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Eine Schmutzkampagne. Eine Zerreißprobe. Ein Mord.
Ein brutaler Killer: In einem Pflegeheim wird eine Frau tot aufgefunden. Der Täter muss rasend vor Wut gewesen sein. Henning Juul soll den Mord aufdecken, doch plötzlich braucht seine Schwester unerwartet Hilfe. Eine anonyme Drohung bezichtigt Justizministerin Trine Juul der sexuellen Nötigung. Die Medienhetze beginnt – die Botschaft: Treten Sie zurück, sonst kommt alles ans Licht. Doch dann macht Henning Juul eine Entdeckung, die nie bekannt werden darf. Und erneut schlägt der Killer zu ...
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Seitenzahl: 440
Thomas Enger
Verleumdet
Ein Henning-Juul-Roman
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries
Werner ist tot.
Wirklich tot. So langsam kommt es bei ihm an.
Schon komisch, dass er erst an diesem rechteckigen Loch stehen muss, um es zu kapieren. Es richtig zu verstehen. Ein Blick zum Sarg, dann zu den anderen. Dunkle Kleider, dunkle Augen.
Werner ist weg.
Für immer.
Um ihn herum rieseln Schneeflocken langsam zu Boden. Andere bleiben in nie enden wollenden Luftspiralen hängen. Die weißen Flocken treiben ihm die Tränen ins Gesicht. Das ist ihm nur recht. So sieht es wenigstens so aus, als würde er weinen.
Er dreht sich zu seiner Mutter um. Sie hat kalte, nasse Streifen auf den Wangen, steht reglos da und starrt zu dem glänzenden braunen Sarg hinüber. Neben ihr steht der Mann, der es am Morgen kaum geschafft hat, sich den Schlips zu binden, so sehr haben seine Hände gezittert. Beim Rasieren musste ihm jemand helfen. Vor einer Woche war er nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet nach draußen in das Schneegestöber gestürmt, mitten am Tag. Er hatte wild herumgeschrien und wie ein Verrückter angefangen zu graben, bis er Werner aus dem schweren Weiß befreit hatte, aber da waren dessen Lippen schon blau gewesen.
Werner und er hatten das nicht zum ersten Mal gemacht. Sie hatten Höhlen und Tunnel in die Schneeberge gegraben, durch die sie dann gekrochen waren, wohl wissend, dass die Decke über ihnen jederzeit einbrechen konnte. Sie hatten das Gefühl genossen, wenn sie heil wieder im Licht standen. Unversehrt. Sie hatten mit dem Tod gespielt – und gewonnen.
In der Regel.
Sie sind alle hier. Werners ganze Klasse, sogar einige Lehrer und auch Menschen, die er noch nie gesehen hat. Freunde der Familie. Freunde von Freunden. Alle sind traurig. Wenn nicht auch sie nur so tun.
Sein Bruder wird in die Tiefe hinabgelassen. Sie singen mit erstickten Stimmen. Über seine eigenen Lippen kommt kein Ton. Auch als sich anschließend alle in dem großen Haus versammeln, will er mit niemandem reden. Aber er isst und trinkt etwas. Als Einziger aus der Familie.
Erst am Nachmittag verschwindet er nach oben in sein Zimmer, legt eine Kassette ein und lässt sich aufs Bett fallen. Musik gibt ihm normalerweise ein gutes Gefühl, aber gerade will es sich nicht einstellen. Und es dauert einige Augenblicke, bis er versteht, warum.
Irgendetwas ist anders.
Er steht von seinem Bett auf und geht im Zimmer auf und ab, während er versucht herauszufinden, was anders ist. Dann sieht er das Bild von Werner an der Wand. Werner starrt ihn an. Das Bild hing dort zuvor nicht, doch jetzt hängt es plötzlich da und verursacht ihm weiche Knie.
Er hat niemandem erzählt, dass er gesehen hat, wie die Schneedecke über Werner eingestürzt ist. Er hat nichts getan, lange nicht, nur die Gefühle auf sich einwirken lassen, die ihn überrollten. Plötzlich war er Herr über Leben und Tod. Nur er hätte etwas tun können, um Werner zu retten.
Den Goldjungen.
Natürlich weiß er, wer das Bild dort aufgehängt hat. Er erinnert sich an die Schreie, als die Ärzte sagten, dass sie nichts mehr für Werner tun könnten. »Ihr werdet doch nicht aufgeben«, hat er geschrien, »bitte, ihr könnt doch nicht jetzt schon aufgeben!« Und dann sein Blick, als sie aus dem Krankenhaus zurück waren, auch an den Tagen danach, als sie wortlos am Esstisch saßen. Dieser Blick war nicht misszuverstehen. Weil er nicht weinte?
Nein.
Weil er sich nicht entschuldigte.
Das Spiel war seine Idee gewesen.
Er weiß, dass es nichts nützen wird, das Bild abzuhängen. Der Mann, der sich Papa nennt, wird es wieder aufhängen, immer wieder und wieder. Damit er nicht vergisst, niemals.
Werner hat auf Fotos immer gelächelt, nur auf diesem nicht. Er sieht direkt in die Kamera. Das seitlich gescheitelte Haar fällt ihm über die Augen, doch nicht tief genug, um ihr Leuchten zu verdecken. Es kommt ihm so vor, als höre er auch jetzt wieder die erstickten Schreie unter der weißen, tödlich schweren Schneemasse. Wie ein Echo.
Draußen vor dem Fenster ist es dunkel geworden, als er sich wieder aufs Bett setzt. Es hat aufgehört zu schneien. Aber selbst wenn es in seinem Zimmer geschneit hätte: Das Leuchten in den Augen seines Bruders würde er trotzdem sehen. Es wird nie verschwinden.
Werner ist nicht tot.
Ganz und gar nicht, das wird ihm jetzt klar.
Vielleicht beim nächsten Mal, denkt er. Beim nächsten Mal wird alles anders.
Ole Christian Sund stellt das Glas mit einem dumpfen Knall auf den Tisch neben dem Krankenbett. »So«, sagt er und lächelt den Patienten an, der mit glasigem Blick ins Nichts starrt. Sund tupft ihm das Wasser aus den Mundwinkeln. Nur die Bartstoppeln am Kinn leisten Widerstand. Die Haut ist so blass, dass sie fast durchsichtig wirkt. »Kann ich sonst noch was für Sie tun?«
Keine Regung in dem nackten, faltigen Gesicht des Mannes. Sund sieht ihn liebevoll an. Der Patient ist jetzt schon gut anderthalb Jahre bei ihnen, aber der Tod scheint ihn nicht holen zu wollen. Dabei ist nicht mehr viel von ihm übrig, nur noch Haut und Knochen und Haare, die sich von der Kopfhaut lösen. Auch sein starrer Blick wechselt selten die Richtung. Nicht einmal die Augenlider scheinen noch zu funktionieren.
Er sieht aus wie Papa, denkt Sund. Auch der hat die letzten Jahre seines Lebens so dagelegen und nur noch selten, sehr selten Kontakt zur Außenwelt gehabt. Er hat fast nur noch die Zimmerdecke angesehen – oder was immer er sonst fixierte. Sechs Jahre sind seit seinem Tod vergangen, trotzdem fühlt es sich wie gestern an.
Sund zieht sich leise zurück. Im Flur stößt er auf einen anderen Patienten mit einem Angehörigen, einem Enkel vielleicht, der ein paar Schritte mit ihm geht. Langsam. Er lächelt den beiden zu, zieht sein Handy aus der Tasche und sieht, dass es schon nach fünf ist. Er spürt einen Anflug von Verzweiflung. Jetzt kommt sie gleich und holt Ulrik ab. Dann vergeht wieder eine ganze Woche, in der er keinen Anteil am Leben seines Sohnes hat. Außer wenn Martine seine SMS beantwortet und ihm ein paar Informationskrumen hinwirft. Er weiß, dass sein Gejammer und seine Forderungen ihr auf die Nerven gehen, aber wenn er schon nicht jeden Tag da sein und alles aus Ulriks Mund hören kann, dann muss sie ihm diese Informationen doch geben. Wie es dem Jungen geht, was er gerade lernt. Mit wem er spielt und bei wem er zu Besuch gewesen ist. All das bleibt ihm vorenthalten, weil Martine und er sich nicht mehr lieben. Oder besser gesagt: weil sie ihn nicht mehr liebt.
