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Unglaublich, aber wahr: Ein Insider öffnet erstmals die Akten Als ehemaliger Abgängigenfahnder bei der Kriminalpolizei Wien berichtet Christian Mader von Personen, die von heute auf morgen spurlos verschwunden sind, und erzählt mit großem Einfühlungsvermögen deren ganz persönliche Geschichte. Nicht nur spektakuläre Fälle wie das immer noch rätselhafte Verschwinden der Gabriele Barta, die Ermordung von Julia Kührer oder die jahrelangen Martyrien von Elisabeth Fritzl und Natascha Kampusch gehen ans Herz - oft sind es gerade die weniger bekannten Schicksale, die besonders erschüttern. Da ist beispielsweise Mirco, der seinen Selbstmord inszenierte, den er vermutlich nie begangen hat, oder Jon, der aus dem Seniorenheim verschwand, um in seine Vergangenheit zu reisen … All diese Menschen sind als Teil dieses Buches unsterblich, wo auch immer sie gerade sein mögen.
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Seitenzahl: 257
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Christian Mader
Vermisst
Christian Mader
Spektakuläre Fälleim Visier der Fahnder
Die Namen (sowie weitere persönliche Daten) der abgängigen Personen und deren Angehörigen wurden zum Schutz der Betroffenen verändert. In den Fällen Julia Kührer, Natascha Kampusch, Elisabeth F(ritzl), Thomas Klinger, Romano Felice Klarfeld, Helmut Frodl sowie Frieda Wagner, die durch die umfassende Medienberichterstattung bereits als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden und nach wie vor in den Medien zu finden sind, wurde auf ein Alias verzichtet, ebenso bei Familie Ehmann, die sich mit einer expliziten Namensnennung einverstanden erklärt hat. Lubos Bednar und Gabriele Barta werden mit ihren tatsächlichen Namen genannt, in der Hoffnung, auf diesem Weg nach über 20 Jahren doch noch Licht in deren Verschwinden bringen zu können.
Für die Abdruckgenehmigung der im Buch zitierten Artikel und Interviews danken wir: ORF (S. 117ff.), Heute (S. 145) und Kronen Zeitung (S. 147ff.).
Besuchen Sie uns im Internet unter: www.amalthea.at
© 2014 by Amalthea Signum Verlag, WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Silvia Wahrstätter, www.vielseitig.co.atUmschlagmotiv: © Can Stock Photo Inc./Nozyer (Teddy);© Can Stock Photo Inc./CraigeJ (Brücke)Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH,HeimstettenGesetzt aus der 11,5/15,3 Pt Minion ProPrinted in the EUeISBN 978-3-902862-88-4
Dieses Buch widme ich Eva-Maria
… es macht Sinn, gemeinsam einen Weg zu gehen!
Vorwort
Ungewöhnliche Fahndungen
Klara – Die Hölle auf Erden
Thomas – Ein Grab im Nirgendwo
Romano Felice – Ein Fall wie aus einem Kriminalroman
Cold Cases als ungelöste Rätsel
Mirko – Game over
Nicholas George – 007 in Wien
Lubos – Entführung in ein besseres Leben?
Gabriele – Kein roter Faden
Hans – Der Traum vom Neuanfang
Verloren und wiedergefunden
Harald – Keine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn
Lisa – Ein folgenschwerer Irrtum
Ioan – Die lange Reise
Secil – Die roten Schuhe im Steinkreis
Julia – Fünf Jahre und drei Tage Ungewissheit
Manfred – Das verräterische Bild
Marco – An der Hand ins Abenteuer
Frieda – Wiedergefunden nach fünfzig Jahren
Natascha – Momentaufnahmen einer Abgängigkeit
Elisabeth – 24 Jahre lang Tochter, Geliebte und Gefangene
Ingrid und Phillip – 102 Monate
Spuren ins Ausland
Helmut – Die Hoffnung stirbt zuletzt
John – Frühling in Wien
Johannes – Der verlorene Sohn
Flug 004 – Ein Grab im Dschungel
Sylvia – Eine errechnete Abgängigkeitserklärung
Gestern und Heute – Ein Zwischenwort
Aktuelle Fälle im Visier der Fahnder
Michael – Ein aussichtsloser Kampf gegen die Gewissheit
Offene Abgängigkeiten in Wien mit Stichtag 8. Oktober 2013
Anhang
Die wichtigsten Abkürzungen
Dienststellen der österreichischen Polizei – Die Sicherheitspyramide
Abgängigenfahndung in Österreich
Chronologie einer Leichenidentifizierung – ein Beispiel
Exemplarischer Obduktionsbericht
Das Aufgebotsverfahren
Ausgangssituation und Allgemeines zur Abgängigenfahndung
Österreichisches Kompetenzzentrum für abgängige Personen – ein Interview
Daten und Fakten
Erste Schritte
Information und Hilfe für Betroffene
Quellen
DEZEMBER 1978: Ich war 17 Jahre alt und saß in einem Eilzug! Ein gebürtiger Amstettner aus Niederösterreich, also ein sogenannter »Mostschädl«, befand sich auf dem Weg in die Weltstadt Wien, im Kopf nichts anderes als den großen Glauben an eine gerechte Welt! Welcher Berufswunsch hätte wohl hier den Nagel besser auf den Kopf getroffen, als Polizeibeamter werden zu wollen?
