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Fünf Möwen jagen einen Mörder – eine tierische Mission. Mattis, der seine große Liebe zurückerobern will. Berti, der trotz Darmproblemen nicht auf warme Brötchen verzichten möchte. Pit, der jedem Strandläufer die Brötchen stiehlt, ehe der Beraubte Wind davon bekommt. Haui, der schneller Kopfnüsse verteilt als sein Schatten. Und Fiete, der für sein Leben gern Mensch ärgere dich spielt. Unsere Wilden riskieren bei der Jagd nach dem Mörder nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Freundschaft.
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Rebecca Schulz
Die Möwen von Fehmarn
Mord am Südstrand
Band I
Möwenkrimi
Für Wolle.
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Viel Vergnügen mit den Möwen!
Inhalt
O mörderische Nacht
Mensch ärgere dich
Ein Hauch von Familie
Eine fatale Wette
Auf der Suche nach der Wahrheit
O göttliche Kunst
Konkurrenz belebt das Geschäft
In geheimer Mission
O himmlischer Sonnenuntergang
Unter Verdacht
O grausame Vergeltung
Tumult am Südstrand
Die Zeremonie
Nachbemerkung der Autorin
- Irgendwo am Südstrand -
Er liebte die Nacht. Liebte ihr tiefes, allumfassendes Schwarz und die Stille, die sich über den Sandstrand legte, sobald die Sonne in der Ostsee versunken war. Die Nacht umhüllte selbst das kleinste Sandkorn mit Dunkelheit und gab denen Schutz, die ihn suchten – so wie ihm.
Wie kleine dicke Glühwürmchen glommen die Sterne über ihm; scheinbar zum Schnappen nahe und doch für jeden unerreichbar, selbst für ihn und seine Schwingen.
Als er die Düne betrat, roch er den salzigen Duft der See, die getrockneten Algen und die köstlichen Miesmuscheln, die überall am Strand verteilt lagen. Der Wind blies ihm durch das Gefieder, streichelte seine Federn, während er geräuschlos einen platten Schwimmfuß vor den anderen setzte und in geduckter Haltung zwischen Strandhafer und Dünenrosen über den Sandstrand schlich. Nur das sanfte Rauschen des Wassers hörte er, auf dessen Oberfläche Vögel schliefen, sich in Sicherheit wähnten. Sie, die sich nicht an die Regeln hielten. Sie, die er für ihren Frevel bestrafen würde.
Heute Nacht würde er nicht auf der Ostsee jagen. Seine Beute befand sich am Strand, unweit von ihm entfernt, und lief ahnungslos am Rand der Düne auf und ab.
Er wusste um ihre Schlaflosigkeit.
Ihr schmaler, zarter Rücken war mit silbergrauen, hellbraunen und pechschwarzen Federn durchzogen. Bei Tageslicht schimmerte ihr Kopf graublau und ihr Schnabel glänzte in einem tiefen, satten Rotton. Ein Anblick, bei dem sich ihm vor Ekel die Nackenfedern aufstellten und Empörung seinen Puls zum Explodieren brachte – jedes verdammte Mal.
Sie würde sein neuestes Kunstwerk werden. Ein raffiniertes Gebilde aus Verzweiflung und Blut.
- Südstrand. Schlafeiche -
Haui schnarchte unerträglich laut. Mattis drückte sich im Halbschlaf näher an den Baumstamm, um den Abstand zwischen ihm und der Zwergmöwe zu vergrößern. Denn wenn Hauke – Haudrauf – Hinnerk anfing, schlecht zu träumen, litten sie alle gemeinsam auf der höchsten Eiche hinter dem Appartementhaus Strandburg.
Mattis öffnete die Augen und erspähte die Sonne, die aus dem Wasser stieg und die Ostsee in ein glänzendes, dunkelblaues Schimmermeer verwandelte. Zahlreiche Vögel kreisten bereits über dem Sandstrand auf der Suche nach Frühstück. Aber er und seine Möwengang hatten die ganze Nacht damit verbracht, die Galloway-Rinder auf dem Feld hinter dem IFAHotel zu ärgern, und würden sich sicherlich nicht vor dem Mittag auf ihrem Schlafast rühren.
»Alter, du schnarchst schon wieder«, knurrte Pit, der den kürzeren Grashalm gezogen und den Platz neben Haui hatte einnehmen müssen. Mattis wartete gespannt, hörte jedoch keine Veränderung. Haui sägte, als fälle er die Eiche, auf der sie zu viert jede Nacht verbrachten.
Lautlos gähnte Mattis, wobei er den dottergelben Schnabel weit aufriss, die Flügel ausstreckte und die silbergrauen Federn mit schwarzen Spitzen lüftete. Er drehte sich zur Seite, zog die Schwingen wieder an den weichen, weißen Bauch und schloss die Lider.
Vielleicht sollte er Muscheln zählen, um wieder einschlafen zu können.
Eine Miesmuschel, zwei Miesmuscheln, drei Mies…
Ein Vogel flog rasend schnell an ihm vorbei, drehte Kreise um ihren Schlafast und landete mit einem vibrierenden Aufprall zwischen ihm und Berti.
Ein genervtes Grummeln entwich Mattis.
