Die Möwen von Fehmarn: Kampf um den Südstrand - Rebecca Schulz - E-Book

Die Möwen von Fehmarn: Kampf um den Südstrand E-Book

Rebecca Schulz

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Beschreibung

Mattis und seine Wilden sind zurück! Gemeinsam mit Svea und den Seidenfedern treffen sie an der Ostsee auf alte Bekannte und neue Freunde. Zwischen unseren Möwen entbrennt ein mörderisches Abenteuer, in dem sie um ihren Südstrand auf Fehmarn kämpfen.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Rebecca Schulz

Die Möwen von Fehmarn

Kampf um den Südstrand

 

Band II

 

Möwenkrimi

 

 

 

 

Für Wolle.

 

 

 

 

 

 

Liebe Leserinnen und Leser,

schön, dass wir uns gefunden haben!

Wenn ihr mögt, hinterlasst mir gern eine Rezension auf dem Portal eurer Wahl und besucht mich auf:

 

www.rebecca-schulz.de

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Viel Vergnügen mit den Möwen

am Südstrand von Fehmarn!

 

Inhalt

In guten wie in schlechten Zeiten

Tote Möwe

Ein Mörder auf Abwegen

Eine Rebellion will geplant sein

Auf der Suche nach der Wahrheit

Rebellieren ist leichter gekreischt als getan

Auf den Spuren des Mörders

Tod in den Dünen

Auf der Flucht

Die Sturheit der Möwen

Teufelsmöwen Training

Das Böse ist näher als man denkt

Kampf um den Südstrand

Mensch ärgere dich

 

 

 

 

 

~Mattis~

In guten wie in schlechten Zeiten

- Appartementhaus Strandburg. Südstrand -

 

 

 

 

Der Strandläufer schrie, als ginge es um Leben und Tod. Seine Finger krallten sich in das orange-weiße Papier der Brötchentüte, mit der freien Hand schlug der Mann nach Pit und Fiete. Die beiden Möwen attackierten ihn gleichzeitig von zwei Seiten, flatterten wild mit den Flügeln, während sie ihn wie Wirbelwinde umkreisten und taktisch verwirrten.

Mattis hockte hinter einem Hagebuttenstrauch auf der Düne, die an die Promenade grenzte. Er wusste, dass das Doppelte Lottchen stets zum Ziel führte. Die frischen, weichen Brötchen würden gleich den Wilden gehören, trotzdem bangte er um die Unversehrtheit seiner Freunde.

Je länger Mattis das Mensch ärgere dich vor dem Appartementhaus Strandburg verfolgte, desto mehr wuchs sein Mitleid mit dem Strandläufer; die Wangen puterrot, der zornige Mund empört aufgerissen, Spucke flog in weitem Bogen daraus hervor. Er war Pit und Fiete restlos ausgeliefert. Sie hatten das Doppelte Lottchen vom alten Jupp derart perfektioniert, dass die Hand des Mannes immer in die Luft griff anstatt ihre Federn und Schnäbel zu packen. Diese Mittagsbrötchen der Bäckerei Börke würden seine Familie nicht mehr erreichen.

Für eine bessere Sicht auf die Promenade schob Mattis einen dornigen Zweig aus dem Weg. Ein paar Schwalben, sie trugen elegante Gefieder, als würden sie auf einen Ball gehen wollen, hüpften auf den Geländern der Balkone herum. Das Schauspiel vor ihnen würdigten sie mit lautem Gepfeife. Ihnen gegenüber auf der Silberlinde saß Berti wie ein übermütiger Jungvogel. Seine aufgeschwemmte Leibesmitte wackelte, während er jubelnd die schwarzen Flügel ausbreitete. Seinen hellgelben Schnabel mit rotem Gonysfleck öffnete er ebenso weit wie der Strandläufer den wütenden Mund.

Anders als Berti verfolgte Haui neben der Mantelmöwe das Geschehen, als sähe er einer erbitterten Schlacht zu. Den rötlichbraunen Schnabel zusammengepresst, mit seinem linken (dem guten) Auge verfolgte er Fiete und Pit ähnlich einem Greifvogel kurz vor dem Angriff.

Die Zwergmöwe derart aufgewühlt und grantig zu sehen, versetzte Mattis einen Stich in die gefiederte Brust. So sehr er es sich auch wünschte, er war nicht in der Lage, Hauis schlechte Laune zu ändern.

»Vorsicht, Kleiner!«, krächzte Berti, wobei er aufgeregt mit den Flügeln wedelte. »Pit, mehr nach links. Achtung! Schnapp dir die Tüte! Schnapp dir die verdammte Tüte!«

Gesagt, getan.

Langfeder Pit grub den roten Schnabel in die Brötchentüte, warf den schwarzbraunen Kopf ruckartig zurück, zerrte am Papier und schwang die hellgrauen Flügel, um an Höhe zu gewinnen. Fiete flog dem Strandläufer ins unrasierte Gesicht, das mittlerweile wie eine Straßenlaterne glühte. Mit beiden graubraunen Flügeln schlug er dem Brötchenhalter gekonnt auf die Wangen.

Links, rechts, links, rechts, wieder und wieder.

Mattis biss den Schnabel zusammen, betete zum großen Njörd, dass Fiete nichts geschah.

Wie ein tollwütig gewordener Bär brüllte der Strandläufer, notgedrungen gab er die Tüte frei und schnappte nach der jungen Silbermöwe. Um eine Feder hätte er Fiete beinahe geschnappt. Er entwischte jedoch den gierigen Händen des Mannes und stieg in die Höhe, während Pit die Brötchen kaperte. Nur mit Mühe hielt er die schwere Papiertüte im Schnabel. Je länger Mattis seinem Freund bei dem Brötchentütentanz zusah, desto mehr drohte sein Herz aus dem Gefieder zu springen.

Der Strandläufer packte nach Pit, hatte ihn fast erwischt, da sank die kleine Lachmöwe mit der Beute geschwind in Deckung. Pit setzte auf den warmen Steinen der Promenade auf, nur um sich kraftvoll abzustoßen und davonzufliegen.

Hörbar atmete Mattis auf.

Unversehrt folgte Pit der jungen Silbermöwe über das rote Dach der Strandburg in Richtung Parkplatz, um die Brötchen auf ihrem Schlafast auf der alten Eiche zu deponieren.

