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Zwischen gebrochenem Herzen und neuen Gefühlen inmitten von Inselfeeling und Schneegestöber. Für Leser:innen von Svenja Lassen und Evelyn Kühne »Manchmal muss eine Frau tun, was sie tun muss. Auch wenn sie sich bis auf die Knochen blamiert.« Marie führt als Paartherapeutin mit ihrem Mann in Hamburg das Leben, das sie sich immer vorgestellt hat. Sie ist sich sicher, dass nichts ihre träumerische Idylle zerstören könnte. Bis sie von der Affäre ihres Mannes mit seiner Assistentin erfährt und plötzlich vor einem riesigen Scherbenhaufen steht. Verletzt und gedemütigt will sie einen Neuanfang wagen und herausfinden, was sie für ihre Zukunft eigentlich wirklich will. Dafür fährt sie über Weihnachten auf den Alpakahof ihrer Eltern nach Fehmarn. Auf der Ostseeinsel gerät sie nicht nur in ein ungeahntes Gefühlschaos, sondern muss auch ihren Glauben an die wahre Liebe neu entdecken.
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© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Cornelia Franke
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Cover & Impressum
Widmung
Triggerwarnung
Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt
Ein Jahr später.
Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens
Ein Unglück kommt selten allein
Das Leben ist zum Tanzen da
Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen
Ein Jahr später.
Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle,
denen ein wenig Herzklopfen
nicht fremd ist.
Liebe Leserinnen und Leser,
dies ist ein humorvoller Liebesroman, der sich jedoch teilweise mit dem Thema unerfüllter Kinderwunsch beschäftigt. Bitte bedenkt dies, wenn ihr das Buch beginnt.
(Wilhelm Busch)
Mit meinem grünen Smoothie in der einen Hand und der Handtasche in der anderen stürme ich durch die Tür ins Wartezimmer. In aller Eile trete ich mir die feuchten Stiefel auf der Fußmatte ab, bevor ich an den Tresen gehe. Babsi wirft mir unter ihrer schwarzen Lockenmähne einen vorwurfsvollen Blick zu, aber dafür habe ich sie eingestellt. Ohne sie hätte ich längst die Übersicht über meine Termine verloren. Da sie das Telefon und den Kalender wie eine Amazone bewacht, kann ich mich auf meine Klienten konzentrieren.
»Die Grünings warten seit zehn Minuten.« Ihre Stimme klingt rau, als hätten ihre Kinder sie letzte Nacht wieder nicht schlafen lassen. Sie sollte endlich mit ihrem Mann darüber sprechen, dass er sich im Alltag mehr einbringen muss.
Ein schneller Blick zur Uhr hinter ihr an der Wand bestätigt ihre Aussage. Ich bin zu spät. Doch davon geht die Welt nicht unter. Wer sich morgens stressen lässt, wird den Tag über nicht ruhiger werden.
Ich schenke meiner Assistentin mein schönstes Lächeln, um das faltige Chaos auf ihrer angespannten Stirn zu besänftigen. Als das nicht funktioniert, überreiche ich ihr einen der Toffees aus der bunten Schale vor ihr auf dem Tresen.
»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, liebste Babsi.«
»Moin.« Grinsend nimmt sie das Karamell entgegen. »Ich habe die Grünings mit Kaffee versorgt.«
»Du bist ein Engel.«
Babsi öffnet die Arme und ich gebe ihr meinen Mantel, der vom Hamburger feuchtkalten Winter durchnässt ist. Mit einem verschwörerischen Blick winkt sie mich zu sich heran. »Herr Grüning scheint mir ziemlich grantig. Das wird heute nicht einfach für dich werden.«
»Danke, Liebes.« Zwinkernd trinke ich einen Schluck des grünen Lebenssafts aus meiner gläsernen Trinkflasche. »Aber noch habe ich jeden Suchenden zufrieden gestimmt. Wir wollen doch nicht die Statistik aus den Augen verlieren, nicht wahr?«
Mit meinem Mantel auf den Armen hält Babsi beide Daumen hoch, während ich mich zur Tür begebe.
»Ach …« Ehe ich meinen Tempel betrete, drehe ich mich zu ihr um. »Es geht mich zwar nichts an, doch falls du mit Christian zu mir kommen willst, ich habe immer ein offenes Ohr für euch.«
Babsis müde Augen leuchten, nur um gleich wieder hinter einem Schatten zu verschwinden. »Danke, für dein Angebot.« Sie hängt meinen Mantel neben ihren in den Schrank hinter dem Tresen. »Aber mein Mann würde sich niemals mit einer Fremden über unsere Beziehung unterhalten.«
»Ich? Eine Fremde? Wie lange kennen wir uns, Babsi?«
»Über zehn Jahre«, sagt sie lächelnd.
»Siehst du.« Ich proste ihr mit meinem grünen Smoothie zu. »Überleg es dir. Ich kann helfen. Ich bin gut in meinem Job.«
»Du bist die Beste!«
Stimmt. »Bring deinen Mann mal mit, damit er mich besser kennenlernen kann. Er wird sich sicher wohlfühlen.«
»Du hast recht«, antwortet sie mir, obwohl ihre müden Augen etwas anderes sagen.
