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Beschreibung

Ein »verirrter Bürger« – das Thomas-Mann-Zitat über den Möchtegern-Künstler Tonio Kröger kann mit leicht veränderter Begründung auch auf die meisten Autoren der linksdemokratischen Wochenschrift DIE WELTBÜHNE angewandt werden. Sie waren größtenteils bürgerlicher Herkunft, hatten studiert – der Kleinbürgersohn Carl von Ossietzky, der in ärmlichen Verhältnissen in Hamburg aufwuchs, war die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Dafür brachen auch gutverdienende Schriftsteller aus wohlhabenden Hause, wie etwa Kurt Tucholsky oder Kurt Hiller, zumindest von den politischen Ideen her mit ihren Elternhäusern und Hintergründen, suchten wie auch Ossietzky nach einem Bündnis mit dem von ihnen durch seine Lebensweise getrennte Industrieproletariat: eine Hoffnung, die sich bald zerschlug. Das Thema der Weimarer Linksintellektuellen zwischen Herkunft und politischer Neigung ist schon einmal Gegenstand einer eindrucksvollen literarischen Ausstellung gewesen. Als Thema für die Kurt Tucholsky-Gesellschaft und deren zweijährlichen wissenschaftlichen Berlin-Tagung stellte es allerdings Neuland dar. Eine Reihe hochkarätiger, eloquenter Fachleute wurden aufgeboten, um verschiedene Autoren und Facetten des Rahmenthemas für die Zuhörer zu erhellen. Diese Dokumentation bietet Gelegenheit, diese nachzulesen. Ebenfalls dokumentiert sind Laudatio und Dankesrede des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der im Jahr 2015 an den Heine-Forscher und Theaterkritiker Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelstein verliehen wurde. Mit Beiträgen von Juliane Leitert, Dr. Ian King, Frank-Burkhard Habel, Prof. Dr. Dieter Mayer, Prof. Dr. Werner Boldt, Prof. Dr. Wolfgang Beutin, Prof. Dr. Heribert Prantl, Dr. Wolfgang Helfritsch und Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelstein.

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Seitenzahl: 215

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King (Hrsg.), Verirrte Bürger?

Schriftenreihe der

Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Band 9

›Verirrte Bürger‹?

Kurt Tucholsky und der Weltbühne-Kreis zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung

Dokumentation der Jahrestagung 2015

Herausgegeben von Ian King im Auftrag der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Schriftenreihe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, Band 9

Umschlaggestaltung: Mediengestaltung Wiese, Leipzig: mediengestaltungwiese.de

ISBN: 978-3-95420-019-1 (Print) ISBN: 978-3-95420-119-8 (ePUB) ISBN: 978-3-95420-219-5 (ePDF) Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Ian King Vorwort

Juliane Leitert Die DDR-Weltbühne zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung

Ian King »Das Bürgertum erliegt der Wucht…« Tucholsky zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung

Frank-Burkhard HabelWeltbühne-Autoren der Weimarer Republik und ihr geistiger Einfluss auf die Weltbühne ab 1946

Dieter Mayer »Max, uns haben sie falsch geboren.« Kurt Tucholskys Briefe an Walter Hasenclever

Werner Boldt Carl von Ossietzky Ein demokratischer Publizist auf dem Weg vom Bürgertum zur Arbeiterklasse

Wolfgang Beutin »Oh wie ich diese Geldvampire hasse!« Karl Kraus (1874-1936) oder: Kritischer Humanismus zwischen bürgerlicher Kulturkritik und Revolution

Heribert Prantl »Erfolg, aber keinerlei Wirkung« (Tucholsky, 1923) – Zum Selbstverständnis des politischen Journalismus heute

Wolfgang Helfritsch Laudatio für Jochanan Trilse-Finkelstein

Jochanan Trilse-Finkelstein Mein Weg zu Kurt Tucholsky

Personenregister

Autorenverzeichnis

Vorwort

Ein »verirrter Bürger« – das Thomas-Mann-Zitat über den Möchtegern-Künstler Tonio Kröger kann mit leicht veränderter Begründung auch auf die meisten Autoren der linksdemokratischen Wochenschrift DieWeltbühne angewandt werden. Sie waren größtenteils bürgerlicher Herkunft, hatten studiert – der Kleinbürgersohn Carl von Ossietzky, der in ärmlichen Verhältnissen in Hamburg aufwuchs, war die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Dafür brachen auch gutverdienende Schriftsteller aus wohlhabendem Hause, wie etwa Kurt Tucholsky oder Kurt Hiller, zumindest von den politischen Ideen her mit ihren Elternhäusern und Hintergründen, suchten wie auch Ossietzky nach einem Bündnis mit dem von ihnen durch seine Lebensweise getrennten Industrieproletariat: eine Hoffnung, die sich bald zerschlug. Aber auch das deutsche Bürgertum, dem diese Intellektuellen entsprangen, sah sich wiederum nicht als passiv dem Untergang geweiht, wie seine Kritiker glaubten, sondern betrieb – von Vertretern wie Reichspräsident von Hindenburg, den Großindustriellen und Deutschnationalen Hugenberg, den Bankiers Schacht und von Schröder verleitet – ihrerseits eine ungleiche Partnerschaft mit noch Mächtigeren: den von Hitler, Goebbels, Göring und Röhm verkörperten deutschen Faschisten. Selbstmord aus Angst vor dem Tode? Jawohl, aber es ist niemandem gegeben, die Zeitungen der folgenden Jahre und Jahrzehnte zu lesen, auch wenn sie uns manch nützliche politische Erkenntnis bescheren würden.

