4,49 €
Brandt Sigurdsson kennt nur einen Gedanken: Rache! Nie wird er verwinden können, dass seine Familie einst dahingemetzelt wurde. Doch auf der Suche nach den Mördern wird er verwundet! Als er wieder zu sich kommt, spürt er zarte Hände auf seiner geschundenen Haut, die ihn liebevoll pflegen. Wer ist dieser barmherzige Engel? Der stolze Wikinger muss feststellen, dass die fürsorgliche Katla sich nicht ganz freiwillig um ihn kümmert. Dennoch umsorgt sie ihn voller Hingabe, und auch sein kaltes Herz beginnt wieder zu heilen. Doch dann muss er feststellen: Sie ist die Tochter seines Todfeindes!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 386
IMPRESSUM
HISTORICAL erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2020 by Theresa S. Brisbin Originaltitel: „Tempted by Her Viking Enemy“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL, Band 386 05/2023 Übersetzung: Ralph Sander
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751515962
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY
Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de
Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.
Er liebte sie. Es hatte eine Weile gedauert, bis er in der Lage gewesen war, diese Erkenntnis einzugestehen – sich selbst und dann auch ihr gegenüber. Aber nun wusste er es genau. Er liebte sie.
Brandt Sigurdsson drehte sich im Dunkel der Nacht auf die Seite und beobachtete, wie seine Frau neben ihm schlief. Die Flammen, die immer noch in der Feuergrube loderten, tauchten ihr sanftes Gesicht, das er aufmerksam betrachtete, in glutrotes Licht. Er schob die Felle nach unten und sah zu, wie sich bei jedem Atemzug ihre Brüste hoben und senkten. Der Anblick seines Geschenks, das sicher im Tal zwischen ihren Brüsten ruhte, ließ ihn lächeln.
Damit war Ingrid als ihm gehörend markiert. Sie trug es auf ihrem Herzen, damit sie nach ihren eigenen Worten immer seine Berührung auf ihrer Haut spüren konnte.
Dieser Gedanke zauberte ihm ein noch breiteres Lächeln auf die Lippen. Er streckte den Arm behutsam aus und ließ die Hand unter die Felle gleiten, um sie auf ihrem leicht gewölbten Bauch ruhen zu lassen. Ingrid bewegte sich ein wenig, woraufhin er innehielt, da er nicht ihren Schlaf stören wollte, aber auch nicht gewillt war, seine Hand wegzunehmen. Sie rutschte enger an ihn heran und legte den Kopf auf seinen Arm.
Sein Sohn.
Es war sein Sohn, der in ihr heranwuchs, sein Sohn, der mit jedem Tag etwas größer und stärker wurde, bis der Tag erreicht war, an dem er zur Welt kommen würde.
Brandt spreizte die Finger und wartete darauf, dass er etwas spürte.
Ein Zeichen dafür, dass ein Leben in ihr gedieh.
Erst heute Morgen, nachdem er einige Wochen im Auftrag seines Vaters unterwegs gewesen war, um sich um dessen Angelegenheiten zu kümmern, hatte Ingrid ihm davon berichtet, dass sie eine Bewegung bemerkt hatte. Mit einem Flattern hatte sie es verglichen. So als würden die Flügel eines Schmetterlings über ihre Haut streichen, hatte sie gesagt. Und daher wartete er nun in der Dunkelheit, eine Hand auf ihrem Bauch, ohne wirklich zu wissen, was ihn erwartete.
„Hast du das gespürt?“, fragte Ingrid leise, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Hatte er sie aufgeweckt?
„Dort musst du deine Hand hinlegen.“ Sie schob sie nach unten, bis seine Finger fast ihre Locken berührten und seine Hand auf der unteren Hälfte ihres Bauchs ruhte.
„Und nun müssen wir zu den Göttern beten, dass sie deine Hand das Leben deines Sohns spüren lassen.“
Brandt tat, was sie sagte, und bot jedem Gott, der bereit war, ihm zuzuhören, eine ganze Litanei an Gebeten an. Das letzte Gebet schickte er an Thor, jenen Gott, dem er sich am engsten verbunden fühlte und dessen Symbol er und Ingrid trugen. Es war vollkommen still, und auf einmal geschah etwas. Dort, unter seiner Hand, war der Hauch einer Bewegung wahrzunehmen. Keine richtige Bewegung, dennoch konnte er spüren, dass da etwas war.
„Mein Sohn!“, flüsterte er.
„Dein Sohn, Brandt.“
Sie ließ ihre Hand auf seiner liegen und drückte sie weiter auf ihren Bauch, während sie beide auf ein weiteres Zeichen warteten.
Dass so etwas überhaupt möglich war, ließ ihn in Ehrfurcht erstarren. Sein Sohn. Ihr gemeinsamer Sohn. Das Kind, von dem sie beide geglaubt hatten, dass sie es nie würde austragen können. Das seit so langer Zeit erhoffte Kind bewegte sich in ihr.
Als sich der Augenblick zu sehr in die Länge zu ziehen begann, ohne dass unter seiner Hand noch etwas geschah, rückte Brandt ein kleines Stück von ihr ab und rollte sie behutsam auf den Rücken. Dann fasste er nach dem Anhänger, gab ihm einen Kuss und legte ihn zurück zwischen ihre Brüste, um sie anschließend auf den Mund zu küssen.
„Ich bete jeden Tag zu den Göttern, Ingrid, dass du das alles unbeschadet überstehst. Und dass unser Sohn als starker und kluger Junge zur Welt kommt. Und dass ihm noch sehr, sehr viele folgen.“
Abermals küsste er sie und erfreute sich daran, dass sie sich ihm öffnete und seiner Zunge Einlass gewährte, damit er von ihr kosten konnte. Als sie sich fest an ihn schmiegte und ihre Beine allmählich rastlos wurden, ließ er seine Hand zurück zu den Locken oberhalb ihrer Schenkel wandern. Er hörte Ingrid stöhnen, worauf er seine Finger zwischen ihre Beine gleiten ließ und sie zu streicheln begann.
Sie spreizte die Beine, er schob sich über sie und drang dort tief in sie ein, wo bislang nur er gewesen war.
„Ingrid, meine Liebe“, stieß er ächzend hervor, als er ganz in ihr versank. „Ich bete dafür …“
Mehr sagte er nicht, da er ganz damit befasst war, ihren reifenden Körper anzubeten und ihr Lust zu bescheren. Seine Hälfte des zerteilten Anhängers, den er für sie beide geschaffen hatte, hing an der Kette um seinen Hals so weit nach unten, dass er ihre Hälfte berührte, gerade als sie beide Befriedigung erfuhren.
Aus Sorge, dass sein Gewicht für sie unbehaglich sein könnte, rutschte er zur Seite und legte sich neben sie, obwohl er sie noch gar nicht wieder loslassen wollte.
„Wofür betest du noch, mein Ehemann?“, flüsterte sie.