»Wir kriegen das hin.« Männer sind in der Regel der schwierigste Part meines Berufs. Sie öffnen sich langsamer bei intimen Themen als Frauen. Aber bisher habe ich jede sture Nuss geknackt.
Tief atme ich ein, setze ein freundliches Lächeln auf und öffne die Tür.
Ein abgestandener Duft nach Zimt und Zedern quillt mir entgegen, als ich meinen Tempel betrete. Das strahlende Gelb der Wände begrüßt mich und hebt meine Laune weiter an. Draußen ist der Himmel grau, aber in meinem Tempel brauche ich keine Gewitterwolken.
Von den Meditationskissen in der hinteren Ecke blicken mich die Grünings erwartungsvoll an. Sie sitzen direkt unter dem Mandala in Blautönen, das ich von Julius zur Eröffnung meiner Praxis bekommen habe.
Herr Grünings Augenbrauen hängen tief in seinem unrasierten Gesicht. Er reiht sich damit in eine lange Schlange von Männern ein, deren Skepsis es in der ersten Sitzung abzubauen gilt. Als sein Blick auf meinem bunten Strickmantel aus verschiedenfarbigen Patches hängenbleibt, verzieht er die Lippen zu einem dünnen Strich. Er erinnert mich dabei an meine Schwester, wenn ich das Mittagessen nicht nach ihrem Geschmack zubereitet hatte.
Tasche und Smoothie stelle ich auf dem Schreibtisch ab. Frau Grüning kaut an ihren Nägeln, während ich über den rot-blauen Gabbeh auf sie zugehe, um ihr die Hand zu reichen.
»Guten Morgen, entschuldigen Sie meine Verspä-«
»Nicht schlimm«, unterbricht sie mich mit einer piepsenden Stimme. »Machen Sie sich keine Gedanken.«
»Sie sind zu spät!« Ihr Mann zerdrückt mir bei unserer Begrüßung fast die Hand. »Ich habe mir extra den Vormittag freigenommen und Sie tauchen nicht auf? Wir warten bereits seit einer Ewigkeit.«
»Ich verstehe Sie.« Bei derart viel negativer Energie brauche ich Unterstützung. Von der Kommode aus Mahagoni neben meinem Schreibtisch greife ich nach dem Tablett, das ich für die besonders kritischen Klienten bereithalte.
»Kristall, Herr Grüning?« Er sieht mich an, als serviere ich ihm eine Qualle zum Frühstück. »Nehmen Sie irgendeinen Stein, der Sie anspricht. Verlassen Sie sich auf Ihre Intuition.«
Er zögert.
»Kommen Sie. Kristalle beißen nicht.«
Seufzend langt er nach einem kleinen Stein mit tiefblauer Marmorierung.
»Ah, der Lapislazuli … Interessant. Eine gute Wahl. Er schenkt Optimismus, hilft gegen schlechte Gewohnheiten und löst seelische Blockaden.«
»Seeli-, was?« Klirrend landet der Kristall zurück auf dem Tablett und bringt meine Anordnung durcheinander. Herr Grüning quält sich von dem bunten Meditationskissen hoch. »Hast du mich zu einer Hexe geschleppt? Bist du närrisch?«
»Aber nein, Herr Grüning … Bitte! Ich bin studierte Psychologin.« Mit einer knappen Handbewegung weise ich ihn an, sich wieder zu setzen. »Kristalle sind dafür bekannt, unter anderem das Nervensystem zu beruhigen. Sie dienen uns als Unterstützung im Leben. Ich gebe meinen Klienten gern ein wenig Starthilfe, denn das Erstgespräch ist für viele Paare besonders aufregend.«
Lächelnd halte ich seiner Frau das Tablett hin, von dem sie zögerlich einen milchig-trüben Stein mit rosa Färbung nimmt.
»Oh, der Rosenquarz. Planen Sie eventuell schwanger zu werden?«
Frau Grüning umschließt den Kristall mit den Fingern wie einen Schatz. »Ja, das auch, aber deswegen sind wir nicht hier.«
»Gut, dann lassen Sie uns beginnen.«
Mit dem Stabfeuerzeug zünde ich das Räucherstäbchen auf der Kommode und die dahinterstehenden Kerzen an. Anschließend setze ich mich gegenüber meinen Klienten im Schneidersitz auf mein violettes Meditationskissen.
Bei Herrn Grünings verstörter Miene hätte ich angenommen, dass er und seine Frau die Stühle vor meinem Schreibtisch als Sitzplatz wählen, doch es zeugt von Offenheit, gleich bei der ersten Therapiesitzung auf den Kissen Platz zu nehmen.
»Lassen Sie uns gemeinsam atmen.«
Herr Grüning wirkt mit seinen zusammengekniffenen Lidern, als würde er jeden Moment aus meiner Praxis stürmen. Aber seine Frau greift nach seiner Hand und scheint ihn mit ihrem vielsagenden Blick zu beruhigen.
