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Ruth Griegor wird schwer verletzt aufgefunden und stirbt wenig später im Krankenhaus. Nachbarn behaupten, dass sie sich kurz vor ihrem Tod noch heftig mit ihrer Tochter gestritten hatte. Nun ist die junge Frau Hauptverdächtige und - verschwunden. BKA-Ermittlerin Johanna Krass beginnt die Familie zu durchleuchten und macht sich auf die Suche nach Emma. Doch je tiefer sie gräbt, desto düsterer werden die Abgründe.
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Seitenzahl: 313
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Manuela Kuck, Jahrgang 1960, ist freie Autorin. Die gebürtige Wolfsburgerin hat Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin studiert und als Fotosetzerin und im kaufmännischen Bereich gearbeitet. Sie lebt heute in der Hauptstadt und veröffentlicht Romane, Kurzgeschichten und Krimis.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/dereinfacheTim Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-317-0 Niedersachsen Krimi Originalausgabe
Für Suse
Prolog
Ihr Körper war seltsam verrenkt, aber Ruth spürte keinen Schmerz, nur eine Ahnung dessen, was sie erwartet hatte, als sie aus dem Nichts herausgestolpert war, das Gleichgewicht verloren hatte und durch die offene Kellertür kopfüber in die Tiefe gestürzt war. Als Emma noch ein Kind gewesen war, hatte sie ihr stets eingebläut, die Kellertür niemals offen stehen zu lassen; ein Verstoß gegen diese Regel hatte eine saftige Ohrfeige zur Folge gehabt. Emma war schon seit ewigen Zeiten kein Kind mehr, und sie wäre auch früher niemals die Stufen hinabgestürzt. Dazu war sie schon damals viel zu geschickt gewesen, zu wendig und aufmerksam. Um ehrlich zu sein, war es eher um die Einhaltung der Regel gegangen als um bloße mütterliche Fürsorge.
Ruth hätte gerne verwundert den Kopf geschüttelt über das Wirrwarr ihrer Gedanken, die um alles Mögliche kreisten, nur nicht um das eigentliche Problem, aber sie konnte sich nicht bewegen. Vielleicht liege ich hier schon seit vielen Stunden und erinnere mich nur nicht, wie die Zeit vergangen ist, dachte sie. Bewusstlos im Sinne des Wortes. Konnte man sich an Schmerz erinnern? Wenn sie den Worten ihrer Tochter Glauben schenken wollte – ja, auch noch nach Jahren. Sogar nach Jahrzehnten. So etwas Ähnliches hatte sie gesagt, als sie vorhin das Haus verließ. Gesagt? – Nein, geschrien hatte sie. Ruth auch. Was genau war eigentlich passiert?
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Die Terrassentür knarrte. Jemand rief leise, fragend, aber sie konnte genauso wenig antworten, wie sie in der Lage war, auch nur einen Finger zu rühren, um auf sich aufmerksam zu machen. Für Momente schwanden ihr die Sinne.
Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, saß jemand direkt vor ihr und starrte sie an. Das Gesicht fräste sich Stück für Stück in ihr Bewusstsein. Ein bekanntes Gesicht, so viel konnte sie sagen.
»Was hast du getan?«
Ruth hörte, dass ihr Atem rasselte, als sie Luft holte. Sie schloss kurz die Augen. Ich bin gefallen, dachte sie, was sonst? Aber die Worte blieben lautlos. Vielleicht war es besser so.
»Ich will es wissen, hörst du? Ich muss es wissen.« Der Ton war energischer geworden. »Es ist wichtig, damit ich endlich meinen Frieden finde.«
Ruth ließ das Gesagte nachklingen. Es geht gar nicht um das, was mir passiert ist, dachte sie schließlich.
»Was hast du getan?«
Ein bitterer, verzweifelter Kummer streifte sie plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung. Ruth war verwirrt. Sie konnte sich nicht entsinnen, jemals das Leid eines anderen Menschen in dieser Weise gespürt zu haben – so dicht und eindringlich. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie sich selbst kaum noch wahrnahm. Möglicherweise war sie auch nur ohnmächtig und gefangen in einem absurden Traum.