Obwohl auch er selbst möglicherweise eine neue Liebe gefunden hat, ist ihm der Gedanke zuwider, dass irgendjemand seinen Platz eingenommen hat, nicht nur in Martines Bett, sondern auch in Ulriks Leben. Und dass Ulrik womöglich einen neuen Papa lieb gewinnen könnte, während er selbst nur noch der alte wäre, der seinen Sohn mit zur Arbeit nimmt, während sie doch eigentlich etwas Schönes zusammen unternehmen sollten.
Hätte er genug Geld, würde er das ganz sicher auch tun. Zum Glück hat er auf Station 4 einen elektrischen Rollstuhl aufgetan, mit dem Ulrik spielen kann. Der Junge hat ihm nur versprechen müssen, auf die Patienten Acht zu geben. Und das tut er natürlich, er ist wirklich verständig für sein Alter. Und er liebt es, durch das Krankenhaus zu brummen. Wo ist der kleine Racker eigentlich gerade?
Die Schuhsohlen quietschen rhythmisch über das Linoleum, während er die Korridore absucht. Im Fernsehzimmer trifft er nur Guttorm und ein paar andere, die sich schon wieder darüber streiten, welcher Sender laufen soll.
Sund geht weiter. Von einem glücklichen Neunjährigen, der in einem Rollstuhl herumflitzt, keine Spur. Er überprüft die Flure auf der einen Seite der zu einem lang gestreckten H ausgelegten Etage, wiederholt die Suche dann auf der anderen Seite. Und schließlich entdeckt er ihn vor einem der Zimmer. Auf dem Flur, wo hinter jeder Ecke der Tod lauert, wirkt er mit einem Mal gar nicht mehr so klein.
Sund lächelt wie immer im Stillen, wenn er seinen Sohn sieht, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein. Ihm wird vor Stolz ganz warm ums Herz. Aber irgendetwas stimmt nicht mit dem Kleinen. Er sitzt so seltsam da. Die Hände zwischen die Oberschenkel geschoben. Die Füße über Kreuz. Und er wippt mit dem Oberkörper vor und zurück, während seine Augen auf den Boden gerichtet sind, der im Licht der Leuchtstoffröhren kühl glänzt.
»Ulrik, was ist los? Alles in Ordnung?«
Ulrik antwortet nicht, er wippt nur weiter vor und zurück. Sund beugt sich hinab und streicht ihm über die Haare. Einen Moment lang hat er Angst, dass einer der Patienten dem Kleinen etwas angetan haben könnte, aber er verwirft den Gedanken gleich wieder. Manchmal werden sie ruppig und wütend, aber sie würden ihre Wut niemals gegen den Jungen richten.
»Ulrik«, fragt Sund noch einmal, »was ist denn los?«
Keine Antwort.
Sund blickt auf und liest den Namen auf dem Schildchen neben der angelehnten Tür.
»Warst du wieder bei Erna?«, fragt er.
Der Junge wippt wortlos weiter. Vor und zurück.
Er hat irgendetwas gesehen, denkt Sund. Oder gehört.
Seine Knie zittern, als er sich aufrichtet, am Rollstuhl vorbeigeht und die Tür zu dem Patientenzimmer aufdrückt.
Erna Pedersen sitzt wie immer aufrecht da. Aber nicht das lässt Sund unwillkürlich einen Schritt zurückweichen. Über ihr sonst so weißes Gesicht ziehen sich von den Augen bis zu den Wangen hinab dunkle, klebrige Streifen. Er will gar nicht wissen, was die verschmierten Brillengläser verbergen. Und dann strömt der Gestank des Todes ihm entgegen.
Henning Juul kauert sich auf der abendlich kalten Tribüne des Dælenenga-Stadions zusammen. Über ihm haben sich die Wolken zu einem grauen Einerlei zusammengezogen. Der Wind, der am Morgen noch Staub und Unrat durch die Straßen Oslos gefegt hat, ist ein wenig zur Ruhe gekommen, trägt aber noch immer einen Rest Wut in sich.
Henning sitzt an diesem Platz, sooft er kann. Ob es warm ist oder kalt, spielt keine Rolle. Aus irgendeinem Grund fällt ihm hier das Denken leichter, auch wenn es ihn schmerzt zu sehen, wie Jungen und Mädchen verschiedenen Alters genau das tun, was sicher auch Jonas getan hätte, wäre er noch am Leben. Ein acht- oder neunjähriger Junge hat einen Ball am Fuß, verliert ihn aber gleich wieder. Ein Blondschopf mit kurzen Haaren nimmt ihn ihm ab und dribbelt damit in Richtung Tor. »Verdammt, Adil! Der Ball steht doch nicht unter Strom!«, brüllt der Trainer im schwarzen Trainingsanzug. Sein Gesicht ist rot angelaufen. »Du musst besser stoppen!« Der andere Junge, der inzwischen ein Tor geschossen hat, läuft an Adil vorbei und wirft ihm einen triumphierenden Blick zu. »Gut gemacht, Jostein, weiter so!« Der Trainer klatscht in die Hände. Das Spiel geht weiter.
Henning folgt Adils Bewegungen. Der Junge wirkt resigniert, abwesend. Als wäre er lieber woanders.
Der Kleine ist Henning schon öfter aufgefallen. In der Regel kommt er allein, und er wird auch nie abgeholt, wenn das Training zu Ende ist. Manchmal wechselt er ein paar Worte mit einem anderen Jungen aus der Mannschaft, aber dieser Junge ist heute nicht da. Vermutlich hat er an einem Sonntagabend etwas anderes vor.
Ich eigentlich auch, denkt sich Henning, aber er musste einfach an die frische Luft und nachdenken. Doch wie viel Frischluft Henning seinem Kopf auch gönnt, es dauert nie lange, bis die Fragen wieder auftauchen. Was wusste Tore Pulli über den Brand, der zu Jonas’ Tod führte? Und war es dieses Wissen, das ihn das Leben kostete?
Hennings Handy vibriert in der Innentasche seiner Jacke. Er nimmt es heraus und stöhnt. Der Name auf dem Display sagt ihm, dass etwas passiert sein muss und der Rest des Abends damit vermutlich dahin sein wird. Trotzdem nimmt er das Gespräch entgegen.
»Hallo, Henning, ich bin’s. Hast du gehört, was geschehen ist?«
Henning hält das Handy ein paar Zentimeter von seinem Ohr weg. Kåre Hjeltland braucht eigentlich kein Telefon, so laut, wie er spricht. Er ist der engagierteste Nachrichtenmann, den Henning kennt. Er steht ständig unter Strom und leidet am Tourette-Syndrom, auch wenn die unwillkürlichen Schimpfworttiraden an diesem Abend vorübergehend in Deckung gegangen zu sein scheinen. Doch Henning weiß, wie Hjeltland beim Reden ruckartig den Kopf zurückwirft.
Er redet weiter, bevor Henning etwas sagen kann. »Eine alte Frau ist in einem Altersheim ermordet worden, gleich bei dir um die Ecke. Hast du die Möglichkeit, da mal vorbeizugehen? Ich sollte heute Abend besser nicht unter Leute gehen.«
Das solltest du nie, denkt Henning und sieht auf die Uhr.