»Richtig zu atmen, löst eventuelle Spannungen, die sie mitgebracht haben. Es ist mein übliches Vorgehen, ehe wir mit der Beratung beginnen. Schließen Sie bitte beide die Augen.«
Mit geschlossenen Lidern nickt Frau Grüning. Ihr Mann dagegen schnauft wie eine Lokomotive. Er ist nicht der Erste, der sich mit jeder Faser gegen meine Methoden sperrt, aber auch er wird mit der Zeit erkennen, wie gut sie ihm tun.
»Wir atmen tief durch die Nase ein.« Ich demonstriere meinen Klienten, was ich meine, und hole Luft. »Dann halten wir den Atem einen Augenblick an und lassen ihn durch den Mund wieder gehen.«
Die Grünings atmen, wie ich es ihnen vorgebe.
»Das Ganze noch einmal, bitte. Tief einatmen – Halten! – und wieder ausatmen.«
Als ich die beiden ansehe, lächelt Frau Grüning. Ihr Mann betrachtet mich noch immer wie eine Verrückte.
»Wir hätten zu diesem Bock am Jungfernstieg gehen sollen«, raunt er. »So, wie ich es vorgeschlagen habe. Ich kann uns dort einen Termin holen, wenn du willst.«
»Scht, Peter! Sie soll auf ihrem Gebiet die Beste sein.«
Das bin ich.
Ich falte die Hände im Schoß. »Bitte erzählen Sie mir, weshalb Sie zu mir gekommen sind.«
Stille. Die übliche Reaktion auf meine Frage. Seit Schulzeiten hat sich in den Köpfen meiner Klienten nichts geändert. Niemand möchte anfangen. Nun heißt es, geduldig und freundlich zu sein, bis einer von ihnen …
»Wir …«, beginnt Frau Grüning, so, wie ich es erwartet hatte. Vermutlich hat sie ihren Mann zu dieser Paartherapie angeregt. »Wir sind seit zwei Jahren verheiratet – glücklich verheiratet. Wir lieben uns. Nicht wahr, Peter?«
Ihr Mann nickt.
Erneut breitet sich Schweigen in meinem Tempel aus. Vielleicht hätte ich zusätzlich Sandelholz räuchern sollen, um die Nervosität im Raum mehr einzudämmen.
»Was darf ich für Sie tun, wenn Sie beide glücklich verheiratet sind?«
»Wir …« Verlegen sieht Frau Grüning ihren Mann an. »Besser gesagt, ich, ich möchte an unserem Liebesleben arbeiten, bevor unsere Ehe darunter leidet.«
Das unzufriedene Brummen von Herrn Grüning taucht die Wangen seiner Frau in ein zartes Rosa.
»Bitte, reden Sie weiter, Frau Grüning. Mein kleiner Tempel ist ein sicherer Ort. Hier muss sich niemand seiner Worte schämen.«
Sie nickt. »Wir haben einen Ehevertrag, wissen Sie? Peters Wunsch ist es, dass wir drei Mal die Woche miteinander schlafen.«
»Ich verstehe.« Mit einem wohlwollenden Lächeln versuche ich, Herrn Grüning zum Reden zu bringen.
»Sonntags, dienstags und donnerstags«, sagt er mit durchgedrücktem Rücken. »Passt hervorragend in meine Arbeitswoche.«
Ich nicke seiner Frau zu, die jedoch schweigt.
»Und drei Mal die Woche ist Ihnen, Frau Grüning, zu viel?«
»Nein!«, schießt es aus ihr heraus. »Ganz und gar nicht.«
»Gut. Was ist es dann? Weshalb sind Sie beide zu mir gekommen?«
»Es …« Meine Klientin scheint die passenden Worte nicht zu finden und kaut auf ihrer Unterlippe. »Es ist der Druck. Die Pflicht, genau an dem Tag um genau die Uhrzeit … bereit für unsere Liebe zu sein. Verstehen Sie? Mein Peter hat sogar die Farbe der jeweiligen Unterwäsche vertraglich geregelt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag die Farben. Besonders das dunkle Rot mit der glitzernden Spitze gefällt mir. Ich liebe rote Unterwäsche, weswegen ich dem Ganzen auch zugestimmt habe. Nur ist in unserem Liebesleben kein Raum für die eigene Fantasie oder meinen Wunsch, zusätzlich an einem anderen Tag der Woche … Sie wissen schon.«
Statt zu antworten, warte ich auf die Reaktion ihres Mannes. Für gewöhnlich rechtfertigt sich der Gegenpart und möchte seine eigene Meinung kundtun. Doch mein Klient hüllt sich in Schweigen.
»Schlafen Sie gern mit ihrer Frau?«
Herr Grüning reißt überrascht die Augen auf. »Was geht Sie das denn an?«
»Peter!«
Beschwichtigend hebe ich die Hände. »Schon gut, Frau Grüning. Ihr Mann muss sich erst an die neue Situation gewöhnen. Das verstehe ich.« Bei meinen Worten wird sein versteinerter Gesichtsausdruck keinen Deut weicher. »Ich frage deshalb, Herr Grüning, weil ich auf etwas Bestimmtes hinaus möchte. Damit wir einen Schritt weiterkommen.«
Widerwillig nickt er.
