassen Sie sich darauf ein.

Mannheim, im Juni 2022

Georg Nagler

*) Hinweis: Ich habe versucht, möglichst neutrale Termini zu verwenden. Lediglich aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen ansonsten grundsätzlich das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind stets Menschen jeder geschlechtlichen Identität.

Kapitel I: Verhandeln – eine neue Wissenschaftsdisziplin als Querschnittswissenschaft

1       Verhandeln als Querschnittswissenschaft

Nach einer sorgfältigen Untersuchung der vorhandenen wissenschaftlichen Publikationen muss festgestellt werden, dass sich zwar verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit dem Phänomen des Verhandelns als solchem beschäftigen. Eine eigenständige Verhandlungswissenschaft gibt es allerdings noch nicht. Ein Beleg dafür ist etwa die Forschungsgruppe »Contract Governance und Contract Negotiation« an der Universität Siegen. Eine nähere Beschäftigung mit dem generellen Sujet der Verhandlungswissenschaft unterbleibt in dieser Forschungsgruppe, da man aus nachvollziehbaren Gründen das Ergebnis der Verhandlungen als »juristisches Produkt« bezeichnet, das schwerpunktmäßig in den Vordergrund der weiteren Untersuchungen gestellt wird (vgl. Krebs/Jung: 2017). Allerdings stellt das Papier mit Recht die Frage, ob das Sujet eindeutig verortet werden könne. Dazu werden dann alternativ und ohne nähere Ausführung folgende Disziplinen angeboten: Psychologie, Volkswirtschaftslehre, Kommunikationswissenschaft, Betriebswirtschaft, Politikwissenschaft. Perspektivisch werden sich die Neurowissenschaften, die Informatik, die Wirtschaftsethnologie, die politische Philosophie, Ethik und Moral sowie die Konfliktforschung als Teilgebiet der Soziologie und die Evolutionsbiologie mit dem Thema zu beschäftigen haben. Dies lässt den Leser eher ratlos zurück. Auch die Literaturrecherche führt nur wenig weiter: So wird die Verhandlungswissenschaft als eine »Querschnittswissenschaft« bezeichnet. Sie ist demnach eine mehrere Einzelwissenschaften übergreifende Wissenschaft, deren Gegenstand und Inhalt daher für sich nicht einheitlich definiert ist. Aus den Einzelwissenschaften kristallisiert sich ein neuer wichtiger Untersuchungsgegenstand bzw. Lebenstatbestand heraus, der nur im Zusammenspiel der unterschiedlichen Einzelwissenschaften angemessen untersucht und interdisziplinär wissenschaftlich fortentwickelt werden kann. Die unterschiedlichen Aspekte greifen dabei augenscheinlich ineinander, was sich an folgenden Beispielen zeigt:

•  Verhandeln ist ein betriebswirtschaftliches Instrument gerade für das Festlegen relevanter Produktions- und Umsatzprozesse.

•  Verhandeln ist zentral für die Formulierung juristischer Verträge und ihre Konditionen.

•  Verhandeln spielt bei der Festlegung soziologischer Rollen in einer Gruppe eine wichtige Rolle.

•  Verhandeln ist konstitutiv für die Willensbildungsprozesse in der Politik.

•  Verhandeln kann nur als kommunikativer Prozess verwirklicht werden.

•  Verhandeln spielt in der Erziehungswissenschaft bei der gemeinsamen Festlegung pädagogischer Ziele, Wege und Inhalte eine große Rolle.

Jeder dieser Verhandlungsprozesse ist ein Lebenssachverhalt, der mit einem einheitlichen Methodenverständnis analysiert werden kann; daraus können wissenschaftsbasierte Erkenntnisse und Aussagen formuliert werden, die zu einem Kernsatz von Aussagen und Verfahrensweisen führen, die einer Prüfung auf ihre Richtigkeit in allgemeiner, objektivierter Hinsicht unterzogen werden können. Das vorgestellte Mannheimer Verhandlungsphasenmodell und das Mannheimer Konzept von 11 Doppelstufen einer Verhandlung verstehen sich als Ergebnis dieser wissenschaftlichen Analyse.

Dem Verfasser ist bewusst, dass mit dieser Darlegung eine erste näherungsweise Fixierung des wissenschaftlichen Sujets und der methodischen Grundlegung vorliegt. Gleichzeitig ist die Verhandlungswissenschaft von der Einstufung als exakter, quasi naturwissenschaftlicher Disziplin weit entfernt. Der Grund hierfür liegt im Wesen des Verhandelns als einer der komplexesten Interaktionen zwischen Menschen und Organisationen. Im Mittelpunkt steht eine Fülle von Variablen bezogen auf Ausgangssituation, verbale und nonverbale Kommunikation, verhaltensökonomische und psychologische Erkenntnisse u. v. m. Dabei gibt es für das Verhandeln keine absoluten Regeln (vgl. Gates, 2019: S. 28), wenn auch gewisse Parameter für ein erfolgreiches Verhandlungsverhalten formuliert und beschrieben werden können. Hinzu kommt, dass auch die »Erfolgsmessung« von Verhandlungen strukturell mit dem Problem zu kämpfen hat, dass letztlich mindestens zwei Seiten in diese involviert sind und i. d. R. mit dem Erfolg der einen ein weniger erfolgreiches Agieren der anderen Seite korrespondiert (vgl. Gates, 2019: S. 29).

Ein klassisches Dilemma beschreibt etwa der bekannte FBI-Verhandlungsleiter Chris Voss bei Verhandlungen in Entführungsfällen. Seine These, dass ein erfolgreicher Verhandlungsführer alles bekommen muss, was er fordert, ohne irgendetwas Substanzielles zurückzugeben, ist so allgemein nicht haltbar (vgl. Voss, 2017: S. 31). Voss müsste sich dann auch fragen lassen, ob diese Formel auch gilt, wenn ein Entführer alles an Forderungen erfüllt bekommt und die polizeiliche Verhandlungsgruppe am Schluss mit leeren Händen dastünde (was es in der Geschichte der Kriminalistik ja auch schon gegeben hat). Ein »absolut richtiges« Verhandlungsergebnis wird daher kaum gefunden werden können. Die Forderung von Steve Gates, dass ein »angemessenes« Ergebnis zu finden und der beste Benchmark daher die Angemessenheit des Ergebnisses sei, jeweils bezogen auf die gesamten Umstände des Falles, wird der Aufgabe und dem Ziel der Verhandlungswissenschaft eher gerecht (vgl. Gates, 2019: S. 30f.).