»Du weißt, wovon ich rede, nicht wahr?«
Nein, dachte Ruth, das weiß ich nicht. Worte reihten sich aneinander und flossen, in endlose Sätze gekettet, über sie hinweg – eine Welle nach der anderen. Plötzlich schälte sich ein Bild heraus, und die Erkenntnis durchbrach ihre Verwirrtheit mit scharfer Klinge. Sie öffnete den Mund, um einen Schwall von Flüchen loszuwerden, aber es kam lediglich ein Krächzen heraus.
»Ich muss es wissen!«
Das glaube ich nicht, dachte Ruth, und ihr Atem rasselte erneut. Ich verrecke hier im Keller und … Sie verzog das Gesicht und setzte ein höhnisches Lächeln auf. Es tat weh, aber zugleich fühlte es sich gut an, und es half. Mit ganzer Kraft riss sie erneut den Mund auf, und heraus quollen diesmal Worte, die wie wütende Raben in ihr kreisten, um dann zuzustoßen.
Die Schwärze traf sie mit eiserner Wucht.
EINS
Was bleibt, lässt sich in zwei Kartons verstauen, dachte Johanna. Vor diesem Moment hatte sie sich gefürchtet. Allein in der kühlen, fast leer geräumten Wohnung, in der ihre Schritte und jeder Atemzug laut widerhallten und immer noch der Mief von billigen Möbeln, starkem Kaffee und Waschpulver von Aldi hing und einen Erinnerungsstrom auslöste, dem sie sich nicht entziehen konnte. Johanna stellte sich ans Fenster und blickte hinaus in den blühenden Hinterhof. Wäsche flatterte auf der Leine, ein Kinderlachen erklang, dazwischen das Rufen einer Mutter, Fetzen eines Musikstücks, ein Fenster wurde zugeknallt.
Im Frühsommer war Oma Käthe gegangen – sie hatte sich aus dem Leben geschlichen, Stück für Stück, und war eines Morgens tot gewesen. Einfach so. Ende. Die Uhr war abgelaufen und mit sanftem, endlosem Innehalten stehen geblieben. Ein schönes Ende, fand Johanna, soweit sie das beurteilen konnte. Sie war davon überzeugt gewesen, dass Käthe es so und nicht anders gewollt hatte. Ein stilles Übereinkommen zwischen ihr und dem Tod oder dem ewigen Kreislauf. Johanna und Gertrud hatten Käthe gemeinsam im Friedwald begraben. Bei der Entscheidung für die letzte Ruhestätte mitten im Elm waren sich Mutter und Tochter bemerkenswert schnell einig geworden. Am Tag der Beerdigung war Gertrud ungewohnt still geblieben – kein Gezeter, keine alten Geschichten, keine Tränen, kein Zynismus. Sie hatten eine Weile schweigend unter Käthes Baum gestanden und anschließend in Königslutter Kaffee getrunken, bevor Johanna nach Berlin zurückgefahren war. Eine Krass weniger, hatte sie gedacht.
Nun war auch Gertrud tot – plötzlich von einem Schlaganfall niedergestreckt und nicht wieder aufgestanden. Sie hatte keine Lust mehr gehabt, sich erneut dem Leben zu stellen, davon war Johanna zutiefst überzeugt. Und so wurde, keine zwei Monate nach Käthes Beerdigung, auch Gertrud im Friedwald begraben – neben ihrer Mutter. Die beiden hatten einiges miteinander zu bereden.
Eine alberne Vorstellung, aber Johanna fand das Bild stimmig: Die beiden alten Krass-Frauen trafen im Wurzelwerk des Baumes aufeinander, um sich endlich mal so richtig die Meinung zu geigen – offen und verwundbar, ehrlich und schonungslos. Johanna atmete tief durch und schloss das Fenster. Ihre Hände zitterten.
Die Kinderfotos hatte sie vor einigen Tagen beim Aufräumen entdeckt, bevor die Entrümpler gekommen waren – Johanna als niedliches Kleinkind im VW-Bad, beim Fahrradfahren, mit Schultüte und im bunten Strickpullover mit schokoverschmiertem Gesicht unterm Weihnachtsbaum, auf Papas Schoß und neben einer jungen, lächelnden Gertrud mit sonst nie gekannten sanften Zügen. Dazwischen das Bild eines Säuglings im Kinderwagen und in der Badewanne. Peter – geboren 1963, gestorben 1963. Ohne Vorwarnung hielt Johanna plötzlich dieses Foto in den Händen, an das ein vergilbter Zeitungsausschnitt geheftet war.