Das Thema der Weimarer Linksintellektuellen zwischen Herkunft und politischer Neigung ist schon einmal Gegenstand einer eindrucksvollen literarischen Ausstellung gewesen1. Als Thema für die Kurt Tucholsky-Gesellschaft und deren zweijährlicher wissenschaftlicher Berlin-Tagung stellte es allerdings Neuland dar. Umso erfreuter waren wir, unsererseits den Kontakt mit einem neuen Partner zu finden: Der durch Professor Helga Schwalm, Dekanin der Philosophischen Fakultät und den energischen Dr. Ralf Klausnitzer verkörperten Humboldt-Universität – übrigens unter ihrem früheren Hohenzollern-Namen auch Tucholskys alter Studienort. Fünf Minuten vom Tagungsort entfernt haben jedoch deutsche Studenten am 10. Mai 1933 auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky verbrannt. Im Guten wie im Schlechten also ein bedeutungsvoller Rahmen.

Eine Reihe hochkarätiger, eloquenter Fachleute wurden aufgeboten, um verschiedene Autoren und Facetten des Rahmenthemas für die Zuhörer zu erhellen. Ian King, promovierter Experte für Tucholskys politische Entwicklung, befasste sich mit dessen abwechselnden Äußerungen. Nachdem er sich in der Kriegszeit mit Werken bürgerlicher Autoren wie Theodor Fontane, Wilhelm Raabe oder Wilhelm Busch über das triste Militärdasein hinweg getröstet hatte, versuchte Tucholsky noch 1918, Bürger nicht wirtschaftlich, sondern von der (antidemokratischen) Gesinnung her zu definieren, sie jedoch gleichzeitig auf den Seiten des liberalen Berliner Tageblattes anzusprechen und Einkehr zu verlangen.

Als dies sich im zwiespältigen Verhalten der Bürger und der Deutschen Demokratischen Partei im Kapp-Putsch als fruchtlos erwies, wandte sich Tucholsky von der DDP ab und den Unabhängigen Sozialdemokraten zu, wurde sogar Parteimitglied, musste aber erleben, dass sich die Partei spaltete und die meisten Anhänger 1920 sich den Kommunisten anschlossen.

Aus der für ihn typischen, unbequemen Lage zwischen zwei Stühlen konnte er sich auch Ende der 1920er Jahre nicht lösen, als er den Bürger im marxistischen Sinne zu definieren versuchte – als produktionsmittelbesitzenden Bourgeois. Das führte zur Suche nach einem modus vivendi mit den noch immer inflexiblen, inzwischen moskauhörigen Kommunisten, um dem Sieg des deutschen Faschismus und damit einem drohenden zweiten Weltkrieg zuvorzukommen. Das Scheitern dieser Suche, verbunden mit einer schmerzlichen Krankheit, trieb Tucholsky in Verzweiflung und Tod.

Dieter Mayer aus Aschaffenburg beleuchtete im gleichen Zusammenhang die langjährige Freundschaft zwischen Tucholsky und seinem Co-Autor des Stückes Christoph Kolumbus oder die Entdeckung Amerikas, Walter Hasenclever. Nach skeptischen Äußerungen über den expressionistischen Dramatiker – die Bezeichnung „Hasenschiller“2 war eher ironische Kritik als Kompliment – lernten sich die Beiden als Pariser Korrespondenten kennen und schätzen, verstanden sich gegenseitig mit ansprechendem Humor. Zu einem intensiveren Briefaustausch kam es jedoch vor allem, nachdem Tucholsky für die Öffentlichkeit verstummte. Realistischer Pessimismus – Mitarbeit an linken Exilzeitschriften würde gegen die sich an der Macht etablierenden Faschisten nichts bringen – wechselte sich mit harten Stellungnahmen gegen alle, die trotz NS-Herrschaft in Deutschland blieben, auch und gerade die dortigen Juden. Mayer machte Tucholskys teils widersprüchliche Urteile in den Briefen an den Freund klar. Allerdings hat Hasenclevers Bitte, die eigenen Briefe sofort nach der Lektüre aus Sicherheitsgründen zu vernichten, die Gesamtanalyse des Verhältnisses zu einer Sisyphosarbeit werden lassen.