Zudem steht die Verhandlungswissenschaft als beschreibende Wissenschaft oft vor dem Problem, nur eine unzureichende Dokumentation der relevanten Vorgänge durchführen zu können. Verhandlungsprotokolle sind i. d. R. Ergebnisprotokolle – um auch die Verantwortung der Verhandlungsführer nicht an einzelnen Aktionen, sondern bewusst nur an ihrem Ergebnis messen zu lassen. Welche und wieviele Parteien wollen sich schon operativ in ihre Karten schauen lassen. Ein legendäres Beispiel dazu sind etwa die Friedensgespräche zwischen Israel und Ägypten, die im September 1978 unter Moderation von US-Präsident Jimmy Carter in Camp David stattfanden und im Friedensabkommen von Camp David ihren krönenden historischen Abschluss fanden. Sie werden als Beleg für die Wirksamkeit des propagierten Ein-Text-Verfahrens benannt (vgl. Fisher/Ury/Patton, 2015: S. 171f.). Hierfür gibt es allerdings zwei Einschränkungen: Zum einen ist das sog. Ein-Text-Verfahren – etwa in der westeuropäischen Jurisprudenz – schon seit Jahrhunderten das Mittel der Wahl in neutral moderierten Verhandlungen, etwa beim Einsatz eines Notars als Moderator. Der Erfolg der USA bei der Verhandlung ist aber wohl eher einem Umstand geschuldet, der etwa 30 Jahre später publik wurde: Die USA als Moderator konnten alle streng geheimen Funkprotokolle der Delegationen von Ägypten (und wohl auch Israels) mitlesen, da die Delegationen der beiden Staaten Kommunikationseinrichtungen benutzten, die der Weltmarktführer für Verschlüsselung geliefert hatte, die Crypto AG aus der Schweiz. Was damals niemand wusste: Die Crypto AG befand sich im Eigentum der amerikanischen NSA und des deutschen BND. Sie hatten Jahrzehnte vorher die Firma übernommen und buchstäblich zum trojanischen Pferd in Sachen Verschlüsselung für die meisten Staaten entwickelt, da sie alles mitlesen konnten, was als verschlüsselt versendet wurde (vgl. Förster, 2020; Pfaff/Brühl, 2020). Das Friedensabkommen belegt daher weniger die Effizienz des Ein-Text-Verfahrens als vielmehr die Bedeutung des ersten Dogmas der Verhandlungswissenschaft: Sammle soviel Informationen über die Gegenseite wie nur irgend möglich und verwerte sie im Hinblick auf das eigene Verhandlungsziel ( Kap. I.2).

Eines mag dieser Fall aber auch zeigen, was als Beleg für die Eigenschaft der Verhandlungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin spricht: Bei Verhandlungen geschieht nichts zufällig (vgl. Gates, 2019: S. 31). Sie sind einer umfassenden objektiven Analyse zugänglich, aus der dann mithilfe der einzelnen Instrumente ein umfassendes Bild von Verhandlungen und ihrer wesentlichen gesetzmäßigen Voraussetzungen, Bedingungen, Konsequenzen und Ergebnisse beschrieben werden kann. Ein wesentliches Anliegen wird es vor diesem Hintergrund künftig sein, den Einsatz bestimmter neurolingualer, verhaltensökonomischer und rhetorischer Instrumente darauf hin zu messen, welchen Einfluss sie im Fall ihres Einsatzes für den Verhandlungserfolg haben können. Ausgangspunkt ist die Behauptung vieler Autoren der »Verhandlungskunst«, mit bestimmten Methoden »Macht« in der Verhandlung ausüben zu können: So beschäftigen sich etwa Fisher, Ury und Patton eingehend mit »Machtfragen«, also damit, welche Quellen der Verhandlungsmacht genutzt werden können (vgl. Fisher/Ury/Patton, 2015: S. 250ff.; Schranner, 2016: S. 138ff., 178ff.).

Der Begriff der »Verhandlungsmacht« ist in diesem Zusammenhang viel zu ungenau. Letztlich geht es um die Frage, ob der Einsatz bestimmter Taktiken oder Verhandlungsmethoden zu einem nachweislich größeren Erfolg der eigenen Position führen kann. Damit ist letztlich ein wichtiges Thema der verhandlungswissenschaftlichen Forschung adressiert: Kann ein bestimmtes Verhandlungsinstrument in seiner Wirksamkeit tatsächlich gemessen werden? Ist es damit möglich, auch experimentalwissenschaftliche Forschungsmethoden für die Verhandlungswissenschaften zu entwickeln. Dies ist nach hiesiger Auffassung insbesondere auf der Grundlage der Verhaltensökonomie zu bejahen. Es kann als eine gesicherte Erkenntnis betrachtet werden, dass eine Vielzahl von Phänomenen, die von der Verhaltensökonomie beschrieben wurden, auch für verhandlungswissenschaftliche Ansätze von Bedeutung sind. Dies gilt etwa für die Bedeutung des »Ankerns«, der sog. »Verfügbarkeitsheuristik«, der »Repräsentativitäsheuristik«, für den sog. »Endowment Effekt« u. v. m. (Beck, 2014: S. 28ff., 145ff.). Diese Erkenntnisse spielen auch bei der Verwendung der Instrumente in Verhandlungen eine vergleichbare Rolle, da Verhandlungsentscheidungen häufig auch ökonomische Entscheidungen sind und implizit dann auch verhaltensökonomischen Gesetzmäßigkeiten folgen.

Aus diesem Grund wird der künftigen Forschung gerade die Frage als Gegenstand dienen, ob und inwieweit einzelnen Instrumenten und Taktiken ein messbares »verhandlungswissenschaftliches Veränderungspotenzial« bzw. ein »Wirksamkeitspotenzial« zukommt, das sich von einer vergleichbaren Situation unterscheidet, in der deren Einsatz unterlassen wurde. Damit ist das Tor zur sog. »experimentellen Verhandlungswissenschaft« geöffnet. Mit ihr kann z. B. durchaus ein experimenteller Ansatz für die Beantwortung folgender Fragen entwickelt werden:

•  Gibt es Ursachen für die messbare Wirksamkeit eines Verhandlungsinstrumentes?

•  Kann man die Effizienz unterschiedlicher Verhandlungsinstrumente – ggf. abhängig von bestimmten Settings – testen und messen?

•  Können Verhandlungskonzepte auf ihre Tragfähigkeit hin getestet und gemessen werden?

•  Können neue Instrumente und Verhandlungsdesigns in einem experimentellen Umfeld getestet und ihre Wirksamkeit gemessen werden?