Der Kinderwagen rollte auf die Fahrbahn, und das herannahende Fahrzeug konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Der Säugling war sofort tot. Die Polizei stellte später fest, dass die dreijährige Schwester des sechs Monate alten Jungen den Wagen auf die Straße rollen ließ …
Das erklärt alles, dachte Johanna – der Satz war inzwischen zum Mantra geworden, so oft stellte er sich ein. Immer hatte etwas zwischen Mutter und Tochter gestanden, etwas, über das Gertrud kein einziges Wort hatte verlieren können und auch sonst niemand in der Familie. Die Tragödie lag beinahe fünfzig Jahre zurück, und sie hatte die Beziehung zu ihrer Mutter entscheidend geprägt. Oder vernichtet? Ich habe danach nie wieder eine Chance gehabt, dachte sie, während sie die beiden Kartons übereinanderstapelte und die Wohnung zum letzten Mal verließ. Der Gedanke hatte etwas zugleich Tröstliches und Hoffnungsloses. Sie warf den Schlüssel in den Briefkasten der Wohnungsgesellschaft und setzte sich hinters Steuer. Das Handy klingelte, als sie den Motor starten wollte. Sie blickte einen Moment verblüfft auf das Display, bevor sie das Gespräch annahm.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Staatsanwältin Annegret Kuhl nach einer ebenso kurzen wie herzlichen Begrüßung. »Ihre Dienststelle hat mich informiert, dass Sie gerade in Wolfsburg sind, privat.«
Johanna lehnte sich in den Sitz zurück. »Nein, Sie stören nicht. Ich wollte gerade nach Berlin aufbrechen …« Auch wenn ich nicht weiß, was ich da soll, dachte sie. Grimich ist froh, wenn ich ihr nicht in die Quere komme, und umgekehrt verhält es sich ganz ähnlich.
»Könnten Sie sich vorstellen, damit noch ein paar Tage zu warten?«, fragte Annegret Kuhl. »Ich habe mit einem Fall zu tun, der mir keine Ruhe lässt, und es würde mich sehr beruhigen, wenn Sie sich entschließen könnten, einen kritischen Blick darauf zu werfen.«
Eine Weile blieb es still in der Leitung. Staatsanwältin Kuhl konnte mit Gesprächspausen umgehen. Das schätzte Johanna an ihr – unter anderem. Ihr letzter gemeinsamer Fall lag ungefähr ein Jahr zurück und hatte sich als die zugleich größte, aufreibendste und folgenschwerste Ermittlung herausgestellt, mit der die Kommissarin je betraut worden war. Aufgrund ihrer Recherchen zu einer Reihe von angeblichen Polizistensuiziden in Niedersachsen und Berlin hatte – in Zusammenarbeit mit der Braunschweiger Staatsanwältin sowie Berliner Kollegen des BKA und LKA – eine verstörende Zusammenarbeit korrupter Beamter mit einer weitverzweigten antimuslimischen Terrorgruppe aufgedeckt werden können. Ihre Ermittlungsergebnisse hatten sogar den Staatsschutz auf den Plan gerufen. Und doch war die Kommissarin von dem Fall abgezogen worden, und das im entscheidenden Moment. So empfand sie es jedenfalls, und dabei ging es nicht um verletzte Eitelkeit oder ihr Ego, das sich nach Anerkennung sehnte.
Monatelang war Johanna nicht in der Lage gewesen, den Fall innerlich abzuschließen – nicht zuletzt deswegen, weil die vermeintlichen Suizide sich als Rachemorde an den Beamten herausgestellt hatten und die zweifelhafte Rolle eines Berliner Staatsanwaltes bei der weiteren juristischen Aufarbeitung völlig außen vor geblieben war. Johannas beruflicher Elan war fast vollständig zum Erliegen gekommen, und sie ließ seitdem keine einzige Gelegenheit mehr aus, mit ihrer Vorgesetzten Magdalena Grimich aneinanderzugeraten.
