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Nach jahrelangem Single-Dasein sucht Friderike Hansen noch immer die große Liebe. Ihr Neustart auf ihrer Heimatinsel Fehmarn gerät jedoch aus den Fugen, als gleich zwei Anwärter ihr Herz erobern – Für Fans von humorvollen Liebesromanen wie Bridget Jones. »Weißt du, Perle, vielleicht solltest du allein glücklich werden. Das Leben ist zu kurz, um irgendeinem Mann nachzujagen, nur um es der Gesellschaft recht zu machen.« Friderike Hansen ist 39 Jahre alt, ein klassischer Workaholic, Single und kinderlos. Nach Jahren in der Großstadt wagt sie als Buchhändlerin einen Neuanfang auf ihrer Heimatinsel Fehmarn, um endlich die große Liebe zu finden. Sowohl ihr Jugendfreund Jasper als auch ihr störrischer Nachbar Thies schleichen sich dabei in ihr Herz. Doch die Suche nach Mister Right stürzt sie in ein ungeahntes Gefühlschaos und der Neustart droht gänzlich in einem Desaster zu enden. Schließlich muss Rike eine Entscheidung treffen – und dabei zu sich selbst stehen.
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© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Diana Napolitano
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Cover & Impressum
Widmung
Willkommen daheim
Aller Anfang ist schwer
Frühlingsgefühle
Raubvögel im Bauch
Zwischen den Zeilen
Tupperparty wider Willen
Ein Ticket in die Hölle
Turteln bei Toffifee
Ärger im Anmarsch
Im Auge des Sturms
Ein Kater kommt selten allein
Ein Feuerwehrschlauch mit Folgen
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für meine Eltern, die sich seit einer Ewigkeit lieben.
Das Ruckeln der Schienen verstärkt sich, als der Zug auf die Fehmarnsundbrücke fährt. Mit der Stirn lehne ich am schmutzigen Fenster und genieße die Frühlingssonne, deren gleißende Strahlen auf der tiefblauen Ostsee glitzern. Wie kleine Soldaten, die mit weißen Segeln die Sonneninsel bewachen, gleiten Segelboote über die ruhige Oberfläche des Wassers, während kreischende Möwen sie begrüßen.
Im Südwesten der Insel entdecke ich den Flügger Leuchtturm, und mich überkommt dieses berauschende Gefühl, wenn man von oben hinab in die Tiefe schaut und erkennt, wie klein die Welt auf einmal aussieht.
Nicht weit von der Südwestspitze entfernt ragt der Leuchtturm von Strukkamp empor, an dessen Seite ein paar Männer in der Ostsee angeln. Der Strandabschnitt dahinter und auf der anderen Seite der Fehmarnsundbrücke ist überflutet mit Menschen. Während der Zug über sie hinwegrauscht, schließe ich die Lider und stelle mir vor, wie ich barfuß im warmen Sand spazieren gehe. Wie der seichte Wind durch meine weißblonden Locken weht und der salzige Duft der Algen mir die Sinne vernebelt.
Willkommen daheim, Rike.
Die Lautsprecherdurchsage erklingt und eine sympathische Männerstimme verrät mir, dass wir gleich in Burg auf Fehmarn eintreffen. Mein erster Griff gilt meiner kirschroten Steppjacke, die ich mir über den dünnen Pullover ziehe, denn trotz des Sonnenscheins kann immer eine steife Brise auf Fehmarn wehen. Anschließend packe ich mein Buch von Kristin Hannah, Die Nachtigall, zurück in die Handtasche.
Nach zwanzig Jahren auf die Insel zurückzukehren entlockt mir einen tiefen Sehnsuchtsseufzer. Grüne Wiesen, Weizen-, Gerste- und Rapsfelder so weit das Auge reicht und zartrosablühende Kirschbäume wie absichtlich gesetzte Farbtupfer. Der Frühling ist mit seiner beginnenden Farbenpracht die schönste Jahreszeit, um nach Fehmarn zu kommen.
Wenige Augenblicke später fährt der Zug in den Bahnhof ein. Räder quietschen, Türen öffnen sich und lassen eine Luft herein, die nach süß-salzigem Brackwasser riecht und nach Seewind schmeckt. Mit einem Lächeln steige ich aus. Selbst wenn ich wollte, könnte ich meine Mundwinkel nicht dazu bewegen, nach unten zu wandern, denn endlich bin ich angekommen.
Unter lautem Möwenkreischen sauge ich den frischen Sauerstoff ein, setze meine übergroße Sonnenbrille auf, als könnte mich nichts aufhalten, und tigere los.
Auf ein Empfangskomitee habe ich verzichtet. Meine Ankunft will ich in vollen Zügen genießen, obwohl meine Mutter sich schwerlich davon abhalten ließ, mich nicht vom Bahnhof abzuholen. Zur Entschädigung schicke ich meinen Eltern eine SMS, dass ich gesund angekommen bin. Ihre fast vierzigjährige Tochter hat es allein geschafft, in Berlin am Hauptbahnhof in den Zug zu steigen, um nach Fehmarn zu fahren.
Zwei, drei Herzschläge lang bleibe ich auf dem Gehweg stehen und sehe dem Zug mit einem lachenden und einem weinenden Auge hinterher, als fahre er mit meiner Vergangenheit davon. Tief atme ich ein, drehe mich euphorisch um und wende mich meinem neuen Leben zu.