Was für ein Schaukampf. Ein Mensch ärgere dich wie Mattis es lange nicht mehr gesehen hatte. Selbst auf der überfüllten Promenade hatte es sich gestaut. Mit ihren Smartphones und gaffenden Blicken standen die Strandläufer beieinander, staunten, lachten, zeigten mit Fingern.

Vor sich hin zeternd stapfte der Beraubte zurück in die Bäckerei. Bei diesem Anblick sackte selbst Berti wie ein Häufchen Federn auf dem Ast zusammen.

»Das war knapp.« Die Mantelmöwe schnaufte, als wäre sie selbst beim Doppelten Lottchen mitgeflogen. »Hast du das gesehen, Haui? Unsere Langfeder und den Kleinen kann niemand aufhalten.«

Was Haui aus dem zusammengebissenen Schnabel hervorstieß, bekam Mattis nicht mit. Es konnte jedoch nichts Gutes sein, so wie Bertis weißes Gesicht sich verfinsterte. Die Mantelmöwe baute sich vor der kleinen Zwergmöwe auf, als gäbe es gleich einen deftigen Zweikampf.

»Wiederhole das, wenn du dich traust!«

Haui schwieg. Ein Schweigen, bei dem Mattis mit jedem Augenblick regelrecht zusammenschrumpfte, denn er ahnte, was in seinem Freund vorging. Auf einmal kam ihm sein Hagebuttenstrauch wie ein stacheliges Gefängnis vor. Äste als Gitter, Dornen für die spitzen Schnäbel der Wärter, die ihn gnadenlos triezten. Ein dunkler, kalter Ort auf der Düne, obwohl die Mittagssonne am wolkenfreien Himmel über ihm brannte.

Erst als Fiete und Pit sich neben Berti auf dem Ast der Silberlinde niederließen, traute Mattis sich, zu den Wilden hinaufzuspähen. Berti begrüßte sie, als hätte er sie tagelang nicht gesehen.

»Ich habe gewusst, dass das passiert«, fluchte Haui dazwischen.

Mattis strengte sich an, um kein Wort zu verpassen. Immer mehr Strandläufer strömten auf die Promenade, um an den Sandstrand zu gelangen und in die Ostsee zu springen. Zwei Kinder kreischten lauter als Alina von den Seidenfedern. Sie rannten um den grünen Bollerwagen ihrer Eltern herum und spielten fangen, als gehöre der Südstrand nur ihnen. Mattis kniff die schwefelgelben Augen zusammen und konzentrierte sich auf das Gespräch zwischen den Wilden.

»Was meinst du, Haui?« Fiete strahlte über das graubraune Gesicht, da Berti ihm anerkennend auf den Rücken klopfte.

»Hört nicht auf die missgestimmte Miesmuschel. Haui will über Mattis herziehen. Lasst uns lieber zur Eiche fliegen und die Brötchen vernaschen.«

Pit kratzte sich am breiten Bürzel. »Du bist auf Diät, Fridbert. Du selbst hast mir verboten, dir die butterweichen, überaus leckeren, vorzüglich duft–«

»Nenn mich nicht so!«, schimpfte Berti. »Fridbert heißt mein Vater. Hätte ich mit der dämlichen Diät bloß nicht angefangen.«

»Du hast so lange durchgehalten«, munterte Fiete ihn auf.

»Nicht mal zwei Tage«, korrigierte Pit. Im selben Moment duckte er sich, um Bertis Flügelschwinger auszuweichen, der knapp über seinen schwarzbraunen Kopf hinwegzischte. »Aber Stimmungsschwankungen hast du wie bei einer Dauerdiät.«

»Was soll ich machen? Mein Herz schmerzt, mein Bauch macht Geräusche, als fräße er die anderen Organe. Ständig habe ich Hunger – auch jetzt. Ich könnte euch alle gleichzeitig fressen.« Suchend sah Berti sich um. »Ich muss … Ich brauche … Dort!«

Kopfüber stürzte er vom Ast der Silberlinde und steuerte auf eine Mülltonne am Strandeingang zu, deren Deckel offenstand. Die Tonne verschluckte ihn, als wäre er ihr Mittagessen und nicht andersherum. Plastik- und Papiermüll flogen aus der Öffnung, bis Berti glücklich aufschrie.

»Ich habe gewusst, dass das passiert!« Haui wirkte verstörter als vorher, was Mattis nicht für möglich gehalten hätte. »Ich habe gewusst, dass wir ihn verlieren, wenn er zu den Ältesten geht.«

»Hast du nicht.« Pit hüpfte neben ihn und knuffte seinen Freund in den Flügel. Haui bewegte sich nicht, sondern starrte ins Leere. »Niemand hätte das voraussehen können, nicht einmal der alte Jupp. Und der hat sogar die Morde an den Hybriden vorausgesagt, wenn man den Worten von Kumpel Fasan glauben mag.«

Haui kehrte Pit den Rücken zu und schaute in Richtung Burgtiefe, wobei er die Flügel lüftete.

»Wo willst du hin?« Pit rückte näher an ihn heran.

»Das geht dich nichts an.« Ruppig drängte Haui die Lachmöwe zurück an ihren Platz. »Und rück mir nicht auf die Federn. Du riechst nach Strandläufer.«

»Willst du wieder zu Lutger fliegen?«

Haui schwieg, dabei fixierte er Pit wie einen Feind, der ihm die Federn rupfen wollte.

»Tu das nicht.« Pit hob einen hellgrauen Flügel und deutete in Richtung des Yachthafens. »Der Kormoran saugt dir jegliche Freude aus. Jedes Mal, wenn du zurückkommst, geht es dir schlechter als vorher. Der Vogel ist nicht gut für dich. Wir sind deine Freunde, Haui, nicht der Auftragsmörder.«

Mit dem Flügel stieß Haui Pit weiter nach hinten, beinahe wäre dieser über Fiete gestolpert, doch die junge Silbermöwe fing ihn auf.

»Was ich mache und mit wem ich mich treffe, geht dich nichts an, Langfeder. Niemanden von euch!«

»Bitte nicht streiten!«, flehte Fiete hinter Pit. Zögerlich nahm die junge Silbermöwe von beiden Abstand, bis sie mit dem Bürzel an den Stamm der Silberlinde stieß.