Der verdiente Ossietzky-Herausgeber und Biograph Werner Boldt setzte sich mit der These auseinander, die Autoren der Weltbühne hätten der Demokratie durch ständig nörgelnde, unpraktische Kritik von links einen Bärendienst erwiesen, ja diese ungewollt torpediert.

Boldt zeigte mit den Worten Ossietzkys, dass das Gegenteil richtig war: Durch die fehlende Demokratisierung in der Revolutionszeit 1918-19 war die Weimarer Republik schon lange vor den Präsidialregimes der 1930er Jahre eher Klassenstaat geblieben als funktionierende Demokratie geworden. Kurz: Nicht die Republik war ohne Republikaner, sondern die Republikaner ohne Republik – eine These, die Tucholsky geteilt hätte. Aber Ossietzky hielt trotz des im Geheimen durchgeführten WeltbühneProzesses und dessen hanebüchenen Urteils über den Gefängnisaufenthalt in Tegel und die NS-Machtübernahme hinweg noch in Deutschland aus.

Die Rücksicht auf seine kranke Frau sowie ein letzter Zipfel Optimismus mag ihn vor der Flucht ins Ausland zurückgehalten haben. Eine tragische Fehlentscheidung: In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde Ossietzky verhaftet. Ein mehrjähriges Martyrium in verschiedenen Konzentrationslagern begann und die Nazis verziehen ihm den von dem norwegischen Preiskomitee zuerkannten Friedensnobelpreis nicht, entließen ihn ins Sanatorium Nordend erst, nachdem sie von seinem baldigen Ableben überzeugt waren.

Als Kontrastfigur zu den ungebundenen Linken des Weltbühne-Kreises bot die Tagung den Wiener Einzelgänger Karl Kraus. In einer glänzenden Analyse wies Wolfgang Beutin auf die komplizierte Gemengelage von Kraus und seinen zeitgenössischen und heutigen Kritikern. So sei der streitsüchtige Polemiker von Freund und Feind missverstanden worden: Marxisten wie Franz Leschnitzer hätten ihn ungerecht abgetan, Rechte nach dem fulminanten Antikriegsstück Die letzten Tage der Menschheit noch gründlicher abgelehnt.

Sogar der berühmte Kraus-Satz »Mir fällt zu Hitler nichts ein« sei fälschlicherweise für bare Münze genommen worden. Es sei zwar schwer, die komplizierte Gestalt von Kraus auf einen Nenner zu bringen, aber der Ausdruck »ein kritischer bürgerlicher Humanist« sei vielleicht am treffendsten. Übrigens hat Tucholsky Kraus als Vortragenden und Autor bewundert, aber fand beim Wiener, der ihn der politischen Inkonsequenz zieh, keine Gegenliebe.

Die Berliner Weltbühne war jedoch nicht die einzige Zeitschrift aus dem gleichen Stall. Nach der Wiener Weltbühne, für deren erste Ausgabe im Herbst 1932 Tucholsky einen Leitartikel schrieb3, und dem NS-Verbot der Berliner Wochenschrift wurde die Weltbühne nach Prag verpflanzt, zuerst von Willi Schlamm, später von Hermann Budzislawski herausgegeben. Interessanter bleibt die zwiespältige Rolle der Nachkriegs-Weltbühne, die mit Unterstützung von Ossietzkys Witwe Maud durch Hans Leonard in Ostberlin herausgegeben wurde, die Wende dort überstand und erst 1993 einging. Freiraum für ehemalige Journalisten der Weimarer Zeit oder bloßes Werkzeug, um Intellektuellen eine Freiheit vorzutäuschen, die im Arbeiterund Bauernstaat nicht bestand?

Die Frage stellt sich die Doktorandin Juliane Leitert – mit Recht, aber sie konnte naturgemäß nicht mit endgültigen Antworten aufwarten. Nach diesem guten Start wünschen wir ihr jedoch viel Erfolg. Frank-Burkhard Habel, selbst ehemaliger Autor der DDR-Weltbühne, neigte wohl der ersten Alternative des begrenzten Freiraums für nicht hundertprozentig Linientreue zu. Er erinnerte auch an einige »alte« Weltbühne-Mitarbeiter wie den aus Köln gebürtigen Dichter Karl Schnog, die dem Blatt auch zu DDR-Zeiten die Treue hielten. Das waren sicher nicht die Star-Autoren unter Jacobsohn, Tucholsky und Ossietzky, aber Schriftsteller von einiger Substanz allemal: Habel hat sie mit vollem Recht der Vergessenheit entrissen.