Manchmal wachte sie morgens auf und stellte sich die berühmte Frage nach dem Sinn ihres Tuns – ohne ihn mit letzter, eindringlicher und alles entscheidender Klarheit negieren zu können. Und bis dahin würde sie ihren Job noch machen.
»Diesmal geht es nicht um die große Politik«, fügte Kuhl hinzu, während Johanna die Straße hinaufblickte. »Soweit ich das im Moment überblicken kann.«
»Sondern?«
»Ich vermute eine Familientragödie. Ihre Vorgesetzte hat mich übrigens ermuntert, Sie direkt zu kontaktieren. Ich schließe daraus, dass sie nichts gegen Ihren Einsatz in Niedersachsen einzuwenden hätte.«
Natürlich nicht. Johanna unterdrückte ein Seufzen.
»Kommissarin?«
»Lassen Sie mir bitte fünf Minuten Bedenkzeit.«
»Natürlich. Auch zehn Minuten oder einen Tag.«
»Fünf Minuten dürften ausreichen.«
Johanna verabschiedete sich und legte das Handy beiseite. Vier Minuten später rief sie die Staatsanwältin zurück und kündigte ihren Besuch an.
Das vergangene Jahr hatte Annegret Kuhl nicht viel anhaben können – auf den ersten Blick. Die Staatsanwältin trug einen legeren Blazer zu italienischen Jeans sowie dezentes Make-up, und ihre Lesebrille stammte keinesfalls von jenem marktbeherrschenden Discounter mit dem ebenso einfachen wie selbstsicheren Werbeslogan, dem auch Johanna vertraute. Bei eingehender Betrachtung bemerkte die Kommissarin die Vertiefung einiger Linien in den Augenwinkeln, die sie im letzten Sommer noch nicht festgestellt oder aber in der Hektik ihrer Zusammenarbeit übersehen hatte. Annegret Kuhl dürfte inzwischen die vierzig erreicht haben, und der Stress begann auch ihr Gesicht zu zeichnen. Sie hatte Kaffee und Kekse bereitgestellt.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, begrüßte Kuhl Johanna mit aufrichtiger Herzlichkeit. »Sie haben Ihre Familie in Wolfsburg besucht?«
»Ja.« Johanna zögerte nur einen winzigen Augenblick. »Ich habe meine Mutter beerdigt – neben meiner Großmutter, die vor zwei Monaten gestorben ist. Da mein Vater schon lange nicht mehr lebt, bin ich jetzt die letzte Krass. Soweit ich weiß, jedenfalls.« Und es gibt keinen privaten Grund mehr, nach Wolfsburg zu fahren, resümierte sie lautlos und war verblüfft, dass ihr dieser Gedanken erst jetzt kam.
Annegret Kuhl starrte sie perplex an. »Das tut mir leid. Davon wusste ich nichts. Unter diesen Umständen ist es vielleicht …«
»Alles in Ordnung«, winkte Johanna ab. »Berufliche Ablenkung dürfte nicht die schlechteste Idee sein, und in Berlin läuft es seit geraumer Zeit alles andere als rund. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten.«
»Sind Sie sicher?«
»Sonst wäre ich nicht hier.«
»Gut.« Kuhl nickte und schenkte Kaffee ein, bevor sie die bereitliegende Akte zur Hand nahm. »Es geht um ein Tötungsdelikt, sehr wahrscheinlich im Affekt begangen«, begann sie zu berichten. »Nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen kam es vor zwei Wochen zu einem Streit zwischen der siebenunddreißigjährigen Emma Arnold, geborene Griegor, mit ihrer sechzigjährigen Mutter Ruth Griegor, und zwar im Haus der Griegors in Wolfsburg-Nordsteimke.«
Johanna trank einen Schluck und lehnte sich zurück. In Nordsteimke war sie häufig mit Großmutter Käthe einkaufen gewesen – als es noch das »Plaza« gab, auf das Käthe geschworen hatte.