Meine Wohnung liegt in Burg, in der Nähe eines Feldes, an das ein kleiner Wald grenzt. Vor ein paar Monaten habe ich das Grundstück zum ersten Mal gesehen. Gänseblümchen thronten auf einer grasgrünen, sehr gepflegten Rasenfläche, zu der meine gelbe Sonnenliege, die ich mir extra gekauft habe, hervorragend passen wird. Auf der Terrasse befand sich ein Strandkorb mit einem Muster aus Muscheln und blau-weißen Streifen, das mir sofort mein Herz gestohlen hat. Selbst das Gartenhäuschen und der weiße Lattenzaun wirkten wie einem Traum entsprungen.
Der Lärm am Stadtpark zieht mich in die Gegenwart zurück. Um den Kreisel auf der Bahnhofstraße stauen sich Autos und Wohnwagen, von denen manche die Größe eines Einfamilienhauses besitzen. Alle drängen nach Burg hinein. Während ich die Kennzeichen betrachte und darüber staune, aus welchen entfernten Ländern die Menschen nach Fehmarn reisen, bleibt mein Blick an der Bushaltestelle hängen. Sie thront auf einem schmalen Fußweg zwischen Stadtpark und Straße.
Augenblicklich lässt mich meine Vergangenheit nach Luft schnappen. Auf dieser Bank hat Jasper mich das erste Mal geküsst. Süßlich frisch hat seine Haut gerochen. An seinen Lippen hing der Geschmack von Bier, wobei er mich entschlossen zu sich gezogen hat, als wolle er mich nie wieder loslassen.
Und doch hat er es getan. Eine Entscheidung, bei der ich mich seit Jahren frage, ob es die richtige gewesen war. Was wäre gewesen, wenn Jasper mir nach Berlin gefolgt wäre? Wenn ich nach wie vor mit meinem Jugendfreund zusammen gewesen wäre? Zwei, drei Kinder? Haus, Hund und Katze? Familienessen an den Wochenenden? Weihnachten bei meinen Eltern, am 1. Weihnachtstag bei seinen? Ausflüge in den Zoo und …
Ein ohrenbetäubendes Geräusch ertönt, als mich eine Wolke aus Abgasen einhüllt. Ich stehe mitten auf der Fahrbahn. Eben war die Straße noch frei gewesen, das weiß ich genau. Oder nicht? Meine Erinnerungen müssen mir den Verstand geraubt haben. Jetzt ragt neben mir ein Feuerwehrfahrzeug auf, bedrohlich wie ein Monster und so nah, dass mir der Geruch nach heißen Reifen in der Nase sticht.
Röte schießt mir in die Wangen, und ich umklammere meine Handtasche in der Hoffnung, unsichtbar zu werden. Über mir schreit ein Mann Worte, dunkel und wütend wie ein Bär. Ich wage einen kurzen Blick nach oben und entdecke zwei samtbraune Augen, die mich vom Fahrersitz aus angiften. Sie gehören einem stattlichen Feuerwehrmann, dessen verzerrte Gesichtszüge einem Gemälde von Picasso ähneln. Um seinen Mund hängt ein Bart wie ein Bienenstock, struppig und gefährlich, als hause er im Wald.
»Sind Sie verrückt?« Durch das offene Fenster fuchtelt der Feuerwehrmann mit den Armen. Um uns herum beginnt ein Hupkonzert aus wartenden Autos. Mein Puls beschleunigt sich millionenfach, während ich den angsterfüllten Kloß in der Kehle nach unten schlucke. »Achten Sie gefälligst darauf, wohin Sie laufen, Lady. Die Ampel hinter dem Kreisel ist nicht zur Dekoration da.«
In mir dreht sich alles. Ich fasse es nicht, dass ich in den Verkehr geraten bin. Ich bewege die Lippen, doch mein Rachen gleicht einer Wüste, beinahe verschlucke ich mich. Es dauert, bis sich ein erbärmliches »Entschuldigung« aus meinem Mund hinaustraut, das im andauernden Geschrei des Feuerwehrmanns kläglich untergeht. Zum Schutz vor seinen barschen Worten hebe ich die Hände, hangle mich auf wackeligen Beinen zurück an den Fußgängerweg und schiebe mich geschwind an der Bushaltestelle über die kleine Mauer in den Stadtpark hinein. Tauben und Krähen suchen das Weite, als ich mich an einen Baumstamm lehne, der meinen zitternden Händen Halt gibt.
Auf der Straße hinter mir quietscht es, Reifen drehen. Ich traue mich nicht hinzusehen, dafür höre ich, wie das Feuerwehrfahrzeug weiterfährt und das fortwährende Hupen verstummt.
Wie nach einem Unfall taste ich meine Gliedmaßen ab, für den Fall, dass ich unterwegs einen Arm oder eine Hand verloren habe. Mein Herz jedenfalls liegt wehrlos auf dem Asphalt und jedes Auto rast darüber wie über ein wertloses Stück Papier.
Schwer atmend durchforste ich meinen aufgewühlten Kopf, um mich an die Anweisungen meines Yogalehrers zu erinnern, bei dem ich meditieren und richtig atmen gelernt habe. Mit einer Hand auf dem Brustkorb und der anderen auf dem Bauch sauge ich die Luft um mich herum durch die Nase ein, um sie langsam durch den Mund freizulassen.
Halbwegs beginne ich, mich in meinem Körper wieder wohlzufühlen. Mir gegenüber steht die Stadtbücherei, in der Michael Ende mit seiner Unendlichen Geschichte meine Leidenschaft für Bücher entfacht hat. Das kleine weiße Gebäude und der Gedanke an wohlriechende Buchseiten schenken mir Sicherheit, und mit jedem weiteren Augenblick senkt das konzentrierte Atmen meinen rasenden Puls.