Mit kontrastierender Betonung wandten sich Heribert Prantl – innenpolitischer Leiter und gefeierter Leitartikler der Süddeutschen Zeitung und auch Kurt Tucholsky-Preisträger – und Ralf Klausnitzer, engagierter junger Germanist an der Humboldt-Universität dem Thema von den politischen Einflussmöglichkeiten des linken Schriftstellers zu. Prantl konzentrierte sich auf das Schicksal der nach Europa unter Einsatz ihres Lebens drängenden Flüchtlinge; er sieht es als Pflicht, seine Leser zur Hilfe und Großzügigkeit aufzurufen. Seine Berichte seien ein Beweis eigener Hilfsbereitschaft, ein Fanal gegen Trägheit des Herzens und atavistische Vorurteile.

Ralf Klausnitzer beschrieb dagegen den neuesten Roman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq, der sich mit dem Fall eines Ausverkaufs von politischen und religiösen Grundsätzen befasste: der Bereitschaft, aus Karrieregründen als Franzose zum Islam überzutreten. Leider muss der Text von Prantl ohne Quellennachweise erscheinen, da der Autor trotz Aufforderung uns keine Quellennachweise schickte. Die Herausgeber haben sich trotzdem entschieden, den KTG-Mitgliedern und -Freunden diesen wichtigen Text nicht vorzuenthalten. Wir bedauern umso mehr, dass Dr. Klausnitzer uns gar keinen Text zur Verfügung stellte; sein Vortrag hat auf der Tagung zu lebhaften Auseinandersetzungen geführt, was eher dafür als dagegen spricht.

Berlin-Tagungen der Tucholsky-Gesellschaft finden seit 1995 ihren würdigen Abschluss durch das feierliche Überreichen des Tucholsky-Preises an einen Autor, der im Geist des Namenspatrons schreibt, die kleine literarische Form bevorzugt und dessen Werk in den Augen der fünfköpfigen Jury entsprechend stilistische und inhaltliche Qualität aufweist.

Es können einzelne Artikel prämiert werden, oder auch ein Lebenswerk. Hier überzeugten die Verdienste des Berliner Theaterexperten, Professor Jochanan Trilse-Finkelstein, der sich mit einer Heine- und zuletzt einer Peter Hacks-Biographie hervorgetan hat und den KTG-Mitgliedern nach einer ausführlichen Würdigung der Beziehung Heine/Tucholsky bei der Tagung 2008 in Paris unvergessen bleiben wird.

Der Jury-Koordinator Wolfgang Helfritsch hob in seiner Laudatio das Hacks-Zitat hervor, das Trilse-Finkelstein seiner Biographie vorangeschickt hat: »Ich hoffe, die Menschheit schafft es.« In einer gerührt vorgetragenen, aber auch die Zuhörer rührenden Antwortrede erzählte der Preisträger vom verschlungenen Weg, der ihn zur Kenntnis und zur Bewunderung von Tucholskys Werken geführt hat.

Der Vortrag des über 80jährigen wurde im Theater im Palais mit Beifall und Dankbarkeit quittiert: wieder einmal hat ein Würdiger den Kurt-Tucholsky-Preis erhalten. Obwohl sonst nicht in diesem Band vertreten, sollten auch die erfolgreichen Kabarettprogramme von Jane Zahn am Freitag Abend sowie Carmen-Maja und ihrer Tochter Jennipher Antoni zum Abschluss der Preisverleihung am Sonntag ebenfalls erwähnt werden; in beiden Fällen wurden die Darstellerinnen mit stürmischem Beifall bedacht.

Gleiches gilt für die Kabarettprogramme der SchülerInnen der Kurt Tucholsky-Gesamtschule Berlin-Pankow und vom IX Liceum Ogólnokształcące im. Bohaterów Monte Cassino aus Szczecin.

Ian King

Juliane Leitert

Die DDR-Weltbühne zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung

Einleitung

Die Weltbühne gehört in Deutschland zu den Zeitschriften mit einer der längsten publizistischen Traditionen. Sie wurde 1905 als Zeitschrift für Theaterkritik von Siegfried Jacobsohn gegründet und erschien ab 1918 als politisches Blatt unter dem Namen Weltbühne. In der Weimarer Republik zählte sie zu den bedeutendsten linksintellektuellen Zeitschriften und prägte die Ideenlandschaft mit, auch oder vor allem durch die Chefredakteure und Herausgeber Jacobsohn (bis 1926), Kurt Tucholsky (Dezember 1926 bis Mai 1927) und Carl von Ossietzky (ab 1927). Ihren Ursprung hatte die Weltbühne im Bürgertum, doch mit der zunehmenden politischen Radikalisierung ab Mitte der 1920er Jahre näherte sie sich der Arbeiterbewegung.

Mit seiner linken Ausrichtung geriet das Blatt in Konflikt mit den Nationalsozialisten, für die die Weltbühne ein Hassobjekt war, so dass sich die Redaktion gezwungen sah, 1933 zunächst nach Prag und ab 1938 ins Pariser Exil zu gehen. Dort wurde die Zeitschrift 1939 verboten.