Eigentlich hatte er vor, nach Hause zu gehen und endlich einmal mehr als zwei Stunden am Stück zu schlafen. Andererseits weiß er, dass es in der Redaktion nur wenige Kollegen gibt, die wirklich in der Lage sind, über einen Mord zu berichten. Iver Gundersen ist nach der Tracht Prügel, die er vor ein paar Wochen in der Josefines gate bezogen hat, noch immer krankgeschrieben, und an einem normalen Sonntagabend sind in der Redaktion sonst maximal zwei Leute anwesend: der Chef vom Dienst, der die Nachrichten aus aller Welt sichten muss, und ein Sportjournalist, der die Fußballergebnisse des Abends aufbereitet.
Henning holt tief Luft und wirft einen letzten Blick auf die dichter werdenden Wolken. Schon wieder ein Mord, denkt er. Mit allem, was dazugehört. Überstunden, also weniger Zeit, nach dem- oder denjenigen zu suchen, die meine Wohnung in Brand gesteckt haben. Trotzdem antwortet er seufzend: »Klar, ich kümmere mich darum.«
Kriminalkommissar Bjarne Brogeland parkt vor dem Eingang des Pflegeheims und steigt aus seinem Wagen in den Herbstabend hinaus, knallt die Autotür zu und sieht sich um. Eine schmale Einbahnstraße zieht sich zwischen den hohen Gebäuden mit ihren farblosen Fenstern hindurch, die sich dem Himmel über Grünerløkka entgegenstrecken. Der Asphalt glänzt im Schein der Straßenlaternen. Die Straße ist für Autos gesperrt, aber vor der Absperrung drängen sich Schaulustige.
Es ist immer das Gleiche. Die Leute wollen etwas sehen, wenigstens einen kurzen Blick auf den Tod erhaschen, ein Detail aus den morgigen Schlagzeilen schon jetzt ergattern, damit sie damit angeben können, dort gewesen zu sein, es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Der Tod in einem Leichensack. Der Tod im Fokus eines in Weiß gekleideten Kriminaltechnikers.
Bjarne hat sie nie verstanden, diese Faszination für Blutlachen und Autowracks und das Bedürfnis, sich freiwillig diesen traumatischen Anblicken auszusetzen. Die meisten Leute wissen nicht, dass das Bild eines deformierten menschlichen Körpers oder der Geruch eines zerschmetterten Schädels nicht einfach so verschwindet, wenn man sein Leben weiterlebt, ins Kino oder ins Café geht oder sich die Hucke vollsäuft. Haben sich diese Erinnerungen erst einmal festgebissen, können sie jederzeit wieder auftauchen, noch sehr, sehr lange.
Bjarnes Vater hat ihm einmal erzählt, wie sie eine Eisbärin in der Selbstschussanlage erlegt hatten, als er in den Sechzigern für ein Forschungsprojekt unter der Regie der ESRO in Neu-Ålesund arbeitete. Sie hatten die Bärin mit Futter angelockt. Als sie den Kopf in den Holzkasten steckte, in dem das Futter lag, löste das einen Mechanismus aus, der den tödlichen Schuss abgab. Als Bjarnes Vater und sein Kollege die Bärin holen wollten, liefen zwei Junge verwirrt um die Mutter herum. Er werde ihre Schreie niemals vergessen, hat er gesagt. »Sie klangen genau wie Menschenkinder, Bjarne. Das hättest auch du sein können, der da geschrien hat.«
Der Anruf hat Bjarne vor gut einer halben Stunde erreicht. Er hatte gerade seine fünf Jahre alte Tochter Alisha ins Bett gebracht und sich aufs Sofa gesetzt. Schon die Beschreibung am Telefon jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und genau dieses Gefühl stellt sich wieder ein, als er auf das Gebäude zugeht. Morde an alten Frauen haben etwas Spezielles.
Bjarne hebt den Blick und sieht zu den Wolken hinauf. Er zieht sich den Jackenkragen enger um den Hals. Es geht dunkleren, kälteren Zeiten entgegen.
Links von der Tür hängt ein Schild, mit dem potenzielle Einbrecher darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass das Gelände videoüberwacht ist. Gut, denkt sich Bjarne. Vielleicht ist der Täter auf einem der Bänder zu sehen.
Er dreht sich um und wirft einen Blick auf die Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite. Vorgezogene Gardinen, geschlossene Fensterläden, im Erdgeschoss ein Friseur. Daneben ein Café mit Namen Sound of Mu. Es scheint geschlossen zu sein, obwohl drinnen schwaches Licht scheint. Immerhin ist Sonntag, denkt er, der große Spazier- und Cafétag in Grünerløkka. Theoretisch könnten also etliche Leute den Täter gesehen haben, als er aus dem Pflegeheim kam – falls er das Gebäude denn durch den Haupteingang verlassen hat.
Bis er im vierten Stock aus dem Aufzug tritt, begegnet Bjarne keiner Menschenseele. Vor dem Zimmer von Erna Pedersen bleibt er vor dem rot-weißen Absperrband stehen und zieht sich himmelblaue Plastikschoner über die Schuhe, während irgendwo Stimmen und Piepstöne aus einem Funkgerät bis an sein Ohr dringen.
Bevor er in das Zimmer geht, atmet er noch einmal tief durch. Wie immer hofft er, dass die Wände mit ihm reden mögen, dass es in der unübersichtlichen Landschaft, die vor ihm liegt, Pfade gebe, denen er folgen kann. Und er nimmt sich bewusst vor, nicht gleich die Leiche anzusehen, sondern sich erst einmal auf die anderen Details in dem Zimmer zu konzentrieren. Die Gerüche will er verdrängen, soweit das möglich ist. Es ist schwer, das Parfüm des Todes abzublocken. Häufig wacht er mitten in der Nacht mit ebendiesem Geruch in der Nase auf.
Bjarne nickt der Kriminaltechnikerin Ann-Mari Sara zu, als er den Raum betritt. Sie kniet neben den Füßen der Toten, eine Kamera vor dem Gesicht. Sie setzt den Apparat ab und beantwortet Bjarnes Gruß ebenfalls mit einem Nicken.
Es hat eine Weile gedauert, bis Bjarne mit Ann-Mari warm wurde. Klein, gerade mal eins achtundfünfzig, kurzes, ungekämmtes Haar. Nie geschminkt. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals lächeln gesehen zu haben, und er hat festgestellt, dass sie es mit der Körperhygiene nicht allzu genau nimmt. Außerdem scheint sie immun gegen jede Charmeoffensive oder Smalltalk zu sein. Fragen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben, beantwortet sie nicht. Aber sie ist zweifelsohne eine der besten Kriminaltechnikerinnen, die Bjarne in seinem Leben kennengelernt hat. Immer gründlich, immer aufmerksam. Immer respektvoll. Er hat sie noch nie einen Kaugummi schmatzen hören, nie hat sie versucht, die angespannte Stimmung durch eine geschmacklose Bemerkung über das Äußere oder das Leben eines Opfers aufzulockern. Sie ist das größte Arbeitstier, das Bjarne je begegnet ist, und hat ein ausgeprägtes Talent, sich in die Gedankenwelt der Kriminellen hineinzuversetzen. Nachzuspüren, was geschehen sein könnte. Wäre sie bei der Spurensicherung nicht unentbehrlich, würde er sie gerne in sein Ermittlungsteam aufnehmen.
Sie steht auf, hebt die Kamera wieder an und macht weitere Bilder. Dann zeigt sie auf eine Bibel, die am Boden liegt. »Vermutlich hat er zuerst die benutzt.«
Bjarne hebt abwehrend die Hand.
»Ich habe sie mir noch nicht genauer angeschaut«, fährt sie fort. »Aber auf den ersten Blick sieht man dreizehn Einkerbungen.«
»Dreizehn Einkerbungen«, murmelt Bjarne leise vor sich hin. Der Täter muss rasend vor Wut gewesen sein.