„Ich bete dafür, dass wir beide genügend Tage und Nächte haben werden, damit ich dir meine Liebe immer und immer wieder beweisen kann, mein Weib.“ Er küsste sie. „Denn ich beabsichtige, dir in dieser Nacht Lust zu schenken.“ Noch ein Kuss. „Und morgen ebenfalls …“ Wieder eroberte er ihren Mund. „Und übermorgen genauso …“ Dann küsste er sie, bis sie erneut nach Atem ringen musste.
Als sie daraufhin zu lachen begann, hallte dieser sanfte Klang in seinem Leib, seinem Herzen und seiner Seele wider, löste in ihm Lust und ein Gefühl von Behaglichkeit aus, von dem er nie für möglich gehalten hätte, dass er es gemeinsam mit ihr würde empfinden können. Die Verbindung, die durch ihre Heirat entstanden war, hatte dem Königreich seines Vaters viel eingebracht – Silber, Sklaven, Pelze, Ländereien. Mehr als das war nicht zu erwarten gewesen, doch dann hatte er sie bekommen … Ingrid.
„Bestimmt werden uns die Götter all die Tage gewähren, die wir brauchen, Brandt.“
Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, und er wurde von blankem Entsetzen erfasst, doch ihre Nähe ließ das Gefühl rasch wieder abklingen.
„Aye, mein Ehemann“, fuhr sie fort. „Ich werde dafür beten, dass wir all die Tage und die Nächte bekommen, damit du mir deine Liebe zeigen kannst.“
Sie kletterte auf ihn, setzte sich auf ihn und drückte die Knie gegen seine Hüften, um sich an seinen Schaft zu schmiegen. Beim Anblick ihrer vollen Brüste mit ihren dunkleren Knospen juckte es ihn in den Fingern, da er sie liebkosen wollte.
„Und damit ich dir meine Liebe zeigen kann, mein Ehemann.“ Ingrid beugte sich vor und kostete von seinem Mund, seinem Körper und seiner erwartungsvoll aufgerichteten Männlichkeit.
Es verging eine Weile, ehe der Schlaf ihn übermannte. In dieser langen und ganz besonderen Nacht vereinten sie sich noch einige Male.
Als er neben ihr lag und über ihr Haar strich, flüsterte sie noch einmal: „All die Tage, Brandt. All die Tage.“
„All die Tage.“
Er erwachte mit ihren Worten auf seinen Lippen. Brandt tastete nach Ingrid, doch seine Finger berührten nur den harten, kalten Untergrund. Er stand auf, sah sich um und erlangte die Orientierung zurück. Durch das Fell, das er zum Schutz über sich geworfen hatte, waren der eisige Regen und der Schnee der vergangenen Nacht fast vollständig abgehalten worden. Die Pelze um seine Füße hatten ihn gewärmt und weitgehend trocken gehalten, auch wenn der winterliche Wind über ihn hinweggefegt war und jede noch verbliebene Wärme mit sich gerissen hatte. Die bittere Kälte sorgte dafür, dass die Erinnerungen schneller in Vergessenheit gerieten, während er sich dazu zwang, sich zu bewegen.
Bei den Göttern! Für einen Moment hatte er doch tatsächlich geglaubt, dass sie noch lebte und in seinen Armen lag, dass sie sich der Lust zwischen ihnen beiden hingegeben hatte. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, dann hob er die Pelze auf und rollte sie zusammen, damit sie nicht nass wurden. Brandt konnte immer noch ihre Stimme hören, er schmeckte ihre salzige Haut so wie früher, wenn er über ihre Haut geleckt hatte, er spürte, wie es sich anfühlte, wenn sie am ganzen Leib zitterte und vor Befriedigung aufschrie. Seine Männlichkeit erwachte bei der Erinnerung daran.
Laut fluchend begann er seine Lagerstätte zusammenzupacken, während er bemüht war, sie aus seinen Gedanken zu verdrängen. Zumindest war dieser Traum besser gewesen als die Erinnerungen, die ihn normalerweise im Schlaf heimsuchten. Diese Träume … nein, diese Erinnerungen plagten ihn in der Nacht, indem sie ihm die Bilder und die Schreie seiner Angehörigen zurückbrachten, die vor seinen Augen im Sterben lagen, als er an dem Tag nach Maerr zurückgekehrt war, an dem sein Bruder hatte heiraten sollen.
Anstatt an deren Seite zu sein und den Feind zu bekämpfen, als ein Verrat sie in den Tod schickte, waren Brandt und sein Halbbruder Rurik viele Meilen nördlich unterwegs gewesen. Zwar waren sie sofort umgekehrt, als sie von den Geschehnissen erfahren hatten, doch bei ihrer Rückkehr stand das Dorf in Flammen, ihr Vater war genauso ermordet worden wie etliche andere aus seiner Familie.
Brandt hatte jegliche Beherrschung verloren, als er Ingrids Leichnam inmitten der Opfer entdeckt hatte. Ingrid und der Sohn, der schon bald zur Welt hätte kommen sollen.
Er konnte sich daran erinnern, dass er neben ihr auf die Knie gesunken war und zu einem Aufschrei angesetzt hatte, der tief aus seinem Inneren gekommen war und kein Ende hatte nehmen wollen. Und dann war die Wut entfesselt worden, die schon immer dicht unter der Oberfläche gebrodelt hatte und durch die er seinem Vater so ähnlich war. Als er wieder zur Besinnung gekommen war, hatte er feststellen müssen, dass er die Hände um den Hals seines jüngsten Bruders gelegt hatte, dem er vorwarf, Ingrid nicht beschützt zu haben, obwohl er ihm genau das versprochen hatte. Er war kurz davor gewesen, seinen Bruder zu töten.
Dies waren die Erinnerungen, denen er seit jenem entsetzlichen Tag vor über drei Jahren im Dunkel der Nacht und in den einsamen, stillen Momenten ausgeliefert war. Es waren die Erinnerungen, die sein Herz hatten hart werden lassen, seit ein Verrat seine Familie und sein Leben ruiniert hatte.
Er fasste nach den zwei Hälften des Anhängers, die er jetzt beide bei sich trug – seine eigene sowie die von Ingrid, auf die Sandulf durch Zufall gestoßen war, als er auf der Suche nach Beweisen gewesen war, mit denen die Hintermänner jenes Plans entlarvt werden konnten, die den Tod seines Vaters Sigurd und dessen Söhne gewollt hatten. Ziel war es gewesen, die Familie um ihre Ländereien, ihre Titel, ihren Wohlstand und ihre Macht zu bringen. Der Beweis dafür waren Anhänger, mit denen seine Tante bezahlt worden war, um über die Geheimnisse ihrer Schwester Stillschweigen zu wahren – womit auch die Beteiligung des Ehemanns ihrer Tante an dem Plan bewiesen war. Diese Beweisstücke, die nur darauf warteten, zum Einsatz zu kommen, trug er sorgfältig verborgen in seinem Waffenrock mit sich herum.