Ja, ich plante den kriminellen Elementen den Krieg zu erklären und … stellte es mir so ganz anders vor, als es tatsächlich werden würde!
Neben mir im Zug saß eine ganz nette, kokette Studentin, und wir kamen sehr bald ins Gespräch: »Was willst du werden? Polizist? Ach, aha, na ja … Na du weißt ja: Wer nichts kann, der geht zur Post, Polizei oder Eisenbahn!«
Und so begann meine Karriere als Polizeibeamter! Ich war hoch motiviert und zuversichtlich, ohne tatsächliche Vorstellung von der brutalen Welt »da draußen«.
»Büro für Erkennungsdienst, Kriminaltechnik und Fahndung«, so hieß meine erste Ausbildungsstätte bei der Bundespolizeidirektion Wien – Ausbildungsziel: Daktyloskopie, wobei es sich um eine Fachausbildung für die Auswertung von Fingerabdrücken handelt.
Eines der ersten Dinge, die ich im Büro sah, als ich dort ankam: die Schwarz-Weiß-Aufnahme einer männlichen Wasserleiche, deren Porträt im Format 70 × 50 cm in der Fotoabteilung über dem Kopiergerät hing! Die tote Person war aufgedunsen wie ein Luftballon, Kopf und Rumpf zu einem klobigen Gebilde verschmolzen, vom Hals keine Spur mehr! Dazu kam der mir immer noch in Erinnerung gebliebene süßliche Geruch der Entwicklungschemikalien, der tatsächlich den Verwesungsgerüchen von Leichen ähnelte.
Wenig später lauschte ich den Erzählungen eines meiner damaligen Vorgesetzten, eines Gruppenführers des Kriminaldienstes, der schilderte, wie sich ein Polizeibeamter vor einem Kriminellen niederknien musste und von diesem – nachdem er vergebens um sein Leben gebettelt hatte – mittels Kopfschuss regelrecht hingerichtet wurde. Na fein!
Und jetzt erzähle ich Ihnen etwas, und zwar Geschichten über Menschen, die plötzlich verschwinden, und über Tote, deren Identität niemand kennt.
Es handelt sich dabei um zwei Themen, die zwar schon in so manchem Buch abgehandelt wurden, das aber meist von Journalisten und Autoren, und nicht von einem Fahnder, der die Entwicklung der meisten dieser Fälle live miterlebt hat. Ich möchte die Welt der Abgängigenfahndung vor Ihnen ausbreiten, wie sie wirklich ist!
Grundsätzlich ist die Vorgehensweise bei Fahndungen natürlich in ganz Österreich dieselbe. Wir wissen aber: Wien ist anders! So hatte Wien als einziges Bundesland bis zum Jahre 2002 ein eigenes Referat, das sich mit verschwundenen Personen befasste: das Abgängigenreferat. Als dessen jahrelanger Leiter durfte ich dabei die ganze Palette von Abgängigkeitsfällen kennenlernen – von im Urlaub Verschwundenen bis hin zu den Opfern eines Mordes. Jetzt, viele Jahre später, ist das Abgängigenreferat längst Geschichte. Es wurde ein Opfer der vielen Reformen der nunmehrigen Landespolizeidirektion Wien.
Dass die Thematik der Vermisstensuche aktueller denn je ist, zeigen jüngere Geschehnisse, die in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erregten und tiefe Einblicke in tragische Schicksale und menschliches Leid gewährten. Orte wie Pulkau, Strasshof und Amstetten bleiben der Öffentlichkeit wohl bis in alle Ewigkeit als Schauplätze einiger der größten Kriminalfälle unseres Landes in Erinnerung. Die tragischen Schicksale von Julia Kührer, Natascha Kampusch und der Familie Fritzl offenbarten einmal mehr, zu welchen grauenvollen Handlungen wir Menschen fähig sind. So unterschiedlich diese Fälle in ihren Abläufen auch waren, hatten sie doch eines gemeinsam: Sie begannen alle mit dem Verschwinden von Menschen und Abgängigkeitsanzeigen durch betroffene Angehörige! Die sterblichen Überreste von Julia Kührer wurden nach jahrelanger Suche durch Ermittler des Bundeskriminalamts mittlerweile endlich gefunden, ihr Mörder wurde im September 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt. Natascha Kampusch ist endlich wieder ein freier Mensch, jener Mann, der ihr Jahre ihres Lebens gestohlen hatte, richtete sich selbst. Und auch im Fall Fritzl hat den Täter seine gerechte Strafe ereilt – seine Familie lebt heute unter neuen Identitäten fernab ihrer ehemaligen Heimat.
Die Fahndung nach abgängigen Personen empfand ich immer als faszinierende Gelegenheit, in die Gedankenwelt anderer Einsicht zu nehmen. Nur wem es gelingt, zu einer möglichen Handlung eines Menschen auch den wahrscheinlich auslösenden Faktor zu finden, und wer es schlussendlich auch vermag, die abgelaufenen gedanklichen Schlussfolgerungen eines spurlos Verschwundenen nachzuvollziehen und zu verstehen, wird die Geheimnisse von Abgängigkeiten lüften können!