Nach dem Krieg gab es eine regelrechte Sehnsucht nach der alten Weltbühne, zudem einige Wiederbelebungsversuche. Doch erst 1946 gelang dies durch die Initiative von Maud von Ossietzky, der Witwe Carl von Ossietzkys, und Hans Leonard in der Sowjetischen Besatzungszone.

Das von ihnen gegründete Nachfolgeblatt erschien in der gesamten Zeit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), bevor es kurz nach der Wende 1993 eingestellt wurde.1

Fortführung des Bekenntnisses Ossietzkys

Die Tradition der Weimarer Weltbühne wurde während des gesamten Erscheinungszeitraumes des DDR-Nachfolgeblattes ostentativ hochgehalten. Die Zeitschrift würdigte diese in regelmäßigen Abständen und ordnete sich und ihre Tätigkeit in die Gesamtgeschichte der Zeitschrift ein.2 Es stellte ein zentrales Element der DDR-Identität der Weltbühne dar.

Dass sich die Weltbühne in die Tradition des Weimarer Blättchens stellte, wurde gleich mit der ersten Ausgabe hervorgehoben. Dort formulierte Maud von Ossietzky den Anspruch, in die »Fußstapfen« ihres Mannes Carl von Ossietzky zu treten, es

wird der Weg beschritten werden, den sein Geist uns vorgezeichnet hat,

daher kämpfe die Weltbühne

für den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands [und] für den Frieden unter den Nationen.3

Maud von Ossietzky bezog sich dabei auch auf Worte, die Carl von Ossietzky 1933 kurz vor seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten im Rahmen einer Versammlung des Schutzverbandes deutscher Journalisten sprach:

Ich gehöre keiner Partei an. Ich habe nach allen Seiten gekämpft, mehr nach rechts, aber auch nach links. Heute jedoch sollen wir wissen, daß links von uns nur noch Verbündete stehen.

Und weiter:

Die Flagge, zu der ich mich bekenne, ist nicht mehr die schwarz-rot-goldene dieser entarteten Republik, sondern das rote Banner der geeinten antifaschistischen Bewegung.4

Diese Aussagen wurden – meist wortwörtlich – in Artikeln und Korrespondenzen aufgegriffen, um den Standpunkt der Weltbühne darzustellen und zu begründen. So griff Leonard in einem 1948 an die Ortsgruppe Aschersleben des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands adressierten Brief auf die von Carl von Ossietzky getätigten Worte zurück und begründete damit die Stellung des neu herausgegebenen Blattes:

In der Tat: Ossietzky stünde, lebte er noch, ganz links. Von diesem Punkt seiner Entwicklung ausgehend, wird auch die heutige Weltbühne redigiert.5

Nach 15 Jahren zog Maud von Ossietzky 1961 Bilanz,

dass die Redakteure und Mitarbeiter konsequent und folgerichtig den Weg weitergegangen sind, den Ossietzky 1933 mit seinem Bekenntnis zur »geeinten antifaschistischen Bewegung« als den einzig richtigen Weg erkannt hat.6

Auch Albert Norden bekräftigte, dass die Weltbühne den Kampf Ossietzkys und Tucholskys fortgesetzt hätte. Er hob außerdem die herausragende Rolle der Zeitschrift beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR heraus. Erst in der DDR

fand die Weltbühne ihre wirkliche Heimstatt.

Schließlich:

Im Mitwirken am Aufbau des Sozialismus in der DDR finden die Traditionen der Weltbühne ihre Krönung.7

Kritik: Nur der Name ist geblieben

Die Inanspruchnahme der Tradition stellte eine der Hauptkritikpunkte ehemaliger Autoren und Leser der Weimarer Weltbühne sowie westdeutscher Intellektuellenkreise dar. Die DDRWeltbühne sah sich wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert,

mit der alten Zeitschrift wenig mehr als den Namen gemeinsam zu haben.8

Kurt Hiller, einer der bedeutendsten Mitarbeiter der Weimarer Zeit, bezeichnete sie gar als

einzige permanente Leichenschändung an Carl von Ossietzky.9

Im März 1950 mahnte er – hier in seiner Wortwahl deutlich moderater – an, dass die Weltbühne dem Leser in ihrer Berichterstattung nicht suggerieren solle, dass Tucholsky »ein Mann der kommunistischen Parteilinie« gewesen sei, denn das genaue Gegenteil sei richtig.10

Im März 1949 brachte Ingeborg Lehmann, Tochter des Weimarer Weltbühne-Autors Otto Lehmann-Rußbüldt, der auch noch in den Anfangsjahren der wiedergegründeten Zeitschrift schrieb, als Sozialistin ihre Enttäuschung über die Ausrichtung der Weltbühne auf den Punkt:

Mit einem Wort – ich lehne den Geist ab, zu dessen Vertretung sich die Weltbühne hergibt. […] Die KZ’s in der Ostzone, die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, die Blockade als politische Erpressungsmethode, die Tyrannei in Russland – zu all diesen Dingen schweigt die Weltbühne, versucht sie zu entschuldigen und sogar zu verherrlichen. […] Ist es Ihnen nicht unerträglich, zu der Front zu gehören, die eine Front der Unmenschlichkeit und eine Gefahr des freiheitlichen Geistes ist?11

Auch andere Zuschriften bemängelten die einseitige Orientierung des DDR-Nachfolgers, kritisierten die inhaltliche Ausrichtung im Interesse der SED und gegen die anderen Parteien.12 Was die DDR-Weltbühne beim Hochhalten der Tradition jedoch außer Acht ließ, war die parteiliche Ungebundenheit der Weimarer Zeitschrift. Denn auch wenn die Weimarer Weltbühne und Carl von Ossietzky für eine Aktionseinheit der antifaschistischen Kräfte eintraten, so definierte sich die Zeitschrift in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre immer als Gegenpol zu den Parteien. Sie sparte nicht mit Kritik an Sozialdemokratie, Kommunisten und der Sowjetunion. Darüber hinaus nahm die Mehrheit der Autoren für sich in Anspruch, keiner politischen Partei verpflichtet und Teil einer »heimatlosen Linken« zu sein.13

Aus der Kritik sprach aber auch die unerfüllt gebliebene Hoffnung nach einer Fortführung der Weimarer Weltbühne14 und der Missachtung der Tatsache, dass die Weltbühne nach 1946 unter anderen politischen Voraussetzungen erschien.

Tradition als Legitimationsbasis

Viele begrüßten die Neugründung der Weltbühne nach 1945. Die Namen Weltbühne und carl von Ossietzky lösten bei Lesern und Autoren gleichermaßen eine Erwartungshaltung aus,15 dass sie – wie Axel Eggebrecht die Weimarer Zeitschrift charakterisierte – auch weiterhin ihre

unbequeme, aufsässige, geistig wie materiell vollkommen unabhängige Art16

behielt. Die höhere Identifikation durch den Bekanntheitsgrad des Blattes kam der DDR-Ausgabe zugute und stellte eine wichtige Legitimationsbasis dar. Dies konnte die Weltbühne nutzen, um ihrer in der Lizenzurkunde festgeschriebenen Aufgabe nachzukommen. Das Ziel war die

Gewinnung breitester Bevölkerungskreise und besonders der Intellektuellen für die politischen Ziele

der SBZ und später der DDR unter Führung der SED. Aus der internen Charakteristik geht weiterhin hervor:

Die Veränderung des Bewusstseins unserer Intellektuellen im fortschrittlichen Sinne zu unterstützen, betrachtet die Weltbühne als eine ihrer Hauptaufgaben; nur so werden die Intellektuellen in der Lage sein, ihrer Verantwortung dem deutschen Volke gegenüber gerecht zu werden. Die Intelligenz hat die Aufgabe, sich mindestens in demselben Umfange in die fortschrittliche Entwicklung des deutschen Volkes einzuschalten und bahnbrechend und helfend zu wirken, wie auch die Masse der Werktätigen unter Einsatz aller Energien unseren politischen Zielen zustrebt.17

Damit sollte jedoch nicht nur die Gesellschaft der SBZ/DDR angesprochen werden. Ein besonderer Fokus lag auf Westdeutschland und der Gewinnung bürgerlicher und sozialdemokratischer Kreise für die Sache der DDR. Daher wurden vor allem prominente Intellektuelle und zahlreiche Autoren, die nicht aus dem ostdeutschen Staat kamen, angesprochen, um in der Weltbühne zu schreiben.18 Leserzuschriften legen nahe, dass eine Beeinflussung der »westdeutschen« Leser durch die Weltbühne zumindest in der Anfangszeit auch gelang.19

Dr. Georg Krausz, Vorsitzender des Verbandes der Deutschen Journalisten, feierte die Weltbühne zum 15-jährigen Bestehen sogar als

Symbol des aufrichtigen Bündnisses der deutschen humanistisch gesinnten Intelligenz mit der Arbeiterklasse in Vergangenheit und Gegenwart.

Er war außerdem davon überzeugt,

dass DieWeltbühne auch in Zukunft die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Aufgaben unserer Zeit lösen hilft und in den Kreisen der Intelligenz für unsere nationalen Ziele wirbt.20

Eine bürgerliche Zeitschrift im Dienste der Arbeiterbewegung

Über ihren gesamten Erscheinungszeitraum von 1946 bis 1993 berief sich die Weltbühne auf die Traditionen der Weimarer Zeitschrift und die Verdienste Ossietzkys und Tucholskys. Dabei nahm sie vor allem die seit Mitte der 1920er Jahre vertretene Ansicht, dass nur ein Aktionsbündnis der antifaschistischen Kräfte den Frieden sichern könne, als Basis für ihre Unterstützung der Arbeiterbewegung, in deren Dienst sie sich stellte.