»Nachbarn bestätigten eine lautstarke Auseinandersetzung, deren Inhalt sie nicht nachvollziehen konnten, in deren Folge Emma das Haus ihrer Eltern auffallend eilig verließ«, fuhr die Staatsanwältin fort. »Als der Ehemann Konrad Griegor Stunden später von der Arbeit nach Hause kam, zeigte sich das ganze Ausmaß des Streits – Ruth Griegor lag schwer verletzt am Fuß der Kellertreppe, die sie offensichtlich hinabgestürzt war, sehr wahrscheinlich aufgrund eines gezielten Stoßes. Die Kopfverletzungen stammten nur teilweise vom Sturz, wie die Rechtsmedizin eindeutig festgestellt hat. Hauptsächlich waren sie die Folge von nachträglicher massiver Gewalteinwirkung und so umfangreich, dass Ruth Griegor wenig später im Krankenhaus ins Koma fiel und starb.«
Kuhl blickte Johanna an und griff nach ihrer Tasse. »Die Tochter Emma ist seitdem spurlos verschwunden. Es gibt nicht einmal den kleinsten Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Die Suche nach ihr wird dadurch erschwert, dass die Frau allein und zurückgezogen lebt – sie ist geschieden und führt keine Beziehung, zumindest keine, von der wir wissen. Keiner ihrer wenigen Freunde kann sich vorstellen, wo sie sich verborgen halten könnte – oder aber sie verweigern die Zusammenarbeit mit uns.«
»Ich verstehe«, bemerkte Johanna, was aber bei näherer Betrachtung nicht ganz den Tatsachen entsprach. Ging die Staatsanwältin allen Ernstes davon aus, dass sie sich höchstpersönlich auf die Socken machte, um nach der mutmaßlichen Täterin zu fahnden? »Und was genau erwarten Sie von mir?«
Annegret Kuhl lächelte. »Es gibt einen höchst interessanten Aspekt, der den Fall in meinen Augen ungewöhnlich macht – Emma hat wenige Tage nach ihrem Verschwinden von sich aus den Kontakt zur Staatsanwaltschaft Braunschweig gesucht.«
»Ach? In welcher Weise?«
»Sie ließ uns über eine Freundin eine Mail zukommen.« Kuhl zog eine Braue hoch. »Sie wählte diese Methode, um jeden Rückschluss auf ihren Aufenthaltsort zu verhindern …«
»Wie darf ich mir das vorstellen?«
»Emma loggte sich in den Account der Freundin ein, deren Zugangsdaten sie telefonisch erfragt hatte, und hinterließ dort ein Schreiben im Entwurfsordner. Damit verhinderte sie jedwede Sendedaten.«
»Nicht blöd«, kommentierte Johanna.
»Ganz meine Meinung. Emma betont in zwei knappen Sätzen, dass ihre Mutter noch lebte, als sie das Haus verließ, und völlig unverletzt war. Es habe einen Streit gegeben, aber sie möchte nicht erörtern, worum es dabei ging. Sie sei geflüchtet, weil ihr klar sei, dass sie ein starkes Motiv habe.« Kuhl ließ die Akte sinken und sah Johanna nachdenklich an. »Merkwürdig, oder? Was bezweckt sie damit? Es gibt kaum einen Zweifel, dass sie es war. Dennoch macht sie sich die Mühe, eine, wenn auch kurze, Stellungnahme abzugeben, und die Art und Weise ihres Vorgehens spricht eindeutig dagegen, dass sie unter Schock steht.«
Johanna setzte sich gerade auf und nahm sich einen Keks. »Sie gibt zu, ein starkes Motiv zu haben«, resümierte sie. »Darum schweigt sie zum Inhalt ihrer lautstarken Auseinandersetzung … Was hat es mit der Familie auf sich? Liegen Aussagen von Angehörigen und/oder Freunden oder andere Hinweise vor, die uns diesbezüglich weiterhelfen können?«
Annegret Kuhl zuckte mit den Achseln. »Darum haben wir uns natürlich gekümmert. Es lässt sich jedoch nur festhalten, dass das Mutter-Tochter-Verhältnis allgemein als angespannt und distanziert galt. Warum, weiß aber keiner so genau oder will sich nicht dazu äußern, und weder in Emmas Wohnung noch in den persönlichen Unterlagen des Opfers fanden sich sachdienliche Anhaltspunkte. Konrad Griegor erklärt, die eigenwillige Persönlichkeit von Emma habe ihrer Mutter immer zu schaffen gemacht. Generell sei seine Frau nicht unbedingt die geborene Mutter gewesen, und die Schwangerschaft war seinerzeit nicht geplant.«
»Das trifft auf eine durchaus ansehnliche Zahl von Schwangerschaften zu, wenn ich diesbezüglich richtig informiert bin«, bemerkte Johanna und räusperte sich. »Eigenwillig« war in der Regel eine Beschreibung, die für charakterstarke und gradlinige Menschen gewählt wurde, die sich nicht beeinflussen ließen, von wem auch immer. Wenn Eltern ihre Kinder derart charakterisierten, konnte man davon ausgehen, dass ihnen der starke Wille des Zöglings Probleme bereitete, unter Umständen auch seine Intelligenz oder eine Mischung aus beidem. Ungehorsam, trotzig, fuhr es Johanna durch den Kopf. So hatte Gertrud sie auch oft genug bezeichnet.