Das Zimmer sieht genauso aus, wie er es sich vorgestellt hat. Klein, eng, kalt. Gemachtes Bett. Unpersönliche gelbe Gardinen. Gesprenkelter Bodenbelag. Möbel ohne Seele. Auf einem Tischchen stehen verwelkte Blumen. Eine aufgeschlagene Fernsehzeitung, darin eine Sendung rot umkringelt, rote Kreuze über anderen Sendungen. Rote Wollknäuel. Stricknadeln, lange und kurze. Ein unbenutztes Schnapsglas. Ein Glas Wasser auf dem Nachtschränkchen.
Bjarne fühlt sich an eine Gefängniszelle erinnert. Und er merkt, wie es ihm vor dem Gedanken graut, alt zu werden, auf neun Quadratmeter eingepfercht zu sein.
Das Opfer strahlt etwas Friedliches aus. Die Frau sitzt auf einem Kissen, Bjarne erkennt gelbe und braune Blüten darauf. Auf ihrem linken Arm liegt die eine halb fertig gestrickte Socke. Klein, rot.
Bjarne beugt sich zu ihr hinab. Obgleich er sich innerlich auf diesen Moment vorbereitet hat, spürt er trotzdem das vertraute Kribbeln hinter der Stirn. Unter den verschmierten Brillengläsern ziehen sich rote Streifen Blut über das runzlige Gesicht der Dreiundachtzigjährigen. Sie sehen aus wie die Zweige eines Baumes. An der Stelle, wo die Pupillen sein müssten, sieht er etwas Helles, Glänzendes.
Die Spitzen von Erna Pedersens Stricknadeln.
»Hast du die Würgemale am Hals gesehen?«
Bjarne beugt sich wieder vor und schiebt mit einem Stift, den er aus seiner Jackentasche gezogen hat, eine Haarsträhne beiseite. »Das ist nicht dein Ernst …«
Ann-Mari Sara zieht beleidigt eine Augenbraue hoch. »Bei dem bisschen Blut können wir davon ausgehen, dass das Herz nicht mehr geschlagen hat, als er ihr die Stricknadeln in die Augen gerammt hat.«
»Er hat sie vorher erwürgt«, stellt Bjarne fest.
Sie nickt. »Aber es gibt noch andere interessante Dinge.«
Bjarne dreht sich zu ihr um.
»Uns fehlt die Tatwaffe«, sagt sie.
»Wie meinst du das?«
»Du kannst mit einem Buch keine Stricknadel so tief in einen Augapfel hineinschlagen. Da sind die Nase und die Stirn im Weg. Er muss noch etwas anderes benutzt haben. Sieh mal!« Sie zeigt auf die dunkelbraune Strickjacke des Opfers. Auf den Schultern liegt eine dünne weiße Staubschicht. »Ich weiß noch nicht, was das ist. Aber der Täter muss noch ein anderes Hilfsmittel benutzt haben, um ihr die Stricknadeln in den Kopf zu hämmern. Ich vermute stark, dass sie auch darin Kerben hinterlassen haben.«
»Sind die Nadeln ganz durch den Schädel gegangen?«
»Nein«, sagt sie und klopft sich mit den Knöcheln an die Stirn. »Der Schädelknochen ist dick und wird mit dem Alter immer dicker, besonders bei Frauen. Aber es sieht zumindest so aus, als hätte er es versucht.«
Bjarne zieht eine Grimasse. »Gibt es noch mehr, was ich wissen sollte?«
»Ja.« Sie schiebt sich an ihm vorbei und tritt an die Kommode vor einen Bilderrahmen, der am Boden liegt. Das Glas ist zerbrochen. Ein breiter Riss verläuft durch das Foto, trotzdem erkennt Bjarne eine augenscheinlich glückliche vierköpfige Familie.
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung«, antwortet sie. »Ich tippe mal auf den Sohn oder die Tochter des Opfers mit Familie. Mich würde aber viel mehr interessieren, wieso das Bild auf dem Boden liegt und warum der Haken da oben so verbogen ist.«
Bjarne hebt den Blick.
»Der Boden hier ist ziemlich sauber. Man kann sich fast darin spiegeln.«
»Dann wurde das Foto heruntergerissen«, schlussfolgert Bjarne. »Vielleicht sogar heute Abend.«
Ann-Mari Sara nickt. »Die Frage, über die ich mir an deiner Stelle Gedanken machen würde, ist: Warum?«
Man braucht nicht mehr als zehn Minuten vom Dælenenga-Stadion zum Grünerhjemmet, dem Pflegeheim am unteren Ende des Markveien, einem roten Backsteingebäude, das sich ganz und gar unauffällig in die übrige Bebauung von Grünerløkka einfügt. Die wenigsten Passanten verschwenden einen Gedanken daran, dass hier der größte Teil der dringend pflegebedürftigen Menschen des Stadtteils untergebracht ist.
Vor dem Eingang hat sich eine Gruppe Menschen versammelt, eine ganz eigene Unterart der Spezies homo sapiens, die Henning immer und überall wiedererkennen würde. Einen Augenblick oder zwei später sieht er sie inmitten der Journalistenhorde: Nora. Die Frau, die er einmal mit jeder Faser seines Körpers geliebt hat. Nur nicht so, wie sie es verdient hätte, geliebt zu werden. Die Frau, die an jenem Tag, als es bei ihm zu Hause brannte, krank war und die sich niemals verzeihen wird, dass sie Jonas ausgerechnet an diesem Abend zu Henning geschickt hat, obwohl es gar nicht Hennings Abend war. Die Frau, die wenig später die Scheidung einreichte, als er sie am dringendsten gebraucht hätte.
Zu sagen, dass es schwierig wäre, Nora zu begegnen, nachdem er wieder begonnen hat zu arbeiten, wäre eine grobe Untertreibung. Ihre gemeinsame Vergangenheit als Eltern und Journalisten konkurrierender Medien ist eine Sache. Eine ganz andere ist, dass Nora inzwischen mit Hennings engstem Mitarbeiter bei 123nyheter liiert ist. Mit Iver Gundersen.
Nora hebt eine Hand und kommt langsam auf ihn zu. Einen Meter vor ihm bleibt sie stehen und sagt Hallo. Henning nickt und lächelt, spürt, wie sich augenblicklich um sie herum ein Schutzwall erhebt und Wind, Luft, das Gebäude – und die Welt um sie herum – aufhören zu existieren.
»Wie geht’s?«, fragt sie.
Henning neigt den Kopf, erst auf die eine, dann auf die andere Seite. »Gar nicht so schlecht«, sagt er.
Henning hat Nora seit dem Abschluss des Tore-Pulli-Falls nicht mehr gesehen, aber vor ein paar Tagen hat er, nachdem ein Artikel, den er über Tore Pullis Tod geschrieben hatte, erschienen war, eine E-Mail von ihr bekommen. Nicht viele Worte, nur zwei Sätze, die ihn aber nachdenklich gemacht haben.
Verdammt guter Artikel, Henning. Du bist nach wie vor der Beste.
Gruß, Nora
Er hätte antworten und sich bedanken sollen, aber das hat er nicht hinbekommen. Er hätte sich zumindest für ihren Einsatz bedanken sollen, als er vor etwas über einer Woche bewusstlos in einem Grab gelegen hatte und auf dem besten Weg in die ewigen Jagdgründe war. Nora hatte begriffen, dass irgendetwas nicht stimmte, sowie sie versuchte, ihn zu Hause zu erreichen, und keine Antwort bekam. Sie kontaktierte Bjarne Brogeland, der wiederum die ganze Maschinerie in Gang setzte, sodass Henning am Schluss gefunden und gerettet wurde.
Aber er hat es nicht einmal geschafft, sich dafür zu bedanken. Und dass ihre Stimme gerade milder als gewohnt klingt, macht es auch nicht leichter.
»Immer noch ein bisschen Kopfschmerzen, aber alles im Rahmen«, sagt er schließlich. »Wie geht es Iver?«
Nora kopiert Hennings Schulterzucken. »Ich soll dich grüßen«, sagt sie nur.