Was war schon geschehen? Durch meinen Fehltritt habe ich den Verkehr von halb Burg zum Erliegen gebracht – mehr nicht. Ich rolle mit den Augen und seufze schwer.
Willkommen daheim, Rike.
Den Rest des Weges schleiche ich mit gesenktem Kopf abseits der Hauptstraßen. Es dauert eine Weile, bis meine Wangen ihre natürliche Blässe zurückerlangen.
Auf dem Weg zu meiner Wohnung drehe ich zur Sicherheit jedem roten Auto den Rücken zu und passiere mehr von Burgs Nebengassen, als ich geplant hatte.
Koffer trage ich zum Glück keine bei mir. Meine Möbel und meine Kleidung sind gestern von einer Umzugsfirma geliefert worden. Neele und Gerrit haben für mich die Tür geöffnet und das Treiben beaufsichtigt. Dafür werde ich meinen Freunden heute Abend die weltbesten Muffins backen und mir mit ihnen ein Gläschen Wein gönnen.
An dem Sandweg, der zum Grundstück hinter einem Neubaugebiet führt, reicht mir der Raps bis zur Hüfte. Wann ich das letzte Mal neben einem Feld gestanden habe, erinnere ich mich nicht. Mit den Fingern gleite ich über die Stängel, von denen ein paar bereits leuchtend gelbe Blüten tragen. Der Duft nach Honig hüllt mich ein, während Bienen und Hummeln von Frühling summen.
Nach wenigen Minuten biege ich um eine saftig grüne Hecke. Dahinter verharre ich auf der Auffahrt, wobei die Sohlen meiner Stiefel fröhlich auf dem Kies knirschen.
Hinter dem dunklen Glas meiner Sonnenbrille sieht die Farbe meines neuen Zuhauses bräunlich aus, obwohl die Fassade aus edlem, grauem Stein gemauert ist. Der Strandkorb auf der Terrasse, ein Überbleibsel der Vormieterin, schürt meinen Wunsch nach Gemütlichkeit. In meiner Vorstellung sitze ich abends darin mit einem Glas Wein, höre den Wind beim Brausen zu und zähle Sterne am Nachthimmel. Sterne, die ich in Berlin wegen der vielen Lichter kaum gesehen habe.
Home sweet home.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht und lässt mich die erlebten Strapazen vor dem Stadtpark vergessen. Das weiße Gartenhäuschen mit weißem Lattenzaun vor dem grün-gelben Rapsfeld könnte dem Titelblatt von Wohnen auf dem Lande entstammen. Ein atemberaubender Anblick.
Während ich der Eingangstür entgegentrete, schlägt mein Herz schneller. Auf diesen Moment habe ich lange gewartet. Die Entscheidung, nach Fehmarn zurückzukehren, hatte ich recht schnell getroffen. Aber eine passende Wohnung in Burg zu finden, hat sich schwieriger gestaltet als gedacht. Mit Glück und einem Fünkchen Vitamin B habe ich dieses Schmuckstück am Rand der Stadt gefunden.
Das Holzgeländer neben der Tür ist von Kratzspuren übersäht. Es verläuft an der Hauswand hinauf zur Wohnung im obersten Stock. Meinen neuen Nachbarn und seinen Kater habe ich beim Besichtigungstermin nicht kennengelernt, aber offenbar wetzt das Tier die Krallen am Holz, was er hoffentlich nicht bei meinem Strandkorb probiert.
Der weiße Lack der Eingangstür blendet mich, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke und hineingehe. Im Flur kriecht mir ein Geruch nach Putzmitteln, Pappe und Packpapier in die Nase. Ich ziehe Steppjacke und Stiefel aus, werfe sie auf den Boden und schleiche wie eine Einbrecherin auf Zehenspitzen in mein Wohnzimmer.
»Hallo?«, wispere ich. »Ist jemand zu Hause?«
Nichts. Weder ein Hundebellen noch die Sirene eines Rettungswagens oder laute Musik sind zu hören, so wie es in Berlin der Fall gewesen wäre. Auf Fehmarn dringt lediglich Vogelgezwitscher von den Bäumen. Irgendwie surreal.
An der hinteren Wand über meinem cremefarbenen Sofa hängt ein kunterbuntes Banner.
Schmunzelnd lese ich die Aufschrift Welcome back, Perle!. Neele und Gerrit geben sich viel Mühe, mich nach all der Zeit auf unserer Heimatinsel willkommen zu heißen. Ich muss mich beeilen, um mein Dankeschön vorzubereiten. Musik, Backzutaten und Förmchen müssen her. Ebenso eine von den Sektflaschen, die ich für Notfälle aufbewahre. Schließlich ist mein Neuanfang ein Grund zum Feiern.
Eine Spur aus Pappe, die meine wenigen Habseligkeiten beinhaltet, leitet mich an dem Sofa, den zwei weißen Kommoden, dem Mahagoniesstisch und den nicht dazu passenden Stühlen vom Flohmarkt im Mauerpark vorbei. Ein kurzer Blick auf die gestapelten Kisten, die meine Büchersammlung beschützen – alles scheint unversehrt. Ich widerstehe dem Drang, meine literarischen Schätze in das Bücherzimmer einzusortieren und gehe ins Schlafzimmer.
Meine Matratze starrt mich klagend an. Sie wartet sehnsüchtig darauf, bespielt zu werden. Dass mein großes Bett von Einsamkeit erzählt, wird sich hoffentlich auf Fehmarn ändern. Schließlich ist mein jahrelanges Singledasein der Grund dafür, dass ich heimgekehrt bin.