Und ich bin überzeugt davon, dass Sie nach dem Lesen dieses Buches wissen, was Abgängigenfahndung tatsächlich ist! Fahndung – Philosophie – Seelsorge – Kriminalistik!
Lassen Sie nun also mit mir gemeinsam menschliche Schicksale Revue passieren. Versuchen Sie, die Empfindungen von sorgengepeinigten Menschen nachzuempfinden und die angsterfüllten Gefühle von Menschen zu verstehen, die gar nicht so weit abseits von Ihnen leben, ja vielleicht sogar Ihre Nachbarn sind!
Die nun folgenden Erzählungen und Schilderungen beruhen auf wahren Ereignissen, lediglich Namen, Wohnanschriften und sonstige Daten wurden in manchen Fällen zum Schutz der Betroffenen oder aus anderen persönlichen Gründen verändert und einige Situationen ein klein wenig abgewandelt. Der Ermittlungsstand zu den jeweiligen Abgängigkeiten (die Suche nach Vermissten ruht nie!) bezieht sich auf alle Erkenntnisse, die bis zum Herbst 2013 gewonnen werden konnten.
Es ist eine traumatische Erfahrung für die Seele eines Menschen, wenn er sich auf der Suche nach einer spurlos verschwundenen, geliebten Person befindet, und es ist oft sehr schmerzhaft, die Wahrheit erfahren zu müssen.
Wenn ich auch schon längst mit einer anderen Aufgabe betraut bin, ist der Fahnder in mir nie wirklich zur Ruhe gekommen. Viele meiner Fälle begleiten mich heute noch. Die Schicksale der Angehörigen und der Opfer werden immer ein Teil von mir sein. Ein Buch über abgängige Menschen ist nie fertig, nie ganz aktuell, weil das Leben seine eigenen Geschichten schreibt.
IhrChristian Mader
Manchmal muss man als Ermittler auch einen Weg abseits der üblichen Vorgehensweise beschreiten und bei vorstellbaren Szenarien um die Kurve denken. Erfahrungen, die man im Laufe seiner Tätigkeit bereits sammeln konnte, schön und gut, aber es gibt Fälle, bei denen man diese anwenden kann, so viel man will, und damit doch nicht weiterkommt.
Es ist wichtig, bei der Suche nach Vermissten flexibel zu sein, hin und wieder spontan »aus dem Bauch heraus« zu agieren und immer selbstbewusst seine Vorgehensweise zu verteidigen, falls darüber diskutiert werden sollte. Es folgen einige Abgängigkeiten, die ungewöhnlich begonnen haben, Maßnahmen abseits der Norm erforderten und überraschend endeten.
Klara sitzt zu Hause in ihrem Zimmer und weint. Die Uhr an der Wand tickt laut, unaufhaltsam vergeht Minute um Minute, während sich Klara immer einsamer fühlt und diese Leere in sich beinahe als körperlich schmerzhaft empfindet. Sie sehnt sich nach Zuneigung, doch alles, was sie erhält, wenn sie einmal nicht alleine sein muss, ist Lieblosigkeit und Kälte. Das Leben ist zu einer niemals enden wollenden Qual geworden, zur Hölle auf Erden, aus der es kein Entrinnen gibt.
Mit zittrigen Fingern wählt Klara schließlich eine Telefonnummer und hat innerhalb kurzer Zeit Herrn Weber am Apparat, dem sie all ihre Sorgen und Nöte anvertrauen kann. Wie nett, warm und beruhigend seine Stimme klingt, er muss wirklich ein ganz besonderer Mensch sein, denkt Klara. Die Telefonate, die sie etwa alle zwei Tage mit dem netten Mann führt, geben ihr Kraft und Zuversicht und lassen sie ihren Kummer zumindest für kurze Zeit vergessen.
Doch da hört Klara plötzlich Schritte vor ihrem Zimmer, schwere Schritte, die sich rasch nähern. Schnell flüstert sie: »Ich muss auflegen«, und beendet das Gespräch, als sich auch schon die Türe öffnet und ein bedrohlich großer Schatten auf ihr Bett fällt. »Was machst du da schon wieder, Klara?«
Es war an einem Donnerstag Vormittag im Jahr 1999, als mich Herr Weber vom Kindertelefon anrief und mich um Unterstützung bei der Suche nach einem Kind bat, das zwar nicht vermisst, aber unauffindbar wäre, obwohl es seiner Meinung nach dringend Hilfe benötigte.
Er erzählte mir, dass bereits einen Monat lang zwei bis drei Mal pro Woche, immer etwa gegen 19 Uhr, ein ca. 13-jähriges Mädchen bei der Hotline anrief, das erzählte, dass es zu Hause misshandelt, mit Drogen vollgepumpt und zur Prostitution gezwungen würde. Klara, so hieß der Teenager, wollte ihren vollen Namen nicht nennen, und laut Herrn Weber klang ihre Stimme von Woche zu Woche verzweifelter. Er bat mich, das Kind zu suchen.