»Gut. Also?«
»Also, was?«
»Schlafen Sie gern mit Ihrer Frau?«
»Ja, verdammt. Sicher tue ich das. Haben Sie Tanja mal angesehen? Das war Liebe auf den ersten Blick. Und das ist es nach wie vor.«
Frau Grüning grinst. Das Rot auf ihren Wangen intensiviert sich. »Ich sagte Ihnen ja, dass mein Peter und ich uns lieben.«
»Wunderbar. Liebe ist eine gute Grundlage, damit ich Ihnen helfen kann. Ich gebe meinen Klienten gern Aufgaben mit an die Hand, die sie in der Zeit ausprobieren können, bis wir uns wiedersehen.«
»Sowas wie Hausaufgaben?«
»So in der Art, Frau Grüning. Sehen Sie es mehr als eine Möglichkeit, an Ihrer Ehe zu arbeiten. Denn deswegen sind Sie zu mir gekommen.«
Beide nicken. Ein gutes Zeichen.
»Ich möchte, dass sie heute Abend miteinander schlafen.«
Herr Grünings Gesicht verdunkelt sich. »Heute ist Freitag, da ist Fußball. Das geht nicht. Sex gibt es sonntags, dienstags und donnerstags. Das hatten wir Ihnen doch erzählt.« Er lehnt sich zu seiner Frau. »Ich bin dafür, wir gehen zu dem Bock. Uli hat mir viel Gutes über dessen Methoden erzählt.«
»Scht, Peter, bitte.« Frau Grünings kleine Augen strahlen. »Ich möchte hören, was Frau Thorhoven zu sagen hat.«
Ich warte einen Moment, bis ich fortfahre. »Liebe ist nicht planbar, Herr Grüning – nicht auf Dauer. Dafür ist der Mensch zu ungestüm. Selbst die, die nach einem festen Zeitplan leben. Ich verstehe, warum Sie sich vertraglich absichern wollten, glauben Sie mir. Und wie Sie sehen, will Ihre Frau sich auch an Ihre Abmachung halten. Aber sie möchte mehr von Ihnen und wenn Sie das ebenfalls möchten, würde ich Sie bitten, sich heute miteinander zu vergnügen. Außerhalb ihres geregelten Liebeslebens.«
Je mehr ich rede, desto mehr glänzt die hohe Stirn meines Klienten. Mit der Hand zieht er am Rollkragen seines schlichten Pullovers.
»Ist Ihnen nicht wohl, Herr Grüning? Soll meine Assistentin Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
Er schüttelt den Kopf, greift nach einem benutzten Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupft sich die Stirn trocken. »Es ist unglaublich heiß bei Ihnen. Als wäre man in einer Sauna.« Seufzend steckt er das Taschentuch wieder ein. »Und es riecht wie in einem Puff.«
»Peter!« Meine Klientin reißt den Mund auf. »Woher weißt du bitte, wie es in einem Puff riecht?«
»Das war … geraten.« Mit der flachen Hand wischt Herr Grüning sich ein weiteres Mal die Stirn, seine Frau lässt ihn nicht mehr aus den Augen.
»Das sind lediglich die Räucherstäbchen, Herr Grüning. Sie sorgen für Harmonie und Wohlbefinden in meinem Tempel. Das, was Sie riechen, ist der Duft nach Zimt und Zeder. Beides hilft dabei, Ängste und Anspannungen abzubauen.«
»Kann ich nicht bestätigen.«
»Herr Grüning, seit über zehn Jahren berate ich Paare, die glauben, ihre Beziehung sei gescheitert oder stehe kurz davor. Eine Paartherapie ist für viele der letzte Versuch, ihre Verbindung zu retten. Betrachten Sie mich als Ihre Kfz-Mechanikerin, die den Motor Ihrer Ehe wieder zum Laufen bringt.«
»Hörst du, Peter? Du liebst doch deinen Audi.«
»Das ist nicht dasselbe.« Herr Grüning mustert mich und den Ring an meinem rechten Ringfinger. »Wie lange sind Sie verheiratet?«
»Frag sie nicht so etwas. Das macht man nicht.«
»Wieso nicht? Sie wollte von mir wissen, ob ich darauf stehe, mit dir zu vögeln. Da kann ich ihr auch eine Frage stellen.«
»Sie müssen das nicht beantworten, Frau Thorhoven, wirklich. Der Peter ist nur gestresst, weil er außerhalb seines Kalenders mit mir schlafen soll.«
»Sprich nicht über mich, als wäre ich nicht vorhanden.«
»Tu ich gar nicht, Peter … Sehen Sie? Nervös!«
»Schon gut, Frau Grüning. Bitte missverstehen Sie mich nicht. In meiner Therapie wird niemand gezwungen, etwas zu tun. Das ist nur ein Vorschlag. Eine Übung, bei der sie herausfinden, ob es Ihnen beiden an einem anderen Tag, außerhalb Ihres Vertrages, ebenso Vergnügen bereitet. Wir wollen die Spannung zwischen Ihnen auflockern. Den Druck lindern.« Ich lächle, um die aufgebrachte Stimmung zu mildern. »Und, um Ihre Frage zu beantworten, Herr Grüning, heute ist mein 19. Hochzeitstag.«
Der einzige Termin, neben dem Geburtstag meines Mannes, an den Babsi mich nicht erinnern muss.
