Versehentlich verliebt - Adriana Popescu - E-Book
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Versehentlich verliebt E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Auf dem Weg nach Berlin bleibt die Reisebuchlektorin Pippa am Stuttgarter Flughafen hängen – und das ausgerechnet über die Feiertage! In der überfüllten Wartehalle lernt sie den ebenfalls gestrandeten Lukas aus Hamburg kennen, und schon bald erwärmt sein frecher Charme ihr chronisch gebrochenes Herz. Dann passiert es: Bevor Pippa es verhindern kann, hat sie sich versehentlich verliebt. Doch wohin geht die Reise für die beiden? Heute noch? Oder erst morgen? Denn der nächste Abflug kommt bestimmt …

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www.piper.de

Für Paps, weil du auch ohne Superman-Cape mein Held bist

und bleibst – immer

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen überarbeiteten und erweiterten Taschenbuchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96816-4

© Piper Verlag GmbH, München 2014 Covermotiv: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung der Abbildungen von plainpicture/Imagesource, Harishmarnad/Dreamstime, Victor Watts/Alamy, Bayberry/123 RF, Hadel Productions/iStockphoto Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Prolog

Zuerst warte ich noch auf das Klingeln meines Weckers. Oder den Signalton meines Handys. Auf irgendein Geräusch, das mich aus dem Schlaf und diesem grausamen Albtraum reißt. Aber der Weckruf bleibt aus, mein Handy liegt stumm auf meinem Schreibtisch eine Bürotür weiter und ich stehe noch immer wie versteinert im Eingang des Kopierraums und kann meinen Augen nicht trauen. Die Blätter in meiner Hand fühlen sich unglaublich schwer an, als könnte ich sie kaum zwischen den Fingern halten.

Benny sieht mich überrascht über die Schulter hinweg an. Seine Haare sind leicht zerzaust, seine Hose ist um seine Fußgelenke gerutscht und ich sehe, wie blass seine Haut im grellen Neonröhrenlicht wirkt. Sein blanker Hintern erinnert an eine Schale mit Frischkäse. Um diese Blässe schlingen sich zwei wunderbar gebräunte und wahrscheinlich epilierte Frauenbeine, die selbst jetzt, an einem kalten Dezemberabend, sonniges Karibikfeeling verbreiten. Hinter Bennys Schulter taucht das rotwangige Gesicht von Theresa, der Schlampe aus der Kartografie, auf.

»Pippa! Wie bist du hier reingekommen?«

»Durch die Tür. Soll ich es noch mal vorführen?«

Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren, aber es muss meine sein, denn ich spüre, wie sich meine Lippen bewegen.

»Kannst du nicht anklopfen?«

Nicht anklopfen? Wer klopft denn bitte an, bevor er den Kopierraum betritt? Ich arbeite jetzt seit über zwei Jahren in dieser Redaktion und noch nie habe ich angeklopft. Gut, bisher habe ich hier auch noch nie ein Pärchen beim Geschlechtsverkehr erwischt und ganz sicher habe ich meinen Freund noch nie beim Geschlechtsverkehr mit der Schlampe aus der Kartografie erwischt. Benny, mein Freund und Theresas Geliebter, wie es scheint, hält es noch immer nicht für nötig, etwas zu sagen. Also sage ich etwas.

»Vergiss nicht, die Brennpaste für das Fondue heute Abend zu kaufen.«

Dann gehe ich.

Benny hat die Brennpaste nicht gekauft, aber sein ganzes Zeug abgeholt. Vier Mal musste er die Treppen rauf und runter, weil sich in den vier Jahren, die unsere Beziehung gehalten hat, eben unglaublich viel Müll ansammelt: CDs, DVDs, seine Skiausrüstung, die jedes Jahr auf dem Feldberg im Schwarzwald zum Einsatz kam, seine Stereoanlage und natürlich die vollautomatische Kaffeemaschine, die den weltbesten Cappuccino macht.

Alles nimmt er mit, weil er einfach nicht sagen könne, wann und ob er jemals wieder einziehen wolle. Die ganze Zeit habe ich dabei zugesehen, wie der Mann, der mich eigentlich irgendwann in der Zukunft vielleicht hätte heiraten können, immer mehr Erinnerungen an uns aus der Wohnung schleppt. Er wisse selber nicht so recht, was los sei, aber wir würden irgendwie nicht mehr funktionieren und er brauche diese Pause wirklich. Nicht von der Frauenwelt, nur von mir.