»Ich streite, mit wem ich will, Kleiner. Du hast mir nichts zu befehlen. Du bist nicht der neue Mattis.«

»Jetzt hack nicht auf Fiete herum! Er hat dir nichts getan. Wir alle haben dir rein gar nichts getan.« Pit streckte Haui den schwarzbraunen Kopf entgegen.

Wollte er Fiete beschützen oder Haui angreifen? Mattis hielt den Atem an und rang mit sich, ob er dazwischenfliegen und ihren Streit schlichten oder in seinem Versteck bleiben sollte.

Diese ganze Situation war absoluter Irrsinn.

Er durfte nicht mit den Wilden gesehen werden, so lautete der Befehl des Ältestenrats. Außerdem, je länger er darüber nachdachte, war es wohl keine gute Idee, sich jetzt zwischen Haui und Pit zu drängen, die ihm womöglich beide auf einmal die Köpfe ins Gefieder stoßen würden, um ihm eine Lektion zu erteilen.

»Drohst du mir etwa?« Gefährlich senkte Haui den Kopf und richtete ihn wie die Mündung einer Waffe auf Pit.

»Haui, bitte«, beschwor Pit seinen Freund. »Nicht jeder will sich mit dir prügeln! Wir sorgen uns um dich. Du bist unser Freund.«

»Freunde für immer«, fügte Fiete mit piepsiger Stimme hinzu.

Mattis’ Kehle war so trocken wie jedes einzelne Sandkorn am Strand. Zerfressen von Schuldgefühlen saß er da, den dicken Kloß, der sich in seiner Kehle anbahnte, würgte er mit aller Kraft hinunter.

Freunde für immer. Er selbst hatte diese Worte zu Fiete gesprochen, als er ihn bei den Wilden aufgenommen hatte. Als die Welt am Südstrand von Fehmarn noch in Ordnung gewesen war. Damals, ehe er die erste von Lutgers Möwenleichen entdeckt hatte. Bevor sein Vater gestorben und er selbst in den Ältestenrat eingetreten war, um einen Haufen sturer Möwen ins 21. Jahrhundert zu lenken. In eine Welt, in der Hybriden und reinrassige Möwen miteinander leben und einander lieben durften, ohne vom Rat oder einer anderen Möwe dafür verurteilt zu werden.

Beim großen Njörd! Wie naiv er gewesen war. Alles hatte sich anders entwickelt als geplant. Jetzt hockte er allein auf der Düne und wahrte den Abstand zu den Wilden, um nicht gegen die Anweisung des Rats zu verstoßen.

Freunde für immer. Drei gewichtige Worte, die Mattis’ Herz in Brand steckten, während er die Wilden weiter beobachtete.

Haui fächerte die hellgrauen Flügel weit auf und fiel von der Silberlinde. Er glitt über die grüne Wiese neben dem Appartementhaus, um am Harem vorbei bis zur alten Schlafeiche zu fliegen. Ehe er den Baum erreichte, schlug er die Schwingen, zog hoch und brauste über den Wipfel davon.

Sein Freund war fort und hinterließ eine seltsame Stille auf der Silberlinde. Fiete lehnte mit gesenktem Kopf am Baumstamm, Pit stand in der Mitte des Astes und starrte Haui hinterher. Nur Berti hing nach wie vor kopfüber in der Mülltonne, kramte nach etwas Essbarem, das seinen Hunger nach frischen Brötchen dämpfte.

»Sie werden es überstehen«, murmelte Mattis zu sich selbst, um sein schlechtes Gewissen zu bändigen. »Die Wilden überstehen alles.«

 

Die Nachmittagssonne brannte Mattis auf dem Gefieder, Hitze brachte seinen aufgewühlten Kopf beinahe zum Platzen. Im Schutze des Hagebuttenstrauchs kroch er über die Düne und schlich im Sand zur Promenade. Jedes einzelne Korn bemerkte er unter den Schwimmfüßen, als spaziere er auf glühend heißen Kohlen.

Pit und Fiete hatten sich zu Berti gesellt und halfen ihm aus der Tonne, als Mattis den Strandeingang hinter ihnen passierte. Hektisch huschte sein Blick über die Pflastersteine. Obwohl niemand ihn zu bemerken schien, quälte Mattis das dumpfe Gefühl, beobachtet zu werden.

Geschwind zog er den Kopf ein, lief zwischen den Beinen der Strandläufer hindurch, um sich hinter den langen Halmen des Strandhafers auf der anliegenden Düne zu verstecken. Einfach auf den Sandberg zu fliegen, für jedermann sichtbar, wäre zu riskant gewesen. Niemand durfte wissen, dass er sich am Südstrand aufhielt.

Schritt für Schritt schlich Mattis voran. Er zwängte sich durch die störrischen Ähren hindurch, bis er die Mitte der Düne erreicht hatte, dort, wo an Pfingsten die erste Leiche von Lutger aufgetaucht war.

Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor, dass er mit den Wilden den Mörder vom Südstrand gejagt hatte und sein Vater gestorben war. Der grauenhafte Anblick der Möwenleichen hatte sich in seine Netzhaut gefräst wie die Muschelabdrücke in die Sohlen seiner platten Schwimmfüße.

Mattis kniff die Lider zusammen, um die Erinnerungen an die malträtierten Möwenkörper – Lutgers sogenannte Kunstwerke – zu verdrängen.

Sein Ziel war der Strandkorb mit der Nummer 13, der, auf dem die Seidenfedern jede Nacht schliefen.

Hinter einem besonders üppigen Büschel Strandhafer fand er den perfekten Sichtschutz. Mit einem seiner silbergrauen Flügel schob er ein paar Halme zur Seite, um besser auf den Strand zu spähen. Die Ostsee flirtete heute in sanften Wellen mit der strahlenden Sonne. Kein Wunder, dass die Strandläufer wie Ölsardinen Handtuch an Handtuch zwischen Meer und Strandkörben gequetscht lagen. Mit ihren Habseligkeiten bedeckten sie den feinen Sand, als wären sie allein auf Fehmarn.