Brandt durchsuchte eine seiner Taschen, bis er das getrocknete Fleisch gefunden hatte. Er ließ sich Zeit damit, von diesem Fleisch zu essen, ehe er sich wieder auf den Weg machte.
Er hatte Danr auf Skíð im Westen zurückgelassen, war auf einem von Knuts Schiffen gereist und hatte dann ganz Sutherland durchqueren müssen, um nach Katanes zu gelangen, wo sich der Mann aufhielt, den er jagte. In einem warmen Monat wäre eine Seereise viel kürzer ausgefallen, doch mitten im Winter war der Landweg die einzige Möglichkeit. In dieser Jahreszeit war die See viel rauer und heimtückischer. Viele Boote und ihre Besatzungsmitglieder fielen dem Zorn des Meeres so zum Opfer, wie es mit den Menschen geschah, die unter den Zerstörungen litten, die durch den Zorn der Götter ausgelöst worden waren.
Noch höchstens drei Wochen Reise lagen vor Brandt, dann würde er endlich dem Mann gegenübertreten, der alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um Sigurd und dessen Söhne zu vernichten. Ganz gleich, was ihn erwartete und ob er am Ende überleben oder sterben würde, Brandt war entschlossen, die Ehre seines Vaters wiederherzustellen und den Unschuldigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, deren Blut nach Rache schrie.
Dieses Ziel hatte ihn in den letzten Jahren am Leben erhalten und ihn vorangetrieben. Trotz Trennung und Exil, trotz Entbehrungen und Einsamkeit hatte ihn das Verlangen angespornt, Blut mit Blut zu vergelten. Obwohl ihm der bitterkalte Winterwind entgegenwehte, begann er zu lächeln, während er seine Habseligkeiten einsammelte. Als er sich zwang, auf dem verschneiten Grund einen Fuß vor den anderen zu setzen, wusste er, er war seinem Ziel so nah wie nie zuvor. Er stand so kurz davor, Gerechtigkeit zu erwirken, dass sein Blut in Wallung geriet und nach dem bevorstehenden Kampf gierte. Ganz gleich, was kommen würde, er war bereit, die Ehre seines Vaters zu rächen. Er würde den Verbrecher zur Rechenschaft ziehen und den Tod seiner Frau und seines ungeborenen Sohns vergelten.
Denn das, was ihn diesem kurzlebigen, aber überwältigenden Wahnsinn hatte anheim fallen lassen, waren die Worte, die jemand in seiner unmittelbaren Nähe geflüstert hatte. Worte, die bestätigten, dass das Kind tatsächlich ein Junge gewesen war. Bis auf Weiteres würde er den Wahnsinn im Zaum halten und den zur Rede stellen, der für diese Tat verantwortlich war. Dann würde er den Berserker in seinem Inneren entfesseln, um den einen zu vernichten, der sie alle hatte vernichten wollen.
Die Burg Wik, Katanes – Caithness, Schottland
Mitte Dezember im Jahr des Herrn 877
Der Sonnenschein schaffte es an diesem Tag kaum durch die Wolkendecke. So kurz vor der Sonnenwende war Tageslicht ein kostbares Gut, und es erfüllte Katla Thorfinnsdottir mit Traurigkeit, dass das nahende Unwetter ihr noch mehr davon vorenthalten würde. Sie zog sich ihren Pelzumhang enger um die Schultern und sah hinauf zum Himmel. Aye, dort oben braute sich ein Unwetter zusammen, das von Westen kam und sich in Richtung Meer bewegte. Die frische kalte Luft trug den Geruch von Feuchtigkeit mit sich und kündigte den ersten schweren Schneefall für Katanes und die Ländereien ihres Vaters hier in Alba an.
Die Aufgaben, die sie hierher nach draußen geführt hatten, waren erledigt, und Katla überquerte den Hof vor dem Bergfried, um die Stufen hinaufzugehen, über die man auf die Burgmauer gelangte. Die Feste war eine Mischung aus Stein- und Holzbauten, die ein Spiegelbild ihres Haushalts darstellten. Das Piktenblut ihrer Mutter hatte sich mit dem nordischen Blut ihres Vaters vermischt. Die Cousins, Arbeiter und Krieger konnten allesamt gälische, piktische oder nordische Vorfahren oder sogar solche aus Éireann vorweisen, und sie alle hatten auf Burg Wik ihr Zuhause gefunden.
Die von Steinmauern umgebene Feste, die weit davon entfernt war, als Burg bezeichnet zu werden, stand auf einem Felsvorsprung gleich an der Nordsee und trotzte dort dem starken Wind und der Strömung, die unaufhörlich Wellen an Land trieb.
Katla erreichte den Treppenabsatz, der in Richtung Landesinnere wies, und blickte über die Mauer hin zum Dorf und dem angrenzenden Wald. Während sie schweigend dastand, wurde der Wind noch stärker, doch er kam diesmal aus dem Landesinneren, nicht von dort, wo die Wellen tobten.
Aye, es würde ein schweres Unwetter werden. Katla drehte sich weg und wandte sich an Enfreth, den Cousin ihrer verstorbenen Mutter, der als ihr Verwalter diente und schon die ganze Zeit über dicht hinter ihr war.
„Ist das Vieh von den Weiden geholt worden? Sind die Lager bereit für den Winter?“
„Aye, Mylady. Wir hatten Glück, dass das gute Wetter länger angehalten hat als sonst üblich“, sagte er.
Enfreth war tüchtig und sehr erfahren, er hatte die dreißig Jahre, die er inzwischen alt war, hier in Katanes verbracht. Er hatte gescherzt, seine Knochen hätten ihm gesagt, dass die nächste Jahreszeit angebrochen sei und Stürme mit sich bringen würde. Für Katla hatte es keine Veranlassung gegeben, an seinen Worten zu zweifeln. Viele Menschen waren darin bewandert, Anzeichen für anstehende Veränderungen zu erkennen, ob es die Farbe des Laubs war, der Zug der Vögel oder das Verhalten zahlreicher Tiere an Land und im Wasser. Sie und alle anderen hier konnten sich glücklich schätzen, dass Enfreth Thorfinn Bjornsson diente und sich um dessen hiesige Anwesen kümmerte.
Katla nickte und wollte sich eben wieder nach drinnen begeben, als die Wachen im Turm auf einmal zu rufen begannen. Sie sah in die Richtung, in die sie zeigten, und entdeckte einen Mann, der sich ihnen von Süden her näherte.
Der Mann war sehr groß, in Pelze gehüllt und ganz allein. Ein einzelner Mann sollte nicht eine solche Aufregung auslösen, deshalb blieb sie stehen und sah mit an, wie er näher kam. Unbehagen machte sich breit, und schon bald herrschte gebannte Stille, als er vor dem Tor stehen blieb.