»Moin, Jungs. Moin Moin. Moooiiin«, hechelte Fiete aufgeregt und Mattis spürte einen Flügel, der ihm unaufhörlich auf den breiten, weißen Bürzel pochte. »Seid ihr wach? Kann es losgehen? Jetzt? Seid ihr bereit? Die ersten Strandläufer sind auf der Promenade und kaufen Brötchen. Sie ahnen nichts von ihrem Unglück. Sie …«
Ein schnelles, kräftiges Wischen zischte durch die Luft und Fietes hektisches Gerede verstummte. Mattis öffnete die Augen und beobachtete, wie Berti seinen schwarzen Flügel wieder einzog und den weißen Kopf darunter verbarg.
Von Fiete keine Spur mehr.
»Der Kleine geht mir jetzt schon gehörig auf die Nerven. Den fresse ich zum Frühstück, wenn du ihm keine Manieren beibringst, Klugscheißer.«
Mattis verzog den Schnabel zu einem breiten Grinsen.
»Es ist sein erstes Mal, Fridbert. Kannst du dich noch an dein allererstes Mensch ärgere dich erinnern?«
»Nenn mich nicht so. Fridbert heißt mein Vater.«
Berti hob den Kopf und bedachte Mattis mit einem freudlosen Blick, als wäre er höchstpersönlich schuld an der Unruhe.
»Du warst nicht weniger aufgeregt als er, Berti. Ich erinnere mich genau. Mit deinen Blähungen hast du den Böen am Südstrand echte Konkurrenz gemacht.«
»Das sind die Brötchen. Ich habe einen Reizdarm«, erklärte die Mantelmöwe zerknirscht und verkroch sich wieder unter ihrem Flügel.
»Vielleicht solltest du weniger Enten essen, dann wäre die frische Luft auf unserem Schlafast nicht so dünn.« Pit spähte mit einem geöffneten Auge zu ihnen herüber und grinste frech über das schwarzbraune Gesicht.
»Das ist ein Mythos. Niemand kann bezeugen, dass ich jemals eine Ente verspeist habe. Ich esse keine großen Tiere. Das wisst ihr genau.«
»Dafür alles andere, du Furzkanone.«
»Ach, leck mich doch, Pit.«
»Mach ich glatt.« Pit richtete sich auf, drehte sich zu Berti hin und pickte mit dem roten Schnabel in die schwarzen Schwanzfedern seines Kameraden.
Mattis verkniff sich ein Lachen, während er der kleinen Lachmöwe dabei zusah, wie sie die große Mantelmöwe provozierte. Für gewöhnlich dauerte es nicht lange, bis Bertis Geduldsfaden riss und er Pit über die Promenade jagte.
»Lass das oder ich rupfe dich! Aber nicht auf die sanfte Weise, Langfeder.«
»Solange du mich nicht anfurzt, ist mir alles recht.«
Mattis lachte so laut, dass er ins Wanken geriet und beinahe vom Ast gefallen wäre. Berti hingegen sprang auf, breitete die schwarzen Schwingen aus, schüttelte den weißen Kopf, als müsse er wach werden, und schnellte auf Pit zu, der sich kopfüber in die Tiefe fallen ließ. Erst im letzten Moment, kurz bevor er den Rasen erreicht hatte, öffnete Pit die hellgrauen Flügel für seine Flucht. Elegant segelte er über die grüne Wiese, die Büsche und die Hasen hinweg, während Berti sich vom Ast abstieß und ihm verbissen hinterherjagte.
Eine Weile beobachtete Mattis das Spiel der beiden, wie der eine dem anderen schnell nachsetzte und sie kreischend ihre Hetzjagd durch die Lüfte genossen. Schließlich raffte er sich mit einem wehmütigen Seufzen auf. Keinen einzigen Tag wollte er mehr ohne seine Wilden sein – seine Gang. Und vielleicht würden sie heute ein weiteres Mitglied aufnehmen, sofern Fiete sich nicht allzu dumm bei Mensch ärgere dich anstellte.
Während er das Manöver seiner beiden Freunde verfolgte – Pit flog gerade besonders schnell über das rote Dach der Strandburg hinweg und Berti folgte ihm schwer nach Luft schnappend –, schlenderte Mattis an das Ende des Schlafastes und stupste Haui an.
Sofort verstummte dessen Schnarchen und die Zwergmöwe öffnete mit einem gequälten Ausdruck das linke Auge. Sein rechtes Auge hatte Haui vor Jahren in einem lebensbedrohlichen Kampf gegen fünf Dunkle Ritter eingebüßt. Die Raben hatten ihn überrumpelt, als er ein Küken retten wollte, das aus seinem Nest gefallen war.
Jedenfalls war das die offizielle Version.
»Was‘n los? Habe ich geschnarcht? Tut mir leid, Mattis, aber diese Fische …« Er bewegte den schwarzgefiederten Kopf von links nach rechts und ließ die Knochen knacken. »Sie waren groß, weißt du? Echt riesig. Hatten fiese, spitze Reißzähne und wollten mich fressen.«
»Waren sie erfolgreich?«
Während Mattis auf eine Antwort wartete, fiel sein Blick auf Berti und Pit, die in diesem Moment nach unten glitten und neben Fiete auf einer Silberlinde bei der Bäckerei Börke landeten – ihrem Stammplatz. Pit missbrauchte die junge Silbermöwe sofort als Schutzschild gegen Bertis Schnabelangriffe.