»Unbedingt«, stimmte Kuhl zu. »Ich schlage vor, Sie gucken sich Familie und auch Freunde noch einmal genauer an. Emma lebt in Braunschweig. Sie arbeitet als freiberufliche Spiele-Erfinderin und ist sehr erfolgreich damit. Was immer Ihnen aufstößt – haken Sie nach. Es interessiert mich wirklich brennend, was zu dieser Tragödie geführt hat.« Sie klappte den Ordner zu und reichte ihn Johanna. »In Wolfsburg können Sie sich an Hauptkommissar Arthur Köster wenden – er leitet die Ermittlungen und vertritt darüber hinaus Jürgen Reinders, der gerade im Urlaub ist.«
»Freut mich zu hören.«
Kuhl lächelte. »Dachte ich mir. Köster ist ein erfahrener und pragmatischer Kollege, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Er wird Ihnen keine Steine in den Weg legen, ganz im Gegenteil: Er freut sich auf Ihre Unterstützung, denn ich muss kaum erwähnen, dass uns natürlich das Personal fehlt, um jeder denkbaren Spur bis ins letzte und womöglich spekulative Detail nachzugehen.«
»Das wird ja immer besser.« Johanna stand auf und verstaute die Akte in ihrem Lederrucksack, bevor sie sich verabschiedete. Die Klinke in der Hand drehte sie sich noch einmal zur Staatsanwältin um. »Was genau fesselt Sie an dem Fall?«
Kuhl überlegte nur kurz. »Ich habe meinen beiden Nichten vor einigen Monaten ein wunderbares Brettspiel geschenkt, das Emma Arnold entwickelte, wie ich im Nachhinein feststellte – es strotzt nur so vor Phantasie, Freude, Lust am Spiel und, ja, Warmherzigkeit.« Sie hob die Hände. »Es ist mir natürlich bewusst, dass jeder Mensch in der entsprechenden Situation zu einer Gewalttat fähig ist. In diesem Fall reizt es mich aber ganz besonders, mehr über die Hintergründe zu erfahren. Das Opfer ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich dabei massiv verletzt, anschließend wurde ihm der Schädel eingeschlagen. Was veranlasste Emma Arnold zu einer derart brutalen Vorgehensweise?«
»Wie so oft: unbändiger Hass«, entgegnete Johanna leise.
Annegret Kuhl sah sie einen Moment schweigend an. »Aber wie ist dieser Hass entstanden?«
Johanna verlängerte ihre Zimmerreservierung im »Alten Wolf« per Handy, während sie über die Autobahn nach Wolfsburg zurückfuhr, um anschließend ihrer Berliner Dienststelle in lakonischem Ton mitzuteilen, dass sie noch eine Weile in der VW-Stadt zu tun habe – dazu musste sie praktischerweise noch nicht einmal mit Grimich persönlich sprechen. Später setzte sie sich mit einem Eisbecher mit doppelter Portion Sahne auf den Balkon und studierte die erfreulich umfangreiche Akte. Sie beinhaltete sowohl Fotos vom Tatort als auch Aufnahmen von Emmas Wohnung sowie der Tatverdächtigen selbst und dem Opfer. Die Protokolle der einzelnen Befragungen wurden durch das rechtsmedizinische Gutachten sowie Einzelheiten der KTU und die zusammenfassenden Anmerkungen des leitenden Ermittlers Arthur Köster ergänzt. Am zeitlichen Ablauf des Geschehens – Streit, Handgreiflichkeiten, Sturz und Totschlag mittels eines schweren Gegenstandes – gab es keinerlei Zweifel. Die Tatwaffe, sehr wahrscheinlich ein Hammer oder ein Spaten, war nicht auffindbar. Auch das sprach für einen überlegten Rückzug der Tatverdächtigen.