Aber das war nicht so einfach, ich besaß viel zu wenige Anhaltspunkte, um eine Ermittlung einzuleiten. Wen genau sollte ich suchen, und vor allem wo? Herr Weber beharrte auf seinem Wunsch, er meinte, das Mädchen würde vermutlich aus einer Telefonzelle in der Nähe eines Bahnhofes anrufen, da bei jedem Gespräch im Hintergrund neben erheblichem Straßenlärm auch an- und abfahrende Züge zu hören waren. Er zeigte sich enttäuscht, als ich erneut ablehnte, einen Einsatz zu starten. Ich machte ihm klar, dass ich nicht alle Telefonzellen in der Nähe von Bahnhöfen in Wien von Funkstreifen abfahren oder gar bewachen lassen konnte. Der besorgte Mann, selbst Familienvater, machte daraufhin den Vorschlag, Klaras Telefonnummer beim nächsten Anruf zurückzuverfolgen. Aber auch diese Maßnahme war nicht ohne Weiteres durchzuführen, da aufgrund der lückenhaften Informationslage mit dem für die Telefonüberwachung erforderlichen Gerichtsbeschluss nicht zu rechnen war.
Doch bevor Herr Weber noch auf dumme Ideen kam und selbst den Helden spielte, wollte ich mit ihm ausführlich über den Fall sprechen und bat ihn zu mir ins Büro. Ich wollte ihm meine schwierige Situation, die mir in vielerlei Hinsicht ein Eingreifen verbot und die Hände band, erklären und gemeinsam mit ihm eventuell machbare Schritte überlegen und planen. Und es war ja auch nicht komplett abwegig, dass es sich bei der ganzen Aktion um einen Scherz handelte, das galt es ebenso zu bedenken und sollte als Erstes recherchiert werden.
Am Tag darauf saß mir ein sehr aufgeregter und wild entschlossener Kindertelefon-Mitarbeiter gegenüber und bat mich erneut dringend um meine Mithilfe. Ich machte Herrn Weber klar, dass er nur versuchen konnte, das Kind zu motivieren, zu ihm zu kommen. Das heißt, man müsste Klara beim nächsten Anruf davon überzeugen, dass ein persönliches Gespräch viel angenehmer und auch sinnvoller wäre, natürlich ohne sie dazu zu drängen oder Druck auszuüben.
Ich wollte noch wissen, ob das Mädchen wienerisch oder mit ausländischem Akzent sprach, und erfuhr, dass ihr Deutsch, mit örtlichem Akzent, einwandfrei wäre.
Mein nächster und zu diesem Zeitpunkt einzig möglicher Schritt war der zum Referat für Geheimprostitution und Menschenhandel (GM-Referat), um nachzufragen, ob den Kollegen dort ein Fall bekannt war, in dem eine Klara auftauchte – diese Spur verlief jedoch im Sand, kein einziger Akt enthielt einen Hinweis auf diesen Namen. Die Kollegen wollten aber bei zukünftigen Nachtstreifen ganz gezielt auf etwa 13-jährige Mädchen achten, die sich ohne Begleitung draußen aufhielten und sich in einem zwielichtigen Milieu bewegten.
Einige Tage später meldete sich Herr Weber und berichtete, dass Klara wieder angerufen hatte und es ihr etwas besser zu gehen schien. Ihr Vater würde in letzter Zeit angeblich weniger Alkohol trinken und sie daher auch weniger schlagen, und an die Arbeit am Strich hätte sie sich bereits gewöhnt. Der Kinderseelsorger hatte Klara gebeten, bald wieder anzurufen, da er noch immer nichts über ihren Aufenthaltsort in Erfahrung bringen konnte. Ein persönliches Gespräch lehnte das Mädchen ab. Herr Weber war erneut sehr aufgebracht und ich befürchtete immer noch, dass er im Alleingang unsinnige und vielleicht sogar gefährliche Maßnahmen ergreifen würde, wenn er mit seiner sanften Methode nicht bald weiterkam.
Klaras Geschichte beschäftigte mich also weiter. Was sollte man von ihren Schilderungen halten und wie war dieser Sachverhalt tatsächlich einzuschätzen? Konnte man davon ausgehen, dass es sich um einen Scherz handelte und die Sache daher einfach ignorieren? Aber daran wollte ich eigentlich nicht glauben … Etwas an dieser Sache gefiel mir nicht – aber was war es … dieses zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich greifbare Etwas?
Ich besprach den »Fall Klara« mit unseren Spezialisten vom Prostitutionsreferat. Deren gezielte Ausschau auf den Nachtstreifen und Fragen nach einem 13-jährigen Mädchen hatten bis dahin keine Erkenntnisse gebracht. Aber konnte man den Informanten trauen? Und wie kamen wir bloß an dieses Kind heran?