»Wer?«, fragte Haui irritiert.
»Na, die Fische. Haben sie dich gefressen?«
Haui kicherte – ein viel zu tiefes Kichern für seinen gedrungenen, aber kräftigen Zwergmöwenkörper.
»Ne, ich hatte mir gerade ein Katapult gebaut, um sie mit Muscheln abzuschießen, als du mich geweckt hast.«
Mattis‘ schwefelgelbe Augen funkelten vor Belustigung. Das letzte Konstrukt, an dem Haui sich versucht hatte, lag noch immer halbfertig auf dem Parkplatz nebenan und ähnelte eher einem zusammengefallenen Lagerfeuerstapel als einem Katapult.
»Steh auf, Haui.« Mattis stieß ihn mit der schwarzen Flügelspitze an. »Es geht los.«
Haui blinzelte, als wäre er noch immer im Land der Träume versunken. Lautstark gähnte er.
»Jetzt schon? Hast du nicht gesagt, wir dürfen heute ausschlafen?«
»Fiete will sich beweisen, damit wir ihn bei uns aufnehmen. Er wartet mit Berti und Pit am Startpunkt und winkt uns zu, als kämpfe er mit einem Mückenschwarm.«
Mattis beugte sich über den Ast und blickte zur Bäckerei im Erdgeschoss des Appartementhauses. Zahlreiche Strandläufer bildeten bereits eine lange Schlange auf der angrenzenden Promenade, spielten mit ihren Smartphones oder unterhielten sich.
»Heute ist Pfingstsonntag. Die ersten Strandläufer holen sich Brötchen. Du weißt, was das heißt.«
Haui riss das linke Auge auf und nickte eifrig.
»Mensch ärgere dich!«
Die Morgenluft roch nach Meerwasser, Frühlingsblumen und frischen Brötchen, als Mattis mit ausgebreiteten Schwingen durch die Luft schwebte und kreischend den gleißenden Feuerball am strahlend blauen Himmel begrüßte. Verstohlen hielt er Ausschau nach Svea und drehte extra große Runden über die Wiese, um einen Blick auf die junge Möwe zu erhaschen. Sie musste längst wach und mit den anderen Seidenfedern auf Frühstückssuche sein. Doch er konnte ihre silberschwarzen Federn weder am Strand noch auf der Promenade ausmachen.
Frustriert setzte er zum Sinkflug an, flog auf zwei Strandläufer zu, die außen an der Bäckerei an einem der Seitentische ihr Frühstück aßen, und segelte ganz knapp über ihre sonnengebräunten Köpfe hinweg. Ihre lautstarken Beschwerden linderten seine Unzufriedenheit, während er sich auf dem höchsten Ast der Silberlinde gegenüber der Bäckerei niederließ.
»Wen suchst du?« Neugierig hüpfte Haui zu Mattis hoch und nahm neben ihm Platz.
»Niemanden. Wieso?«
»Weil du dich umschaust, als hätte dir jemand ein Fischbrötchen vor dem Schnabel weggeschnappt. Mit leckerem Matjes darauf.«
»Mach dich nicht lächerlich«, murrte Mattis. »Lasst uns lieber anfangen. Das Knurren von Bertis Magen ist bestimmt bis zur Kohlhof-Insel zu hören.«
»Stimmt nicht«, wetterte Berti, der mit Pit und Fiete einen Ast tiefer hockte. »Der Klugscheißer da oben will nur davon ablenken, dass er sich nach der schönen Svea sehnt.«
Pit wandte sich zu Berti und Fiete, wobei er dramatisch mit den Schwingen fächerte. »O geliebte Svea. Meine wunderschöne Svea.« Theatralisch erhob er die Stimme und rieb sich über die weiße Brust. »Ich verzehre mich nach deinen sanften Federn, deinem wohlgeformten roten Schnabel, wie er mich liebkost und du dein weiches Gefieder an mich schmiegst.«
Lautes Gelächter brach aus, und Mattis spürte, wie ihm heiß wurde. »Halt die Klappe, Langfeder. Das Thema ist tabu.«
»Jaja.« Pit drehte sich demonstrativ zur Bäckerei, woraufhin sich ein unangenehmes Schweigen zwischen die Zweige legte.
Sobald Mattis die harschen Worte ausgesprochen hatte, taten sie ihm leid. Aber zurücknehmen wollte er sie nicht. Die tiefe Wunde in seinem Herzen war noch nicht verheilt und der Schmerz zu groß, als dass er den Hohn und Spott seiner Möwengang mit erhobenem Haupt ertragen konnte.
Stumm betrachtete er die Strandburg von der Silberlinde aus, die sie täglich für Mensch ärgere dich in Beschlag nahmen. Mit seiner sandsteinfarbigen Fassade, den vier Stockwerken und den Turm-Suiten direkt gegenüber dem Strand war das Appartementhaus die ideale Unterkunft, um viele Strandläufer mit oder ohne Kinder anzulocken. Sie versammelten sich auf den Balkonen oder unten in der Bäckerei und boten den Möwen jede Menge Unterhaltungspotenzial.