Das was Thaler und Smith in ihren Werken für die Verhaltensökonomie und die sog. experimentelle Ökonomie entwickelt haben, bietet sich auch als Grundlage für eine experimentelle Verhandlungswissenschaft an. Damit ist auch die Option eröffnet, diese Fragen in den klassischen, sozialwissenschaftlichen Formen eines Experimentes zu untersuchen (vgl. Beck, 2014: S. 16ff.).

So dürften etwa Experimente zum Besitztumseffekt (Endowment-Effekt) in ihrer Validität auch für den Einsatz dieses Argumentes in Verhandlungen von gleicher Relevanz sein, da es konkret um die Konditionenmessung bei Verkaufsverhandlungen geht (vgl. Beck, 2014: S. 171ff.; grundlegend Thaler, 2018: S. 30ff.). Dies belegt jedoch bereits grundsätzlich, dass die Verhandlungswissenschaft das Potenzial besitzt, in Zukunft in einer Vielzahl von Einzelbereichen mit experimentalwissenschaftlichen Forschungsansätzen weitere Erkenntnisse zu generieren (vgl. Voeth/Herbst, 2015: S. 19ff., 38ff.).

2       Verhandlungen – ein kurzer geschichtlicher interdisziplinärer Abriß

Die Menschheitsgeschichte belegt an vielen Stellen, dass Verhandlungen wesentlich für geschichtliche Entwicklungen waren – und sind. Verhandeln ist daher auch ein kulturgeschichtliches Phänomen. Dies belegt nicht zuletzt auch die Bedeutung von Verhandlungen und Verträgen in der religiösen Mythologie. Bereits die Griechen und die Römer kannten eine eigene Gottheit für den Schutz von Vertrauen und den durch Eid besiegelten Vertrag: Ihr römischer Name war Fides. Die Gottheit hatte ihren Sitz in einem eigenen Tempel auf dem Kapitol, der auch als Aufbewahrungsort für die Verträge mit anderen Staaten diente (vgl. Prescendi, 1998). Die Bedeutung der Verhandlungen in der westlichen und orientalischen Mythologie kulminiert letztlich in der Bibel in den zwei Verträgen, die Gott – einseitig – mit Noah und Moses schloss und die als Bund bezeichnet werden. Ihre religiöse und damit auch persönlich-sittliche Wirkung, etwa in Form der 10 Gebote, gilt bis heute ungebrochen. Sie findet auch in der nicht nur kirchenrechtlichen Vorgabe ihren Ausdruck: »pacta sunt servanda« – Verträge sind einzuhalten (vgl. Landau, 2004: S. 457ff.).

Für die Verhandlungstheorie ist dabei wichtig, dass die Verhandlungen häufig als Abschluss eines Konfliktes bzw. Krieges oder zur Prävention einer kriegerischen Auseinandersetzung geführt wurden. Für die überkommene Verhandlungstheorie sind zur Analyse von solchen Verhandlungen und Verträgen folgende Parameter entscheidend: Wer ist Verhandlungspartei – was ist die Ausgangssituation und was ist das jeweilige Verhandlungsziel. Dies impliziert i. d. R. ein sogenanntes »kausales Narrativ«: Es gab einen Verhandlungsanlass – dieser wurde durch einen Vertrag gelöst, nachdem man vorher mehr oder weniger erfolgreich versucht hatte, diesen Verhandlungsanlass durch kriegerische Handlungen zu beeinflussen. (vgl. zur Vertragstheorie: Coing, 1976: S. 33f.).

Dieser Ansatz greift aber buchstäblich zu kurz: Jedem Verhandlungsanlass geht nämlich ein Zustand voraus, der sich durch relevante Unsicherheit auszeichnet. In seinem grundlegenden Werk »Der Schwarze Schwan« beschreibt Nassim Nicholas Taleb diese Situation dergestalt, als Verhandlungen dazu dienen, eine vorgefundene relevante Unsicherheit und die unterschiedlichen wahrnehmbaren Optionen von Zufälligkeit in dieser Lage zu beseitigen. Dadurch gelinge in der »Abbildung der Fragilität die Schaffung von Verträgen, welche die Fragilität aufheben« (vgl. Taleb, 2018: S. 17). Dies ist eine für Verhandlungssituationen fundamentale Erweiterung des Szenarios: Sie zwingt letztlich dazu, die der eigentlichen Verhandlung vorausgehende Situation zu analysieren – und daraus auch ein Bündel von Konsequenzen abzuleiten. Eine relevante – bislang kaum beachtete Konsequenz dürfte beispielsweise sein, konkret auf Verhandlungen zu verzichten, weil die wahrgenommene Unsicherheit etwa noch nicht dazu »zwingt« oder man an Handlungsoptionen denken kann, mit denen man Verhandlungen – zumindest vorübergehend – ausweichen will.

2.1     Die Konstantinische Schenkung

Nicht selten kann ein Vertrag selbst dann weitreichende Folgen bewirken, wenn er gefälscht ist. Das Regelungsinteresse ist exakt das gleiche wie bei einem regulären Vertrag: Der Fälscher bezweckt die Lösung einer ihm enorm riskant erscheinenden tatsächlichen Situation dadurch, dass er eine Verhandlung und einen Vertrag fingiert, die eine Lösung in seinem erklärten Sinn niederlegt. Die an sich anstehende Auflösung der Ungewissheit findet auch statt – sie erfolgt jedoch zum Nachteil eines anderen, der durch den gefälschten Vertrag buchstäblich um sein Recht gebracht wird. Die Ungewissheit der Ausgangssituation wird zwar so nachträglich gelöst – sie ist aber Unrecht. In der Rechtspraxis ist die Fälschung von Urkunden von einer derartigen Relevanz, dass es wohl keine Rechtsordnung gibt, die den Straftatbestand der Urkundenfälschung nicht als besonders dreistes Vergehen bestraft.