Auch wenn sie sich den Zwängen der Zeit unterwerfen musste und ein Erscheinen in der DDR als offen kritische Zeitschrift wie zur Weimarer Zeit undenkbar schien, so waren Redaktion und Autoren von der Idee des Sozialismus bzw. Kommunismus überzeugt. Sie bemühten sich, Direktiven und Anordnungen des ZK der SED, des Amts für Information und des Kulturbundes umzusetzen und möglichst gute Kontakte zu allen »politisch maßgebenden Instanzen zu pflegen.«21

Hans Leonard begründete diesen Antrieb folgendermaßen:

Unsere Arbeit gilt der Freundschaft mit allen Völkern, besonders mit jenen, die in diesem Befreiungskampf [gegen den Nationalsozialismus, J.L.] so unendlich viele Opfer bringen mussten. Dieser Aufgabe in der Deutschen Demokratischen Republik dienen zu können, mit der sie führenden Arbeiterklasse und ihrer Sozialistischen Einheitspartei verbündet, ist uns Herzensbedürfnis.22

So sehr sich die Weltbühne für die Interessen der Arbeiterbewegung einsetzte, hat sie sich nie von ihren bürgerlichen Ursprüngen gelöst bzw. lösen können. Sie berief sich in regelmäßigen Abständen auf diese Wurzeln – auch um ihrer Hauptaufgabe, bürgerliche Kreise und Intellektuelle anzusprechen und für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu gewinnen, nachzukommen. Um dies zu erreichen, hob sie sich vor allem sprachlich von den Presseerzeugnissen der SED wie dem Neuen Deutschland oder der Einheit ab.

Walter Bredendiek verortete die Weltbühne 1961: Ossietzky sei bürgerlich gewesen und dies auch geblieben, doch Krisen und Krieg, durch den »Imperialismus« hervorgetrieben, machen es dem Bürger unmöglich, sich in seinem Denken an den humanistischen Elementen seiner Klasse zu orientieren; um diese dennoch zu bewahren, gibt es für den Bürger nur die Entscheidung, sich mit den Kräften zu vereinen, die für eine sozialistische Gesellschaft kämpfen, da nur in dieser die Menschenwürde und die Integrität des Menschen bewahrt oder vielmehr hergestellt werden. Diesen Weg, davon war Bredendiek überzeugt, beschritten auch Ossietzky und dessen Erben der DDR-Weltbühne.23

Ian King

»Das Bürgertum erliegt der Wucht...«1Tucholsky zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung

Als Tagungsleiter möchte ich das Thema erklären, es eingrenzen, mit Definitionen aufwarten, damit jeder weiß, wo es morgen lang geht. Dazu hat einer 1930 geschrieben:

Fang nie mit dem Anfang an, sondern drei Meilen vor dem Anfang2.

Sein Text heißt Ratschläge für einen schlechten Redner. Sie sind hiermit gewarnt!

Tucholsky schrieb 1931 einen weiteren Aufsatz unter dem Titel Es gibt keinen Neuschnee.3 Beim Zurückblättern auf die Themen früherer Tagungen beschleicht mich ein ähnliches Gefühl des »Schon mal gemacht«. Ein Vorzug des Themas »Linksintellektuelle zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung« liegt darin, dass es für uns Neuschnee ist. Es hat zwar zum hundertsten Geburtstag Tucholskys eine Ausstellung in Marbach gegeben unter dem Titel »›Entlaufene Bürger‹. Kurt Tucholsky und die Seinen«4, aber noch keine KTG-Tagung. Das war der erste Grund für diese Themenwahl. Zweitens zeigt diese Situation – Schriftsteller aus wohlhabenden Familien, die sich von ihrer Klasse ab- und den weniger Privilegierten zuwenden – ein interessantes Spannungsfeld auf: warum fühlen sie sich ihrer Herkunft entfremdet, wie gestaltet sich das Verhältnis zu den neuen Adressaten?

Der Autorenkreis der linksdemokratischen Wochenschrift DieWeltbühne – darunter Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky – passt perfekt zum Thema. Als Kontrastbild, um nicht im Weltbühne-Saft zu schmoren – bieten wir den Wiener Individualisten Karl Kraus. Dann versuchen wir, den Bogen bis zur Gegenwart zu spannen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat es eine Weltbühne gegeben, in der DDR; jetzt gibt’s zwei Nachfolger, Ossietzky und Das Blättchen. Heute gibt’s vom mündigen Bürger zum Wutbürger alle Schattierungen des Begriffes. Inwieweit stellt sich die Intellektuellenfrage noch?