»Respekt!« Anerkennend nickt er mir zu. »Führen Sie eine glückliche Ehe?«
»Peter, bitte! Das geht zu weit.«
»Kein Problem, Frau Grüning. Auch das ist eine legitime Frage.« Verständnisvoll sehe ich meinen Klienten an. »Ich denke schon, dass mein Mann und ich eine glückliche Ehe führen.«
»Sie denken? Das zeugt nicht von Kompetenz.« Selbstzufrieden verschränkt er die Arme vor der Brust. Seine Frau mustert mich neugierig.
»Für mich ist die Ehe nicht gut oder schlecht, schwarz oder weiß. Sie besteht aus unendlich vielen zarten Graustufen. Einige davon sind wunderschön – atemberaubend, möchte ich sagen. Die anderen dagegen lassen einen verzweifeln oder bringen einen sogar zur Weißglut. Auf die möchte man lieber verzichten, aber auch diese gehören zu einer Beziehung dazu. Das sind alles legitime Gefühle.«
Ich muss ein Grinsen unterdrücken, wenn ich daran denke, was ich für heute Abend geplant habe. Julius und ich brauchen diese gemeinsame Auszeit mehr, als ich mir eingestehen möchte.
»In meinen 19 Jahren Ehe ist viel geschehen. Trotzdem würde ich immer wieder behaupten, dass mein Mann und ich eine gesunde und glückliche Ehe führen.«
Die Grünings betrachten einander und ich bin zuversichtlich, dass die beiden problemlos meine Übung absolvieren werden.
Nach zwei weiteren Sitzungen komme ich dazu, meinen grünen Smoothie auszutrinken. Meine monatliche Saftkur zeigt erste Wirkungen. So energiegeladen, wie ich mich fühle, werde ich mit Julius die Vertretung meiner Eltern bis Weihnachten auf Fehmarn problemlos übernehmen können.
»Babsi?«, rufe ich durch die offene Tür. »Liegt mein Handy bei dir?«
»Nein.« Ich höre, wie sie die Schranktür hinter sich öffnet. »In deinem Mantel ist auch nichts. Vielleicht in deiner Tasche? Im vorderen Fach? Darin verschwindet es immer.«
Stimmt. Babsi kennt mich besser als ich mich selbst. Ich möchte Julius eine Nachricht schicken, dass ich mich auf heute Abend freue. Er weiß nicht, dass wir nach Mathildas Einweihungsfeier für ihre neue Wohnung in die Spätvorstellung von Der Clou, einem seiner Lieblingsfilme, gehen. Dieser Abend ist für unsere Beziehung besonders wichtig. In der letzten Zeit konnten wir kaum durchatmen. Der Arbeitsalltag hatte uns beide fest im Griff und wenn wir nicht aufpassen, entfremden wir uns.
Als ich den Boden meiner Handtasche erreiche, fällt mir ein, dass ich mein Smartphone bei Cheyenne auf dem Tresen habe liegen lassen. Ich habe Julius heute früh in seine Zahnarztpraxis gefahren und muss es bei seiner Assistentin vergssen haben. Das ist zwar Pech, aber kein Hindernis. Von so einer Kleinigkeit lasse ich mir nicht den Tag verderben.
Der feuchtkalte Wind peitscht mir ins Gesicht, während ich mit meinem Rote-Bete-Saft in der Hand die klapprige Tür meines Fiat Pandas schließe. Dass der Regen durch das kaputte Dach tropft, hätte ich bereits im Sommer beheben lassen sollen. Ich habe mir fest vorgenommen, das Loch gleich morgen auf Fehmarn von einer Werkstatt beheben zu lassen. Zuerst brauche ich jedoch mein Smartphone und einen Kuss von meinem Mann, um gut in den Feierabend zu starten.
Im Treppenhaus des Gebäudes rieche ich schon das Desinfektionsmittel, das aus der Praxis in den Flur hineinströmt. Es ist bereits nach 18 Uhr, aber ich weiß, dass Julius diese Woche wieder länger arbeitet. Seit Monaten wird seine Zahnarztpraxis überrannt – ähnlich wie bei mir.
Vorsichtig öffne ich die schwere Glastür, damit ich den roten Saft nicht verschütte. Cheyenne scheint gegangen zu sein, um ihren Schreibtisch herum ist es dunkel. Wie eine Einbrecherin laufe ich auf Zehenspitzen durch den Eingangsbereich und schaue auf die Ablagefläche des Tresens. Neben dem grellen Monitor und der beleuchteten Tastatur steht ein benutzter Kaffeebecher mit Lippenstiftabdruck, zwei angebissene Muffins und eine mit bunten Klebezetteln versehene Schreibunterlage. Mein Smartphone entdecke ich nicht und ohne Erlaubnis möchte ich keine von Cheyennes Schubladen durchwühlen.