Die berühmteste Vertragsfälschung ist vermutlich auch die größte aller Zeiten: Man hat mit einer Fälschung die ganze Welt verschenkt – und das tatsächlich für Jahrhunderte lang geglaubt. Es handelt sich um die sog. Schenkung der Weltherrschaft von Kaiser Konstantin I. im Jahr 315 an den Papst. Mit diesem Dokument soll Konstantin, der erste christliche Kaiser von Rom, nach einer Wunderheilung vom Aussatz durch den Papst Silvester I. (den späteren heiligen Silvester) diesem die Herrschaft über die ganze Welt übertragen haben (vgl. Fuhrmann, 1968)

Ideologisch ist damit festgelegt worden, dass der Kaiser auch und gerade seine weltliche Gewalt an den Papst und die Kirche abgetreten habe, die damit die Weltherrschaft ihrerseits für die Zukunft vergeben könne. Damit ist die mittelalterliche Einheit von Kirchenherrschaft und Weltherrschaft hergestellt worden. Für die Begünstigten, also den Papst und die katholische Weltkirche, diente die Fälschung dazu, eine enorme Unsicherheit für ihren Status zu beseitigen: Der ständige Disput, ob die Weltherrschaft ohne Gottesherrschaft existieren und damit, ob der Kaiser als Inhaber der weltlichen Gewalt auch die Religion in ihre Schranken weisen könne, war damit für viele Jahrhunderte beseitigt. Und mit der Schenkung an den Papst war das Kirchenoberhaupt auch das Weltoberhaupt mit absoluter Machtvollkommenheit geworden. Es dauerte etwa 1000 Jahre, bis der endgültige Nachweis der Fälschung gelang: Die Sprache der Urkunde wich nachweislich vom Sprachgebrauch des 4. Jahrhunderts ab. Es dauerte weitere Jahrhunderte, bis der Vatikan endlich im 19. Jahrhundert die Fälschung offiziell feststellte und der Anspruch auf weltliche Macht nicht durch ein Geschenk des römischen Kaisers gerechtfertigt sein könne (vgl. Zeillinger, 1986).

2.2     Der Kauf von Louisiana

Was halten Sie vom Kauf einer Fläche größer als Westeuropa – und das für umgerechnet etwa 250 Millionen Euro? Das entspricht dem Bruttosozialprodukt von Deutschland in einer Stunde! Und noch besser: Der Verhandler hat dazu keine Vollmacht, weil niemand in seiner Regierung mit so einem Vertrag überhaupt gerechnet hatte. Kann nicht sein? Doch! Einen solchen Vertrag gab es tatsächlich – es ist der Vertrag über den »Louisana Purchase«, der im Jahr 1803 abgeschlossen wurde.

Ausgangspunkt des Vertrages war eine enorme Ungewissheit: Die amerikanischen Siedler westlich der Appalachen nutzten den Mississippi zum Export ihrer Waren. Dazu mussten sie den Hafen von New Orleans ansteuern. Nachdem aber Frankreich im Jahr 1800 unter Napoleon endgültig die Herrschaft von den Spaniern über diesen einzigen Exporthafen am Mississippi übernommen hatten, war unklar, ob dieser Exportweg dauerhaft zur Verfügung stehen würde. Die Beseitigung dieser Unsicherheit durch einen Krieg um die Herrschaft am Mississippi gegen Frankreich kam aber für den damaligen US-Präsidenten Thomas Jefferson nicht in Frage: Die Republik Frankreich war seit Gründung der USA ein ideeller und tatkräftiger Verbündeter des jungen Bundesstaates und ein gemeinsamer Gegner Großbritanniens.

Zur Lösung dieser existenziellen Unsicherheit für die wirtschaftliche Zukunft der USA beabsichtigte Jefferson, einen Kauf von New Orleans sowie der Fläche von Lousiana am Golf von Mexico mit Napoleon zu verhandeln. Nach langen Diskussionen entschied sich Napoleon für das Kaufgeschäft. Sein Interesse an der gesamten französischen Expanionsfläche westlich des Mississippi war deutlich geschwunden, nachdem er mit einer endgültigen Niederlage in Amerika u. a. infolge der Unterlegenheit der französischen Flotte in der Karibik rechnete. In dieser Situation etwas zu verkaufen, dessen Verlust man ohnehin befürchten musste, das ist auch noch heute ein akzeptierter Verhandlungsstand (»Sell what you’ll probably loose«). Diese Interessenlage war aber im Detail den Vertretern der USA so nicht bekannt. Der beauftragte James Monroe (später selbst Präsident der USA) und sein Kollege Livingston wollten also an sich nur New Orleans und das umliegende Gebiet erwerben – für maximal 10 Millionen US-Dollar. Doch plötzlich bot Ihnen Napoleon den gesamten Mittleren Westen (das von Frankreich beanspruchte Flußeinzugsgebiet des Missisippi) für 15 Millionen US-Dollar an. Dies war ein Geschäft, zu dem sie in keinem Fall berechtigt waren. Und dennoch war ihnen die historische Gelegenheit bewusst – sie akzeptierten das Angebot und kauften ohne Vollmacht.

Die weiteren Verhandlungen zogen sich zwar noch hin, aber im Oktober 1803 wurde der Vertrag vom US-Kongreß ratifiziert und in die Tat umgesetzt. Napoleon konnte sich auf Europa konzentrieren und mit dem Kaufpreis seine Kriegskasse verstärken. Sein strategischer Plan, die Konzentration auf Europa ging auf: In der Schlacht von Austerlitz im Dezember 1805 errang er den entscheidenden Sieg für die Vormachtstellung in Westeuropa. In der historischen Perspektive ist die völlig unterschiedliche Entwicklung der Vertragsziele der Parteien bemerkenswert: Präsident Thomas Jefferson und seine Verhandlungsdelegation erweiterten die Fläche der Vereinigten Staaten um ein Territorium so groß wie »ganz Europa« – ohne ein einziges Menschenleben zu opfern. Man schuf so friedlich und dauerhaft die Grundlagen für die weitere Expansion und die Großmachtstellung der USA. Auch heute noch gilt der Vertrag als das »beste Geschäft in der Geschichte der USA«. (vgl. Gerste, 2003). Napoleon kämpfte um ganz Europa; seine ruinösen Kriege kosteten Millionen an zivilen und militärischen Menschenleben – und zum Schluss verlor er alles in der Schlacht von Waterloo.

2.3     Der Nato-Vertrag

Unter den Mitgliedsstaaten des NATO-Vertrages herrscht seit dessen Ratifizierung im August 1949 mittlerweile seit 70 Jahren ununterbrochen Frieden, selbst in den Zeiten des sog. Kalten Krieges. Dies rechtfertigt es sicherlich, auch dieses Vertragswerk als ein Schlüsseldokument der Verhandlungswissenschaft zu bezeichnen. Der Ausgangspunkt des Vertrages war die (»gefühlte«) Unsicherheit der 12 westlichen Gründerstaaten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Alle Gründerstaaten hatten die Sorge, dass die kommunistische Sowjetunion unter Stalin in der Lage – und wohl auch willens – wäre, das militärisch unterlegene Westeuropa zu erobern und so den kommunistischen Machtbereich entscheidend zu vergrößern. Die kommunistische Expansionsdoktrin hatte sich in der kompromisslosen Einführung sozialistischer Regierungsstrukturen in den ostmitteleuropäischen Staaten hinter dem »Eisernen Vorhang« gezeigt.