Selbst nach wiederholtem und sehr angestrengtem Nachdenken habe ich noch immer keine Antwort auf die Frage, wann wir uns verloren oder – wie es immer so schön formuliert wird – entliebt haben.

Also bekam Benny seine Pause. In dieser Pause tat Theresa dann weiterhin das, was sie, wie ich später erfahren habe, schon das letzte halbe Jahr getan hatte: seine Spielwiese für sexuelle Abenteuer sein und ihren Hintern auf dem Kopierer platt drücken. Natürlich habe ich anfangs nichts gesagt, denn ich war mir noch sicher, dass Benny jeden Moment wieder bei mir auf der Matte stehen würde. Heißt es nicht »Was man liebt, muss man loslassen, damit es von alleine zu einem zurückkommt«?

Bei Benny hat das allerdings nicht ganz so gut funktioniert. Zu Weihnachten habe ich mir gewünscht, dass er zu mir zurückkommt, auch an Silvester und Ostern. Zu meinem Geburtstag im August habe ich es mir übrigens noch immer gewünscht und zu Nikolaus. Vielleicht sollte ich es dieses Weihnachten endlich mal mit einem einfacheren Wunsch versuchen: einem fliegenden Pony.

Schnee, so weit das Auge reicht. Als hätte sich die Stadt eine weiße Daunendecke über den Kopf gezogen. Nur die Lichter, die wie Sterne in den Abend hineinfunkeln, lassen darauf schließen, dass dieser Teil der Welt noch bevölkert ist.

I’m dreaming of a white Christmas … Schön und gut, aber ich heiße nicht Bing Crosby und träume auch nicht von weißen Weihnachten. Ich träume ohnehin sehr selten und wenn, dann kann ich mich kaum an den Traum und die wirren Zusammenhänge erinnern. Eigentlich nie. Selbst als meine beste Freundin mir einen Traumfänger aus ihrem USA-Urlaub mitgebracht hat, stellte sich keine Besserung ein. Können wir traumlosen Schläfer uns also nicht von solchen Songs distanzieren?

Ich gebe es in der Öffentlichkeit zwar nicht zu, aber ich bin eher so ein »Last Christmas«-Typ. Ich denke lieber an letztes Jahr zurück und wundere mich darüber, welchen Typen ich da im Vollsuff geküsst habe, weil mir klar wurde, dass Benny nicht unter dem Weihnachtsbaum liegen würde. Ich trinke nämlich genauso selten wie ich träume, also fast nie. Deswegen fiel mir die Einschätzung auch ungemein schwer, wie viel von dem Cuba Libre wohl zu viel sein würde. Das ist, als ob man mich fragt: »Schätze doch mal, wie alt ich bin.« Da habe ich eine Trefferquote von 100Prozent – und zwar für eine Blamage! Manche Partner meiner engsten Freundinnen haben schon wochenlang kein Wort mehr mit mir gesprochen, weil die vorsichtige Antwort »42?« ungefähr zwölf Jahre am richtigen Ergebnis vorbeiging. Ich kann auch Entfernungen nicht besonders gut schätzen. Das erklärt, wieso ich mich bei den Bundesjugendspielen um mindestens zwei Ehrenurkunden betrogen fühle. »Das müssen einfach mehr als 15Meter gewesen sein.« Von meinem Standpunkt aus flog der Ball damals mindestens 30Meter weit! Würde ich jetzt mal schätzen.

Aber ausgerechnet jetzt, da ich schätze, dass ich heute keine große Chance mehr auf einen Flieger nach Berlin habe, ausgerechnet jetzt, da meine gesamte Familie dort auf mich und meine Geschenke wartet, scheint sich das Blatt zu wenden und ich werde zu einer grandiosen Schätzerin. Vielen Dank auch, liebes Schicksal. Manchmal wünschte ich wirklich, mein Schicksalsbeauftragter hätte eine E-Mail-Adresse, damit ich meine Beschwerden direkt an ihn senden könnte. Wieso schätze ich meinen Kontostand am Ende des Monats nie richtig ein? Dann muss ich wieder das Notfall-Sparschwein plündern, um dem Sushi-Lieferanten den Betrag bar auszuzahlen, weil mein Konto mal wieder überzogen ist. Ich schätze, mein Schicksalsbeauftragter macht das einfach gerne mit mir. Vermutlich wollte er mal Drehbuchautor für eine mittelmäßige deutsche Soap werden – und jetzt tobt er sich eben in meinem Leben aus. Schönen Dank!