Der Schlüssel zu Klaras Aufenthaltsort war schlicht das Mädchen selbst und das passende Schloss dazu das Kindertelefon. Wir mussten nun versuchen, den Schlüssel in das Schloss zu bringen. Das sollte die Aufgabe von Herrn Weber sein, dem Klara bereits vertraute. Ich besprach mit dem Seelsorger einige Techniken, die er anwenden konnte, um mehr aus dem Mädchen herauszubekommen und die Informationen zu erhalten, die wir so dringend benötigten, um tätig zu werden.
Einige Tage lang rief Klara dann nicht mehr an, als ob sie etwas ahnte. Herr Weber wurde unruhig. Ich bat ihn, Ruhe zu bewahren und ein wenig mehr Geduld zu haben. Allerdings verschwieg ich ihm, dass auch mich dieser Fall immer nervöser machte. Wir fanden nicht die kleinste Spur, die wir verfolgen hätten können. Darüber hinaus wusste niemand von uns, wie ernst die Sache mit Klara tatsächlich war, wie sehr dieses Kind vielleicht jede Stunde seines Daseins litt und das Gefühl hatte, von allen Menschen in seinem Leben im Stich gelassen worden zu sein.
Unser Kopfkino bekam bereits am Tag darauf einen neuen Film zum Abspielen: Herr Weber rief an und berichtete, dass sich das Kind erneut gemeldet und dabei gar nicht gut geklungen hätte – ihr Vater würde wieder mehr trinken, sie ständig schlagen und mittlerweile jeden Abend an fremde Männer verkaufen. Dann wäre schon nach fünf Minuten die Telefonverbindung abgerissen, was den Seelsorger verständlicherweise noch unruhiger machte. Aber dann nahm die Geschichte eine für mich völlig unerwartete Wendung: Der Mitarbeiter des Kindertelefons offenbarte mir überraschend, dass er Klara schon einmal getroffen hatte! Ja, einige Wochen zuvor war das Kind bei ihnen vermummt auf der Terrasse erschienen. Da es jedoch die Verkleidung nicht abgelegt hätte, so Herr Weber, wäre es ihm unmöglich gewesen, das Mädchen zu erkennen. Klara wäre etwa eine halbe Stunde und eine Tasse Tee später wieder gegangen, mit der Bitte, nicht verfolgt zu werden.
Ich ersuchte den Mann, den offensichtlich das schlechte Gewissen plagte, weil er mir diese Begegnung verschwiegen hatte, erneut zu versuchen, das Mädchen zu ihm zu locken. Die Kollegen vom Prostitutionsreferat würden dann einen Zugriff starten und dem Spuk ein Ende bereiten.
Schon zwei Tage später schien der Plan aufzugehen – Klara wollte gegen 22 Uhr in den Räumlichkeiten des Kindertelefons erscheinen. Sie betonte allerdings, dass es dunkel sein müsste, nicht nur außerhalb, sondern auch im Gebäude, wenn sie dieses betreten sollte, damit sie niemand erkennen würde.
Und dann war es endlich so weit – wir standen kurz davor, den »Fall Klara« zu lösen. Doch sie tauchte nicht auf, meldete sich auch nicht telefonisch, um ihr Fernbleiben zu begründen. Ungewöhnliche Fahndungen Wir hofften darauf, dass Klara wieder anrufen würde, und dann sollte Herr Weber das Mädchen erneut dazu überreden, sich beim Kindertelefon einzufinden. Vorerst hieß es nun aber wieder einmal abwarten.
Zwei Tage später hatte der Seelsorger Neuigkeiten für mich: »Klara hat sich gestern gemeldet und mir erklärt, warum sie nicht gekommen ist. Ihre Eltern wollten sie nicht aus dem Haus gehen lassen. Doch heute Abend wird sie kommen«, meinte er abschließend zuversichtlich.
Wie beim letzten Mal legten sich die Beamten des Prostitutionsreferats auf die Pirsch, und am nächsten Morgen las ich den Bericht meines Kollegen, den er offensichtlich noch in der Nacht getippt hatte:
Der Beamte Rainer W. und ich haben uns in unmittelbarer Umgebung des Treffpunkts postiert. Dieser befand sich nächst eines Gehsteigs und war von diesem durch einen kleinen, leicht übersteigbaren Gartenzaun getrennt. Es waren noch etliche Menschen unterwegs. Gegen 22 Uhr 15 schlenderte eine kleine, dunkelhaarige, etwas mollige Gestalt den Gehsteig entlang, ging aber mehrmals vor dem Treffpunkt auf und ab. Dann sprang die Person, bei der es sich offensichtlich um Klara handeln musste, ganz plötzlich über den Gartenzaun, während ich aus meinem Versteck kam und ihr nachlief. Ich versuchte, sie am Arm zu packen. Rainer blieb etwas zurück, um dem Mädchen, wenn erforderlich, den Rückweg abzuschneiden. Als ich zugriff, riss sich die Person los und versuchte tatsächlich zu flüchten. Sie sprang wieder über den Gartenzaun, stieß Rainer mit unglaublicher Wucht zur Seite und lief den Gehsteig entlang. Ich war schnell hinterher und bekam Klara neuerlich am Arm zu packen. Sie wehrte sich aus Leibeskräften und erweckte bereits erhebliches Aufsehen: Passanten kamen herbei, fragten mich, warum ich dieses Mädchen festhalten würde und drohten, die Polizei zu rufen. Mittlerweile kam auch Rainer angespurtet und gab den Passanten zu verstehen, dass wir selbst von der Polizei waren.