»Ist er wieder zu Hause?«
»H-hm.« Sie nickt. »Und langweilt sich auf dem Sofa fast zu Tode.«
Noras Haut, glatt wie immer. Das Haar dunkel und schulterlang. Eine dunkelblaue Jacke, die er von früher kennt. Henning erinnert sich sogar noch, wo er sie zuletzt damit gesehen hat. Es war zwischen Gjendesheim und Memurubu, als sie über den Besseggen-Grat wanderten, an einem Tag, der als Sommer begann und im Vollblutwinter endete.
»Was ist passiert?«, fragt er.
Nora dreht sich zu dem roten Backsteingebäude um und zieht wieder die Schultern hoch. »Wir haben noch nicht viel erfahren, außer dass das Opfer eine alte Frau ist.«
Ein paar Meter entfernt bricht ein Journalist in Lachen aus. Henning schickt ihm einen langen Blick. »Hat sich von der Polizei noch keiner geäußert?«
Nora schüttelt den Kopf. »Die Pressekonferenz ist morgen Vormittag, nehme ich an.« Sie seufzt.
»Anzunehmen.«
Morgen Vormittag ist weit weg. Darum nimmt Henning sein Handy und schickt eine Nachricht an Bjarne Brogeland, um ihn zu fragen, ob sie nicht vielleicht einen kurzen Plausch über den Vorfall halten können.
Die Antwort kommt wenige Minuten später.
Busy wie ein Lemming. Melde mich, sobald ich 2 min habe.
Henning sieht sich um. Es ist spät geworden. In den Redaktionen der klassischen Zeitungen ist bald Deadline und die Chance, dass die Außenreporter an diesem Abend noch irgendetwas Neues liefern, gering. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Niemand weiß, wer das Opfer ist oder was mit ihm geschehen ist. Für Henning gar nicht so schlecht. Alles, was er jetzt braucht, sind ein, zwei Details, die kein anderer hat.
Er verschafft sich einen raschen Überblick über die Konkurrenz im Internet und stellt fest, dass bisher niemand etwas Konkretes berichtet hat. Und er weiß, dass so spät abends kein Journalist mehr ins Pflegeheim gelassen wird. Die Patienten und die Ermittlungen gehen vor. Es ist also vergeudete Zeit, vor dem Eingang herumzuhängen und die Polizisten zu beobachten, die im Gebäude ein und aus gehen.
Aber was ist eigentlich mit den Angestellten? Den Besuchern? Wo gehen die ein und aus?
Henning fängt Noras Blick ein und signalisiert ihr, dass er abhaut.
Nur hat er nicht vor, nach Hause zu gehen.
Ein Pfleger in weißer Hose und in weißem Hemd sitzt auf einem Stuhl vor dem Fernsehzimmer und kaut an seinen Fingernägeln. Plötzlich springt er auf, als hätte er sich an der Sitzfläche verbrannt.
Bjarne Brogeland bleibt vor ihm stehen. »Ole Christian Sund?«
Der Mann nickt und reibt sich mit der rechten Hand den Nacken. Sund trägt einen blonden Zottelbart im pockennarbigen Gesicht. Seine Brauen sind über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Aus den luftigen Ärmeln ragen dünne Arme.
»Wie geht es Ihrem Sohn?«, erkundigt sich Bjarne, zieht sich einen Stuhl heran und signalisiert Sund, dass er sich wieder setzen soll.
»Ich weiß es nicht«, sagt der Pfleger und senkt den Blick. »Er ist bei seiner Mutter. Sie antwortet nicht auf meine SMS. Bestimmt geht es ihm gut.«
»Ach ja, Mütter«, sagt Bjarne und lächelt verständnisvoll. »Ich gehe davon aus, dass Ihnen Krisenhilfe angeboten wurde?« Er zieht Notizblock und Stift aus der Tasche.
»Ja, danke. Aber Martine ist Psychologin, und keiner kennt Ulrik besser als sie, darum …«
»Verstehe«, sagt Bjarne. »Es wäre trotzdem gut, wenn wir so schnell wie möglich mit ihm reden könnten. Möglicherweise hat er etwas Wichtiges gesehen.«
Sund nickt langsam und schiebt sich die blonden, langen Haare aus der Stirn. »Ich habe ihn noch nie so erlebt«, sagt er leise. »Als wäre er in eine andere Dimension eingetreten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat einfach nur dagesessen und mit dem Oberkörper vor und zurück geschaukelt, mit völlig abwesendem Blick.« Sunds Gesicht verzieht sich zu einer besorgten Grimasse.
»Hat er irgendetwas gesagt?«
»Erst nicht. Aber später, als ich wieder aus Erna Pedersens Zimmer kam, da hat er was von Bruchstrichen gemurmelt.«
»Bruchstriche?«
»Ja, das hat er immer und immer wiederholt: Bruchstriche, Bruchstriche, Bruchstriche.«
Bjarne notiert sich das Wort in Großbuchstaben.
»Er hat sich in letzter Zeit sehr für Mathe interessiert, vielleicht ist das eine Erklärung, ich weiß es nicht.«
»Wie alt ist er?«
»Neun.«
Bjarne nickt. »Ich will Sie nicht unnötig aufhalten«, sagt er dann. »Aber haben Sie irgendeine Vermutung, wer das getan haben könnte?«
Sund atmet deutlich vernehmbar aus. »Nein.«
»Ihnen fällt niemand ein, der ein schlechtes Verhältnis zu ihr hatte?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Hat es in letzter Zeit Meinungsverschiedenheiten gegeben? War irgendjemand wütend auf sie?«
Sund denkt einen Moment lang nach. »Einige Patienten können ziemlich aggressiv werden, und hin und wieder gerät eine Diskussion aus den Fugen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand aus dem Heim Erna das hier angetan haben soll. Sie war eher unauffällig. Ziemlich hinfällig und kränklich. Wenn sie jetzt nicht auf diese Weise gestorben wäre, hätte sie über kurz oder lang etwas anderes dahingerafft.«
Bjarne kratzt sich mit dem Stift am Kopf. Eine Pflegerin läuft mit hastigen Schritten an ihnen vorbei.
Sund greift nach seinem Handy und aktiviert das Display. Legt es gleich wieder weg.
»Haben Sie bemerkt, ob im Lauf des Tages jemand in ihrem Zimmer war?«
Sund rutscht auf dem Stuhl hin und her. »Ich habe fast den ganzen Abend am anderen Ende des Korridors gearbeitet. Hier ist momentan viel los.«
Bjarne nickt wieder. »Der Besucherliste habe ich entnommen, dass sie heute keinen Besuch hatte. Wissen Sie, wie das sonst ist? Hatte sie regelmäßige Besuche?«
»Da sollten Sie vielleicht besser Daniel fragen. Daniel Nielsen. Er kümmert sich hauptsächlich um sie. Aber ich glaube nicht, dass sie ihr die Tür eingerannt haben, um es mal so zu sagen.«
Bjarne notiert sich Nielsens Namen und zieht einen Kreis darum. »Wie sieht es mit Verwandten aus? Ist denn irgendein naher Verwandter regelmäßig hier gewesen?«
»Nein. Ich erinnere mich kaum noch, wie ihr Sohn überhaupt aussieht.«
»Sie hatte also einen Sohn?«
Sund nickt.
Bjarne schreibt auf seinen Block: Familie des Sohnes auf dem kaputten Bild?
»Die Videokamera über dem Haupteingang im Erdgeschoss«, setzt er an, doch Sund schüttelt bereits den Kopf.