»Achtung, Freunde!«, rief eine raue Stimme von gegenüber und lachte dabei dreckig. »Fridbert, das Mopsgesicht, hält nach Frühstück Ausschau. Holt die Küken aus der Luft, sonst verspeist der Dicke sie im Flug.«
Mattis‘ Blick schnellte auf den Balkon direkt über der Bäckerei. Zwei Lachmöwen und eine Zwergmöwe saßen auf dem eisernen Geländer und starrten feindselig in ihre Richtung: Raudi und seine beiden Leibwächter, Tillmann und Klaas – die Biester. Drei dämlicheren Möwen war er noch nie begegnet.
Die Biester waren ihm ein Dorn im Auge, seitdem er sich den Wilden angeschlossen hatte. Sie hielten sich für die Könige vom Südstrand und demonstrierten ihre vermeintliche Macht mit Provokationen und Prügeleien.
Raudi fehlten am weißen Hinterkopf bereits zahlreiche Federn, Klaas litt unter einem gerupften Rücken und das schwarzbraune Gesicht von Tillmann zierte eine lange Narbe, weil er bei der Flucht vor der Entenpolizei in einem Dornenbusch hängengeblieben war.
»Warum suchst du dir nicht eine andere Ecke zum Lästern, Raudi?« Mattis stöhnte. »Fehmarn ist groß genug.«
»Mir gefällt mein Reich, außer das niedere Volk, das sich hier überall ohne meine Erlaubnis tummelt.«
Mit seinem krummen Schnabel deutete Raudi auf den Balkon schräg über der Bäckerei. Mattis stockte der Atem.
Da saßen sie, die Seidenfedern. Hilda, Alina, Stine und … Svea, deren bernsteingelbe Augen auf ihm ruhten und jede seiner Bewegung beurteilten. Eine Möwe hübscher als die andere. Doch die Sonne ließ nur Sveas silberschwarze Federn glänzen wie die See und ihr schmaler, elegant gebogener Schnabel schimmerte rötlich – verlockender denn je.
Ein Stich fuhr Mattis durch die Brust und ihm wurde übel, als sie ihm höflich, aber kühl wie eine Zitroneneiskugel zur Begrüßung zunickte. Er schluckte schwer und unterdrückte den Kloß, der langsam seinen kurzen Hals hinaufkroch. An die neue Situation würde er sich wohl nie gewöhnen. Svea so weit von ihm entfernt. Svea, die nicht mehr neben ihm schlief und sich in rauen Nächten an ihn kuschelte. Svea, die ihm kein Lächeln mehr schenkte.
Vielleicht sollte er den Strand wechseln? Am Grünen Brink im Norden der Sonneninsel, gab es nicht nur Sand und Ostsee, sondern ein richtiges Naturschutzgebiet mit zahlreichen Bäumen, Büschen und Wiesen.
Nur keine Bäckerei. Keine Fischbrötchen. Und weniger Strandläufer zum Ärgern.
Ob die Wilden ihm trotzdem folgen würden?
»Geht es los? Darf ich jetzt? Bitte, bitte, bitte.« Fiete blickte flehend zu Mattis hoch und hüpfte in seinem graubraunen Gefieder aufgeregt auf und ab. »Ich habe tagelang geübt. Ich schwöre.«
Mattis betrachtete erst Haui neben ihm, dann Pit, Berti und Fiete unter ihm. Gespannt warteten sie auf seine Zustimmung, endlich Mensch ärgere dich spielen zu dürfen. Er wusste, dass seine Möwen ihm folgen würden, wo immer er hinflog, was auch immer sein nächster Plan war. Aber ihr Leben amGrünen Brink wäre mit den wenigen Strandläufern – mit eindeutig weniger Spaß – nicht mehr dasselbe.
Mattis seufzte schwer und zwinkerte Fiete zu.
»Dann mal los, Kleiner«, brummte Berti und stieß die junge Silbermöwe mit dem Kopf an. »Zeig uns, was du kannst.«
Fiete atmete schwer und Mattis hörte, wie er leise zählte: »Eins. Zwei. Drei.«
Dann breitete er die graubraunen Flügel aus und sank von der Silberlinde auf die Terrasse der Bäckerei, auf der sich bereits die Vorhut der Piepmätze vergnügte.
Mattis verabscheute die Gang voller draufgängerischer Spatzen, die keine Ehrfurcht kannten und sogar in den Bäckereien und in den Fischläden auf Raubzug gingen.
»Der Kleine ist mutig, Mattis. Geht gleich zum Angriff über.« Anerkennend nickte Haui, und er hatte recht.
Mattis dachte an seine ersten Versuche, sich den Strandläufern zu nähern, und ein kurzer, eiskalter Schauder überfiel ihn. Das Gezeter und Geheule der jungen Strandläuferin, der er vergeblich das Fischbrötchen hatte stehlen wollen, jagte ihm noch heute eine Gänsehaut unter die Federn.