Johanna nahm sich zwei Stunden Zeit, um den Fall auf sich wirken zu lassen, bevor sie Köster anrief und sich mit ihm für den nächsten Tag verabredete. Seiner Stimme nach zu urteilen gehörte der Kommissar einem älteren Semester an, und seine zugleich freundliche wie erwartungsvolle Reaktion ließ darauf schließen, dass Annegret Kuhl mit ihrer positiven Charakterisierung des Kollegen nicht übertrieben hatte.
Johanna legte das Handy beiseite und nahm erneut die beiden Fotos von Mutter und Tochter zur Hand. Während die brünette Ruth Griegor mit kühlem Blick und dezent erhobenem Kinn in die Kamera starrte und durchaus als attraktiv hätte bezeichnet werden können, wenn der Mund weniger schmallippig streng gewesen wäre, lächelte Emma Arnold und neigte leicht den Kopf. Sie war eine zarte, ebenfalls dunkelhaarige Frau mit verschmitztem Gesichtsausdruck; das Foto war unter heller Sonne vor blitzblauem Himmel entstanden. Auf Emmas Nase tummelten sich Sommersprossen. Im Hintergrund war die Tür zu einem Fischrestaurant sichtbar. Auf einer handgeschriebenen Tafel waren mehrere Gerichte mit Kreide notiert. Emma trug ein weites blau-weißes Ringelshirt, hatte die Hände in die Taschen ihrer Shorts gesteckt und wirkte wie Mitte zwanzig, dabei war das Foto erst gut zwei Jahre alt, wie Johanna einer Anmerkung auf der Rückseite entnehmen konnte: »Urlaub in Portugal, Frühsommer 2010«.
Ohne Vorwarnung liefen Johanna plötzlich die Tränen übers Gesicht, und sie wusste nicht, was sie mehr verwunderte – die zugleich ungewöhnliche wie abrupte Reaktion oder ihre heftige Sehnsucht nach Trost.
ZWEI
Hannes rief an, als sie gerade in ihrem Büro im Institut für Germanistik an der TU Braunschweig eingetroffen war und den PC hochgefahren hatte. Es würde später werden. – Natürlich, Liebling. Wie du meinst, Schatz. Lass dir Zeit, Bärchen. Ich hasse dich. Seit zwölf Jahren wasche ich deine Unterhosen – unter anderem–, besorge dir montags den »Spiegel« und donnerstags den »Stern«, bin nett zu deinem schon seit hundert Jahren debilen Vater, der mir ständig sabbernd auf den Busen schielt, bereite am Sonntagmorgen nach dem Sieben-Minuten-Fick (oder waren es acht?) – mein Gott, wie vulgär – das Vier-Minuten-Ei zu und beobachte, wie das Eigelb auf dein Kinn tropft, was ich schon nach zwei Ehejahren einfach nur ekelhaft fand, ohne es je zu sagen – selbst schuld–, und nachmittags esse ich Kuchen mit dir, obwohl der direkt auf meine Hüften wandert, dafür aber deinen immer noch bemerkenswert flachen Bauch verschont. Ich habe Skifahren gelernt, obwohl mir die Bretter unter den Füßen nie ganz geheuer waren, und gucke samstags die Sportschau, auch wenn es mich nicht die Bohne interessiert, welche Bundesligamannschaft warum an welcher Stelle steht und wessen Fußballerwade gerade zwickt. Manchmal schlüpfe ich in die violettfarbene Wäsche, weil dich das fürchterlich anmacht. Zumindest war das am Anfang so. Und nun vögelst du irgendein Flittchen, das deinen Liebesschwüren glaubt und du ihren, während ich immer fetter werde und meine Zukunft immer dünner.
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