Ehe mich beim Anblick der verlassenen Matratze Melancholie übermannt, eile ich auf die Kartons mit der Aufschrift Küche vor dem Bett zu. Meine Lieblingsplaylist mit Shania Twain auf dem Smartphone spielt Ka-Ching!, während ich die ersten Klebestreifen entferne, um Kochlöffel, Schüsseln und Muffin-Förmchen herauszunehmen. Den Sekt pelle ich vorsichtig aus den Küchentüchern.
Mit einem Knall befreie ich den Korken aus der Flasche. Ein Vorgang, der mich jedes Mal wie ein scheues Reh zusammenzucken lässt. Dabei schmettere ich mein schönstes Can you hear it ring, it makes you want to sing, schwingedie Hüften und greife nach einem Sektglas aus dem Karton. Zum Refrain tänzle ich ins Wohnzimmer, das an die offene Einbauküche grenzt. Endlich eine Kochzeile, auf die mehr als bloß eine Kaffeemaschine passt.
Den Backofen wärme ich vor, die benötigten Zutaten, Schüsseln und das Rührgerät stelle ich auf die Arbeitsfläche. Schon bin ich in meinem Element.
Als Shania Twain aus I’m Gonna Getacha Good darüber singt, den Richtigen im Leben zu finden, ist meine Sektflasche halb leer und die Schokoladen-Muffins aus dem Ofen. Summend verziere ich die wohlduftenden Küchlein mit rosafarbener, französischer Buttercreme aus dem Spritzbeutel. Anschließend folgt eine Dekoration aus kleinen Rosen und Herzen, denn das Auge nascht immer mit.
Kurz die Beine hochgelegt, ab unter die Wolldecke. Mit Buttercreme im Mundwinkel und Sektresten auf den Lippen schlafe ich auf dem Sofa ein.
Ein mir unbekanntes Klingeln, mehr ein kurzes, haarsträubendes Dröhnen wie bei einer lauten Tröte, weckt mich. Kerzengerade sitze ich auf dem Sofa, die weiße Raufasertapete an der Wand gegenüber kommt mir fremd vor. Ich blinzle und reibe mir das müde Gesicht. Wie ein ungebetener Gast hängt mir der Schlaf in den Augen und verklebt mir die Sicht. Dass mir die Wimperntusche in den Fältchen haftet, ignoriere ich und stehe auf.
»Wir sind’s, Perle.« Neeles quirlige Stimme dringt gedämpft herein. »Pizza Party! Pizza Party!«, ruft sie noch, da gesellt sich ein starrköpfiges Klopfen hinzu, das mich unweigerlich zum Grinsen bringt.
Ein Blick auf das Smartphone verrät mir, ich habe länger geschlafen als beabsichtigt. Die frühe Abfahrt nach Fehmarn und der Beinahezusammenstoß mit dem bärtigen Feuerwehrmann haben mich überwältigt. Während ich in den Flur schlurfe, versinkt hinter der Fensterscheibe im Badezimmer der sonnige Tag in einer graublauen Dämmerung.
»Moin!« und »Na, du«, schießt es wie aus Kanonen. Zwei der freundlichsten Gesichter, die je mein Herz erwärmt haben, lächeln mich an.
Ich beuge mich zu Gerrit hinunter, lege meine Hände um sein Gesicht und küsse ihn auf die Stirn. Danach stürzt Neele mir in die Arme, als hätte sie mich jahrelang nicht gesehen. Als Begrüßung hinterlässt sie mir mit ihrem neonpinken Lipgloss einen saftigen Abdruck auf der Wange.
Mit der Hand deute ich in den Flur hinein. »Willkommen in meinem Zuhause.«
»Hast du etwa geschlafen?« Neele verzieht das schmale Gesicht, wie sie es immer tut, wenn sie mit einer Situation unzufrieden ist.
Während ich nach einer Antwort suche, übergibt Gerrit mir die beiden Pizzaschachteln von seinem Schoß und lässt seinen Rollstuhl von Neele mit einem Ruck über die Türschwelle schieben.
»Ich bin alt, was soll ich sagen?« Es sollte nach einem Scherz klingen, doch meine Worte umgeben einen Hauch bitterer Wahrheit.
»Du wirst vierzig, Perle, nicht hundert. Vergiss das nicht!« Neele nimmt mir die oberste Schachtel ab, durchquert das Kartonlabyrinth im Wohnzimmer und setzt sich mit der Pizza auf mein Sofa. Die langen Beine überschlägt sie und wackelt ungeduldig mit ihren bunten High Heels. Gerrit rollt ihr hinterher, die Umzugskartons stehen gerade so weit auseinander, dass er problemlos hindurchfahren kann.
»Wo ist der Wein?« Neugierig reckt er den Hals in die Küche. »Die leckeren Muffins sehe ich, aber wo ist das rote Traubenzeug zum Hinunterspülen der Krümel?«
»Gebt mir ein paar Minuten, bitte.« Geschwind verschwinde ich ins Badezimmer.
Vor dem Spiegel lächle ich mir besonders freundlich zu, um wegen meines verschlafenen Anblicks keine schlechte Laune zu bekommen. Rasch frisch gemacht und ins Schlafzimmer gehuscht. Aus einem Koffer krame ich eine schwarze Jogginghose mit dem glitzernden Juicy-Aufdruck auf dem Hintern, bei der mir die Worte meiner Mutter in den Kopf kommen. Eine Jogginghose ist wie eine Einstiegsdroge, Rikchen. Einmal ausprobiert und dein Stil ist dahin. Was bei ihr so viel bedeutet, wie Kein Mann bei klarem Verstand wird sich jemals für dich interessieren.