Katla fand, dass er noch größer war als Arni Gardarsson, der Kommandant ihrer Stiefmutter, und der war schon der größte Mann, den sie je zu Gesicht bekommen hatte.
Dieser Mann trug keine Kopfbedeckung, sein langes dunkles Haar hatte er zum Pferdeschwanz zusammengebunden. In der linken Hand hielt er eine riesige Axt, die rechte ruhte auf dem Heft seines Schwerts, das gut halb so groß wie er selbst zu sein schien. Breitbeinig stand er da und wirkte wie ein Krieger, der zum Angriff bereit war. Er legte den Kopf in den Nacken und brüllte: „Thorfinn!“
Darin, wie er den Namen ihres Vaters aussprach, schwang solcher Hass mit, dass ihr vor Angst ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Sie klammerte sich an ihrem Umhang fest und stand wie erstarrt da, sodass sie sich nicht zu rühren vermochte.
„Thorfinn Bjornsson, ich fordere dich heraus!“, rief er nun.
Dann nahm die Stille ein jähes Ende, da die Wachen schlimmer waren als die alten Weiber, die über jeden und alles herzogen, wenn sie im Großen Saal saßen, um Wolle zu spinnen. Erst Alfarans Ankunft ließ die Männer wieder verstummen.
„Mylady, Ihr solltet Euch in den Saal begeben“, riet Alfaran ihr, als er an ihr vorbeiging. „Ich werde mich um das hier kümmern.“
„Wer ist der Mann?“
Alfaran stand jetzt an der Brustwehr und schaute nach unten. Dann schüttelte er den Kopf und fluchte leise. „Davin, geh und such nach dem Jarl. Sag ihm, er soll schnellstens herkommen.“
„Wer ist der Mann?“, fragte sie erneut, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
„Jemand, von dem ich nicht gedacht hätte, dass ich ihn je wiedersehen würde, vor allem nicht hier“, sagte er. „Ihr solltet Euch in den Saal zurückziehen, Mylady. Dies hier ist nicht der richtige Ort für Euch, wenn Euer Vater erst einmal hier ist.“
„Alfaran?“
Ihr Vater verließ soeben den Bergfried, sein Schwert steckte in der Scheide an seinem Gürtel, den Umhang hatte er sich über die Schultern gelegt. Mit ausholenden Schritten eilte er auf das geschlossene Tor zu.
„Wer ist es?“
„Brandt Sigurdsson.“
Noch nie zuvor hatte Katla miterlebt, dass die simple Nennung eines Namens eine solche Wirkung auslöste. Ihr Vater blieb so abrupt stehen, dass sein eigener Schwung ihn noch nach vorn trieb und er beinahe der Länge nach im Morast gelandet wäre. Dann stand er da und starrte das Tor an, als würde er versuchen hindurchzusehen. Die Wachen sahen alle Alfaran an und machten einen entsetzten und ungläubigen Eindruck. Jeder von ihnen schien die Luft anzuhalten.
Brandt Sigurdsson?
Den Namen hatte sie schon länger nicht mehr gehört.
Auf jeden Fall nicht mehr, seit ihre Stiefmutter Kolga zeitig in ihre eigenen Ländereien im Norden zurückgekehrt war, bevor das winterliche Wetter die See unpassierbar gemacht hatte und sie seitdem hier festsaßen. Sie beugte sich vor, um einen Blick auf diesen Riesen zu werfen, dabei überlegte Katla, was genau sie eigentlich über den Mann wusste.
Er war der älteste Sohn von Hilda, Kolgas Schwester. Er war ein Gesetzloser, den der König aus den Nordländern verbannt hatte, um seinen Platz von Kolgas Sohn einnehmen zu lassen.
Weiter kam sie mit ihren Überlegungen nicht, da der Mann in diesem Moment seinen Mantel von den Schultern zog und erkennen ließ, dass er nur seine Hose, die Stiefel und sein Schwert trug. Bei diesem Anblick konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Farbige Symbole zierten Brust und Rücken sowie die Arme. Ein dichter Pelz aus dunklen Brusthaaren ließ die Konturen seiner Muskeln nur umso deutlicher hervortreten. Als der Mann ein wenig seine Position veränderte, konnte sie beobachten, wie sich unter dem Stoff seiner eng anliegenden Hose die Beinmuskeln abzeichneten. Dieser Mann war eine von den Göttern geschaffene Waffe.
„Bist du dir sicher, Alfaran?“, fragte ihr Vater, der den plötzlichen Schreck zu überwinden begann, als er sich unterhalb seines Kommandanten hinstellte.
„Aye, Jarl, er ist es.“
„Ich hatte ihn für tot gehalten“, sagte ihr Vater etwas leiser, als wäre er in ein Gespräch mit sich selbst vertieft. „Öffnet das Tor.“
„Jarl?“, hakte Alfaran nach.
„Vater, hältst du es für klug, dass …“ Ihre Stimme war lauter, als sie selbst erwartet hatte, und wurde bis zu ihrem Vater dort unten getragen.
„Öffnet das Tor!“, rief er noch einmal. „Und du geh nach drinnen, Katla.“
Zwei Wachleute hoben den schweren Holzbalken an, der die beiden Torflügel geschlossen hielt, während zwei weitere Wachleute hinter dem Jarl in Stellung gingen. Katla begann sich zu entfernen, da sie versuchte, die gehorsame Tochter zu sein, doch ihre Füße wollten nicht so wie sie selbst. Sie musste unbedingt herausfinden, warum dieser Mann, dessen Name genügte, um diese beobachtete Reaktion hervorzurufen, hergekommen war und was er von ihrem Vater wollte.
Wenn sie sich nicht irrte, dann galt er im Norden zwar als Gesetzloser, aber er war mit ihrer Stiefmutter verwandt, und von daher sollte er als willkommener Gast behandelt werden, nicht aber ihren Vater zu einem Kampf herausfordern.
„Ich dachte, du bist zu feige, um mir gegenüberzutreten, Thorfinn der Verräter.“
Brandt Sigurdssons laute Stimme trug die Beleidigung in jeden Winkel des Burghofs und bis hinauf zu den Männern auf der Mauer. Das Echo der Herausforderung erreichte ihn, als ihr Vater das Tor durchschritt und wieder stehen blieb, um die beiden Wachen wegzuschicken. Als sie ihm etwas zurufen wollte, fasste Alfaran sie an den Schultern.
„Ihr müsst jetzt schweigen, Mylady“, sagte er in energischem Tonfall. „Lenkt ihn nicht ab, sonst könnte das seinen Tod bedeuten.“
Im festen Griff des Kommandanten befindlich, musste sie mitansehen, wie dieser Brandt vom Tor zurückwich und begann, sein Gewicht von einem Bein aufs andere zu verlagern. Ganz so wie ein Krieger, der noch überlegte, wie und wann er angreifen sollte.
Katla setzte sich gegen Alfarans Griff zur Wehr. „Ihr solltet da unten bei Eurem Jarl sein, anstatt mich festzuhalten!“, zischte sie ihm zu.