Dies führte zur Diskussion eines Abwehrbündnisses. Verhandlungspartner und Vertragspartei sollten also nur die 12 westlichen Staaten sein, nicht aber die Sowjetunion: Man sah übereinstimmend keine Option für einen wirksamen Friedens- und Abrüstungsvertrag mit der von Stalin regierten Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten. Dies war auch auf die Erfahrung mit der Umsetzung der sog. Potsdamer Vereinbarung der Siegermächte im August 1945 zurückzuführen (vgl. Blumenwitz, 1990: S. 3041ff.). Die existierende und als enorme Bedrohung empfundene Unsicherheit sollte also im gemeinsamen Interesse der Vertragsparteien durch ein defensives Bündnis reduziert werden. Dies beschreibt eindeutig die zentrale Vertragsklausel: »dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten«. Das Prinzip lautet daher: »Greifst du einen an – greifst du uns alle an«, was eine enorme Erhöhung des Risikos für einen potenziellen Angreifer bedeutet. Dies galt und gilt insbesondere auch im Hinblick auf die sog. nuklearen Optionen der Bündnisstaaten USA, Frankreich und Großbritannien. Dieses Prinzip wurde mit weiteren Regelungen verbunden: Zum einen der Gewährleistung der wichtigsten Prinzipien einer freiheitlichen Grundordnung und zum anderen der Installation eines »vorgeschalteten« Konsultationsmechanismus im Fall einer sicherheitspolitischen Krise (vgl. Art. 2 und 4 des Nato-Vertrages).

Der NATO-Vertrag erfuhr zwei entscheidende Erweiterungen, nämlich im Jahr 1955 mit der Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland im Zuge der Wiederbewaffnung und in den Jahren zwischen 1999 und 2004 durch die Erweiterung um die meisten Staaten des früheren Warschauer Paktes. Und auch der »dritte, stille Vertragspartner« wurde ausgewechselt: Der Warschauer Pakt und die kommunistische Sowjetunion gingen als Bedrohung auch am Wettrüsten zugrunde, das sich über 70 Jahre vollzog und letztlich die Kräfte des Ostblocks überstieg. Dies kann sicher auch als ein Erfolg des NATO-Vertrages angesehen werden. Auch deswegen ist das Vertragswerk bis heute eine der erfolgreichsten völkerrechtlichen Vereinbarungen: Alle Parteien halten seit mehr als 70 Jahren unverändert an seinem Inhalt fest. Dies gilt gerade für das Prinzip der massiven Abschreckung, getreu dem römischen Grundsatz »si vis pacem – para bellum« (»Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor«).

2.4     Der »EU-Vertrag« einst und jetzt

Die Gründung der Europäischen Union ist wohl eines der komplexesten Themen, auch aus der Verhandlungsperspektive. Für ihre Entwicklung kann am besten als verhandlungswissenschaftliche Metapher das Bild eines Vertragswerkes verwendet werden, das sich nach und nach, fast organisch wie eine Zwiebel aufbaute und entwickelte. Der Zwiebelkern ist dabei erstaunlicherweise 50 Jahre nach seiner Entstehung bereits im Jahr 2002 verschwunden – weil der ursprüngliche Vertrag nach dem Willen seiner Vertragspartner an sich nur 50 Jahre gelten sollte: Es war der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).

Ausgangspunkt für das umfassende völkerrechtliche Vertragswerk von heute war die enorme Ungewissheit über die zukünftige Entwicklung der europäischen Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg und hier insbesondere der beiden Kernstaaten Frankreich und Deutschland. Robert Schuman und Konrad Adenauer waren als führende Politiker der beiden Staaten überzeugt, dass nur eine abgestimmte und damit befriedete Entwicklung der Montanindustrien beider Länder den Wiederaufbau und das Miteinander der früheren »Erbfeindstaaten« am Rhein bewirken könne. Hinzu kam das Bewusstsein, dass wohl nur eine abgestimmt operierende Schwerindustrie auf dem Weltmarkt künftig würde bestehen können. Daneben gab es eine »hidden agenda«, die auch der jeweils anderen Seite bekannt war: Die Bundesrepublik sah in diesem völkerrechtlichen Vertrag die historische Chance zur Souveränität – und Frankreich die Option, die gefürchtete deutsche Wirtschaftskraft unter Kontrolle zu bekommen. Die angestrebte Win-Win-Situation war also klar – aber wie sollte das umgesetzt werden, wollte man nicht permanente Streitereien der Vertragsparteien riskieren? Die Lösung bestand in einem mutigen und nachgerade historischen politischen Kunstgriff: Man installierte faktisch einen dauerhaften Schiedsrichter in Form einer Behörde, der auch gleich noch supranationale Befugnisse zugestanden wurden. Diese »Hohe Behörde« war – zumindest in Europa – die erste supranationale Behörde in der Geschichte überhaupt, die durch administrative Regelungen über Produktionsquoten und Marktzugangsregelungen in den Mitgliedsstaaten verfügen konnte. Das war derart neu, dass der supranationale Charakter sogar eigens in Artikel 9 EGKS-Vertrag niedergelegt wurde: Interessenerreichung durch teilweise Aufgabe der eigenen Souveränität zugunsten einer gemeinsamen Einrichtung. Dieser völlig neue »modus operandi« zwischen Frankreich, Deutschland sowie Italien und den Benelux-Staaten trat nach vielen Diskussionen in Politik, Wirtschaft und Arbeiterschaft am 23. Juli 1952 in Kraft. Dem folgten nach gleichem Muster noch die Verträge über die sog. Europäische Atomgemeinschaft zur Regelung der friedlichen Nutzung bzw. Erforschung der Atomenergie sowie der erste Vertrag über die Einrichtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1957. Damit wurden zugleich eine supranationale Gerichtsbarkeit und ein supranationales Parlament für alle Bereiche eingeführt (vgl. Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft; Verträge der Europäischen Union: Römische Verträge (1957), Vertrag von Maastricht (1992), Vertrag von Lissabon (2007)).