Aber für Pizza und Muffins brauche ich mehr Platz, als meine enge Jeans mir gewährt. Da ich derzeit keinen Mann sehe, der mich begutachtet, wage ich das Risiko und schlüpfe in den gemütlichen Stoff.
Aus dem Wohnzimmer dringt Atemlos von Helene Fischer, und ich ahne, wie die kleine Einweihungsfeier enden wird: feuchtfröhlich mit anschließenden Kopfschmerzen. Morgen früh ist mein Arbeitsbeginn in der Buchhandlung, aber anders als in Berlin öffnet Hanna ihr Geschäft erst um neun Uhr. Wir treffen uns eine halbe Stunde vorher in Burg. Genug Zeit also, um auszuschlafen und den ersten Abend mit meinen Freunden zu feiern.
Mit dem Karton, der die Weinflaschen und Weingläser beinhaltet, kehre ich zurück ins Wohnzimmer. Muffins und Pizza liegen mittig auf dem Tisch. Gerrit öffnet die erste Flasche, ich reiche drei Weingläser mit eingefärbtem Stiel herum.
»Wie war die Fahrt?« Neele reicht mir ein Stück Pizza Hawaii und nimmt sich selbst einen Muffin, von dem sie zuerst die Buttercreme ableckt und dabei grinst, als wäre sie im Himmel.
»Alle Züge waren pünktlich. Die Fahrt an sich war sehr entspannt.« Der erste Bissen von meiner Pizza schmeckt nach einem Traum aus Ananas und Schinken. Der warme Käse klebt mir am Gaumen und hinterlässt einen würzigen Nachgeschmack, der nach mehr verlangt. »Das Schlimmste war die Ankunft. Ihr werdet mir nicht glauben, was passiert ist.«
Neben mir entkorkt Gerrit den Wein und riecht für mein Verständnis zu lang am Flaschenhals.
»Ich habe extra deinen Lieblingswein geholt. Den roten aus Frankreich mit dem goldenen Etikett.«
Dass Gerrit die Nase rümpft, als hätte ich ihm Wein aus einem schäbigen Getränkekarton mitgebracht, trifft mich. Ich mag zwar keine perfekte Gastgeberin sein, aber ich halte meine Versprechen.
»Ich weiß«, antwortet er mit einem theatralischen Seufzer. »Der Rotwein müsste ziehen, aber wie ich sehe …«, Neele und ich strecken ihm unsere Gläser entgegen, als besitze er den letzten Tropfen Wasser auf der Erde, » … wollt ihr ihn gleich trinken.« Beide nicken wir, ich hechle dabei mit ausgestreckter Zunge wie eine durstige Hündin.
»Jedenfalls«, fahre ich fort, während Gerrit Wein einschenkt, »bin ich am Stadtpark vorbeigeschlendert und habe in Erinnerungen geschwelgt.«
»An der Bushaltestelle?« Neele zwinkert mir zu. Mich überrascht es, dass sie sich daran erinnert, auch wenn ich ihr damals als Erste von dem Kuss mit Jasper erzählt habe.
»Genau.« Ich nehme ein Glas und schwenke den dunkelroten Wein, als wüsste ich, was ich tue. »Als ich die Straße überqueren will – ich schwöre euch, sie war vollkommen frei – bremst plötzlich ein Feuerwehrwagen neben mir und alle Autos hupen. Ich bin völl –«
»Das warst du?« Gerrit grinst über sein gebräuntes Gesicht. Wie er Ende März aussehen kann, als wäre es Hochsommer, ist mir rätselhaft. »Alex hat mir heute Mittag davon erzählt. Eine Touristin soll kopflos in den Verkehr gerannt sein. Er war kurz davor, seine Kollegen vom Rettungsdienst zu rufen.«
»So dramatisch ist das nicht gewesen. Aber gut zu wissen, dass das Lauffeuer auf Fehmarn genauso hoch brennt wie früher.« Sobald ich die Worte ausgesprochen habe, schlüpft mir Hitze ins Dekolleté. In meinen Ohren brummt die Wut der Autofahrer nach. Samtbraune Augen, die garstiger nicht hätten schauen können, starren von der Wohnzimmerdecke auf mich hinab und verfluchen mich in die tiefsten Tiefen der Ostsee.
Ohne anzustoßen genehmige ich mir einen großen Schluck Wein, um das Geschehene in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses zu spülen.
Neele entweicht ein freches Glucksen. »Auf der Sonneninsel hat sich nichts verändert, Perle. Willkommen zurück.« Sie hebt ihr Weinglas in die Höhe, Gerrit macht es ihr nach. »Wir freuen uns, dass du wieder bei uns bist.«
»Auf euch!« Meine Freunde aus Kindheitstagen bei mir zu haben verstärkt meine Zuversicht, dass der Neuanfang trotz Startschwierigkeiten auf Fehmarn besonders gut werden wird.
»Auf uns!«, erwidert Neele.
Ein Weinglas führt zum nächsten, während ich meinen Gästen dabei zuhöre, wie sie von ihrem Leben auf der Insel erzählen. Wie Neele sich in die Selbstständigkeit gestürzt und das Bekleidungsgeschäft ihrer Mutter übernommen hat. Und wie Gerrit an den Wochenenden der Barfrau in Mopsy’s Bierbar schöne Augen macht, um ihr Herz zu gewinnen. Ich erzähle ihnen von Berlin, vom aufregenden Leben in der Großstadt, aber auch von der Einsamkeit, die mich zwischen all den Pärchen gepackt hat, und dem gesellschaftlichen Druck auf Singles in meinem Alter, meiner Sehnsucht nach Ostseeluft, Sandstrand und meinen Freunden.