»Die ist nur da, damit wir außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten sehen, wer kommt und geht.«
»Die Leute gehen also tagsüber unbeobachtet ein und aus?«
»Ja.«
Wieder nickt Bjarne. »Ist hier heute irgendetwas Spezielles vorgefallen? Irgendwas Außergewöhnliches?«
Sund denkt einen kurzen Augenblick nach. »Im Laufe des Nachmittags waren die Ehrenämtler da, um mit den Alten zu spielen und zu singen.«
»Aha?«
»Die kommen alle zwei Wochen, glaube ich.«
»Ist das beliebt?«
»Ja, sehr.«
»Hat Erna Pedersen an den Treffen teilgenommen?«
»Normalerweise schon, aber heute habe ich sie nicht dort gesehen, wenn ich es mir recht überlege.«
Bjarne macht sich eine Notiz. »Wie viele Ehrenamtliche sind das denn in der Regel?«
»Hm, vier oder fünf, würde ich sagen.«
Bjarne hat schon mehrfach mit den freiwilligen Helfern zu tun gehabt, jungen wie alten, die sich für andere Menschen engagieren, ohne je eine Krone dafür zu sehen. Das sind wohl kaum Leute, die einer alten Frau Stricknadeln in den Schädel rammen, denkt Bjarne, schreibt aber trotzdem den Namen der Zentrale in Großbuchstaben auf und malt einen Pfeil daneben, der zur Seite zeigt. »Okay«, sagt er dann und erhebt sich. »Sie wollen jetzt sicher nach Hause und nach Ihrem Sohn sehen. Aber lassen Sie sich trotzdem noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen, was Sie heute Abend gehört und gesehen haben, besonders die Dinge, die Ihnen irgendwie merkwürdig oder ungewöhnlich vorkommen. Alles, was von Interesse sein könnte.«
»Mach ich«, sagt Sund und nimmt die Visitenkarte, die Bjarne ihm reicht. Dann geht er zum Aufzug, während seine Finger über die Tasten des Handys huschen.
Früher ist Henning abends am Akerselva joggen gegangen, auch wenn er dabei manchmal auf Leute stieß, denen man nach Einbruch der Dunkelheit lieber nicht begegnen mochte. Er lief in der Regel einfach an ihnen vorbei, angenehm war es trotzdem nie.
Die gleiche Unruhe ergreift ihn, als er am Riverside, dem Café am unteren Ende des Markveien, vorbeigeht, um auf die Rückseite des Grünerhjemmet zu kommen. Eigentlich könnte dieser Bereich der Stadt die reinste Postkartenidylle sein. Alte Gebäude, die dicht an dicht am Flussufer stehen, gesäumt von stattlichen Bäumen. An warmen Tagen kann man sich vor das Riverside setzen oder auf die Wiesen, die zum Wasser hin abfallen, und das Leben an dem still dahinfließenden Fluss genießen. Aber die Gegend um den unteren Teil des Akerselva ist zum Mekka für Menschen geworden, die ihr Geld damit verdienen, Betäubungsmittel an all jene zu verkaufen, die sie zu benötigen glauben. Früher operierten sie versteckt, weil es eine Schande war, Drogen zu verkaufen oder zu konsumieren, doch inzwischen geschieht das alles am helllichten Tag, ohne dass irgendjemand sich darum schert. Die Polizei weiß davon, hat aber nicht die Ressourcen, um etwas dagegen zu unternehmen. Und wird ein Dealer geschnappt, taucht gleich am nächsten Tag ein neuer auf.
Henning folgt dem Weg, der um das rote Backsteingebäude herumführt, bis zu einem Parkplatz. Dort geht er langsam auf und ab, während er darauf wartet, dass jemand herauskommt.
In der ersten Viertelstunde geschieht gar nichts.
Er sieht auf die Uhr. Aus neun ist inzwischen halb zehn geworden. In seinem früheren Leben hätte er jetzt vielleicht ein, zwei Zigaretten geraucht, aber nach dem Feuer hat er mit dem Rauchen aufgehört. Flammen und Glut machen ihm Angst. Er kann nicht hineinsehen, ohne in dem Rot-Orange die Augen seines Sohns zu erahnen.
Die Tür öffnet sich, und eine Frau kommt heraus. Sie hat braunes Haar und trägt einen beigen Mantel.
»Entschuldigen Sie«, sagt Henning und geht ihr entgegen, und sie verlangsamt ihre Schritte. »Arbeiten Sie hier?«
Die Frau, deren Gesicht sogleich wachsam wird, antwortet zögernd mit Ja.
Henning weiß, dass die Brandnarben in seinem Gesicht abstoßend wirken, insbesondere bei Dunkelheit. Er legt ein Lächeln auf, das entwaffnend wirken soll.
Die Frau geht weiter. »Tut mir leid, fragen Sie jemand anderen«, sagt sie.
»Ich …«
»Ich möchte nicht mit jemandem wie Ihnen reden.«
Henning bleibt stehen. Er hat schon eine Replik auf den Lippen, behält sie dann aber doch für sich.
Zehn Minuten später kommt ein Mann heraus, der zwar bereitwillig stehen bleibt, aber kaum Norwegisch versteht, geschweige denn spricht, was ihn allerdings nicht davon abhält, fröhlich draufloszuplappern. Henning glaubt zu verstehen, dass er die Fußböden in der ersten und zweiten Etage gewischt, dass er aber keine Ahnung hat, was zwei Stockwerke über ihm passiert ist.
»Nur Verrückte«, sagt der Mann.
Henning bleibt stehen. »Verrückte?«
»Ja, plemplem …« Der Mann lächelt und offenbart eine Reihe kreideweißer Zähne.
»Aha«, sagt Henning.
Der Mann streckt ihm den erhobenen Daumen entgegen, bevor er mit dem Fahrrad davonfährt.
Dann war das Opfer also dement, hält Henning fest. Bei Weitem nicht genug für einen Artikel, aber ein interessantes Detail. Trotzdem braucht er mehr.
Die Angestellten unterliegen sicher der Schweigepflicht, doch eine solche Formalität hat ihn noch nie aufgehalten. Aus Erfahrung weiß er, dass irgendjemand immer den Mund aufmacht. Es kommt nur darauf an, diesen Jemand zu finden und zum Sprechen zu bringen.
Was nicht leicht ist an einem Sonntagabend.
Eine Frau in einem Hijab kommt aus dem Gebäude. Henning setzt erneut ein Lächeln auf, nur um gleich wieder abgewiesen zu werden.
Er versucht es bei einem Mann mit dunklen Bartstoppeln und erfährt, dass der bei seiner Mutter zu Besuch war und deshalb jetzt das Spiel zwischen Brann und Vålerenga im Fernsehen verpasst.
Henning will sich schon wieder zurückziehen und darauf setzten, dass 6tiermes7, seine heimliche Chatquelle bei der Polizei, ihm mit ein paar Details weiterhelfen kann, als ein Mann in schwarzer Lederjacke aus dem Heim kommt. Die langen blonden Haare schwingen beim Gehen rhythmisch hin und her. Henning hat das Gefühl, den Mann schon einmal irgendwo gesehen zu haben, und geht auf ihn zu.
»Hallo, mein Name ist Henning Juul, ich arbeite für 123nyheter. Kann ich Sie kurz etwas fragen?«
Der Mann sieht auf. »Keine Zeit«, sagt er und läuft weiter.
»Ich kann Sie begleiten, wenn Sie mögen.«
Der Mann sagt dazu nichts, Henning nimmt aber im Blick seines Gegenübers ebenfalls eine Art Wiedererkennen wahr.
»Was ist da oben passiert?«
Der Mann senkt den Blick.
»Ich werde Sie auf keinen Fall zitieren. Ich versuche nur, mir ein Bild dessen zu machen, was hier vorgefallen ist. Wenn ich richtig informiert bin, wurde eine alte, demente Frau ermordet?«
Der Mann sieht an ihm vorbei. »Sorry, aber ich muss wirklich nach Hause, mein Sohn …« Der Mann hält mitten im Satz inne, sein Blick flackert.
Henning geht weiter neben ihm her. »Okay«, sagt Henning beschwichtigend. »Nehmen Sie die hier …« Er zieht eine Visitenkarte aus der Jackentasche. »Wenn Sie Lust haben, mir etwas zu erzählen, egal ob on oder off the record, rufen Sie mich einfach an. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, okay?«
Der Mann nimmt Hennings Karte mit einem Zögern entgegen.