Inmitten der Strandkörbe, die alle in Richtung Nachmittagssonne ausgerichtet waren, kroch ein kleiner Junge umher und sammelte Muscheln, die er eifrig in einem blauen Eimer deponierte. Zwei Mädchen saßen um eine imposante Sandburg herum und drückten Mies- sowie Herzmuscheln an die Mauern. Nicht weit davon entfernt spielten Jugendliche zwischen den mäßigen Wellen mit einem braunen Ball. Jedes Mal, wenn sie ihn fingen, schmissen sie sich ins Wasser und jubelten vor Freude. Sie erinnerten Mattis an das letzte Rinderrammen, das er und die Wilden auf der Wiese vor dem IFA Hotel gespielt hatten.

Mattis fuhr beim Gedanken daran ein Stich durch die gefiederte Brust. Schnell wandte er den Blick von den Jugendlichen ab.

In der Nähe entdeckte er zwei adlige Schwäne. Sie schaukelten auf der Ostsee und begutachteten mit erhobenen Schnäbeln den Südstrand. Was die beiden Schwestern, Adelheid und Irmgard, über das ausgelassene Toben der Strandläufer im Wasser dachten, konnte Mattis sich gut vorstellen. Aber dass die Strandläufer allen Vögeln den Südstrand gestohlen hatten, interessierte ihn in diesem Moment nicht.

Sein Blick ruhte auf dem Strandkorb 13.

Dort oben stand sie. Svea. Umzingelt von zwei Möwen, zwei männlichen Möwen, die ihr ungewöhnlich nah auf die silber-schwarzen Federn rückten.

Mattis kniff den dottergelben Schnabel zusammen, um nicht laut loszukreischen. Da drehte er sich fünf Minuten um, sofort war seine Svea von Gaffern und Angebern umzingelt. Er unterdrückte sein Verlangen, zu ihr zu fliegen und den Kopf in die Bäuche der Fremden zu rammen, ohne sich vorher vorzustellen. Das würde er hinterher tun. Vielleicht. Erst wollte er ihnen seine Schädeldecke in die Organe schieben, sie zum Würgen bringen und vom Strandkorb der Seidenfedern schubsen.

Aber er durfte nicht. Er war zum absoluten Nichtstun verdammt.

Deshalb verharrte Mattis in seinem Versteck, schnappte sich mit dem Schnabel zwei Halme und rupfte sie aus dem Sand. Leise vor sich hin knurrend kaute er auf dem Strandhafer, während die Möwe, ein Hybride, Svea verwegen betrachtete. Wollte der Fremde sie vor aller Augen auf dem Strandkorb begatten?

Bei der grauenhaften Vorstellung zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Aber das Schlimmste an diesem Anblick war, dass es Svea gefiel. Sie beugte sich dem Hybriden entgegen, zwinkerte ihm ständig zu, lächelte. Ein warmes, wunderschönes Lächeln, das allein Mattis gebührte, keinem Unbekannten.

Wusste Svea denn nicht, zu wem sie gehörte?

Wenigstens wich sie zurück, als der Hybride einen heftigen Niesanfall bekam. Mattis hörte schon die Schlagzeile der Stillen Post: Vogelgrippe am Südstrand. Strandläufer sperren Promenade für großräumige Ausweisungsaktion.

Das durfte auf keinen Fall geschehen! Eher beförderte Mattis die lästige Virenschleuder eigenflügelig über die Insel und die Fehmarnsundbrücke zurück auf das Festland.

Zwei weitere Halme segneten zwischen seinem Schnabel das Zeitliche und verschafften Mattis Erleichterung. Wie leblose Regenwürmer hing das Grün zu beiden Seiten herunter. Innerlich verfluchte Mattis seine Tante Tilda und alle anderen starrköpfigen Möwen aus dem Ältestenrat. Ohne sie wäre er es, der neben Svea stehen und sie vor den lungernden Aasmöwen beschützen würde. Ohne die Ältesten wäre seine gewohnte Welt nicht zerstört worden.

Mattis schluckte hart. Übelkeit kroch seinen kurzen Hals hinauf, als die andere Möwe, eine kräftig gebaute Mantelmöwe, den krummen, schwarzen Flügel um Svea legte wie bei einer guten Freundin. Was dachte die Mistmöwe, wer sie war? Kam mit ihrem Kumpel an den Südstrand geflogen, um mal eben das schönste Weibchen aufzureißen?

Svea lehnte sich an den Fremden an, als gefiele ihr seine niveaulose Geste.

Ein unzufriedenes Grummeln entwich Mattis, lauter als beabsichtigt. Sofort ging er in Deckung und spähte durch die unteren Halme.

Niemand hatte ihn bemerkt. Dass Svea ihn blitzartig ersetzt hatte, traf Mattis tief. Wie ein alter Stein fühlte sich sein Herz an, der einsam und allein auf dem Meeresgrund lag.

Von Seelenverwandtschaft hatte sie gesprochen, wenn sie mit ihm allein gewesen war und sich an ihn geschmiegt hatte. Nun wirkte es, als könnte sie nicht schnell genug mit jemand Neuem ein Nest bauen, den sie nicht einmal kannte und der sie nicht im Entferntesten glücklich …

Moment!

Je länger er die Mantelmöwe mit dem krummen Flügel neben Svea betrachtete, desto mehr kam ihm der Fremde bekannt vor. Glänzendweißer, üppiger Kopf. Die plattesten Schwimmfüße, die er je gesehen hatte. Krummer, linker Flügel.

Krummer, linker Flügel?

Es gab nur eine Mantelmöwe auf Fehmarn, die einen beschädigten Flügel besaß und trotzdem fast so schnell fliegen konnte wie er selbst: Ignaz. Jupps Enkel und Sveas Cousin. Die Mantelmöwe lebte im Süden und kam hin und wieder nach Fehmarn zurück, um ihren Großvater zu ehren. Und wenn Mattis sich nicht im Datum täuschte, war morgen Jupps Geburtstag.

Die Anspannung der letzten Minuten rauschte in stockenden Böen aus Mattis’ Gefieder. Seine Beine fühlten sich wie Gummi an. Erleichtert setzte er sich in den Sand, begrub Muscheln unter sich und stöhnte mit glühenden Wangen in den Strandhafer.

Deshalb lehnte Svea an der Mantelmöwe. Das war Ignaz. Und der niesende Hybride neben ihm musste ein Begleiter sein.

Wie bei einem Hustenanfall holperte hysterisches Lachen aus seiner Kehle. Ob vor Freude oder weichendem Frust, wusste Mattis nicht. Der Wahnsinn nistete langsam in seinem Kopf, je länger er dieses zwielichtige Spiel spielte. Auf dem schnellsten Weg musste er eine Lösung finden, sein altes Leben zurückzubekommen, ohne dass noch mehr Schaden verursacht werden würde.