Gerrits Smartphone spielt Musik aus den Siebzigern, genau mein Geschmack. Nach der ersten Flasche Wein hält es mich nicht länger auf dem Stuhl. Jeder Ton dringt mir unter die Haut, und kein Karton ist vor mir sicher. Mit den Händen trommle ich auf Pappdeckeln, schwirre hüftschwingend durch das Labyrinth aus Möbeln und trällere Songtexte aus vollem Herzen in einer falschen Tonlage. Neele tanzt mit Gerrit vor der Terrassentür, beide gackern wie kleine Kinder beim Topfschlagen.
Als wären wir drei niemals getrennt gewesen. Als wären wir wieder 20 Jahre alt, noch grün hinter den Ohren und auf der Suche nach dem großen Glück und der wahren Liebe.
Gerade als Shirley & Company Shame, Shame, Shame singt und ich einen der schmutzigen Kochlöffel als Mikrofon verwende, um mit dem anderen auf den benutzten Schüsseln zu schlagen, klingelt es Sturm an meiner Haustür.
Ich halte inne und horche mit angespannten Gliedern. Definitiv meine schreckliche Tröte.
»Schscht«, zische ich. »Hört ihr das nicht?«
»Was meinst du?« Gerrit dreht sich in seinem Rollstuhl vor Neele zu Shame, shame, shame, hey shame on you, if you can dance too im Kreis.
»Mach die Musik leiser.« Ich schleiche zur Tür und bete, dass meine Eltern nicht dahinter stehen und durch das Fenster gesehen haben, wie ich angetrunken mit Kochlöffeln um mich schlage.
»Vielleicht eine Stripperin?« Neele lacht dreckig und schaltet nach mehreren Versuchen Gerrits Smartphone leise. »Hoffentlich hat sie eine Freundin dabei, denn ich teile nicht mit dir.«
Ich kichere, als Neele sich zu Gerrit hinabbeugt, um ihn auf die Stirn zu küssen. Angewidert streckt er die Zunge heraus und wischt sich den klebrigen Lipgloss ab.
Abermals dröhnt die Türklingel und weckt vermutlich die ganze Stadt auf. Morgen früh ziere ich das Titelblatt des Fehmarnschen Tageblatts:Fehmaranerin hält mit irrer Willkommensfeier Insel wach.
»Bin gleich da.«
Bei der Lautstärke des Klingeltons fühlt es sich an, als wäre die Tröte direkt in meinem Kopf.
Memo an mich selbst: neue Klingel kaufen.
Ehe ich die Tür öffne, setze ich das freundlichste Lächeln auf, das ich mir abringen kann. Nicht, dass meine Mutter mir nachher vorwirft, ich würde mich nicht über einen Überraschungsbesuch freuen. Mein Lächeln verpufft jedoch wie heißer Dampf bei tosendem Ostseewind.
Zwei samtbraune Augen, die mir schmerzlich bekannt vorkommen, starren mich aus einer verkniffenen Miene an. Der Mann aus dem Feuerwehrfahrzeug steht mir gegenüber und schnauft wie ein Bär. Dieses Mal trägt er keine Einsatzkleidung, sondern einen schwarzen Onesie übersäht mit Katzenhaaren. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, denn sein Einteiler sieht unter seiner borstigen Gesichtsbehaarung besonders flauschig aus.
Mein Herz fängt so kräftig an zu pochen, dass ich befürchte, er könne es schlagen hören. Ist der Wahnsinnige mir hinterhergefahren und will mich für meinen Fehltritt von heute Vormittag bestrafen?
»Sind Sie mir etwa gefolgt?« Ich kann nicht glauben, dass er vor mir steht. Zur Verteidigung halte ich den schmutzigen Kochlöffel in seine Richtung, was seine schlechte Laune nur noch weiter ankurbelt, denn er brummt einen ungehaltenen Ton von sich.
»Wissen Sie, wie spät es ist, Frau …«, er pausiert und wirft einen kurzen Blick auf meinen weißen Briefkasten. »… Frau Hansen? Einige von uns sind hart arbeitende Leute und müssen früh aus dem Bett. Also machen Sie Ihre dämliche Musik aus, und hören Sie auf, unter meiner Wohnung Polka zu tanzen!«
»Sie … sind mein Nachbar?« Zögerlich blicke ich auf, wobei ich die Hoffnung nicht aufgebe, dass er sich im Haus geirrt hat. Eventuell ist er ein verwirrter Streuner, der nachts schlafwandelt, um seine überaus gute Laune an die Nachbarschaft zu verteilen.
Schweigend steht mir mein neuer Nachbar im riesigen Strampler gegenüber. Und obwohl ich noch nie einen Mann etwas Lächerlicheres habe tragen sehen, muss ich bei näherer Betrachtung feststellen, dass unter diesem Wust von Bart, Wut und Katzenhaaren ein attraktiver Mann steckt. Ich habe definitiv zu viel Wein getrunken und schüttle den Kopf, um diese Erkenntnis fortzujagen.
»Ich wohne direkt über ihnen, Lady. Und wenn Sie die Güte hätten, sich an die Vorschriften der allgemeinen Nachtruhe zu halten, dann werden wir zwei auch keine weiteren Probleme bekommen.« Sein Bienenstockbart reibt sich am schwarzen Fleecekragen wund, während er spricht.
Kichernd spähen Neele und Gerrit um die Ecke in den Flur.
Schöne Freunde.
Mit dem Kochlöffel gebe ich ihnen hinter meinem Rücken ein deutliches Zeichen zu verschwinden. Nicht, dass die beiden meinen Nachbarn zu unserer gemütlichen Runde einladen.