»Danke, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich hoffe, Ihr Sohn schläft noch nicht …«
Er sieht dem Mann lächelnd nach, der sich noch mehrmals umdreht, ehe er im Dunkel verschwindet.
Da haben wir doch eine interessante Person, denkt sich Henning. Einer, der sich von der Masse unterscheidet. Ein Angestellter, der nach der Arbeit nicht müde, sondern eher ängstlich wirkt. Oder verschreckt.
Henning spricht noch ein paar andere Leute an, ehe er eine Stunde später nach Hause geht und sich in der Hoffnung, 6tiermes7 zu erreichen, an den Computer setzt. Parallel schickt er gleich mehrere Nachrichten an Bjarne Brogeland, der ihn etwas später tatsächlich zurückruft.
»Jetzt hör endlich auf zu nerven!«
»Du hast gesagt, du würdest dich melden, wenn du zwei Minuten Zeit hast.« Im Hintergrund ist das Rauschen des Verkehrs zu hören. »Bist du auf dem Weg nach Hause?«
»Wow, du hättest Ermittler werden sollen. Es ist fünf vor eins, Henning.«
»Dann lass es uns kurz machen. Eine alte, demente Frau ist ermordet aufgefunden worden. Was ist passiert?«
»Ich finde, du hast das gut zusammengefasst.«
»Hm. Erschossen worden ist sie nicht, das hätte man gehört. Außerdem hätte das eine ziemliche Schweinerei gegeben. Deshalb bezweifle ich auch, dass sie mit einem Messer getötet wurde, sonst hättet ihr den Täter sicher schon in Gewahrsam.«
»Wer sagt, dass wir ihn nicht haben?«
»Du sagst das. Ich höre es dir an. Du bist müde. Resigniert. Und das wärst du nicht, wenn der Fall bereits gelöst wäre.«
Brogeland seufzt. »Ich kann dir wirklich nichts sagen, Henning. Aus taktischen Gründen, du weißt schon.«
»Und wenn ich dir sage, dass ich heute Abend mit einem Angestellten gesprochen habe? Einem Mann mit langen blonden Haaren, der so aussah, als hätte er den Sensenmann persönlich …«
»Er hat mit dir gesprochen?«, unterbricht Brogeland ihn.
Henning antwortet nicht.
»Ich hoffe, er hat nichts gesagt?«
Auch jetzt antwortet Henning nicht gleich. »Er hat gesagt, er müsse nach Hause zu seinem Sohn.«
»Verdammt«, faucht Brogeland ins Telefon.
Es vergehen ein paar Sekunden. Henning ist klug genug, diesen Moment nicht durch weitere Fragen zu stören.
Schließlich seufzt Brogeland schwer. Und als er kurz darauf an einer Bushaltestelle rechts ranfährt und beginnt zu erzählen, kritzelt Henning ein A4-Blatt mit Buchstaben voll, die er früher ebenso zynisch wie eiskalt zu einem einzigen Wort zusammengefasst hätte.
Weltklassemord.
Sie hat sich den Klingelton ausgesucht, weil er sie an das Fest der Feste und reichlich Geschenke erinnert. Trotzdem bringt das Glockenläuten nur selten freudige Nachrichten.
Sie tastet in Richtung Nachtschränkchen und versucht, das Telefon zu finden, ehe der Lärm Pål Fredrik weckt, der sich immer beschwert, dass sie so früh aufsteht. Schließlich findet sie es und schafft es, mit dem Daumen über die richtige Stelle des Displays zu streichen. Endlich Ruhe.
Trine Juul-Osmundsen sinkt zurück in die Kissen. Wie viele Stunden Schlaf waren es dieses Mal?
Nicht genug.
Mitten in der Nacht ist sie schweißgebadet aufgewacht. In dem Traum, aus dem sie aufgeschreckt ist, hat sie auf einer weiten, offenen Fläche gestanden, umringt von einer riesigen Menschenmenge. Sie konnte weder Hände noch Arme bewegen, versuchte aber trotzdem, sich zu befreien. Panik ergriff sie, als sie den Kopf nach oben drehte und sah, was sich vor dem grauen Himmel abzeichnete. Es glänzte blank und scharf. Jubel brach los, als das Seil durchtrennt wurde und das große, blanke Etwas auf sie zuraste. Sie wusste, das war ihr Ende – und dieses Gefühl war so stark, so lebendig, dass sie hochgeschnellt ist und sich panisch und mit keuchendem Atem an den Hals gefasst hat, noch ehe sie richtig wach war.
Trine sieht zu Pål Fredrik hinüber, der mit halb geöffnetem Mund daliegt und leise schnarcht. Wenn er fragt, wovon ihre Träume handeln, antwortet sie immer nur vage und ausweichend und mit der Gegenfrage, wie er selbst geschlafen habe. Seine Standardantwort lautet stets: »Ich hab von dir geträumt, mein Schatz. Ich schaffe es nicht, von etwas anderem zu träumen.« Und dann sieht er sie stets mit diesem ungemein charmanten Lächeln an, in das sie sich vor Gott weiß wie vielen Jahren verliebt hat, als sie sich auf einer Konferenz über Wirtschaftskriminalität in Lillehammer begegnet sind.
Sie widersteht dem Drang, sich noch ein paar Minuten in seine Arme zu schmiegen, ehe der Tag sie gefangen nimmt. Der große, schlanke und muskulöse Mann, der in wachem Zustand vor Energie überschäumt und nichts lieber tut, als auf einem Mountainbikesattel zu sitzen oder ungesichert an einer Felswand zu hängen, liegt jetzt ganz entspannt neben ihr und schläft wie ein Baby.
Trine hat ihn immer schon um seinen tiefen Schlaf beneidet. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt einfach die Augen geschlossen und tief geschlafen hat. Sie liegt immer lange wach und denkt über den Tag nach, der hinter ihr liegt, über die Menschen und Geschehnisse, die Herausforderungen und wie sie sie meistern soll. Nie schaltet ihr Hirn in den Ruhemodus. Kaum je gibt es Raum für private Gedanken, auch wenn Pål Fredrik ein Meister darin ist, ihr eine schöne Erinnerung für die Nacht zu schenken, bevor er sich auf die Seite dreht und einschläft. Ihr graut vor der Nacht, vor den immer gleichen Träumen von Dingen, von denen sie nicht träumen, an die sie nicht erinnert werden will.
Draußen ist es hell, wenn auch nicht so hell wie am Tag zuvor. Der Herbst ist da, und allein dieser Gedanke erschwert ihr das Aufstehen. Aber sie kämpft sich aus dem Bett, streckt sich und atmet tief durch. Dann läuft sie nackt über den Flur, direkt in die Dusche und bleibt eine ganze Weile unter dem Wasserstrahl stehen, während sie sich überlegt, was in dieser Woche ansteht. Am Vormittag muss sie auf die Polizeistation Sandvika, wo der Daten- und Materialdienst der Polizei ein neues Programm für die elektronische Überprüfung von Personen vorstellen wird, denen Kontaktverbot auferlegt wurde. Dann ist sie zum Lunch verabredet, anschließend Regierungskonferenz im Büro des Ministerpräsidenten. Morgen muss sie ins Gefängnis Bruvoll, und in ein paar Tagen soll sie ein neues Kinderschutzzentrum in Oslo eröffnen. Sie meint sich auch daran zu erinnern, einen Termin in Kongsvinger zu haben, um über bessere Maßnahmen der Grenzkontrolle zu verhandeln. Und ist an diesem Mittwoch nicht auch noch Aktuelle Stunde zum Thema Polizeibereitschaft?
Eine anstrengende Woche.
Als sie sich abgetrocknet, die Beine eingecremt und sich dezent geschminkt hat, geht sie zurück ins Schlafzimmer und zieht Rock, Bluse und Jacke für den Tag aus dem Schrank. Auf dem Weg in die Küche nimmt sie ihr Handy mit und aktiviert das Display. Sie sieht, dass sie einen Anruf von einem Journalisten der Zeitung VG verpasst hat, dabei ist es noch nicht einmal 6.30 Uhr.