„Sagt mir nicht, was ich zu tun habe, Mylady. Ich befolge ausschließlich Anweisungen von Eurem Vater, von niemandem sonst.“
Seine Hände schlossen sich noch fester um ihre Schultern, bis die Schmerzen sie nach Luft schnappen ließen. Dann endlich hatte sie sich aus seinem Griff befreit und rieb über die Stellen, an denen er ihr wehgetan hatte. Dass Männer auch immer ihre überlegene Kraft ins Spiel bringen mussten! Von einer Frau konnten sie keine Herausforderung annehmen, aber genossen es, wenn sie von einem anderen Krieger kam.
„Wenn Ihr Euch schon den Anweisungen Eures Vaters widersetzt, dann bleibt zumindest hier oben“, knurrte er. „Lasst Euch gesagt sein, dass Ihr bei seiner Rückkehr für Euren Ungehorsam bezahlen werdet.“
Katla begab sich zu einer geschützten Stelle genau dort, wo die Burgmauer einen Knick machte, und sah nach unten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, verursacht sowohl von der Angst vor der Bestrafung ihres Ungehorsams durch ihren Vater als auch von der Gefahr, die in der Luft hing. Als sie den Blick kurz vom Geschehen dort unten abwandte, fiel ihr auf, dass Alfaran den anderen Wachen verschiedene Handzeichen gab. Dann schien er jemandem auf der anderen Seite der Mauer zuzunicken, und sie stellte fest, dass auf der gegenüberliegenden Seite der Straße weitere Wachen in Position gegangen waren.
Dieser Mann, der ihren Vater herausgefordert hatte, stand auf verlorenem Posten. Er würde tot sein, noch bevor er mit dem Schwert ausholen konnte.
Während sie ihn weiter beobachtete, bewegte er sich einmal langsam um ihren Vater herum, wobei er sich zugleich ein Bild von seiner Umgebung machte. Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke, und die Wut und der Hass in seinen Augen verschlugen ihr den Atem.
„Du hättest nicht herkommen sollen, Brandt“, sagte ihr Vater, während er sein Schwert zog und es vor sich hielt. „Gesetzlose haben kein Recht, einen freien Mann herauszufordern.“ Wie bei einem langsamen Tanz drehten sie sich gemeinsam im Kreis. „Wirf dein Schwert weg, und ich lasse dir dein Leben.“
„Hast du meinem Vater das gleiche verlogene Angebot gemacht, bevor du ihn und meine Familie abgeschlachtet hast? Oh, aber nicht doch. Du hast ja die Gastfreundschaft seines Haushalts in Anspruch genommen, um bei der Hochzeit meines Bruders dabei zu sein, nicht wahr? Er hatte gar keine Waffe zur Hand, weil er sie gar nicht erst getragen hatte.“ Er sprach im Takt seiner Schritte, und Katla konnte spüren, wie die Anspannung stieg, da jeder, der den beiden zusah, darauf wartete, dass einer von ihnen den ersten Schlag führte. „Du Verräter an deinen eigenen Schwüren. Du Feigling, der Unschuldige niedermetzelt. Du wertloses Nichts, das meine Frau und mein ungeborenes Kind ermordet hat.“ Gleich nach dieser schwerwiegenden Beleidigung spuckte er auf den Boden und war darum bemüht, den Füßen ihres Vaters so nahe wie möglich zu kommen. „Los, mach schon. Versuch doch wenigstens, ehrenhaft in den Tod zu gehen.“
Keuchend schnappte sie bei diesen Worten nach Luft, da sie sich nicht einmal vorstellen konnte, dass ihr Vater ein solcher Mann sein sollte. Er war stark, und er konnte unerbittlich sein, aber eine Frau zu töten, die ein Kind erwartete? Ehe sie noch weiter darüber nachdenken konnte, tat Brandt Sigurdsson einen Ausfallschritt und holte mit dem Schwert nach ihrem Vater aus.
Beide bewegten sie sich wie die Überbringer des Todes, die sie auch waren. Beide waren unübersehbar talentierte Krieger, beide besaßen viel Geschick im Umgang mit Kriegswaffen. Die Vorteile, die ihr Vater durch deutlich mehr Jahre Erfahrung und durch seine ausdauernden Kräfte hatte, schwanden jedoch schon bald dahin, da der jüngere Mann ihnen unnachgiebigen Hass und Zorn entgegensetzte. Mit Schwert und Axt schlug er auf ihren Vater ein, bis der das Gleichgewicht verlor und auf dem schmutzigen Boden landete.
Noch während ihr Vater sein Schwert abwehrend hochhielt, wusste Katla, dass er sich damit nicht vor dem todbringenden Hieb schützen konnte, der ihm sein Ende bringen würde.
In diesem Moment stieß Alfaran einen langen, grellen Pfiff aus, der die Aufmerksamkeit aller auf ihn lenkte. Sogar der Mann, der ihren Vater töten wollte, hielt inne und sah nach oben. Dann wanderte sein Blick zunächst an der Mauer entlang und erfasste danach die Bäume hinter ihm. Ein lauter, anhaltender Fluch kam dem Mann über die Lippen, aber er holte noch nicht mit seinem Schwert aus.
Ehe er jedoch noch etwas sagen oder tun konnte, rief ihr Vater: „Töte ihn nicht, Alfaran! Ich stehe in seiner Schuld, weil er mir im Kampf das Leben gerettet hat.“
„Jarl!“, gab Alfaran zurück.
Katla konnte dem Kommandanten ansehen, dass ihm der Befehl ihres Vaters nicht gefiel. Ihr aber auch nicht. Ihre Handflächen wurden feucht, eine Schweißperle lief ihr den Rücken entlang, während sie damit rechnete, hilflos den Tod ihres Vaters mitansehen zu müssen.
„Töte ihn nicht!“, wiederholte ihr Vater.
„Nein!“, brüllte der Mann ihn an. „Ich werde dich töten!“ Dann hob er das Schwert hoch über seinen Kopf und zielte mit der todbringenden Spitze auf die Brust ihres Vaters. Katla musste sich den Mund zuhalten, um nicht vor Entsetzen zu schreien und irgendwen abzulenken, der in diesen Tanz des Todes verstrickt war.
Als Alfaran einen weiteren Pfiff ausstieß, begannen die Pfeile zu fliegen, von denen sich viele in den Arm und das Bein des Mannes bohrten, der herumwirbelte und dabei zu Boden ging. Noch bevor Katla einen Atemzug tun konnte, hatten sich schon die Wachen auf ihn gestürzt und prügelten ihn bewusstlos.
„Tötet ihn nicht!“, wies ihr Vater seine Männer erneut an und brachte die Wachen dazu, ihren Angriff auf den Mann einzustellen.
Alfaran eilte zu ihrem Vater und hielt ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Dann hob er die Waffen des anderen Mannes auf und brachte sie dem Jarl.