Mathilda hat mir sicher schon geschrieben, welchen Weißwein ich für die Einweihungsfeier heute Abend mitbringen soll. Ohne mein Smartphone kann ich nicht einkaufen gehen. Und wenn ich die falsche Flasche mitbringe, darf ich mir das wochenlang von ihr anhören.
Als ich aufsehe, bemerke ich, dass es seltsam still in der Praxis ist. Die Garderobe ist leer, das Wartezimmer dunkel. Keine Bohrgeräusche. Kein Brummen. Kein unangenehmes Quietschen.
Allein aus dem Behandlungsraum 1 schimmert Licht unter der Tür durch. Ich trinke einen Schluck Saft und gehe den Flur entlang vorbei an der Toilette. Meine feuchten Schuhsohlen hinterlassen schmierige Abdrücke auf dem PVC-Boden.
Wenn ich kurz ins Zimmer hineinhusche, die Behandlung kaum unterbreche, sondern nur frage, wo mein Smartphone liegt, wird Julius mir sicher nicht böse sein.
Vor der Tür bleibe ich wie angewurzelt stehen, denn ein Kichern dringt dumpf in den Flur, das sich nach Cheyenne anhört. Das unbeschwerte Lachen der jungen Assistentin würde ich überall wiedererkennen.
Warum ich nicht sofort eintrete, weiß ich nicht. Ein ungutes Gefühl bahnt sich seinen Weg in mir hoch und befeuert meinen Puls. Meine Finger fangen an, zu zittern. Mit beiden Händen halte ich meinen Saft, damit mir der Becher nicht entgleitet. Julius würde toben, wenn ich Rote-Bete-Saft auf seinem Flur verteile.
Vorsichtig halte ich ein Ohr gegen die Tür.
Nichts.
Im selben Moment komme ich mir dumm vor und schäme mich, dass ich meinem Mann eine Affäre unterstelle, nur weil seine Assistentin ein fröhliches Gemüt besitzt. Wahrscheinlich hat der Patient auf dem Stuhl gerade einen Witz gemacht.
Zur Beruhigung meiner Nerven nehme ich einen Schluck und lenke meine Gedanken in eine positive Richtung. Mein Mann liebt mich. Ich liebe ihn. Wir haben zwar länger nicht mehr miteinander geschlafen, trotzdem führen wir eine gesunde Ehe. Wir vertrauen einander und haben uns ein gemeinsames Leben aufgebaut. Wir feiern heute unseren 19. Hochzeitstag und sind glücklich. Wir beide sind glücklich.
Um meine innere Unruhe zu überlisten, atme ich tief durch und zähle leise bis fünf. Als meine Hand den Türknauf erreicht, bleibt mir für einen Moment das Herz stehen. Mit ausgestrecktem Arm verharre ich vor der Tür.
Julius lacht leise.
Ich kenne dieses Lachen. Dieses lässig erregte Lachen. Zwar hatte er es lange nicht mehr benutzt, aber ich weiß, wem es gehört. Wenn mein Mann sich an mich kuschelt und anfängt, mich zu streicheln, und seine Finger unter meinem Unterhemd hinaufwandern, lacht er auf genau diese Art und Weise.
Erschrocken halte ich die Luft an. Ich fühle mich, als würde ich aus meinem Körper treten und mitansehen, wie ich vor der Tür stehe, während mein Mann sich dahinter an seine Assistentin heranmacht.
Julius stöhnt, gefolgt von einem tiefen Sehnsuchtsseufzer. Cheyenne dagegen reiht sich mit lustvollen Geräuschen ein, bei denen sich mir vor Wut die Nackenhaare aufstellen.
Bis eben hatte ich noch gehofft, ich halluziniere oder werde bloß verrückt. Mit beinahe 45 Jahren kann man durchaus den Verstand verlieren, bei all dem Mist, der auf der Welt geschieht. Aber zu meinem Leidwesen ist mein Verstand klarer denn je. Und mich plagt nur ein Gedanke: Tür öffnen! Öffne diese verdammte Tür!
Andererseits könnte ich umdrehen und flüchten. Aus der Zahnarztpraxis stürmen und vorgeben, ich hätte nicht gehört, wie mein Mann und seine Assistentin sich hinter meinem Rücken vergnügen.
Ein schaler Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Übelkeit steigt in mir auf, als ich den Ehering an meiner rechten Hand betrachte. Ein schlichter Silberring. Genauso, wie Julius es sich gewünscht hat.
Mir wäre Gold lieber gewesen.
Alles in mir wehrt sich dagegen, wegzulaufen.
Ich brauche Gewissheit. Wie ferngesteuert drehe ich am Türknauf, den ich zusammen mit Julius für seine Praxis ausgesucht habe.