Verhandlungswissenschaftlich war die Problemlage nun besser justiert: Auf den positiven Erfahrungen aufbauend ging es jetzt um die Entwicklung der europäischen Volkswirtschaften. Die Interessenlagen der potenziellen Vertragsparteien, die möglichen Win-Win-Parameter und das denkbare Lösungskonzept waren jeweils vergleichbar. Und sie waren von dem integralen, europafreundlichen politischen Geist erfüllt, diese Verträge auch mit Leben zu erfüllen; dies ging auch über den Grundsatz des »pacta sunt servanda« hinaus. Die verhandlungswissenschaftliche Bewertung dieser Entwicklung ist nicht einfach, aber es kann doch festgestellt werden, dass sich gemessen an den objektiven und gefühlten Problemen der Nachkriegszeit sowie den politischen Koordinaten Westeuropas im voll entbrannten Kalten Krieg der Ausgangsvertrag der Europäischen Gemeinschaft über alle Maßen bewährt hat. Den Höhepunkt und vorläufigen Endpunkt bildete schließlich die Neugestaltung Europas einschließlich Osteuropas im Verfassungsvertrag von Lissabon in den Jahren 2007 bis 2009.

Dennoch darf nicht übersehen werden, dass der »proeuropäische Geist« für das europäische Vertragskonstrukt doch allenthalben abgekühlt ist. Die Kulmination dieser Entwicklung war das politische Drama des »Brexit«. Aus der Sicht der Verhandlungswissenschaften steht jedenfalls fest, dass die Wirklichkeit innerhalb dieses Vertragsrahmens neuerlich von großer Unsicherheit über die künftige Entwicklung der Mitgliedsländer geprägt ist, die sich auch in massiven euroskeptischen Bewegungen wiederfinden. Dies gilt auch für das volkswirtschaftliche Zentralinstrument, die gemeinsame Währung. Auch lassen sich divergierende Interessenlagen namhafter politischer Kreise nicht von der Hand weisen; ein situativer Blick auf die unterschiedlichen politischen Programme der nationalen Mehrheitsführer Angela Merkel, Emanuel Macron, Jaroslaw Kaczinski, Viktor Orban sowie Boris Johnson genügt. Inwieweit dies ein langwährendes Vertragswerk gefährden kann, lässt sich abschließend kaum beurteilen (vgl. beispielhaft dazu Nida-Rümelin/Weidenfeld, 2007)

2.5     Die OPEC und ihr geheimer Gegenspieler

Auch in Zeiten der Klimawandeldiskussion ist das Erdöl unverändert einer der wichtigsten Energieträger der Weltwirtschaft. Der Energiepreis ist dabei langfristig relativ stabil – auch wenn die Ölpreisschwankungen in den letzten 50 Jahren enorm waren und – in den 1970er Jahren – auch Weltwirtschaftskrisen auslösten. Nach der Wirtschaftstheorie müsste für die internationale Preisgestaltung die Preisbildung auf den Weltrohstoffmärkten bzw. -börsen verantwortlich sein – wenn es da nicht einen Vertrag gäbe, der maßgeblich die Preisbildung beeinflussen würde, den OPEC-Vertrag zwischen derzeit 14 erdölexportierenden Ländern.

Als Ausgangspunkt dieses Vertrages und Motivation für die Gründerländer kann wieder eine Unsicherheit, dieses Mal eine ökonomische, gelten. In den 1950er Jahren zeichnete sich zwar einerseits eine enorm steigende Nachfrage nach Erdöl als Energieträger und Chemiegrundstoff ab. Auf der anderen Seite wuchs durch enorm verbesserte Produktionsanlagen auch das Erdölangebot – und zwar stärker als die Nachfrage. Dies führte bei einigen Ländern zu der Erkenntnis, dass nur durch ein abgestimmtes Produktionsverhalten die Preise und damit auch die Staatseinkünfte zu kalkulieren seien. Das klare Ziel der OPEC war und ist daher die Bildung eines effektiven, vertraglich fixierten Produktions- und Preiskartells. Dazu kam eine akute Bedrohung der sog. OPEC-Länder durch ein schon länger bestehendes »Gegenkartell« – es handelte sich um die sog. »Sieben-Schwestern-Organisation« der größten westlichen Ölkonzerne: Bereits 1928 hatten die sieben weltgrößten Ölkonzerne mit dem sog. Achnacarry-Abkommen ein Preis- und Produktionskartell in ihrem Sinn gegründet, das geheim arbeiten sollte und voll von den Regierungen, insbesondere der USA, Großbritanniens und der Niederlande, unterstützt wurde. Erst 1952 wurde dieses Kartell – eher widerwillig – bekanntgemacht; dem Vernehmen nach hat es bis Ende der 1960er Jahre mit Unterstützung der Regierungen funktioniert. Auch wenn es augenscheinlich nicht mehr existiert, ist die aktuelle Situation der internationalen Zusammenarbeit der Ölkonzerne wohl gegeben, wenn auch umstritten (vgl. Kemp, 2017).

Vertragliches Regelungsziel der Opec ist daher eine abgestimmte, verbindliche Willensbildung zur Vermeidung von Marktinstabilitäten. Sie ist eindeutig auf die Preis- und Mengenpolitik von Erdöl begrenzt; weitere Zuständigkeiten und Regelungsbereiche hat der Vertrag grundsätzlich nicht. Zur Umsetzung der Willensbildung wurden bestimmte Beschlussverfahren und eine Basisorganisation vereinbart: Die Organisation ist niedergelegt im sog. Opec-Statut. Demnach funktioniert die Organisation als »intergovernmental organisation«, ohne einen supranationalen Charakter zu besitzen (vgl. Art. 1 Opec-St). Das entscheidende Gremium ist die dreimal jährlich tagende Ministerkonferenz, die Entscheidungen einstimmig fällt, eine beschlussfähige Präsenz von 60 Prozent der Länder vorausgesetzt. Die Umsetzung der Beschlüsse und die Tätigkeit des Sekretariats überwacht ein Rat der Gouverneure, in den jedes Land seinen ständigen Vertreter entsendet.

Ist der Opec-Vertrag erfolgreich? Die volkswirtschaftlichen Bewertungen sind sich wohl einig in der Tatsache, dass die Preisregelung für Erdöl die Mitglieder der Opec in die Lage versetzt hat, stabile und auch erträgliche Strukturen für ihre Länder im Finanzsektor aufzubauen. (vgl. Witte/Goldthau, 2009). Auch und gerade die informelle Kooperation mit anderen erdölexportierenden Ländern wie etwa Russland belegt die Wertschätzung dieser Einrichtung. (vgl. Stichwort Opec in: Wikipedia vom 8.9.2020). Selbst aus Umweltschutzgründen dürfte eine Politik, die Erdöl – in Grenzen – preislich verteuert, nicht abzulehnen sein. Nach dem Ölschock 1974 hat sich jedenfalls die stabilisierende Funktion eher positiv bemerkbar gemacht, da Länder wie Saudi-Arabien auch betont die Interessen der Industrieländer an vernünftigen Energiepreisen ausdrücklich berücksichtigen. Die Kritik der Industrieländer, insbesondere der USA, ist vor diesem Hintergrund eher ein Beleg für die Wirksamkeit des Vertrages.