Dann könnte er morgen Abend an Jupps Geburtstag eng umschlungen mit Svea im Harem tanzen und müsste nicht wie ein erbärmlicher Wurm verstohlen durch das Gebüsch spähen, immer auf der Hut vor den Ältesten.

Opa Jupps Geburtstagsfeiern waren einzigartig. Seit Mattis sich erinnern konnte, fanden sie im Harem zwischen der Promenade und der Schlafeiche der Wilden statt. Kumpel Fasan stand in Jupps Schuld, erzählte man sich am Südstrand, obwohl niemand den genauen Grund dafür kannte. Von Joghurtbechern und einem Überfall auf die Bäckerei Börke war hinter vorgehaltener Schwinge die Rede. Andere sprachen von einem fehlgeschlagenen Angriff auf das Café Sorgenfrei, um den Fressbestand des Harems aufzufüllen. Auf jeden Fall hätte Burger im Yachthafen bei der SAR für sehr lange Zeit eine Gefängniszelle belegt, wenn Jupp dem Fasan nicht den Bürzel gerettet hätte. Da waren sich alle einig.

Svea zwischen Ignaz und der fremden Möwe unbeschwert Lachen zu sehen, kurbelte Mattis’ Eifersucht in ungeahnte Höhen. Er wollte seine Svea wieder in die Schwingen schließen, ohne dass er um ihr Wohlergehen fürchten musste. Ihre weichen Federn fühlen, mit dem Schnabel ihr Gefieder putzen und sich an sie schmiegen, wann immer ihm danach war.

Er musste einen Weg finden, die Ausweisung zu verhindern.

Beim nächsten Vollmond werden wir die Hybriden auf Fehmarn verbieten. Dann müssen sie unsere schöne Sonneninsel für immer verlassen.

Tildas Worte liefen Mattis kalt den Rücken hinunter, wann immer er an die Zeremonie dachte, in der er ein Ältester geworden war. Einer von ihnen. Wie sein Vater und andere edle Silbermöwen seiner Urahnen vor ihm.

Seither versuchte er flügelringend einen Weg zu finden, die Ältesten von ihren Vorhaben abzubringen. Wenn er sich dem Rat widersetzte, sich den Wilden anvertraute, den Hybriden half oder gar der Stillen Post einen Hinweis auf die bevorstehende Ausweisung gab, würde es weitere Morde hageln.

Jederzeit würde der Ältestenrat seine Drohung wahrmachen, so wie sie die Hybriden verabscheuten, das wusste Mattis. Ihm waren die Flügel gebunden. Und ihm lief die Zeit davon. In vier Tagen war Vollmond. In vier Tagen würden die Seidenfedern und all die anderen Hybriden den Südstrand für immer verlassen müssen.

Die Versuche, seiner Tante auf der Kohlhof-Insel ins Gewissen zu reden, verpufften jedes Mal wie dicker Nebel im Ostwind. Alle anderen Ältesten auf ihren Zweigen ließen erst gar nicht mit sich sprechen. Sie drehten Mattis auf der Heiligen Birke den Bürzel zu, als würde er nicht existieren. Selbst bei Raudis Vater Richard hatte Mattis sein Glück gewagt, war jedoch an dem strengen Blick und der arroganten Schnabelhaltung gescheitert.

Die einzige Möglichkeit, die Mattis jetzt blieb und vor der es ihm mehr graute als vor einem nächtlichen Spaziergang auf der Fuchswiese, war ein Treffen mit Lutger. Der Kormoran könnte, so hoffte Mattis zumindest, den Ältestenrat mit seiner Aussage belasten. Bislang hatte Lutger die Morde an den Hybriden auf sich genommen, seiner Kunst gewidmet, damit all der Ruhm ihm allein gehörte.

Wenn der Kormoran an die Öffentlichkeit gehen und Kriminalhauptkommissar Henk sowie der SAR die Wahrheit sagen würde, dass er im Auftrag der Ältesten gehandelt hatte, wäre niemand am Südstrand mehr fähig, die Augen vor den Gräueltaten der Ältesten zu verschließen. Der SAR bliebe nichts anderes übrig, als gegen den Rat vorzugehen, oder sie verlöre ihre Autorität.

Ein kalter Schauder lief Mattis die Rückenfedern hinunter, wenn er daran dachte, Lutger in die smaragdgrünen Augen zu sehen. Diese krächzende Stimme zu hören, als fiele es dem Kormoran schwer, zu sprechen. Dem leichenblassen Schnabel und den bronzeschwarzen Schwingen zu begegnen, mit denen er Mattis’ Vater das Leben genommen hatte.

Bei dem Gedanken an Mojes zerfetzte Leiche schüttelte Mattis sich, bis der Strandhafer um ihn herum wackelte. Nach ihrem letzten Gespräch auf dem Dach des IFA Hotels war viel Unausgesprochenes zwischen ihnen zurückgeblieben. Nichts davon würde sich mehr kitten lassen.

Dicke Tränen füllten seine schwefelgelben Augen, als Mattis an Mojes enttäuschtes Gesicht dachte.

Nach einer Weile wischte er sie fort und sah ein letztes Mal auf den Strandkorb der Seidenfedern.

Stine und Alina standen bei Svea, Ignaz und dem niesenden Hybriden. Hinter ihnen hielt sich ein Weibchen auf, das Mattis kaum kannte. Wer die Zwergmöwe war und woher sie kam, hatte er bislang nicht herausgefunden. Und jetzt hatte er Wichtigeres zu tun.

Geschwind lief er in Richtung Animationsgebäude, um zwischen den Schnattertanten auf die Promenade hinabzugleiten. Die Tauben gurrten empört und beschimpften ihn als Plagemöwe, aber er sorgte sich nicht, dass sie ihn erkannten. Für die alten Damen sah er wie jede andere Möwe aus.

Die Wilden behielt Mattis im Blick, während er über die Promenade eilte. Pit und Fiete saßen auf der Schlafeiche neben dem Appartementhaus Strandburg und verzehrten ihre ergaunerten Brötchen. Berti hockte am anderen Astende und ließ den Kopf hängen.