Atemlos blicke ich in den Behandlungsraum 1.
Mit heruntergelassener Hose steht mein Mann vor der weißen Kommode. Sein himmelblauer Wollpullover aus Kaschmir, den ich ihm letztes Jahr mit dem passenden Schal zu Weihnachten geschenkt habe, verdeckt einen kleinen Teil seines nackten Hinterns. Mit geröteten Wangen sieht er mich an, die hellgrünen Augen weit aufgerissen.
Wie benommen gehe ich ihm entgegen, bis ich den Untersuchungsstuhl erreiche.
Ein schrilles Quieken ertönt. Cheyenne sitzt auf der Kommode und klebt mit gespreizten Beinen an meinem Mann. Wie eine Zecke, die sich festgesaugt hat.
»Seid ihr bescheuert?«
Zorn, Trauer und Angst sind eine gefährliche Kombination. Mit der freien Hand greife ich nach dem Erstbesten, das ich finde; bewerfe beide mit den Einzelteilen des Zahnpflege-Sets, das für den nächsten Patienten bereitliegt. Doch das Klirren der Dentalwerkzeuge auf dem hellen PVC-Boden geht in meinen Schreien, meinem Kreischen, meinem Flehen unter.
»Ihr macht alles kaputt!«, brülle ich ihnen entgegen. Meine Lunge brennt wie Feuer. »Unsere ganze, verdammte Ehe, Julius … Bedeutet dir das gar nichts? Du wirfst uns einfach weg?«
Julius bittet mich inständig, mich zu beruhigen. Er stellt sich vor seine Assistentin, als wäre sie sein wertvollster Diamant. Seine verlogenen Worte prallen an meinen Tränen ab, die mir wasserfallartig über die Wangen laufen. Ich fordere Gerechtigkeit, verlange Erklärungen, will meine Jugend und die letzten 25 Jahre meines Lebens zurück. Aus lauter Wut schmeiße ich meinen Smoothie nach ihnen, der beide von oben bis unten mit Rote-Bete-Saft bedeckt.
Cheyenne weint wegen ihrer Seidenbluse, Julius redet beschwichtigend auf sie ein. Nichts davon verschafft mir Befriedigung. Weder ihre Tränen noch ihre Verzweiflung. Das Einzige, das ich mir wirklich wünsche, ist, dass ich nach der Arbeit direkt nach Hause gefahren wäre.
(Mahatma Gandhi)
Wenn es einen Preis für chronisches Zuspätkommen gäbe, würde ich ihn jedes Jahr gewinnen. Mit meinem Spekulatius-Milchshake, der eine extra große Portion Weihnachtssirup enthält, betrete ich mein Wartezimmer. Babsi begrüßt mich mit einer hochgezogenen Augenbraue, die zu einem täglichen Ritual geworden ist. Sie will nicht allzu böse auf mich sein, aber durchgehen lassen möchte sie mir meine Unpünktlichkeit auch nicht.
»Moin, meine Liebe.« Flüsternd versuche ich, sie zu beschwichtigen, denn die Tür zu meinem Tempel ist nur angelehnt. Vermutlich waren meine Klienten im Gegensatz zu mir überpünktlich. »Entschuldige. Hab mich verfahren«, füge ich zwinkernd hinzu.
»Du wohnst seit über einem Dreivierteljahr in deiner neuen Wohnung.« Babsi nimmt mir meinen schneeflockenbehangenen Mantel ab und hängt ihn in den Schrank hinter dem Tresen.
Seit Tagen ist es eiskalt in Hamburg mit gelegentlichen Schneefällen. Die Meteorologen prophezeien uns weiße Weihnachten, was ich am liebsten verdrängen würde. Auch dieses Jahr möchte ich das Fest in eine Flaschenpost stecken und über die Alster in die Elbe schicken. Auf Nimmernimmerwiedersehen.
»Dein 9-Uhr-Termin wartet.«
Babsi sieht müde aus; selbst ihre schwarze Lockenmähne hängt ihr lustlos über die Schultern. Ich wünschte, sie würde meinem Rat folgen und mit ihrem Mann in meinen Tempel kommen. Aber das letzte Mal, als ich sie darauf angesprochen habe, ist sie mir ausgewichen und hat die Überstunden ihres Mannes als Ausrede benutzt. Langsam habe ich das Gefühl, dass es ihr nicht recht ist, wenn ich mit ihr über ihre Ehe spreche.
»Die Adlers, richtig?«
Babsi nickt und hält mir die Schale mit den Toffees hin. Kurz überlege ich, dem Zucker zu widerstehen, denn üblicherweise mache ich vor Weihnachten eine monatliche Saftkur. Aber … Mein Blick fällt auf den besonders cremigen Milchshake in meiner Hand. Wem will ich etwas vormachen?
Vier Bonbons greife ich mir und stecke sie für später in die ausgebeulte Tasche meines bunten Strickmantels.