Unglaublich, welche Körperkraft dieses Mädchen entwickelte. Erst mit Rainers Hilfe gelang es mir endlich, die Person unter Kontrolle zu bringen und sie zu identifizieren.
Den Rest erzählte mir mein Kollege persönlich: »Als wir ihr dann ins Gesicht sahen, staunten wir nicht schlecht. Klara ist nämlich kein minderjähriges Mädchen, sondern eine erwachsene Frau von 45 Jahren!«
Wieder einmal hat das Leben eine ganz besondere Geschichte geschrieben: Das Motiv für diese »Komödie«, die Klara Dobinger gespielt hatte, hatte sich aus ihrer seelischen Vereinsamung ergeben. Als Ehefrau eines sich in einer sehr guten geschäftlichen Position befindlichen Mannes fehlte es Klara an Zuwendung und Liebe. Und die fand sie bei den Menschen vom Kindertelefon, die ihr bei ihren Anrufen Aufmerksamkeit schenkten und ihr ein wenig Wärme vermittelten. Besonders Herrn Weber hatte die Frau in ihr Herz geschlossen, in dem sie, wie sie uns erzählte, in ihrer Fantasie ganz romantisch den heldenhaften Retter sah, der sie aus ihrer Einsamkeit erlösen würde.
Wenn ihr Mann zur Arbeit fuhr und Klara sich wieder einmal besonders alleine gelassen vorkam, rief sie beim Kindertelefon an. Sie fühlte sich zurückversetzt in ihre Teenagerzeit, als ihre Eltern in die USA auswanderten und sie bei ihrer strengen und lieblosen Tante zurückließen.
Die 45-Jährige hat sich kurze Zeit später freiwillig einer Psychotherapie unterzogen, strafrechtliche Konsequenzen gab es für die einsame Frau keine.
Der 12-jährige, sanfte Junge, der stets sehr in sich gekehrt auftrat, lächelt scheu, als ihn sein großer Freund Jürgen, 19 Jahre alt, kumpelhaft in die Seite boxt und fröhlich verkündet: »Ich hab ein supergeiles neues Computerspiel, das muss ich dir unbedingt zeigen.« »Aber ich muss doch gleich ins Heim«, verkündet Thomas traurig und versucht, sein Interesse an dem Spiel zu unterdrücken und jeden Überredungsversuch seines Freundes, die Zeit zu überziehen, abzublocken. Er hat Angst vor den Konsequenzen, wenn er nicht rechtzeitig in die Unterbringungsstätte zurückkehrt. »Ach was, kleiner Bruder«, grinst Jürgen, »stell dich nicht so an. Wir zocken eine Runde und dann begleite ich dich nach Hause.« Thomas gibt nach, als ihn Jürgen »kleiner Bruder« nennt. Diese Bezeichnung gibt ihm das Gefühl, eine Familie zu haben.
Er folgt seinem Freund in die Wohnung, in der dieser mit seiner Sozialarbeiterin lebt – eine nette Frau, die sich auch manchmal um den 12-Jährigen kümmert. Thomas hat schon sehr viel mitgemacht in seinem jungen Leben und ist froh, liebe Menschen zu kennen, die ihn offensichtlich auch mögen. »Gib Gas«, drängt der 19-Jährige, »das wird lustig!« Bei der Wohnung angekommen, schubst Jürgen den Jungen plötzlich ungewohnt unsanft durch die Tür, bevor auch er eintritt und hinter sich zusperrt. »Was ist das für ein Spiel?«, fragt der 12-Jährige, ängstlich geworden, nach. »Ein supergeiles«, antwortet sein Freund, der jetzt wieder lieb lächelt. Es tut dem jungen Mann bereits leid, dass er Thomas angerempelt hat. So legt er ihm den Arm um die Schultern und schiebt ihn sachte in Richtung der Büroecke, in der sich sein Computer befindet.
»Ich habe Thomas Klinger in meiner Gewalt und fordere 50 000 Euro. Sonst könnt ihr ihn von der MA 48 als Leiche abholen«, stand in einer E-Mail, die im Jahr 2002 in dem Heim einging, in dem der damals 12-jährige Vollwaise untergebracht war. Die Direktion erstattete sofort Anzeige. Meine Kollegen leiteten alle notwendigen Schritte ein und begannen mit der Suche nach Thomas.
Zuerst nahmen die Ermittler Jürgen P. unter die Lupe, der am Tag des Verschwindens des 12-Jährigen mit ihm zusammen gewesen war. Die BeamtInnen erfuhren, dass der junge Mann aus desolaten familiären Verhältnissen stammte und bereits mit zehn Jahren von einem älteren Mann missbraucht worden war. Danach wurde er zur Großmutter abgeschoben und landete schließlich, als diese nicht mehr mit dem Kind fertigwurde, in verschiedenen Heimen – unter anderem in dem, in dem er später Thomas kennenlernte.