2.6     Fazit der historischen Betrachtung

Die dargestellten historischen Beispiele für Vertragsverhandlungen sind für die Verhandlungswissenschaft in verschiedener Hinsicht aufschlussreich:

a)    Es zeigen sich in den Verhandlungen spezifische Muster und Strukturen, die für eine wissenschaftliche Analyse und darauf aufbauend auch für die Beschreibung von Ausgangssituationen, Kausalitäten, Instrumenten und Methoden von Verhandlungen und die Bewertung ihrer Ergebnisse geeignet sind. Ganz gleich, ob religiöse, strategische, gefälschte oder Verträge ohne Vertretungsmacht bzw. Verträge, die geradezu disruptiv neue Regelungsstrukturen einführen: Alle diese haben nicht nur historische, politische, juristische oder soziologische Dimensionen. Auch eine eigenständige Verhandlungswissenschaft, die sich mit Voraussetzungen, Durchführung und Resultaten von Verhandlungen beschäftigt und dabei selbstverständlich interdisziplinär angelegt ist, kann und muss Anwendung finden. Es lässt sich dazu ein einheitlicher Kanon an Bewertungskriterien der unterschiedlichen Phasen von Verhandlungen und Ergebnissen erarbeiten, der übergreifend Anwendung finden kann.

b)    Das später noch eingehender dargestellte Instrumentarium der Verhandlungswissenschaft hat eine völker-, kultur-, gesellschafts- und epochenübergreifende Bedeutung. Es setzt sorgfältige Analysen voraus und kann für die wissenschaftliche Bewertung aller Verhandlungsstufen und der Verhandlungsmethodik wichtige Hinweise liefern. Dabei spielen auch und gerade die modernen Erkenntnisse der Verhaltensökonomie und der Verhaltenspsychologie eine wichtige Rolle.

c)    Die Anwendung dieser verhandlungswissenschaftlichen Instrumentarien und Erkenntnisse vorausgesetzt, können auch für künftige relevante Situationen wissenschaftliche Erkenntnisse und Annahmen formuliert werden: Für die Vorbereitung und Durchführung künftiger Verhandlungen kann ein Instrumentensatz erarbeitet werden, der es erlaubt, relativ valide Verhandlungen zu strukturieren und wissenschaftsbasiert zu beeinflussen. Dies setzt allerdings voraus, sich diesen Erkenntnissen zu öffnen und darauf zu verzichten, Verhandlungen aus »einem Bauchgefühl« oder aufgrund eigener »Erfahrungen« zu führen (vgl. Voeth/Herbst, 2015: S. 31f.).

d)    Die Menschheitsgeschichte hat derart viele Einzelfälle von bemerkenswerten Verhandlungen aufzubieten, dass daraus eine noch spannendere wissenschaftliche Aufgabe abgeleitet werden kann, die sich mit ihrer Sammlung, Analyse und Systematisierung beschäftigt. Es versteht sich von selbst, darin auch eine Fundgrube von Einzelaspekten zur Bereicherung der Verhandlungswissenschaft zu sehen.

Die Umsetzung dieser Erkenntnisse führt uns mitten hinein in die einzelnen Handlungsfelder der Verhandlungswissenschaft, die wir in den folgenden Kapiteln behandeln werden.

3       Life is negotiation: Wichtige Fallgruppen für Verhandlungsszenarien

Vielen wird erst beim genauen Überlegen bewusst, in welchen mannigfaltigen Situationen Verhandlungen üblich sind – oder sein könnten; und es wird ihnen auch nicht selten schmerzlich bewusst, in wie vielen dieser Situationen durch den Verzicht auf vernünftiges Verhandeln ein anderer wirtschaftliche Vorteile gewinnen kann, die man letztlich selbst bezahlt. Für die Verhandlungswissenschaft ergeben sich daraus eine Fülle von interessanten Forschungs- und Arbeitsansätzen.

Die nachfolgenden Bereiche geben dabei nur die wichtigsten Anwendungsfelder erfolgsorientierter Verhandlungen wieder. Aus Ihnen können wiederum wichtige Rückschlüsse auf Grundprinzipien des Verhandelns gezogen werden, die typischerweise ihren Verlauf beeinflussen – und zwar positiv wie negativ. Als ausgebildeter Rechtswissenschaftler bediene ich mich dabei schwerpunktmäßig der Aufbaumethodik im Bürgerlichen, im Handels- und Wirtschaftsrecht. In diesem Bereich gibt es eine Fülle von wissenschaftlichen Untersuchungen etwa zur Bedeutung von Kaufverträgen, aber auch zum Einsatz von Absatztechniken. Das Instrumentarium dafür bilden in allen Fällen methodisch gelungene Verhandlungen.

(1)  Der Kauf und Verkauf von Grundstücken, Gebäuden, Baurechten etc. ist prägend für jede entwickelte Volkswirtschaft. Allein der Wert der Objekte in Deutschland, die dem sog. Corporate Real Estate Management im betrieblichen Bereich unterliegen, beträgt nach einer profunden Studie 3 Billionen Euro, davon ca. 500 Milliarden Euro an Grundstückswerten (vgl. Pfnür, 2013: S. 20). Die »Transaktionserfahrung« wird dabei durchaus kritisch bewertet, was nichts anderes heißt, als dass wirtschaftliche Potenziale im Bereich effizienter Transaktionen durch verbessertes Verhandeln durchaus zu heben sind. Hinzu kommen die unzähligen Eigentumsverhandlungen im Privatbereich, etwa Kauf und Verkauf von Grundstücken, Häusern, Eigentumswohnungen.

(2)  Der KFZ-Bereich ist ein idealtypisches Segment für die Bedeutung von Verhandlungen gerade auch für Konsumenten. Die Zahl von 3,41 Millionen Neuzulassungen jährlich in Deutschland bei einem Bestand von 46,4 Millionen Pkw belegt eine volkswirtschaftliche Relevanz im Volumen von ca. 500 Milliarden Euro Verkehrswert. Wenn ein Pkw nur durchschnittlich einmal in 6 Jahren als Gebrauchtwagen verkauft würde (faktisch 7,19 Millionen Besitzummeldungen), bedeutete dies zuzüglich zu den Neuwagenkäufen ein Handelsvolumen von ca. 10 Millionen Pkw jährlich (vgl. Statistisches Bundes- und Kraftfahrtbundesamt mit Zahlen für 2018). Die Tatsache, dass Gebrauchtwagenhändler einen berüchtigten Ruf haben, belegt für sich genommen die Tatsache, dass geschickte Händler in diesem Verhandlungsbereich zu Lasten ungeschulter Privatkunden profitieren können (vgl. Elster, 2010).