Babsi sieht mich überrascht an, sodass ich mir eine Ausrede aus den Fingern sauge. »Der Zucker bereitet mich auf den leckeren Marmorkuchen meiner Großmutter vor.« Dabei setze ich ein breites mir-geht-es-gut-Lächeln auf.
»Ja, genau.« Mit einem Hauch von Mitleid schaut Babsi mich an. So, wie sie mich ungefähr seit einem knappen Jahr jeden Tag ansieht. »Das alljährliche Alpakafarm-Sitting steht an. Das wird dir guttun. Wann fährst du auf die Insel?«
Ich werfe einen Blick auf die Uhr.
»Noch heute, nach der letzten Sitzung.«
Für gewöhnlich fand ich es zeitraubend, in Abwesenheit meiner Eltern die Feriengäste auf dem Lindenhof zu betreuen. Immerhin habe ich Klienten, die ohne meine Hilfe verloren sind. Gerade zu Weihnachten häufen sich Notfälle wegen Streitigkeiten oder Trennungsgefühlen. Aber nachdem, was letztes Jahr zwischen Julius und mir geschehen ist, freue ich mich darauf, meinen Erinnerungen für ein paar Tage zu entkommen und nach Fehmarn zu fahren.
Als ich mich vom Tresen abwende, um in meinen Tempel zu gehen, hält Babsi mich zurück.
»Wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da, Marie. An den Feiertagen allein zu sein, ist das Schlimmste, was einem geschehen kann. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.«
»Dein Mann ist Arzt. Rufbereitschaft ist nicht dasselbe, wie getrennt leben, trotzdem danke für deine Worte. Ich weiß das zu schätzen. Mir geht es gut – wirklich!« Ich drücke ihr die Hand und lächle meine Sorgen weg. Meine neue Allzweckwaffe gegen aufsteigende Unsicherheit. »Außerdem werde ich nicht allein sein. Meine Schwester, meine Neffen und meine Großeltern sind da, dann die Gäste und natürlich die Alpakas. Eine schönere Erholung kann ich mir nicht vorstellen.«
Dass Julius und ich für dieses Jahr eine Reise nach New York geplant hatten, um dort unseren 20. Hochzeitstag zu feiern, verschweige ich. Wir wollten uns den Weihnachtsbaum am Rockefeller Center ansehen und auf der Eisbahn davor Schlittschuhlaufen.
Beim Gedanken daran steigen mir die Tränen in die Augen. Ich wende mich ab, gehe zur Tür meines Tempels und atme tief durch. Noch ein paar Sitzungen, dann fahre ich los. Nur noch ein paar Sitzungen.
»Moin«, rufe ich zuversichtlich in den Raum. Das Ehepaar Adler sitzt mit Kaffee in der Hand auf den Stühlen vor meinem Schreibtisch. »Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.«
Nach einer freundlichen Begrüßung zünde ich Kerzen und ein Räucherstäbchen mit weißem Salbei an, das mir helfen soll, meine negative Energie und die des Tempels abzubauen. Danach nehme ich vor meinen Klienten Platz. Den Spekulatius-Milchshake stelle ich neben meiner Tastatur bereit. Trotz allem, was mich privat belastet, versuche ich, positiv eingestellt zu sein. Wenn es mir nicht gut geht, geht es meinen Klienten auch nicht gut. Und das ist schlecht für meine Praxis und meinen Ruf.
Das zufriedene Gesicht des Buddhas in dem Bilderrahmen hinten an der Wand, das ich gegen das blaue Mandala von Julius ausgetauscht habe, gibt mir Zuversicht, dass auch dieser Tag ein guter werden kann.
»Erzählen Sie bitte. Wie ist es Ihnen bei Ihrer letzten Übung ergangen? Konnten Sie beide mehr Nähe zueinander aufbauen?«
Das Ehepaar Adler sieht sich unentschlossen an.
Es wäre nicht das erste Mal, dass einem Paar eine Annäherung misslungen ist. Das ist kein Grund, aufzugeben.
»Seien Sie nicht enttäuscht, wenn es nicht gleich beim ersten Versuch funktioniert hat. Das kann passieren. Sie beide sind über 40 Jahre verheiratet. Verlorene Intimität wieder aufzubauen, braucht Zeit und Geduld. Druck ist da der falsche Weg. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine wei-«
Frau Adlers Hand schnellt in die Höhe. Ihre Finger sind mit mehr Klunkern bestückt, als ich Kristalle auf dem Tablett habe. »Das ist es nicht, Frau Thorhoven.« Sie fixiert ihren Mann und gibt ihm nickend ein Zeichen, das ich nicht deuten kann.
»Nicht? Was ist es dann? Sie können mir alles sagen, Frau Adler. In meinem Tempel sind wir ganz unter uns, das wissen Sie. Ehrlichkeit wird bei mir hoch angesehen.«
Herr Adler atmet schwer. Erst schaut er seine Frau an, danach mich. »Irma und ich haben Bedenken. Also, wegen unserer Therapie.«
»Bedenken? Geht es Ihnen zu schnell? Dafür habe ich Verständnis. Wir können uns einer anderen Strategie widmen, die sie langsa-«