Zu den Definitionen des Bürgertums also. Dafür hatten wir ursprünglich einen Einführungsvortrag geplant, konnten jedoch niemanden fürs Thema begeistern, der schwarze Peter ist bei mir geblieben. Ich werde also gnadenlos vereinfachen, um überhaupt zum Thema Tucholsky weiterzukommen. Einziger Trost: Der erste Vortrag soll ohnehin nicht jede Frage beantworten, sonst braucht niemand den zweiten Tag der Tagung zu besuchen. Ich verspreche, manches unbeantwortet zu lassen, damit die Spannung aufrecht erhalten bleibt.

Bürger, lese ich im »Sachwörterbuch der Politik« von Reinhart Beck:

rechtlich ursprünglich der vollberechtigte Einwohner einer Gemeinde, seit der Französischen Revolution auch eines Staates (Staatsbürger).5

Er hat das aktive und passive Wahlrecht. Also: Der Bürger als citoyen, mit Rechten und Pflichten ausgestattet gegenüber Monarchen und sonstigen Obrigkeiten; Vertreter des Dritten Standes, eine anfangs fortschrittliche Gestalt.

Wir wissen jedoch, dass sich die Deutschen im Gegensatz zu ihren französischen Nachbarn mit der Revolution schwer getan haben. Spätestens 1848 zeigte sich eine Mehrheit der hiesigen Bürger nicht als die heldenhaften Berliner Barrikadenkämpfer vom März, die einen preußischen König das Fürchten gelehrt haben, sondern als eingeschüchterte Duckmäuser wie aus einem Bild von Carl Spitzweg. Aus Angst vor dem aufstrebenden Vierten Stand waren sie bereit, mit den angeblich von Gott gesandten Autoritäten ihren Frieden zu schließen. Ich zitiere wieder Reinhart Beck:

Karl Marx unterschied zwischen Citoyen und Bourgeois: Der Bourgeois ist der unpolitische Bürger, gekennzeichnet durch seinen Egoismus sowie seine Isolierung von anderen Bürgern, mit denen er in wirtschaftlicher Konkurrenz steht. Die Gesamtheit der Bourgeois bildet die Bourgeoisie; sie ist, da im Besitz der Produktionsmittel und deshalb der politischen und gesellschaftlichen Macht, die im Kapitalismus herrschende Klasse.6

Der Bourgeois konkurrierte aber nicht nur gegen seinesgleichen, sondern – vorsichtig – nach oben gegen Thron und Altar sowie – unbarmherzig – nach unten gegen das von ihm materiell abhängige Proletariat. Seit Marxens Tod 1883 hat sich zwar die politische Lage in Deutschland geändert, aber das Elend vieler Berliner Arbeiterschicksale der 1920er Jahre hätte der Sozialist aus Trier erkannt und ihnen sein Gegenrezept angeboten: Klassenkampf gegen die Ausbeuter, die proletarische Revolution.

Die Autoren der Weltbühne sind in ihrer großen Mehrheit keine Politikwissenschaftler gewesen. Tucholsky war Jurist, Ossietzky, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte, konnte sich kein Studium leisten. Vielleicht mit Ausnahme von Kurt Hiller, der gern Manifeste verfasste, wollten sie keine systematischen politischen Traktate schreiben, sondern kurze Aufsätze, Gedichte oder Rezensionen. So schreiben sie manchmal in ihren Artikeln Bürger und meinen Bourgeois, also Produktionsmittelbesitzer; differenzieren nicht zwischen dem allgemeinen Ausdruck Bürger und dem aktiven »citoyen«, den wir heute als »mündigen Bürger« beschreiben würden.

Das Bürgertum besteht auch aus mehreren Schichten, etwa aus in seiner Existenz bedrohten Kleinbürgern, Bildungsbürgern mit Goethe- und Wagner-Kult oder raffgierigen Kriegsgewinnlern: wieder werden die drei nicht immer eindeutig voneinander unterschieden. Das Zitat im Vorspann dieses Referates zeigt Tucholskys poetische Verachtung für den kunstbeflissenen Bildungsbürger, der vor den politischen Konflikten in ein mythisches Reich der höheren Harmonien fliehen will.7 Wie Tucholsky in anderem Zusammenhang behauptet:

Das bürgerliche Kunstspiel ist die Ablenkung vom Wesentlichen... Es wird bewusst überschätzt, weil es so schön ungefährlich ist, weil kein Zinswucher, keine Ungerechtigkeit des Besitzes an Grund und Boden, keine Agrarreform damit verbunden ist.8

Mit einem Wort: Tucholsky hält hier dem nach eigener Ansicht »unpolitischen« Bürger vor, in Wahrheit nach einer das bestehende System verherrlichenden Pfeife zu tanzen.