„Bringt ihn rein!“, befahl ihr Vater, und als Alfaran daraufhin das Kinn trotzig hob, als wollte er ihm offen widersprechen, fügte er hinzu: „Ich verdanke ihm mein Leben, daher werde ich ihm seins nicht nehmen. Wenn das Wetter sich bessert, werde ich ihn zu Harald bringen, damit der ein Urteil fällt.“ Zwar nickte Alfaran, dennoch legte ihr Vater ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten. „Er wird nicht in meiner Obhut sterben, Alfaran. Sorg dafür, dass ihm nichts zustößt.“
Katla ließ sich gegen die Mauer hinter ihr sinken und zwang sich, tief Luft zu holen. Sie zitterte am ganzen Leib so sehr, dass sie sich nicht auf den Beinen halten konnte und sich an der Mauer festklammern musste. Wie hatte es dazu kommen können? Sollte irgendeine seiner Anschuldigungen wahr sein? Sie würde ihren Vater nach der Wahrheit fragen müssen, doch für den Augenblick war er zweifellos zu aufgebracht – wegen des Kampfs und wegen ihres Ungehorsams. Sie musste abwarten, bis die Diener seine Verletzungen versorgt hatten und seine Wut verraucht war.
Die Wachen kamen auf dem Hof zusammen und schleiften den großen Mann hinter sich her in die Feste. Ihr Vater redete immer noch mit Alfaran, und danach zu urteilen, wie sie beide allmählich lauter wurden, schienen sie sehr gegensätzlicher Ansicht zu sein. Alfaran hatte nicht so handeln können, wie es ihm lieb gewesen wäre, und das freute ihn gar nicht. Für ihn schien es unbedeutend zu sein, dass es der Jarl gewesen war, der den Mann am Leben hatte lassen wollen. Als die beiden zum Bergfried zurückgingen, presste sie sich an die Mauer in die Schatten und hoffte, dass keiner von ihnen sie bemerkte.
„Tochter!“, rief ihr Vater auf einmal, ohne in ihre Richtung zu sehen. „In meine Gemächer. Sofort.“
Aus Erfahrung wusste sie, wenn er ihren Gehorsam forderte, wurde alles nur noch schlimmer, wenn sie dann noch immer Zeit verstreichen ließ. Seine Laune wurde dann noch schlechter, und die Bestrafung fiel umso härter aus. So hatte sie es auch schon bei ihrem Ehemann erlebt.
Also stieß sie sich von der Mauer ab und folgte ihm nach drinnen. Katla wusste, es war besser das Ganze jetzt hinter sich zu bringen, anstatt alles nur noch schlimmer zu machen, indem sie ihren Gehorsam weiter hinauszögerte.
Ein Hinauszögern machte es stets nur noch schlimmer.
Als sie drei Tage später ihre verdrehte Schulter wieder bewegen konnte, begab sich Katla in den Untergrund der Feste, wo ihr Vater den Gefangenen hatte einsperren lassen. In den letzten Tagen war sie nicht in der Lage gewesen, ihrer Aufgabe nachzukommen, sich um Kranke und Verletzte zu kümmern. Erst seit heute Morgen fühlte sie sich bereit, nach dem Mann zu sehen, der ihren Vater herausgefordert hatte.
Mit einem Korb voller Arzneien und Vorräte und einem Eimer Wasser stieg sie die Steinstufen hinab, die in die Dunkelheit führten. Am anderen Ende des Korridors brannte eine einzige Fackel, die in einer Halterung an der Wand steckte. Dass kein Wachmann zugegen war, versetzte sie in Sorge. Sie eilte zu der verschlossenen Tür und schaute durch den Sehschlitz.
Nichts. Sie konnte schlichtweg nichts sehen. Es war auch nichts davon zu hören, dass sich hinter der Tür jemand aufhielt. Sie hielt das Ohr dichter an die Tür und lauschte angestrengt auf ein Geräusch, das ihr verriet, dass dort jemand war.
Plötzlich vernahm sie ein langsames, rasselndes Atmen, das durch den Raum hallte, in dem sie stand. „Mylady?“
Sie schreckte hoch und drehte sich zu dem Wachmann um, der auf sie zukam. Hätte sie ihn in diesem Moment nicht angesehen, wäre ihr der mitleidige Ausdruck in seinen Augen entgangen. Er sah den blauen Fleck auf ihrer Wange und schaute rasch weg, bevor er fragte: „Warum seid Ihr hier?“
„Mein Vater hat mich angewiesen, die Verletzungen des Gefangenen zu versorgen. Ich bitte Euch, öffnet mir die Tür.“ Nach einem weiteren flüchtigen Blick in ihr Gesicht nickte der Mann und steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und machte einen Schritt zur Seite, damit Katla die Tür aufdrücken konnte. „Bringt mir die Fackel, ich kann sonst nichts sehen.“
Sie konnte ein Keuchen nicht unterdrücken, als sie nach Luft schnappte, gerade als der Wachmann ihr in die Zelle folgte. Ein entsetzlicher Gestank schlug ihr entgegen, und es kostete sie große Mühe, sich nicht zu übergeben. Sie hielt sich den Ärmel vor die Nase, machte einen Schritt nach vorn und rutschte dabei aus, weil sie in irgendetwas hineingetreten war.
„Eir steh ihm bei!“, flüsterte sie, als der Schein der Fackel den hintersten Winkel der Zelle erreichte und sie den Mann sehen konnte. „Bringt die Fackel zu mir.“
Sie hatten einfach alle Pfeile in seinem Körper stecken lassen! Und sie hatten ihn in diese Zelle geworfen, ohne sich in irgendeiner Weise um ihn zu kümmern. Langsam näherte sie sich ihm und lauschte auf die schwachen Atemzüge, die an ihr Ohr drangen. Wieder glitt sie aus, und als diesmal der Boden beschienen wurde, konnte sie sehen, dass es sich um eine Blutlache handelte – aus seinem Blut! Sie streckte eine Hand aus und berührte sein Gesicht, zuckte aber sofort zurück, da seine Haut sich glühend heiß anfühlte.
„Sagt meinem Vater, dass sein Gefangener im Sterben liegt.“
„Mylady?“
„Geht zum Jarl und sagt ihm, dass sein Gefangener noch am heutigen Tag sterben wird, und das eher früher als später.“
Der Mann zog sich zurück, sichtlich betroffen, weil er derjenige sein würde, der seinem Herrn sagen musste, dass dessen Befehle nicht befolgt worden waren.
Katla raffte ihre Röcke und ging noch etwas näher an ihn heran, setzte den Eimer auf dem Boden ab und stellte den Korb auf die einzige Stelle des Fußbodens, die einigermaßen sauber war. Das Mindeste, was sie tun konnte, war sein Gesicht zumindest teilweise von Schmutz und Blut zu befreien und an seiner Seite zu sein, wenn das Ende für ihn kam.