Fiete stand auf dem Geländer an der Terrasse, die dunklen Augen schweiften rastlos über die Tische. Offenbar suchte er nach geeigneten Strandläufern, während sein Bürzel wackelte, als wollte er die Glaswand unter sich zum Einsturz bringen. Dann öffnete er den schwärzlichen Schnabel und ein lauter Krächzer dröhnte über die vollbesetzten Tische. Die junge Silbermöwe setzte zum Angriff an.
Mattis und seine Wilden standen ihm bei und hüllten die Promenade um die Bäckerei in ein krächzendes Möwenkonzert, das einer wehklagenden Orgel glich. Unter den schrillen Tönen seiner Freunde visierte Fiete sein Ziel an, kippte von dem Geländer und segelte direkt auf einen Tisch zu, an dem zwei sommersprossige Kinder saßen und Kakao tranken. Auf ihren Tellern lagen angebissene Wurst- und Käsebrötchen. Den frischen Obstsalat in der Mitte hatte keiner von beiden angerührt.
Für einen Augenblick eierte Fiete im Flug, wirkte unentschlossen. Dann zog er die Flügel schnell an und steuerte über die strohblonden Köpfe der Kinder hinweg, um auf einem Balkon über der Terrasse recht unbeholfen Halt zu finden.
Raudi und seine Leibwächter gackerten wie betrunkene Hühner. »Das schafft der nie!«, schrie Raudi lauthals über die Promenade. »Seine Angst rieche ich bis hier drüben.«
»Dem wird sein gehässiges Lachen gleich vergehen«, knurrte Haui und Mattis spürte, wie die kleine Zwergmöwe neben ihm unruhig mit dem rötlichbraunen Schnabel knirschte – stets ein Zeichen dafür, dass sein innerer Haudrauf an die Luft drängte.
Doch dieser Tag, so hoffte Mattis zumindest, sollte nicht mit einer Rauferei beginnen, zumal er Sveas Abscheu gegen Gewalt kannte und verhindern wollte, dass er sie noch mehr verärgerte.
»Nicht, Haui.« Mattis hielt seinen Freund zurück und strich ihm zur Beruhigung mit dem Flügel über den Rücken. »Raudi ist ein Dummschwätzer und die Mühe nicht wert.« Außerdem wusste er aus eigener Erfahrung, was für ein Verräter Raudi war. Und eine weitere Konfrontation mit dem Ältestenrat in dieser Woche wollte er unbedingt vermeiden.
Haui grummelte unzufriedene Worte, die Mattis nicht verstand, denn seine volle Konzentration galt Fiete, der zögerlich und verängstigt auf dem Balkon gegenüber hockte und Mattis mit traurigen Augen um Hilfe anflehte.
Helfen konnte er dem Kleinen jedoch nicht. Seine Berührungsängste vor Strandläufern musste Fiete selbst überwinden. Nur dann konnte er zu den Wilden gehören.
Aufmunternd zwinkerte Mattis ihm zu.
»Mach schon, Kleiner«, raunte Berti einen Ast tiefer. »Tief durchatmen. Arschbacken zusammenkneifen und Flügel ausfahren.«
Mattis schmunzelte. Hinter Fridberts harter Schale steckte doch ein weicher Kern.
Fiete kreischte zur Bestätigung seines Angriffs und setzte zum Sprung an. Im Sturzflug raste er auf den Kindertisch zu, schnappte sich mit dem Schnabel das Käsebrötchen des Mädchens, ohne auf dem runden Tisch abzusetzen. Bittere Tränen rannen der Kleinen die geröteten Wangen hinunter, während der Junge ihr gegenüber vor Lachen brüllte, sodass ihm Brötchenkrümel aus dem Mund flogen. Mit dem Finger zeigte er auf Fiete, der im hohen Bogen über die Terrasse flog, bis er hinter der Promenade auf dem hellen Geflecht eines Strandkorbs zum Stehen kam. Stolz präsentierte er das Käsebrötchen im Schnabel, wobei er es wie eine Trophäe in die Höhe hielt und anschließend gierig verschlang.
Erleichtert atmete Mattis auf. Jetzt konnte Fiete, der ihnen schon nachgeeifert hatte, seitdem er ein Küken war, ein vollwertiges Mittglied der Wilden werden.
Über die Promenade und den Strand ertönte lautstarker Jubel von den Möwen, die Fietes Manöver verfolgt hatten. Svea und die Seidenfedern fächerten ihre Schwingen und sangen aus voller Kehle, wobei Hilda und Stine so euphorisch mit den Bürzeln wippten, dass sie fast vom Balkon fielen. Ein ohrenbetäubendes Gekreische entstand, das jeden Strandläufer, der um diese Zeit noch im Bett des Appartementhauses lag, unsanft wecken musste.
»Jetzt ich!«, rief Pit und sah sich nach einem geeigneten Opfer um. Hektisch rannte er auf dem Ast hin und her, Berti musste die schwarzen Schwingen ausbreiten, um das Gleichgewicht zu halten. »Mach langsam. Es sind genug Strandläufer für alle da.«
Mattis wusste, dass Pit eine Vorliebe für besonders schwierige Fänge besaß. Nicht ohne Grund galt er als der beste Spieler bei Mensch ärgere dich, was der kleinen Lachmöwe den Spitznamen Langfeder eingebracht hatte. Noch nie hatte Pit seine Beute verloren.