Derselbe Mann hat auch schon am Abend zuvor versucht, sie zu erreichen, aber sonntags reagiert sie grundsätzlich nicht auf Anrufe und Angriffe der vierten Staatsmacht. Und auch nicht, bevor sie ihren ersten Kaffee getrunken hat.
Sie schaltet die Kaffeemaschine ein und füllt Wasser auf. Wartet, bis die Lampe aufhört zu blinken, drückt auf die Taste mit dem aufgedruckten kleinen Tassensymbol und riecht bald darauf das Aroma des Espresso, der sie in der Regel wach macht.
Da klingelt ihr Handy erneut.
Dieses Mal kommt der Anruf vom Dagbladet. Sie seufzt und lässt es klingeln. Wann kapieren die endlich, dass alle Anfragen über die Presseabteilung laufen sollen? Trine nimmt sich vor, ihre Handynummer zu wechseln. Ihre Nummer ist zu den Journalisten durchgesickert, obwohl sie sie erst vor Kurzem zum wiederholten Mal gewechselt hat. Irgendjemand im Ministerium scheint unbedingt auf gutem Fuß mit der Presse stehen zu wollen. Als hätten die ihr jemals geholfen!
Trine geht zum Kühlschrank, will Saft und Frischkäse herausnehmen, als ihr Handy schon wieder klingelt. Nettavisen. Sie starrt auf das Display. Drei Anrufe, so früh? Es muss etwas passiert sein.
Sie ist auf dem Weg in ihr Arbeitszimmer, um die Webzeitungen zu überprüfen, als ihr Display erneut aufleuchtet und das Handy brummt. Eine SMS. Eine weitere kommt gleich darauf. Und dann noch eine. Trine hat die erste noch nicht abgerufen, als es an der Tür klingelt. Sie zuckt zusammen. Schlägt die Jacke enger um sich, geht ins Wohnzimmer und wirft einen Blick durch die weißen Gardinen. Draußen steht ein Journalist, in den Händen Block und Stift, hinter ihm ein Fotograf mit gezückter Kamera. Was sie aber viel mehr beunruhigt, sind die vielen Wagen, die draußen stehen, vor ihrem Haus in Ullern, das sie im vergangenen Jahr für fast achtzehn Millionen Kronen gekauft haben. Sie erkennt die Schriftzüge von NRK und TV2. Dann fährt auch noch ein etwas größerer Wagen mit einer Satellitenschüssel vor.
Es ist nicht nur etwas passiert, denkt Trine. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.
Spät ins Bett und früh wieder raus. Das scheint zur Gewohnheit zu werden, denkt Bjarne Brogeland, als er wieder im Auto sitzt und zur Arbeit fährt. Er hat sich längst mit dem Gedanken abgefunden, und eigentlich liebt er es, sich mit jeder Faser seines Körpers in eine neue Ermittlung zu stürzen und sein Hirn zu fordern, einen Fall zu lösen und sich dann dem nächsten zu widmen. Seinen Teil dazu beizutragen, dass Oslo eine Stadt ist, in der man gerne aufwächst und lebt.
Aber selbst er, der sein ganzes Leben trainiert, immer auf seine Ernährung geachtet und seinen Körper nur selten mit Alkohol vergiftet hat, spürt langsam, wie die Polizeiarbeit an ihm zehrt. An ihnen, an ihm und seiner Familie, mit der er nur noch selten zusammen aufsteht oder ins Bett geht. Und wenn er einmal zu Hause ist, ist er in der Regel so groggy, dass er auf nichts mehr Lust hat. Dann will er einfach nur abschalten. Und das am liebsten allein.
Er hat es noch niemandem gesagt, nicht einmal seiner Frau Anita, dass er ein Gesuch an die Polizei in Vestfold gestellt, es aber noch nicht abgeschickt hat. Für eine sechsmonatige Vertretung als Ermittlungsleiter, Beginn: nächsten Monat. Der jetzige Chef will eine Auszeit nehmen, um ein Buch zu schreiben. Bestimmt einen Krimi.
Er hat keine Ahnung, wie Anita es aufnehmen wird, sollte er diesen Job bekommen. Auf jeden Fall würde das bedeuten, dass er noch häufiger und länger von zu Hause weg wäre, von ihr und Alisha und dem Familienleben, das ihr so wichtig ist.
Opfert er nicht so schon genug?
Er sieht es in den Augen seiner Tochter und hört es in den Gesprächen am Küchentisch, wenn sie mal alle drei zu Hause sind. Er bekommt zu wenig von ihr mit, weiß nicht, was sie im Kindergarten lernt oder mit wem sie sich umgibt. Wer böse und wer nett zu ihr ist. Es ist nicht leicht, klein zu sein, das weiß er noch aus seiner eigenen Kindheit. Es ist aber auch nicht leicht, Papa zu sein. Auf jeden Fall nicht Papa und Polizist.
Am Abend zuvor hat Alisha ihm die Gnade erwiesen, sie zu Bett bringen zu dürfen, nachdem er vorher noch ein bisschen mit ihr gespielt hat. Er hatte ihr ein paar Kapitel aus einem der Karsten-und-Petra-Bücher vorgelesen und ihr den Rücken gekrault. Sie liebt das. Als sie endlich zur Ruhe kam, durfte er jedoch nicht neben ihr liegen bleiben. Dieses Privileg hat nur Anita.
Es spielt keine Rolle, wie viel Unsinn er macht, vorliest und krault. Er wird immer die Nummer zwei bleiben. Natürlich ist auch das ein guter Platz, nur dass es Bjarne noch nie gefallen hat, an zweiter Stelle zu stehen.
Der Tag müsste mehr Stunden haben, denkt er und biegt in Richtung Grønland ab. Wenn er sich Zeit kaufen könnte, würde er eine ganze Palette davon bestellen. Dann könnten sie ins Legoland fahren, in den Sommerferien zum Baden ins Sørland, und er würde wandern und fischen gehen. Und Anita die Kinderschar schenken, die sie sich wünscht.
Aber wenn er diesen Job meistern will, muss er ihn mit ganzer Seele machen, dann muss er diesen Job leben. Der Job sein. Und der Job muss er sein. Vollständig.
Inzwischen sind sie beide knapp vierzig. Die Zeit läuft ihm zwar noch nicht weg; an ihr geht sie aber definitiv nicht spurlos vorüber. Was genau das bedeutet, haben sie noch nicht thematisiert, vermutlich hat ihnen die Zeit dazu gefehlt.
Bjarne hat Anita Mitte der Neunzigerjahre auf der Sporthochschule getroffen. Sie war im Kurs unter ihm und eigentlich gar nicht sein Typ. Sie mochte Aerosmith und Serien wie Beverly Hills, 90210 und Melrose Place, war zweiundzwanzig Zentimeter kleiner als er und spielte noch dazu Fußball. Aber mit ihren schulterlangen blonden Haaren, dem etwas schiefen Schneidezahn und ihrem ansteckenden Lachen kam sie ihm einfach unwiderstehlich vor. Ihr nordisch schroffer Charme. Er musste sie ganz einfach haben.
Anfangs widerstand sie seinen Annäherungsversuchen, in erster Linie weil sie bereits einen Freund hatte, doch dann überraschte sie ihn, weil sie ihre Meinung änderte. Sechs Jahre später heirateten sie. Aufgrund von Bjarnes Arbeit wohnen sie inzwischen in einer Doppelhaushälfte im Tennisveien in Slemdal und fahren einen Volvo Kombi mit einem Keilriemen, der permanent quietscht. Sie haben keine Sommerhütte und auch keinen Hund, dafür aber ein Kind, für das er sich bereitwillig vor jeden Zug werfen würde, um es zu schützen. Nummer zwei hin oder her.