»Hören Sie, bitte. Es tut mir ausgesprochen …«
Doch der Mann im feinen Fleece denkt nicht daran, mir zuzuhören. Er geht. Stirnrunzelnd strecke ich den Kopf aus dem Türrahmen, die Nachtluft legt sich kühl auf mein gerötetes Gesicht. Um nicht zu frieren, streife ich die Ärmel meines Pullovers zurück über die Unterarme. Rechts von mir bewegt sich ein Schatten in der Dunkelheit und poltert unter stampfenden Schritten die Holztreppe an der Hauswand hinauf.
Offenbar ist mein Nachbar ein Arsch. Er hätte sich wenigstens meine Entschuldigung anhören können, immerhin die zweite an diesem Tag. Langsam bekomme ich Übung darin, mich bei ihm zu entschuldigen. Mit einem lauten Knall ziehe ich die Haustür hinter mir zu.
Meine Antwort auf seinen unhöflichen Abgang.
Zurück im Wohnzimmer sinke ich auf den Stuhl und werfe den Kochlöffel in eine der leeren Pizzaschachteln auf dem Tisch. Meine Willkommen-in-meinem-tollen-neuen-Leben-Laune hat sich in Luft aufgelöst. Wie ein mies gelaunter Vampir hat mein Nachbar mir den letzten Funken Spaß ausgesaugt.
Während ich auf meine geringelten Socken starre, breitet sich ein pochender Schmerz zwischen meinen Schläfen aus, und jetzt, da keine Musik mehr spielt, höre ich in dem Stockwerk über mir, wie jemand von der einen Seite zur anderen schlurft. Dieses Haus besitzt die dünnsten Wände, die jemals auf der Erde gezimmert wurden.
»Da hast du dir einen schönen Nachbarn ausgesucht.« Neele legt die nackten Füße auf den Tisch, wobei ihre Fußnägel in einem zurückhaltenden Knallpink glitzern.
Gerrit genehmigt sich den letzten Schluck aus seinem Glas und zwinkert mir zu. »Neele hat recht. Weißt du, wer das da oben ist?«
Frustriert nippe ich am Wein. »Ein Verwandter von Frankenstein?« Wenn ich daran denke, dass ich mit diesem Griesgram unter einem Dach leben soll, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich sehe mich bereits die nächsten Tage verzweifelt den Reporter nach neuen Wohnungen wälzen.
»Nicht ganz.« Gerrit stellt sein leeres Glas ab. »Mein Bruder ist bei ihm in der Freiwilligen Feuerwehr. Das ist Thies Kruse, Wehrführer von Burg. Die größte Spaßbremse, die es auf der Insel gibt. Der gute Mann dort oben kennt nur Pflichten, Pflichten, Pflichten.«
»Und Mord.«
Ich verschlucke mich bei Neeles Worten am Wein. Ein paar Tropfen laufen mir das Kinn hinunter. »Bitte, was?« Mit einer fettigen Serviette aus der Pizzaschachtel wische ich mir das Gesicht sauber. »Wovon sprichst du? Was meinst du mit … Mord?«
Gerrit wirft Neele einen eindeutigen Blick zu. »Willst du ihr das wirklich erzählen? Die Polizei hat keine Beweise gefunden.«
Mein Magen rumort. Thies Kruse ist ein Mörder? Jetzt wundert mich nichts mehr. Deshalb habe ich diese Wohnung so schnell bekommen. Wahrscheinlich bin ich die einzige Bewerberin gewesen.
Innerlich ist mir zum Heulen zumute. Mein idyllisches Heim mit weißem Gartenzaun und Rapsfeld entpuppt sich als ein Unterschlupf für Gewaltverbrecher. Mit der flachen Hand reibe ich mir den flauen Magen. Das letzte Glas Wein war zu viel für mich.
Neeles dunkle Augen funkeln herausfordernd in unsere kleine Runde. »Keine Beweise bedeuten nicht, dass Thies es nicht gewesen ist. Er hatte ein Motiv und genügend Zeit.«
»Wen hat er denn …?« Vor Anspannung beiße ich mir auf die Lippen, während über mir ruckartig das Schlurfen verstummt. Kann dieser Thies unser Gespräch mithören? Im Flüsterton fahre ich fort. »Erzählt mir sofort alles!«
Verschwörerisch beugt sich meine Freundin vor und winkt mich zu sich heran. »Thies Kruse soll seine Ehefrau zerstückelt haben. Susanne Kruse. Das muss ein Jahr her sein. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen.«
»Hat er sie nicht erschossen?« Gerrit schnalzt mit der Zunge, als ahme er den Schuss nach.
»Erst erschossen, dann zerstückelt«, korrigiert Neele. »Als Jäger weiß er, wie man seine Beute unauffällig entsorgt.«
»Mir wird schlecht.« Rücklings lege ich mich auf den Laminatboden und starre an die sich drehende Zimmerdecke. Wohnt über mir ein Frauenmörder? Weiß die Polizei, wo der Kruse sich befindet?
Lauthals lache ich über meine panischen Gedanken. Natürlich weiß die Polizei, wo er sich befindet. Dies ist schließlich kein Thriller.