Zum Zeitpunkt des Verschwindens von Thomas Klinger am 29. November 2002 wussten die Fahnder nur, dass Jürgen P. seinen »kleinen Bruder«, wie er den 12-Jährigen nannte, von einer Therapiestunde in der Wiener Innenstadt abgeholt hatte, wo der Bub wegen sexuellen Missbrauchs behandelt wurde. Was danach geschah, lag im Dunkeln.
Meine Kollegen befragten Jürgen P. mehrmals, doch der gab wiederholt zu Protokoll, dass er seinen Kumpel nach dem Spielen am Computer nach Hause begleitet hatte. Doch der Junge war nie in seinem Zimmer im Heim angekommen.
Konnte man der Aussage von Jürgen P. trauen?
Es wurden weiter Informationen gesammelt und penibel jeder noch so kleinen Spur nachgegangen, um Hinweise auf Thomas’ Verbleib zu erlangen. Niemand glaubte daran, dass er freiwillig nicht in seine Unterbringungsstätte zurückgekehrt und weggelaufen war.
Ein paar Tage später gestand Jürgen P. bei einem weiteren Verhör Folgendes:
Die Freunde begaben sich nach der Therapiestunde in die Wohnung der für Jürgen zuständigen Sozialarbeiterin in Wien-Penzing, wo der Bursche in einem der Zimmer untergebracht war. Jürgen lockte Thomas mit dem Versprechen, ihm ein neues Computerspiel zu zeigen, doch dazu kam es nicht – nachdem sich die Türe hinter dem 12-Jährigen geschlossen hatte, fiel Jürgen über den Jungen her, folterte ihn mit einem Elektroschocker und missbrauchte ihn danach mehrmals sexuell. Thomas wehrte sich nicht, er ließ die Attacken des jungen Mannes, den er auch in diesem Moment noch für seinen Freund hielt, hilflos über sich ergehen und drohte auch nicht damit, zur Polizei zu gehen. Es schien, als hätte der 12-Jährige sich in sein Schicksal gefügt, als wollte er einfach keine Schwierigkeiten haben oder anderen welche bereiten.
Doch was geschah dann, als dem Älteren klar wurde, was er getan hatte? Nämlich dasselbe, was ihm selbst und auch Thomas schon einmal zugestoßen war! Und wie kam es in der Folge zu jener Lösegelderpressung, die am Tag darauf per Mail in dem Heim einging? Jürgen P. wollte damit nichts zu tun haben und schwieg dazu beharrlich.
Doch nur wenige Wochen später lagen Ermittlungsergebnisse vor, die nur einen Schluss zuließen. Danach hatten meine Kollegen endlich Gewissheit.
Wie sich herausstellte, brach Jürgen nach der Tat in Panik aus und befürchtete, dass Thomas doch irgendwann einmal alles ausplaudern würde. Er war bereits 25 Monate in Haft gesessen und wollte unter keinen Umständen ins Gefängnis zurück.
»Ich habe Angst gekriegt und war außerdem auch total wütend und irgendwie aufgedreht. Da habe ich ein Messer genommen und ihn wie im Blackout erstochen …«, sagte der Angeklagte später in der Verhandlung vor dem Richter aus.
Zuerst hatte er seinen Freund allerdings in den Schwitzkasten genommen, um ihn zu erwürgen. »Er hat geschrien, ich habe ihn weiter gewürgt«, so der 19-jährige Sexualtäter, »doch er ist nicht krepiert. Da hab ich mir das Messer geschnappt und es in seinen Körper gerammt, bis Thomas tot war.«
Nach der Tat hat Jürgen P. sein Opfer zerstückelt, die Leichenteile in zwei schwarze Mistsäcke verpackt und im Müllcontainer vor dem Haus entsorgt. Am nächsten Morgen bedeckte der Mörder die Bündel noch sicherheitshalber mit Abfall, damit sie nicht sofort entdeckt würden. Der junge Mann wusste, dass die Tonnen am nächsten Morgen geleert werden sollten.
Obwohl zwanzig Beamte der WEGA (Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung) drei Tage lang in der Müllverbrennungsanlage Flötzersteig rund 900 Tonnen Unrat durchkämmten, konnte Thomas’ Körper nicht mehr gefunden werden – letztendlich ist er wohl inmitten von Unmengen an Abfall verbrannt worden.
Jürgen P. lenkte den Verdacht zunächst auf einen Bekannten, indem er in dessen Kellerabteil die blutigen Kleider des Toten deponierte. Auch das E-Mail mit der Lösegeldforderung, das zu einem Zeitpunkt verfasst wurde, als der 12-jährige Junge schon einige Stunden lang nicht mehr lebte, sollte offensichtlich von dem Verbrechen ablenken und die Fahnder an der Nase herum- und auf eine falsche Spur führen.
Der Mörder von Thomas Klinger ist im Juni 2003 in einem Indizienprozess, in dem es keinen Beweis, keine Leiche gab, zu 15 Jahren Haft verurteilt und aufgrund einer diagnostizierten schweren Persönlichkeitsstörung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen worden.