Sie tauchte ein Tuch in das Wasser in dem Eimer und wrang es aus, dann wischte sie behutsam über sein Gesicht. Dass er bei der Berührung leise stöhnte, überraschte sie. Sie hatte gedacht, dass er dem Tod bereits zu nahe war, um noch auf irgendetwas zu reagieren. Als er dann noch den Kopf so drehte, dass sein Gesicht mehr von dem feuchten Tuch zu spüren bekam, begann sie sich zu fragen, ob er wohl doch überleben würde.
„Ingrid?“, flüsterte er mit heiserer und trockener Stimme, dass sie kaum verstand, was er sagte. „Warte auf mich, Ingrid. Sag unserem Sohn, dass ich auf dem Weg zu ihm bin.“
Sein flehender Tonfall zerriss ihr nahezu das Herz. Tränen behinderten ihr die Sicht, während sie ihn untersuchte. Sie betete noch einmal zu Eir, damit seine Schmerzen gelindert wurden. Sie betete zu Hel, ihn in ihre Halle aufzunehmen. Sie betete zu jedem Gott, der ihr zuhören wollte, während sie alles versuchte, um diesem Mann zu helfen.
„Ingrid!“, brüllte er und schien nach etwas greifen zu wollen.
Nein, nicht nach etwas, sondern nach jemandem. Nach seiner geliebten Frau, die zu rächen er hergekommen war.
Katla wich zurück, weil sein Ausruf so kraftvoll war, doch im nächsten Augenblick sackte er in sich zusammen und rührte sich nicht mehr. War er etwa tot? Sie legte eine Hand auf seine Brust und wartete. Doch, da war sein Herzschlag. Nicht sehr stark, auch nicht in einem gleichmäßigen Takt. Und dennoch: Sein Herz schlug noch.
Vielleicht hatten die Götter Brandt Sigurdsson doch noch nicht aufgegeben.
Als ihr Vater neben sie trat, sagte sie ihm, was sie alles benötigte, um den Mann am Leben zu erhalten. Er gab alles sofort als Befehl weiter. Jede Frage, die sie ihrem Vater wegen der Verbindung zwischen ihm und diesem Mann stellen wollte, musste noch warten. Gleichzeitig betete sie unablässig dafür, dass die Götter den Mann vor ihr noch nicht aufgegeben hatten. Sie brauchte Stunden, um all seine Verletzungen zu versorgen, doch auch als sie fertig war, hatte sie keine Ahnung, ob er überleben würde oder nicht.
Katla wusste nur, dass sie aus irgendeinem Grund darauf hoffte, dass er überlebte.
Zweifellos musste sich Surtr aus Muspelheim befreit haben, und dabei hatte er die Flammen aus jenem Reich mitgebracht! Brandt versuchte alles, um diese Flammen davon abzuhalten, dass sie ihn einhüllten, doch mit dem Feuerriesen, der in jener Welt herrschte, konnte er es einfach nicht aufnehmen. War Ragnarök nun über diese Welt hier gekommen? Er zerrte mit aller Kraft, doch die Fesseln, die ihn festhielten, ließen zu, dass die Hitze ihn einkreiste und überwältigte.
Er brannte! Er stand in Flammen, ohne von ihnen verzehrt zu werden, und der unerbittliche Schmerz ließ ihn schreien und schreien, obwohl seine Kehle völlig ausgedörrt war. Flammen zuckten über seinen Leib und hinterließen verbrannte Haut. Das ging so lange, bis er von Kopf bis Fuß nur noch verkohlte Masse war. Dann ging es von vorn los, und die Qualen dauerten beharrlich an, bis ihm kein Ton mehr über die Lippen kam.
Vielleicht hatte es ihn ja an den Ort verschlagen, an den der Gott der Christen die schickte, die bestraft gehörten. Die Geschichten über ihre Hölle berichteten von ewigem Feuer und unablässiger Folter als Strafe für alle Sünder. Sollte er deren Gott anbeten und ihn um Gnade bitten? Er war zu allem bereit, wenn es den Schmerz abebben ließ, der seinen Körper in Stücke zu reißen drohte. Stattdessen verspotteten die alten und die neuen Götter ihn mit flammenden Hieben und mit einer unvorstellbaren Hitze, die sein Fleisch durchbohrte. Die Schmerzen in seinem Arm und seinem Bein waren so verheerend, dass er sich darin verlor.
Gleich darauf wurde er aus der Hitze von Muspelheim in die Kälte und den Raureif von Jötunheimr geschleudert. Brandt zitterte, da die Eiseskälte Fleisch und Knochen durchdrang und der abrupte Wechsel von heiß zu kalt seinen Körper auf das Schlimmste zucken ließ. Seine Muskeln verkrampften sich so sehr, dass er nicht mehr atmen konnte. Erst klapperte er mit den Zähnen, dann presste er die Kiefer so fest zusammen, dass er glaubte, seine Zähne müssten zerbrechen. Die Luft um ihn herum war von eisigen Splittern erfüllt, die ihn peinigten, indem sie auf seine brennende Haut auftrafen. Er rechnete damit, dass einer der Eisriesen, die in diesem Land lebten, zum letzten Schlag ausholte und seinem Dasein ein Ende setzte.
Doch dieser Schlag erfolgte einfach nicht.
Über Stunden oder Tage hinweg – wie lange es tatsächlich war, vermochte er nicht zu sagen – wurde er schreiend von einem Reich ins andere gezerrt: vom Feuer ins Eis, aus dem Frost zurück in die Flammen. Lange konnte er das nicht mehr durchstehen.
Er würde das hier nicht überleben.
Ingrid sprach zu ihm, während er die göttliche Tortur ertrug. Er sah seinen Sohn und sehnte sich danach, sich ihm anzuschließen, um den Schmerz und die Leere in seinem Herzen vergessen zu machen. Sein gepeinigter Körper war leer, seine Seele sehnte sich nach der Linderung, die er durch Ingrid erfahren konnte. Er hörte ihre geflüsterten Gebete, während die Götter weiter mit ihm spielten. Er spürte ihre sanfte Berührung auf seiner Haut und auf seinem Leib, als sie ihm so viel Trost spendete, wie sie nur geben konnte. Doch welche Frau konnte schon im Angesicht der Handlungen und Pläne ihrer Götter diesen entgegentreten?
Dann war es auf einmal vorüber. Von einem Atemzug zum nächsten endete die Folter aus sengender Hitze und eisiger Kälte. War er tot? Er konnte sich nicht bewegen, und er konnte auch nicht die Augen öffnen. War er gestorben?
Brandt wartete auf ein Zeichen, das ihn erkennen ließ, was geschehen war. Da er nicht in einer ehrenvollen Schlacht gefallen war, sondern auf Befehl des Jarls von dessen Leuten niedergemetzelt worden war, gab es für ihn keine Hoffnung, von den Walküren in die Hallen von Walhalla gebracht zu werden. Aber wohin würde sein Geist dann wohl gehen? Würde Freya ihn stattdessen in Fólkvangr aufnehmen?