Zwischen sonnengeküssten Beinen und Fahrradreifen flitzte Mattis über die heißen Steine, um in den angrenzenden Büschen abzutauchen. Die Zweige griffen nach seinem Gefieder und piksten mit Dornen in seine Federn, aber das hielt Mattis nicht auf. Wenn er heute nicht zu Lutger ging, würde er sich niemals trauen und sich ewig vorwerfen, dass er nicht alles unternommen hatte, um die Ausweisung der Hybriden zu verhindern.

Je länger er im Dauerlauf zwischen den verzweigten Ästen der Büsche bis zur Straße hindurchlief, desto mehr keuchte er. Er war schließlich eine Möwe, keine Landratte. Wind sollte er zwischen den Federn spüren, die weiten Schwingen schlagen, um aufzusteigen und elegant über den Südstrand zu segeln. Er sollte sich nicht die Federn schmutzig machen und mit dem Bauch über den Dreck robben wie irgendein Kriechtier.

Am Ende des Gebüschs hüpfte er in einem Satz auf den Bordstein. Vorsichtig reckte er den Hals, als stecke er in einer Schlinge fest. Wieder aufrechtzustehen, war für ihn mit Muscheln nicht aufzuwiegen.

Mattis beobachtete die Schlafeiche, der kräftige Baum stand schräg hinter ihm. Keiner der Wilden hatte ihn bemerkt, weshalb er schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung über den Asphalt lief. Erst als er die Tennisplätze erreichte, wagte er es, sich vom Bordstein abzustoßen und die Flügel zu schlagen.

Hinter ihm hörte er ein stockendes Rauschen, ähnlich einem hektischen Flattern, doch da er niemanden entdeckte, bog er zum Yachthafen von Burgtiefe ab.

 

Schon von Weitem erkannte Mattis die Eduard Nebelthau. Die drei roten Buchstaben SAR prangten auf ihren Flanken mit zwei senkrechten Streifen dahinter auf weißem Grund. Der Seenotretter lag an Land neben dem Strandläuferweg auf einem kleinen Stück Rasen. Offiziell diente die Eduard Nebelthau im Yachthafen als Schauplatz. Inoffiziell war es das Hauptquartier von Kriminalhauptkommissar Henk und seinem Search And Rescue-Team, die das Treiben der Vögel am Südstrand beaufsichtigten.

Nahe dem rot-weiß-grünen Schiff setzte er auf dem Gras auf. Eine Ente und ein Erpel patrouillierten vor der kleinen Holztreppe, die an Deck der Eduard Nebelthau in die Zentrale führte. Das rot-weiße Kreuz auf weißem Grund des Seenotretters erinnerte Mattis stets an eine Sekte, die zwar geschworen hatte, sich um den Schutz und die Sicherheit der Vögel zu Land und zu Wasser zu kümmern, sich jedoch eher um das Wohlergehen der Strandläufer sorgte und den Tourismus am Südstrand förderte.

Aus den vier Bullaugen der roten Kabine neben dem Kreuz drang wildes Geschnatter. So unauffällig wie möglich schlenderte Mattis am Schiff vorbei. Wenn er sich recht erinnerte, befand sich die Anmeldung für die Besucher der Gefangenen vor den jeweiligen Stegen am Hafen. Innerlich betete er, dass er Henk nicht begegnete. Vorsichtig lugte er um die Eduard Nebelthau, aber von dem Kriminalhauptkommissar war nichts zu sehen. Vermutlich bestrafte der Erpel gerade irgendeine Vogelgang mit Zigarettenstummelsammeln. Alles im Sinne des Südstrands.

Mattis schnaufte bei dem Gedanken an seine letzte Bestrafung und scherte auf die Flaniermeile ein.

Da es nicht gestattet war, im Yachthafen zu fliegen, eilte er über die hellen Pflastersteine, vorbei an den Stegen, vor denen jeweils zwei Erpel Wache hielten. Sie beobachteten die Knastvögel unter den jeweiligen Holzlatten.

Der Andrang der Strandläufer erschwerte Mattis sein Vorankommen. Im Slalom lief er um eine Familie, die ihm mit ihrem breiten Kinderwagen die Sicht auf den letzten Steg erschwerte. Dort, wo die Schwerverbrecher schwammen. Der Jollensteg 1, nahe dem Aussichtsturm und den Hausbooten.

Schmutzig fühlte sich die See unter dem finsteren Steg an, aber vor allem einsam. Das wusste Mattis aus eigener Erfahrung und er würde alles tun, um nicht erneut in einer dieser elenden Zellen einzusitzen.

»Stehenbleiben!«, quakte eine helle Stimme aus der Ferne. »Schwingen hoch! Sofort!«

Mattis stockte der Atem. Automatisch hob er die Flügel, schwenkte den Kopf nach rechts und entdeckte Angret, die neben Sören vor dem Jollensteg 1 Wache schob. Ihre braunen Augen glänzten, während sie ihn von den Schwimmfüßen bis zur Schnabelspitze untersuchte. Auf jeder Feder fühlte Mattis ihre stechenden Blicke, was ihm mit jedem Herzschlag unangenehmer wurde.

»Trägst du unerlaubte Dinge bei dir?«

Sören watschelte ihm entgegen. Den grün-gelben Schnabel hielt er unter Mattis’ Flügel, nachdem er dicht neben ihm stehengeblieben war – viel zu dicht. Sören schnupperte, als versteckte Mattis eine Armee unter den Achseln, die den Hafen überrennen sollte.

»Unerlau… Was?«

Mattis blieben die Worte im Hals stecken, denn Sörens Flügelspitzen glitten an seinen Schwingen hinab, kreisten ihm über den Bauch bis hin zu den Schwimmfüßen.

Wollte der Erpel auch die Muschelabdrücke unter Mattis’ Sohlen begutachten?

»Scherben, kaputte Muscheln oder giftige Vogelbeeren? Hast du irgendetwas dabei? Sag es lieber gleich, denn wir finden alles.«

»Jawohl, das tun wir«, stimmte Angret ihm zu.

»N-nein. Ich trage nichts bei mir. Wieso sollte ich?«

Wie ein U-Boot tauchte Sören langsam vor Mattis’ Blickfeld auf, die Lider vorwurfsvoll zu schmalen Schlitzen geformt.