»Geht in Deckung, Freunde«, krächzte eine bekannte Stimme. »Schielauge Pit versucht, zu jagen.«
Mattis schaute zum Balkon über der Bäckerei, auf dem die Biester saßen, und bemerkte, wie ihre Bäuche vor Boshaftigkeit wippten. Seine Lust auf eine ausgiebige Prügelei stieg mit jedem weiteren Lacher immer mehr an.
Auch wenn Pit es sich in der Regel nicht anmerken ließ, ahnte Mattis, dass er sich für seinen Augenfehler schämte. Mit gesenktem Kopf fixierte er schweigend seine roten Schwimmfüße.
»Soll ich, Mattis?« Unruhig hockte Haui neben ihm, wobei er fieberhaft zwischen ihm und dem Balkon der Biester hin und her blickte. »Die Mistvögel haben eine Abreibung verdient.« Er knirschte mit dem Schnabel, als nage er bereits an ihren Federn.
»Lass mal, Haui«, raunte Pit einen Ast unter ihnen. »Diese Dumpfmuscheln mit ihren Schandschnäbeln wissen es nicht besser.«
Als Mattis Pit sagen wollte, dass er sich irrte und dass er sich von den Biestern nicht ärgern lassen sollte, setzte Fiete neben ihm auf. Er keuchte, als hätte er an einem Wettschwimmen teilgenommen.
»Und? Wie war ich?«, fragte er nach Luft japsend und strahlte über das schmale, spitze Gesicht. »Habe ich das gut gemacht?«
»Du hast echt was drauf, Kleiner«, murmelte Berti, der sich den Kopf nach einer großen Tüte verlockender, frischer Brötchen fast verrenkte, die ein älterer Strandläufer soeben aus der Bäckerei hinaustrug. »So einen Dieb wie dich können wir gut bei den Wilden gebrauchen.«
Pit schenkte Berti ein Nicken und starrte – ebenso wie er – wie hypnotisiert auf die prall gefüllte Papiertüte.
»Aber ein Brötchen zu stehlen, ist leicht. Ich zeige euch, wie eine Langfeder das macht.«
Ohne ein weiteres Wort fiel Pit vom Ast und flog direkt auf den grauhaarigen Strandläufer zu, der auf die Promenade abgebogen war und in Richtung FehMare Badelandschaft ging.
Auf dem Rand der Düne, die an die Promenade grenzte, saßen die Schnattertanten fein säuberlich in einer Reihe und beaufsichtigten das Geschehen mit besonderer Aufmerksamkeit. Tag für Tag streiften die zehn älteren Tauben über die Promenade und zerrissen sich ihre spitzen Schnäbel über die tierischen Bewohner und Strandläufer des Südstrands.
»Sei vorsichtig, Langfeder!«, rief Mattis ihm hinterher, wohlwissend, dass Pit seine Worte ignorierte. »Der Strandläufer sieht kräftig aus.«
Doch für seine Warnung war es längst zu spät: Pit flog dem Strandläufer hinterher, steuerte auf seine Beute zu, erfasste die Tüte mit dem Schnabel, biss sich im orange-weißen Papier fest, rüttelte unnachgiebig daran und schlug aggressiv mit den hellgrauen Flügeln.
Die Möwen um die Bäckerei herum jauchzten vor Aufregung, während die Schnattertanten an der Düne nur mit den Augen rollten und tuschelten.
Mattis schrak zusammen und hielt den Atem an, als der Strandläufer mit der freien Hand nach Pit schlug. Sollte er dem Strandläufer auf den ergrauten Kopf fliegen und ihm mit flatternden Flügeln und lautem Gekreische Angst einjagen, um seinem Freund zu helfen? So hartnäckig wie er an seiner Tüte festhielt, würde Pit heute eine Niederlage erleiden.
Doch Pit wäre nicht die Langfeder vom Südstrand, wenn er sich nicht allein zu helfen wüsste. Er flatterte schneller, zuckte, ruckelte, wand sich, drehte sich im Flug – die Brötchentüte fest im Schnabel. Mit den Schwingen wedelte er im bärtigen Gesicht des Strandläufers herum, bis jener fluchend aufgab und sein Frühstück freigab.
Pits Siegeskrächzen schallte über den gesamten Südstrand, während er hastig das Appartementhaus ansteuerte, fast senkrecht an den Balkonen vorbei auf das rote Dach hinaufflog und nicht mehr zu sehen war.
Der ältere Mann lief seiner Tüte brüllend hinterher, hechtete um die Ecke der Strandburg, gelangte auf den Parkplatz und verschwand aus Mattis‘ Sichtfeld. Sein dumpfes Gezeter trug der Wind über die wellige Ostsee davon.
»Wo ist Pit gelandet?«, fragte Haui. »Sollen wir ihm helfen?«
Mattis ließ den Blick schweifen und unterdrückte das mulmige Gefühl, dass der Strandläufer Pit gefunden haben könnte.
Niemand ist besser in Mensch ärgere dich, sagte er sich innerlich wieder und wieder. Niemand ist besser.