Er erschrak, als ihn eine Hand an der Wange berührte. Eine weitere auf seiner Stirn, die nächste auf seiner Brust. Er konnte sie alle spüren. Mit aller Macht versuchte er, endlich richtig aufzuwachen, doch er schaffte es nicht.
„Ganz ruhig“, flüsterte eine Frauenstimme. Sie gehörte gar nicht Ingrid. „Das Fieber ist überstanden. Ruht Euch aus.“
Brandt versuchte sich zu bewegen, er wollte ihr antworten, und er wollte sie so viele Dinge fragen, doch sein Körper gehorchte ihm noch nicht.
„Ruht Euch aus, Brandt Sigurdsson. Ich werde auf Euch aufpassen.“
Er gab seine Anstrengungen auf, wach zu werden, stattdessen versank er im Vergessen, das ihn in den Armen des Schlafs erwartete. Seine Fragen konnten warten, und sie … sie würde warten.
Sie …
Allmählich begann Brandt, sich selbst wahrzunehmen. Kaum dass sich der Nebel in seinen Gedanken gelichtet hatte, setzte auch schon wieder der Schmerz ein. Dadurch fiel ihm das Atmen ebenso schwer wie das Nachdenken und auch alles andere, was er in seiner momentanen Verfassung hätte tun können. Zunächst versuchte er Ruhe zu bewahren und biss die Zähne zusammen, doch lange wollte ihm das nicht gelingen. Dann schien sich der Schmerz aufzuteilen, sodass schließlich sein Kopf unerträglich dröhnte, während der Arm und das Bein brannten und vor noch stärkeren, noch schlimmeren Schmerzen schrien. Als er über seinen Körper als Ganzes nachdachte, fand er nicht eine Stelle, die nicht irgendwelche schrecklichen Qualen litt.
Was war mit ihm geschehen?
Er erinnerte sich daran, dass er sich Thorfinns Feste genähert hatte und vor dem Tor stehen geblieben war, um dem Mann seine Herausforderung zuzurufen. Von einer ähnlichen Vergesslichkeit heimgesucht wie der eines Berserkers, der nur an wenige Dinge zu denken vermochte, wenn er erst einmal den Kampf begonnen hatte, so war auch sein eigenes Gedächtnis völlig leer.
Den Schmerz vergaß er aber nicht, und er konnte auch nicht länger so tun, als würde es den nicht geben. Brandt wollte seinen Kopf nach der Ursache für die Schmerzen abtasten, doch er konnte sich nicht rühren. Als er es mit der anderen versuchte, wurde die von etwas Kaltem, Hartem zurückgehalten, das sich wie Eisen anfühlte.
„Versucht, Euch nicht so viel zu bewegen“, sagte eine sanfte Stimme.
Er machte die Augen auf und suchte nach der Quelle dieser Stimme. Ein Schatten in einer Ecke des Raums bewegte sich und nahm beim Näherkommen die Gestalt einer Frau an, als die in den Lichtschein der Fackel trat. Danach zu urteilen, wie schwerfällig sie sich bewegte, musste sie wohl eine alte Jungfer sein. „Die Wunden sind tief und haben erst vor Kurzem aufgehört zu bluten.“
Er versuchte den Kopf zu heben, doch die Schmerzen ließen ihn gleich wieder aufgeben. Was er in diesem düsteren Raum erkennen konnte, begann vor seinen Augen zu kreisen und zu tanzen. Sein Magen rebellierte, und er musste gegen das Gefühl ankämpfen, sich übergeben zu müssen. Fast gleichzeitig knurrte sein Magen aber auch laut und verriet, wie leer er in Wahrheit war.
„Wer seid Ihr?“ Es überraschte ihn, dass seine Stimme so rau und heiser klang. „Was ist geschehen?“
„Ihr habt mit Thorfinn gekämpft. Erinnert Ihr Euch daran?“
Brandt war bei genügend klarem Verstand, um zu bemerken, dass die Frau auf seine erste Frage nicht eingegangen war.
„Nein, jedenfalls an so gut wie nichts. Welchen Namen tragt Ihr?“ Ganz deutlich konnte er sie immer noch nicht sehen, da sie nach wie vor zu sehr im Schatten stand.
„Erinnert Ihr Euch an Euren Namen?“, fragte sie und ließ auch jetzt seine Frage unbeantwortet.
„Ich bin Brandt Sigurdsson von Maerr. Der Älteste von König Sigurd. Ich kam her, um Gerechtigkeit und Ehre wiederherzustellen“, spie er ihr aufgebracht entgegen, obwohl er so erschöpft war. Er zog den Arm an sich, der nicht so sehr schmerzte, und hörte Kettenrasseln, das in diesem Raum von allen Seiten widerhallte. „Und ich bin einmal mehr einem Verrat zum Opfer gefallen. Ich hätte wissen müssen, dass er mir nicht in einem Kampf gegenübertreten würde, der eines Kriegers würdig ist.“ Er rang mit sich und fügte hinzu: „Er konnte mich nicht einmal so töten, wie er es hätte tun sollen.“
Er hörte sie seufzen und wartete, was sie zu sagen hatte. Zugleich wartete er darauf, dass sie näher kam, damit er sie besser sehen konnte.
„Und ich bin Katla Thorfinnsdottir von Katanes, Älteste von Jarl Thorfinn und seiner ersten Frau Lady Modwenna. Und Ihr wart ein Narr zu glauben, dass Ihr siegen würdet.“ Trotz ihres schroffen Tonfalls waren ihre Berührungen sanft, als sie seinen Arm nach unten drückte und den Eisenring bis zu einer Stelle schob, an der er ihm nicht in sein Fleisch schneiden konnte. „Und Ihr wart ein noch größerer Narr zu glauben, dass Ihr hier Ehre finden würdet. Aber zumindest sind jetzt Eure Gedanken nicht so wirr wie zuvor, als das Fieber in Euch gebrannt hat.“
Brandt ließ den Kopf nach hinten sinken und wartete darauf, dass der Raum endlich aufhörte sich um ihn zu drehen. Er wollte seine Umgebung genauer betrachten, um zu entscheiden, was er als Nächstes machen würde, doch in Wahrheit schien er schwächer zu sein als ein Floh. Selbst wenn er seine ganze Aufmerksamkeit darauf ausrichtete, einen Arm oder ein Bein zu bewegen, gelang es ihm nicht, sich zu rühren. Er war so schwach und so ausgelaugt.
„Wie lange?“, fragte er. Die Frau umrundete den Tisch, auf dem er lag, und dann endlich wurde sie so von der flackernden Kerze beschienen, dass er die Frau zu Gesicht bekam. Er hatte keine Ahnung, ob sein Sehvermögen beeinträchtigt war, auf jeden Fall sah sie wie eine Walküre aus.