»Schnabel öffnen. Sofort!«

»Was? Nein!«

»Du willst bestimmt den Insassen aus Zelle 5 besuchen, oder nicht? Ihr alle wollt das.«

»W-wenn das Lutger ist, dann … Ja.«

»Das habe ich mir gedacht.« Sören trat ihm so nah entgegen, dass Mattis dessen säuerlich-schleimigen Atem roch, der ihn vage an Schneckenmatsch erinnerte. »Schnabel auf oder du machst auf der Stelle kehrt und bleibst, wo der Sanddorn wächst. Verstanden?«

»Aaah.«

»Nichts. Mist. Rein gar nichts«, sprach Sören. »Er ist sauber, Angret. Lass unseren Gast passieren.«

Widerwillig trat die Ente vor dem Jollensteg 1 beiseite, die gefiederte Stirn in missgestimmte Falten gelegt. Verachtung und Ablehnung entdeckte Mattis in ihrem gescheckten Gesicht, als er an Angret vorbeischlich. Dass sie ihm abfällig hinterherschnaubte, entging ihm nicht.

»Wir behalten dich im Blick, Mattis. Dieses Mal stiftest du keine Unruhe im Yachthafen.«

Zur Bestätigung hob Mattis beide Flügel und stakste schnell über die Holzlatten voran. Offenbar hatte ihm die SAR den kleinen Ausbruch um Pfingsten herum nicht verziehen, obwohl Svea, er und die Wilden der Polizei Lutger auf dem Silbertablett geliefert hatten.

 

Wie auch die anderen Stege im Yachthafen, war der Jollensteg 1 mit Schiffen übersäht. Ein weißer Mast ragte höher als der andere in den blauen Himmel hinein, die wellige See schaukelte die Schiffsrümpfe friedlich hin und her. Auf den Decks sprachen die Strandläufer von überfüllten Straßen und Stränden, von guten Restaurants und von appetitlichen Fischbrötchen, bei deren Erwähnung Mattis das Wasser im Schnabel zusammenlief.

Nahe dem Ufer hockten drei Erpel im Wildrosengebüsch und beobachteten Mattis, während er an den Schiffen vorbei auf die letzte Zelle unter dem Steg zuging. Die Plätze davor waren allesamt frei. Im Ältestenrat hatte Richard davon gesprochen, dass Lutger die Insassen aus dem Jollensteg 1 angestachelt hatte, gegen die SAR zu rebellieren und zu fliehen, weshalb der Kormoran von den anderen Knastvögeln getrennt worden war.

Je näher Mattis der Zelle 5 kam, umso schneller hämmerte sein Herz. Seine Schwingen zitterten mit dem Schnabel um die Wette, aber anders als erwartet, durchflutete ihn keine Furcht. In ihm brodelte Wut. Mit jeder weiteren Holzlatte, die er überwand, tobten Erinnerungen durch seinen Kopf. Er sah Lutger vor sich, wie der Kormoran es gewagt hatte, den Flügel an andere Möwen zu legen, sie zu foltern und sie als Kunststücke in den Dünen auszustellen.

»Verdammter Drecksvogel!«, entwich es ihm. Mattis sah ans Ende des Stegs und hielt abrupt inne.

Ein Graureiher stand auf den Holzbrettern, den langen Hals zu Lutger hinuntergebeugt. Jonte. Seines Zeichens Journalist bei der Stillen Post, stets dazu bereit, die Wahrheit zu verdrehen, um eine denkwürdige Schlagzeile zu erhalten. Diese ausgefransten Rückenfedern erkannte Mattis überall.

Er schlich voran und hockte sich an ein dickes Tau, das am Steg befestigt worden war. Während er so tat, als beobachtete er die Strandläufer an Deck, lauschte er aufmerksam, was bei Zelle 5 vor sich ging.

»Du schuldest mir einen Gefallen!«

Bei Lutgers krächzender Stimme stellten sich Mattis die Nackenfedern auf. Er presste die Flügel an den Körper, um nicht sofort zu dem Kormoran zu fliegen und ihn in seine Einzelteile zu zerfetzen.

»Wofür?«, raunte Jonte. Er trug ein Lächeln auf dem Schnabel, das ihm einen Hauch von Scharfsinn verlieh, den er nicht verdiente.

»Ohne mich wärst du nicht mehr bei der Stillen Post. Tore hätte dich längst gefeuert. Ich habe dir am Steilufer in Wulfen deinen Bürzel gerettet.«

Mattis suchte die bronzeschwarzen Federn des Kormorans unter dem Steg, jedoch sah er nur das aufgewühlte Wasser der Ostsee umherschwappen.

»Mein Gedächtnis funktioniert hervorragend. Deshalb erinnere ich mich auch daran, dass du mit meiner Verlobten geflirtet hast, Lutger. Von mir erhältst du keine Hilfe.«

»Bloß zwei Mal habe ich das. Und Alma kam auf mich zu. Dafür habe ich Zeugen.«

»Wer’s glaubt.« Mit einem seiner mattgrauen Flügel fegte Jonte durch die Luft, als verdrängte er schlechte Erinnerungen. »Alma ist seitdem nicht mehr dieselbe.«

»Freu dich doch. Veränderungen tun gut. Sieh mich an. Lebendiger denn je und kurz davor, frei zu sein.«

Was? Scharf zog Mattis Luft durch den Schnabel. Das musste ein Irrtum sein. Niemals durfte Lutger die Freiheit zurückerlangen.

»Ich hoffe, du verreckst im Jollensteg«, erwiderte Jonte.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann, Kollege!«

»Meine Story kriege ich auch ohne einen Kommentar von dir.«

»So wie es Klatschvögel eben tun.«

»Leck mich.«

»Komm runter, Jonte, wenn du dich traust.«

Doch der Graureiher hob den langen, spitzen Schnabel und ging. Sein Blick zeugte von Hass und Verachtung. Jonte sah aus, wie Mattis sich fühlte. Wütend, verletzt und überfordert.

»Selbstmord in Zelle 5. Das wäre mal eine reißerische Schlagzeile, findest du nicht, Lutger?«

»Darauf kannst du lange warten!«

Mattis bemerkte Jontes ahorngelbe Augen. Der Graureiher fixierte ihn wie seine nächste Mahlzeit.

Scheiße.

Mattis erster Impuls war Flucht, aber im Hafen war das Fliegen verboten.