»Dort drüben ist er!«, rief Mattis erleichtert, als er die Lachmöwe entdeckte, die in diesem Moment hinter dem Appartementhaus aufstieg – die Brötchentüte noch immer im Schnabel haltend. »Er fliegt zu unserer Eiche.«
Elegant und scheinbar die Ruhe selbst segelte Pit gelassen auf ihren Baum zu. Dort deponierte er seine Beute auf dem breiten Schlafast, die später ein üppiges Frühstück geben würde.
»Er ist und bleibt die Langfeder vom Südstrand«, hauchte Haui und nickte anerkennend. »Der Alte sitzt vermutlich auf dem Parkplatz und heult.«
Mit einem stummen Nicken stimmte Mattis ihm zu, während Fiete der Schnabel offenhing und er immer wieder vor sich hinmurmelte: »Das war der Wahnsinn. Das war der Wahnsinn.«
Mattis schmunzelte. »Eines schönen Tages wirst du das auch können, Fiete. Aber jetzt …« Er verfolgte Pit mit dem Blick, der sich wieder neben Berti auf dem unteren Ast niederließ und zufrieden strahlte. »Jetzt bekommst du erst einmal unser Brandzeichen.«
»Brand… was?« Sämtliche Begeisterung aus Fietes Gesicht wich purer Angst.
»Unser Zeichen«, hechelte Pit, der völlig außer Atem war, ihm jedoch freudig zuzwinkerte. »Dass du zu uns, zu den Wilden, gehörst.«
Fiete riss die Augen auf und rührte sich nicht mehr.
»Jetzt hat es ihm völlig die Sprache verschlagen.« Berti hüpfte nach oben, drängelte sich neben Fiete und stupste ihn mit dem Schnabel an. »Der Kleine sieht aus wie ausgestopft.«
»Pass auf, Fiete, sonst frisst der Dicke dich.« Raudis harsche Worte knallten wie Kanonenschüsse durch die Luft. Sein hämisches Lachen klang aufgesetzt und hohl.
»Jetzt reicht’s mir.« Noch ehe Mattis reagieren konnte, schoss Haui vom oberen Ast der Silberlinde hinunter und stürzte sich aufgebracht flatternd auf den gegenüberliegenden Balkon.
Ein wildes Hacken, Zwicken und Picken begann. Federn flogen durch die Luft, als Haui sich mit seinem Zwergmöwenkörper gegen Raudi schmiss und beide vom Geländer auf den Balkonboden krachten.
Frustriert seufzte Mattis, atmete tief ein und wieder aus. Eine knappe Woche lang waren sie jeder schnabelfesten Auseinandersetzung erfolgreich aus dem Weg gegangen, waren nicht mit der Entenpolizei in Konflikt geraten oder wurden vor den Ältestenrat zitiert, damit sein Vater und die anderen Ältesten sie abmahnen und mit abfälligen Blicken strafen konnten.
Mattis richtete sich kerzengerade auf und beobachtete mit schmalen Augen, wie Tillmann und Klaas sich auf die Kämpfenden warfen, um Haui von Raudis Rücken zu drängeln.
Scheiß auf den Ältestenrat!
»Fiete, du bleibst hier«, befahl Mattis der jungen Silbermöwe und blickte in Richtung von Pit und Berti, die begierig auf seine Erlaubnis warteten. »Jetzt folgt Lernphase zwei: Großmäulern den Schnabel stopfen.«
Zu dritt stürmten sie im Flug auf den Balkon gegenüber. Pit und Berti griffen die beiden Lachmöwen an. Mit kurzen, dynamischen Schnabelschlägen befreiten sie Haui aus ihrer festen Umklammerung. Er rieb sich den Bauch, als hätte er in einer eisernen Klammer gesteckt. Mattis kümmerte sich um Raudi, indem er ihm den Schnabel kräftig in das Gefieder rammte und ihm keine Möglichkeit ließ, zu entkommen.
Im Hintergrund verstummte das Getratsche der herumstehenden Möwen, alle Blicke ruhten anscheinend auf ihrem Balkon.
»Geh runter von mir, Mistmöwe«, keifte Raudi, dessen Schnabel so unangenehm kratzend über den Beton scharrte, dass Mattis sich die Nackenfedern aufstellten. »Du stinkst nach altem Fisch.«
Mit seinem Gewicht drückte Mattis ihn gegen den Boden und genoss die gequälten Laute, die Raudi ächzend von sich gab. Pit und Berti hielten die beiden Leibwächter in Schach, während Haui ihnen den kleinen schwarzen Kopf immer wieder in den Magen rammte. Dumpfes, säuerliches Stöhnen quoll wie Schaum aus ihren Schnäbeln, während Haui zufrieden grinste.
»Ich sage es dir nur noch ein einziges Mal, Raudi.« Mattis hielt seinen Schnabel dicht an dessen schmerzverzerrtes Gesicht. »Verschwinde mit deinem Pack aus meinem Gebiet. Der Südstrand gehört uns.« Schwungvoll pickte er gegen Raudis Kopf und hörte mit Genugtuung, dass jener leise vor sich hin jammerte. »Verstanden, Raudi?«
Wie in Zeitlupe hob und senkte der Anführer der Biester als stummes Einverständnis den schwarzen Kopf.