»Siehst du, Neele, ich habe es dir gesagt. Keine gute Idee. Jetzt wird Rike Albträume von ihm haben.« Fürsorglich fächert Gerrit mit der Hand vor meinem Gesicht herum. »Dabei sollte sie lieber von heißen Fischern träumen, mit denen ihre Mutter sie verkuppeln will.«
Stöhnend lege ich mir die Arme zum Schutz vor der grausamen Welt über die Augen. »Nur einer von der Liste ist Fischer. Den Beruf meiner anderen potenziellen Ehemänner kenne ich nicht. Sonntag wird sie mir alles erzählen. Meine Mutter hat unseren Hochzeitstermin bestimmt schon festgelegt.«
»Warum erzählst du ihr auch den wahren Grund für deine Rückkehr?« Energisch stößt Neele mein Bein mit dem Fuß an und steht auf. Von hier unten wirkt sie wie eine Riesin mit pinken Lippen. »Du hättest von Luftveränderung sprechen sollen. Wegen deiner Gesundheit. Dann wäre dir diese Farce erspart geblieben.« Sie greift nach meiner Hand, um mich unter einem herzhaften Gähnen hochzuziehen. »Oder sag ihr einfach, du bist lesbisch, so wie ich, und gehst mit mir in Hamburg auf Frauenjagd.«
Ich werfe mich meiner Freundin in die Arme. Ohne Neele und Gerrit wäre ein Neuanfang auf Fehmarn um einiges schwerer gewesen.
»Das ist eine gute Idee«, antworte ich ihr. »Nur würde das meine Mutter auch nicht davon abhalten, mir eine Liste mit heiratswilligen Frauen unter die Nase zu halten. Solange ich Single bin, werde ich ihrer Meinung nach niemals glücklich sein.«
Neele und Gerrit schweigen, was entweder daran liegt, dass sie beide müde sind oder sie die Ansicht meiner Mutter teilen. Von Neele weiß ich, dass sie in Hamburg eine unregelmäßige Liebelei pflegt. Und auch Gerrit hat es satt, allein durchs Leben zu gehen. Vermute ich jedenfalls, da er in Sachen Liebe wesentlich verschlossener ist als Neele.
»Mach dir keinen Stress mit deiner Partnersuche, Perle.« Neele umarmt mich ein weiteres Mal, dieses Mal besonders fest. »Es ist viel wichtiger, die Spitzenunterwäsche für dich selbst zu tragen, als für deinen Partner.«
»Oder deine Partnerin.«
»Jetzt denkst du wie ich. Das gefällt mir.«
Ich verehre Neele dafür, wie sie ihre Selbstliebe zelebriert und sich für nichts geniert. Eines Tages, wenn ich groß bin, möchte ich auch so sein. Dann werde ich mit erhobenem Kinn durch Burg marschieren und mich nicht darum scheren, wer was über mich denkt.
Neele nickt Gerrit zu. »Komm, Kleiner.« Dann schiebt sie sich um die Kartons herum. »Du hast den Kruse gehört. Es ist spät. Wir sollten ins Bett gehen.«
Meinen gruseligen Nachbarn habe ich beinahe vergessen. Gänsehaut überflutet mich, als ich daran denke, dass ich ihm von nun an täglich begegnen werde. Diesem buschigen Bart, diesen garstigen Augen, dieser unbändigen Wut.
Zwischen zwei Stapeln Kartons hält Gerrit an und kramt in der Hosentasche. »Dein Ersatzschlüssel. Du solltest ein geeignetes Versteck für ihn suchen, wo Thies ihn nicht findet. Wir wollen ihm keine Gelegenheit geben, einen weiteren Mord zu begehen.«
»Fang du nicht auch noch an.«
Gerrit streckt mir die mit Wein belegte Zunge heraus und winkt mich zu sich herunter. »Glaub dem Gerücht über Thies nicht. Seine Frau soll ihn für einen jüngeren Bengel verlassen haben und mittlerweile in einem Vorort von Hamburg wohnen.«
Ich seufze erleichtert. »Das wäre mir auch lieber, als wenn sie irgendwo auf der Insel in Stückchen vergraben wäre.« Ich drücke Gerrit zum Dank und schiebe ihn anschließend in den Flur. »Danke, dass ihr gekommen seid. Und danke für eure Hilfe beim Umzug, ohne euch hätte ich das alles niemals geschafft. Das bedeutet mir sehr viel.«
»Du bedeutest uns sehr viel, Perle.« Neele steht in der offenen Tür und wirft mir unzählige Luftküsse zu. Gerrit drückt seinen Rollstuhl über die Türschwelle und fährt in die kalte Nacht. Der halb volle Mond hängt über uns am dunklen Nachthimmel, umrahmt von unzähligen Sternen, die mir jetzt erst auffallen. Der Duft von Blättern, Bäumen, Gras und Blumen umfängt mich wie einen wärmenden Mantel und mildert den Schrecken, den Thies mir eingejagt hat.
»Kommt gut nach Hause.«
Ich winke meinen Freunden, während sie das Gartenhäuschen in Richtung Rapsfeld passieren. Neele ist bereits hinter der Nachbarshecke verschwunden, als sie auf High Heels zurück zu meinem Zaun stöckelt. »Schlaf gut!«, ruft sie in einer Lautstärke, die mich zusammenfahren lässt. »Und träum was Schmutziges von deinem Feuerwehrmann!«
So ein Miststück.
Mit wedelnden Händen scheuche ich meine sogenannte Freundin vom Gehweg und schlage die Tür hinter mir zu. Einen Augenblick lang lehne ich mit schlagendem Herzen und keuchendem Atem an der Wand. Lausche, bete, flehe, dass mein Nachbar schlummernd kleine Feuerwehrwagen zählt. Als ich keine Regung im Obergeschoss vernehme, atme ich durch.
Zur Sicherheit schließe ich die Haustür mehrfach ab und überprüfe alle Fenster und Türen, ob sie verriegelt sind. Erst danach gehe ich zu Bett, während der Schein der Nachttischlampe über mich wacht.
Unter einem Dach mit einem vermeintlichen Mörder.
Willkommen daheim, Rike.