»Wen haben wir denn da?«

Jonte stolzierte auf ihn zu, seine Krallen schlurften dabei über den alten Holzsteg. Mattis tat, als beobachte er den Einmaster mit blauem Rumpf, der neben ihm im Wasser lag.

»Wie? Keine Begrüßung? Kein Wie geht’s dir, lieber Jonte? Lange nicht gesehen. Was macht die Familie? Was gibt’s Neues bei der Stillen Post?«

Schweigend sah Mattis den Journalisten an. Er durfte nichts sagen. Jonte würde ihm jedes Wort im Schnabel umdrehen und in seinen Schlagzeilen gegen ihn verwenden. Er zog es vor, zu schweigen, bis der Graureiher verschwunden war.

»Gut, wie du willst.« Jonte beugte sich zu ihm hinab und schaute ihm forschend ins Gesicht. »Willst du dich zu den Gerüchten äußern, dass du deine Freunde für den Ältestenrat im Stich gelassen hast? Am Südstrand munkeln die Vögel, dass du ein eitler Pfau geworden bist, der niederes Möwenpack verschmäht.«

»Lügner!«

Mattis erschrak vor seiner eigenen Reaktion. Geschwind schloss er den Schnabel. Mehr würde der Journalist nicht aus ihm herauskriegen. Demonstrativ lief er am Graureiher vorbei.

»Moment, mein Freund.« Jonte trat zwei Schritte nach hinten, um sich ihm in den Weg zu stellen. »Du kannst mir nicht so eine Vorlage geben und dann gehen.« Er beugte sich hinab, als wäre Mattis ein Küken, das zurechtgewiesen werden musste.

»Erzähl mir erst mehr. Warum hast du die Wilden sitzen gelassen? Wart ihr vier nicht ein Herz und ein Schnabel?«

»Fünf«, knurrte Mattis. »Die Wilden bestehen aus fünf Möwen. Mach wenigstens einmal deinen Job richtig, Jonte.«

Ärger kroch ihm den Nacken hinauf. Wie schaffte der Graureiher es, ihm ständig einen Kommentar zu entlocken? Mattis stieg seine Wut zu Kopf, er musste inzwischen wie eine Dampflok aussehen.

»Eure Zwergmöwe hat ziemlich getobt. Wie hieß sie gleich? Hans? Hinz? Oder war es Robert?«

»Haui!«

Sogleich bereute Mattis die Aussage. Er sollte sich den Schnabel zunähen lassen oder sich augenblicklich in Luft auflösen.

»Richtig, Haui. Hauke-Haudrauf-Hinnerk. Rufname Haui. Ich erinnere mich. Die Möwe mit dem einen Auge. Ein richtiger Hitzkopf, nicht wahr?«

Mattis presste den Schnabel zusammen, bis es wehtat. Von ihm würde der Graureiher nichts mehr erfahren.

»Ein Interview mit euch beiden würde mir den Tag versüßen. Ihr könntet mit Lutger um die Titelstory buhlen. Wäre das nichts? Du wieder Gesprächsthema Nummer Eins am Südstrand. Alle süßen Weibchen würden sich über dich den Schnabel zerreißen.«

»Darauf kannst du lange warten.«

»Wieso? Reden du und Haui nicht mehr? Sind die Wilden nicht alle beste Freunde?« Neugierig betrachtete Jonte ihn, als lese er die Antwort in seinem Gesicht ab. »Eine meiner Kolleginnen hat Haui öfter bei Lutger gesehen. Sind die beiden jetzt Freunde, weil du ihn im Stich gelassen hast?«

»Kein Kommentar. Verbreite deinen Tratsch woanders, Jonte.«

»Tratsch? Was für Tratsch? Fakten, mein Lieber! Mehr brauche ich für meine Reportagen nicht. Ich habe mit diesem Heinz selbst gesprochen.«

»Haui.«

»Mein ich ja, Haui. Die kleine Zwergmöwe scheint mir kurz vor einem verheerenden Wutausbruch zu stehen und auch die süße Svea wirkt …«

»Was hat Svea mit Haui zu tun? Wage es nicht über sie in der Stillen Post zu berichten.«

»Schon gut, schon gut. Nicht gleich flügelgreiflich werden.« Beschwichtigend hob Jonte die mattgrauen Schwingen. »Offenbar habe ich in ein Wespennest gestochen. Du kannst mir ruhig dein kleines Herz ausschütten, Mattis. Wenn die Wilden nicht mehr für dich da sind – ich bin es. Du weißt, wo du mich findest.«

Zum Abschied lächelte der Graureiher ihn an, als hätte er nicht eben mit Mattis’ kleinem Leben Pingpong gespielt und sich über ihn lustig gemacht.

Arschloch.

»Glücksjunge vom Südstrand lässt Freunde im Stich«, hörte er Jonte beim Fortgehen vor sich hin schnattern.

Grummelnd sah Mattis auf die ausgefransten Rückenfedern des Graureihers. Welche Lügen würde sich Jonte noch einfallen lassen, bis ihn jemand aufhielt?

»Nein, das ist zu langweilig. Eher: Wie man seine Freunde nicht behandeln sollte. Ein intimes Porträt über den Ältesten Mattis, Sohn von Moje, Neffe von Tilda. Ja, das wird dem Chef gefallen.«

Gerade als Mattis Jonte beschimpfen wollte, schoss aus Zelle 5 das gehässigste Lachen zwischen den Holzlatten hervor, das er je gehört hatte.

Lutger lachte wie ein Irrer, der Zorn schoss Mattis bis in die Flügelspitzen. Dass der Kormoran fähig war, Freude zu empfinden, trieb ihm die Hitze ins angespannte Gesicht. Die SAR hätte den Kormoran mit zugeklebtem Schnabel an einen Pfahl unter dem Steg binden sollen. Die Wellen der Ostsee hätten in aller Seelenruhe den Rest erledigt.

»Mattis, Mattis, Mattis«, krächzte Lutger. »Dass wir uns noch mal begegnen, hätte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorgestellt.«

Mattis setzte einen Schwimmfuß vor den anderen. Seine Beine bewegten sich wie von allein. Er schwebte förmlich über den Steg, immer dem abfälligen Lachen entgegen, darauf wartend, dass er seine Glieder unter Kontrolle bekam.

Die Gedanken in seinem Kopf rasten.

---ENDE DER LESEPROBE---