Mattis sprang von ihm herunter und Raudi ergriff sofort die Flucht auf das rote Dach des Appartementhauses. Von der Dachrinne aus starrte er hinunter, fuchtelte wild mit den Flügeln und brüllte: »Das wird Ärger geben, Mattis. Mein Vater sitzt auch im Ältestenrat. Vergiss das nicht.«
Innerlich stöhnte Mattis. Wie könnte er das vergessen? Es fiel ihm schon schwer genug, zu ignorieren, dass sein eigener Vater auf der Kohlhof-Insel saß und sich um die Belange der Möwen auf Fehmarn kümmerte.
»Kommt, Jungs«, sprach er erschöpft und winkte die anderen Wilden zu sich. »Lasst uns unser neuestes Mitglied willkommen heißen. Wir haben uns heute genug die Federn mit Dreck beschmutzt.«
»Aber ich bin mit diesen Lackaffen noch nicht fertig«, knurrte Haui und stieß Tillmann abermals den Kopf in die Rippen. Die kleine Lachmöwe ertrug den Schmerz mit zugekniffenen Augen und zusammengepresstem Schnabel, ohne einen Laut von sich zu geben.
»Los, Haui. Lass sie ziehen. Sie haben ihre Lektion gelernt.« Grimmig blickte Mattis die beiden Leibwächter von Raudi an. »Oder etwa nicht?«
»Doch, doch«, kreischten sie zusammen und flatterten wie ängstliche Küken aus Pit und Bertis Umklammerung zu Raudi auf das Dach.
Freudenkrächzer brachen unter den Piepmätzen und Möwengangs auf dem Platz vor der Bäckerei aus, als die Wilden zurück zur Silberlinde flogen und sich um Fiete herum versammelten. Nun würden die Biester woanders ihr Unwesen treiben.
»Ihr seid alle der Wahnsinn!«, rief Fiete und hüpfte wie ein kleines Küken aufgeregt von einem Bein auf das andere.
Während die Wilden sich gegenseitig mit tosendem Flügelklatschen und innigen Umarmungen beglückwünschten, suchte Mattis nach Svea. Doch weder sie noch die anderen Seidenfedern saßen auf dem Balkon über der Bäckerei.
Sein Blick wanderte über die Promenade. Zwischen den Strandläufern taumelten Tauben und suchten nach weggeworfenen Krumen. Ein Dunkler Ritter, sein Name war Dietrich, lief einem kleinen Jungen mit Schnuller im Mund hinterher und trieb ihn mit ausgebreiteten schwarz glänzenden Flügeln in eine Düne, auf der sich die Gräser des Strandhafers dem Wind beugten.
Als der Junge anfing, zu weinen, fand Mattis sie schließlich. Mit anderen Möwen – anderen männlichen Möwen – stand Svea auf einem der Strandkörbe, kicherte fröhlich und sorgenfrei.
Mattis‘ Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken daran, dass Svea ihn bei der Rauferei beobachtet haben könnte. Schon zu oft hatte er ihren enttäuschten Blick gesehen, wenn gerade er sich prügelte, denn sie verabscheute Gewalt aus tiefster Überzeugung. Sein Herz schmerzte, als er sich vorstellte, wie Svea den graublauen Kopf schüttelte und sich von ihm abwandte.
»Mattis!« Pit stieß ihm unsanft von hinten mit dem Flügel in den Rücken, sodass er wankte. »Ja oder nein?«
»Wie?« Er wandte sich um und blickte in die erwartungsvollen Gesichter seiner Freunde.
»Wollen wir Fiete jetzt brandmarken oder nicht?«
»Brandmarken klingt echt schmerzvoll.« Fiete wirkte blass, als übergebe er sich jeden Moment.
»Das ist es auch, glaub mir.« Mattis hob den rechten Schwimmfuß an und präsentierte Fiete das Zeichen der Wilden unter seiner Sohle: den Abdruck einer Herzmuschel. »Aber der Schmerz vergeht. Unsere Freundschaft hingegen bleibt ewig.«
Fiete sah aus, als würde er in Ohnmacht fallen, weshalb Mattis den silbergrauen Flügel ausbreitete und ihn um die junge Silbermöwe schwang – nur zur Sicherheit.
»Da mussten wir alle durch, Kleiner«, zischte Berti und stupste Fiete mit dem Kopf an. »Wenn du zu uns gehören willst, musst du auf die Innenseite einer Herzmuschel treten, bis sich ihr Abdruck in deinem Schwimmfuß verewigt hat.«
Fietes Schnabel sank niedergeschlagen nach unten und Mattis beschlich das Gefühl, dass es gleich Tränen geben würde.
»Komm schon, Fiete«, flüsterte er ihm mit einem Zwinkern aufmunternd zu. »Freunde für immer?«
In Fietes dunklen Augen wuchs ein Leuchten, das der strahlenden Sonne am Frühlingshimmel glich. »Ja!«, rief er aufgeregt. »Freunde für immer.«
Mattis liebte die Sonneninsel Fehmarn und seinen Südstrand.