Er spürt anfangs nicht, dass man ihm ein Messer in den Leib gerammt hat, fällt rücklings auf den Boden und fragt sich, warum der andere ihn niedergestoßen hat. Er fühlt den kalten Boden unter sich und versucht, sich wieder aufzurappeln, was ihm aber nicht gelingt. Da bekommt er einen Hocker zu fassen. Mühevoll hantelt er sich daran hoch und steht nach gefühlten zehn Minuten, als würden die Geschehnisse in Zeitlupe ablaufen, wieder auf den Beinen. Als er seinen Angreifer erblickt, nimmt er seine ganze Kraft zusammen und wirft den Stuhl nach ihm. Sein Oberkörper schmerzt, ein Brennen macht sich breit. Dann die Gewissheit: Blut, überall Blut. Werde ich das überleben?
Der Mann fragt sich, wie es wohl sei, zu sterben, während sich die Schmerzen in seinem Körper ausbreiten, die zuvor im Adrenalinrausch nicht zu spüren waren. Würde er einen Tunnel mit einem hellen Licht am Ende wahrnehmen und danach seine toten Freunde und Verwandten wiedersehen?
Romano Felice gleitet auf den Boden zurück und schließt die Augen … Warum lässt sie das zu? Sie hat mich wohl nie geliebt, denkt der Mann, bevor er das Bewusstsein verliert.
Das neue Jahrtausend war gerade einmal dreieinhalb Monate alt, als der spektakuläre Fall Klarfeld mit einer ganz gewöhnlichen Anzeige wegen Abgängigkeit begann. Was nach Routine aussah, entpuppte sich bald als eines der grausamsten Verbrechen, die Österreich je gesehen hatte.
Der 56-jährige Romano Felice Klarfeld war ein Beamter der alten Schule. Als Postamtsdirektor und Disziplinarverteidiger genoss der verheiratete Vater einer erwachsenen Tochter hohes Ansehen. Nachdem der engagierte Gewerkschafter am Morgen des 19. April 2000 nicht zur Arbeit erschienen und am Nachmittag einem Disziplinarverfahren unentschuldigt ferngeblieben war, begannen die Zahnräder zu laufen und die Fahnder nahmen die Ermittlungen auf.
Die folgenden Nachforschungen und Recherchen brachten dann allerdings eine andere Seite des allseits beliebten Postbeamten ans Tageslicht, als die des treu sorgenden Familienmenschen. Felice Romano pflegte nämlich Kontakte ins Rotlichtmilieu der Stadt, ein absolutes Tabu für einen Beamten. Die Untersuchungen ergaben außerdem, dass der Mann eine Geliebte hatte – eine Prostituierte, die mithilfe von Romano Klarfeld aus dem Milieu aussteigen wollte. Der Hals über Kopf in die Frau verliebte Klarfeld soll seiner Angebeteten überdies finanziell unter die Arme gegriffen haben, als diese sich ihren Traum erfüllte: ein eigenes Pub. Antonie M. war um viele Jahre jünger als ihr Liebhaber – und bildhübsch. Doch schon bald fielen erste Schatten auf die geheime Beziehung des biederen Beamten mit dem schönen Callgirl.
Meine Kollegen wussten schon bald, dass sie es hier nicht mit einer simplen Abgängigkeit zu tun hatten. Sie nahmen Antonie M. ins Visier und fanden nach kurzer Zeit heraus, dass sie sich neben Klarfeld noch weitere Liebhaber hielt. Zahlreiche im Einsatz befindliche BeamtInnen durchsuchten das Pub der ehemaligen Prostituierten – ohne Erfolg. War die Frau also tatsächlich unschuldig am Verschwinden ihres Sugar-Daddys?
Doch gerade als die Untersuchungen für abgeschlossen erklärt werden sollten, erregte eine kaputte Bodenfliese das Aufsehen der Kriminalbeamten. Antonie M. erklärte, dass ein Bierfass auf die Kachel gefallen war, was durchaus plausibel klang.
Die Ermittler recherchierten weiter und waren mehr denn je davon überzeugt, dass der Abgängige nicht einfach aus einer Laune heraus freiwillig verschwunden war. Natürlich wurden im Zuge der Ermittlungen auch die Finanzen des Mannes ins Visier genommen, doch es ließen sich keine Unregelmäßigkeiten oder auffällige Kontobewegungen feststellen, die ein Abtauchen der Person erklärt hätten.
Immer wieder wurden zwischendurch Verwandte und Bekannte, und auch Gemahlin und Tochter von Romano Felice vernommen. Aber auch in dieser Richtung liefen die Bemühungen, den aufgrund des hohen Ansehens des Beamten heiklen Fall zu klären, ins Leere.
Bald darauf geriet jedoch einer der Geliebten von Antonie M., Karl W., ein Gärtner aus Niederösterreich, unter dringenden Tatverdacht. Die BeamtInnen luden ihn vor und befragten ihn eingehend. Der Mann hatte den routinierten Ermittlern des Gewaltreferates schon nach kurzer Zeit nichts mehr entgegenzusetzen und brach schließlich im Kreuzverhör zusammen. Er »legte nieder«, wie es im Polizeijargon heißt.