(3)  Der Einkauf von Vorprodukten für die Produktion ist ein klassisches Segment der Industriebetriebslehre. Im professionellen Einkaufs- und Verhandlungsmanagement liegen nach wie vor die größten Einsparpotenziale (vgl. Wannenwetsch, 2009). Es liegt auf der Hand, dass Beschaffungsverhandlungen ein ertragreiches Untersuchungsobjekt für die Verhandlungswissenschaft sind (vgl. Voeth/Herbst, 2015: S. 130f.).

(4)  Die Verhandlung von Mietkonditionen ist ein weiteres Gebiet von enormer volkswirtschaftlicher, aber auch persönlicher Relevanz. Dazu kann ein Beispiel dienen, das sich mit Einbauobjekten in Mietwohnungen befasst: Es ist der Kauf von Einbauküchen durch Mieter, der einen weitverbreiteten Verhandlungsgegenstand darstellt und mit enormen Tücken behaftet ist. Hat ein Mieter selbst für eine leere gemietete Wohnung die Küche gekauft und eingebaut – ist er beim Auszug auch verpflichtet, diese auszubauen und mitzunehmen. Dies ist häufiger als man glaubt und auch mit enormen Wertverlustrisiken verbunden. Die Lösung ist denkbar einfach: Man bietet sie dem Vermieter oder dem Nachmieter an. Das Problem dabei ist, diese müssen die Küche nicht übernehmen – das Ergebnis: Gewiefte Vermieter kalkulieren die Abbaukosten – und bieten einen Preis für die Küche an, der ein wenig über dem Verkehrswert abzüglich der Abbau- und Umzugskosten liegt, anschließend vermietet der Vermieter die Wohnung möbliert teurer, ggf. mit einer Reparaturklausel für die Elektrogegenstände. Dies ist ein klassisches Verhandlungsgeschäft, bei dem der Vermieter gezielt die wirtschaftliche Unsicherheit des Mieters zu seinen Gunsten ausnutzen kann. Wie man darauf reagiert, das werden wir noch später aus Sicht der Verhandlungswissenschaft zeigen. Auch das Hinterlegen einer Kaution ist ein klassisches Element eines Wohnungsmietvertrages. Faktisch liefert der Mieter dem Vermieter damit einen nicht unerheblichen Betrag als »Faustpfand« für Fragen der Vertragserfüllung. Das Verhandlungsspiel bei Mietende ist dann bekannt: Der Vermieter moniert Mängel an der Mietsache und hält die Kaution zurück – zum Zorn des Mieters. In vielen Fällen kommt es zu einem knallhart kalkulierten Deal, man vergleicht die gegenseitigen Positionen und verliert einen Teil seiner Kaution, häufig nach dem Grundsatz: nur schnelles Geld ist gutes Geld (Förscher/Steinle/Kaiser, 2020: Rd. 988)

(5)  Die Verhandlungen von Tarifverträgen können mit Recht als volkswirtschaftliche Schicksalsentscheidungen für ganze Branchen bezeichnet werden. Das damit zusammenhängende kollektive Verhandlungsritual ist paradigmatisch: Vom »Vorspiel« im Verhandlungsgeplänkel, ersten Warnstreiks, konfrontativen Warn- und Verhandlungsszenarios bis hin zum dramaturgischen Höhepunkt der durchverhandelten Nacht mit anschließender öffentlichkeitswirksamer Einigung – eigentlich ist jeder Personalwirtschaftler mit derartigen Prozessen vertraut und doch haben diese ihre Faszination nicht verloren. Geschickte Verhandlungsstrategien können hier über millionenschwere Schäden infolge von Arbeitskampfmaßnahmen entscheiden, aber auch über hohe Kosten infolge von ungeschickt ausgehandelten Tarifpaketen.

(6)  Ganz gleich ob Medikamentenpreise, Verhandlungen über medizinische Hilfsmittel oder die berüchtigten IGEL-Leistungen bei behandelnden Ärzten: Auch hier ist es eine Binsenweisheit, dass die geschickt verhandelnde Partei enorme Mehreinnahmen bzw. Einsparungen generieren kann. Die Verhandlungsszenarien sind unterschiedlich – können aber erfolgreich strukturiert werden, wie wir noch darlegen.

(7)  Auch Verhandlungen mit Handwerkern über Entlohnung, Leistung und Sachlieferung, Reklamation oder ein illegales »Bargeschäft ohne Rechnung aber mit vollem Risiko« sind zu nennen: Wer kennt nicht aus eigener Erfahrung das finanzielle Potenzial, das Verhandlungen in diesem Bereich bergen.

(8)  Auch bei »Familienverhandlungen« (Ehevertrag – Erbschaft – Scheidungsverhandlungen) haben wir es mit einem Segment zu tun, in dem Milliarden bewegt werden: Unterhaltszahlungen, Zugewinnausgleich, Firmenauseinandersetzungen – die Verhandlungsszenarien waren und sind hier derart unterschiedlich, aber auch häufig so konfliktbeladen, dass hierfür maßgeblich ein neues Verhandlungsszenario mitentwickelt wurde, das heute vielfach Anwendung findet: die Mediation ( Kap. III.11.4).

(9)  Ein Kernfeld bilden auch die Verhandlungen im betrieblichen Umfeld: Mitarbeiterführung, Betriebsvereinbarung, Gehaltsfragen, Mitbestimmung und Arbeitsplatzabbau – dies alles sind Gebiete, in denen die Verhandlungskunst enorme Relevanz für den betrieblichen Erfolg oder den Misserfolg aufgrund dauernder Streitigkeiten haben kann. Wir werden gerade auch hier sehr gute Einzelbeispiele für Elemente der Verhandlungswissenschaft finden.

(10) Unternehmenstransaktionen, Mergers & Acquisitions (M&A)-Geschäfte und Betriebssanierungen belegen ebenfalls die Relevanz gelungener Verhandlungen und ihre unmittelbaren Kapitalauswirkungen im Erfolgs- wie im Misserfolgsfall. Ein aktuelles Beispiel ist etwa die Übernahme des deutschen Sandalenherstellers Birkenstock durch die französische LVMH-Gruppe zu einen Rekordpreis von mehreren Milliarden Euro (vgl. Finkenzeller, 2021)

4       Die Interdisziplinarität der Verhandlungswissenschaft