Als meine Mutter mir vor zwei Monaten eröffnet hat, dass sogar mein Bruder wieder mit seiner Frau – ich nenne sie liebevoll »das Tier« – nach Berlin kommen würde, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als an Weihnachten einfach krank im Bett zu liegen und eine geniale Ausrede für meine Absage zu haben, aber man gewöhnt sich ja schließlich an alles, sogar an die hoch ansteckende Weihnachtsstimmung überall. Startschuss sind dabei die ersten Nikoläuse und Lebkuchen in den Supermärkten so kurz nach Ostern. Außerdem kommt mit dem Duft nach frisch gefallenem Schnee, süßem Glühwein und heißen Maroni auch die Erinnerung an das Highlight jedes Weihnachtsabends zurück: der Rehbraten meiner Mutter, das beste Festessen der Welt. So habe ich mich irgendwann also doch mit dem Gedanken abgefunden, neben der Frau mit der Figur eines Profiboxers zu sitzen und mir derbe Witze samt fester Schläge auf den Rücken antun zu müssen – und zwar immer dann, wenn sie einen ihrer Witze übermäßig gut findet. Also immer. Was aber viel schlimmer ist: Ganz nebenbei verschwindet auch noch der Löwenanteil des guten Rehbratens, den meine Mutter mit viel Liebe zubereitet hat, auf ihrem Teller. Vor einigen Jahren wusste sie nicht einmal, dass man Rehe essen kann, und zeigte ernsthaft beunruhigende Wissenslücken im Fachbereich Biologie auf: »Rehe …«, ich zitiere sie hier wörtlich, »… das sind doch diese Pferde mit Geweih«. Der niedliche Versuch meines Bruders, es am Beispiel von Bambi etwas zu verdeutlichen, scheiterte kläglich.

Wie dem auch sei, jetzt stehe ich jedenfalls am Weihnachtsnachmittag hier auf dem Stuttgarter Flughafen und wünsche mir nichts sehnlicher, als bei meiner Familie zu sein. Aber daraus wird wohl nichts. Könnte ich jetzt vielleicht doch lieber die Telefonnummer meines Schicksalsbeauftragten haben? Dem würde ich nämlich mal meine Meinung ins Ohr schreien und dann um einiges entspannter wieder auflegen. Wobei … Bei meinem Glück würde ich stattdessen wahrscheinlich über eine Dreiviertelstunde in der Warteschleife und bei Musik von Helene Fischer hängen bleiben.

Ich hatte schon ein mieses Gefühl, als mein Chef vor zwei Wochen in mein Büro gestürmt kam und mir mitteilte, dass ich diesmal die Delegation aus China zu einer Stadtrundfahrt durch Stuttgart begrüßen dürfe. Freiburg wäre ja noch okay gewesen, aber nein, da die Verlagszentrale in Stuttgart sitzt, wurde die ganze Aktion in die Landeshauptstadt verlegt. Ich kenne mich in Stuttgart nicht besonders gut aus, aber den Weihnachtsmarkt am Schlossplatz würde sogar ich finden.

»Pippa, es wird Zeit, Ihnen endlich mehr zuzutrauen!«

Pippa, das bin ich: Philippa Wunsch, neunundzwanzig Jahre alt, Redakteurin für Reiseführer. Ich arbeite seit vier Jahren für die deutsche Zweigstelle einer chinesischen Verlagsgruppe und noch nie durfte ich irgendeine Aufgabe übernehmen, die den Besuch von unseren Arbeitgebern betraf. Für gewöhnlich wurde mein Kollege Hannes geschickt, der kein Wort Chinesisch spricht und dessen Englisch in etwa so gut ist wie mein Schätzvermögen. Ich nehme an, ich habe mich klar ausgedrückt. Dafür hat Hannes seit einem halben Jahr eine neue Freundin und die ist, wie sollte es auch anders sein, die Liebe seines Lebens. Dieses Weihnachten feiern sie in der Sonne, an einem weißen Strand mit kristallklarem Wasser und einem exotischen Cocktail direkt aus einer Kokosnuss.

»Alle anderen haben ja Familie oder Partner«, fuhr mein Chef fort, als er von mir keine spontanen Widerworte zu hören bekam. »Die können an Weihnachten nicht weg, aber ich dachte, Sie als Single machen das bestimmt gerne.«

Er musste mich ja nicht bei jeder Gelegenheit an meinen Familienstand – ledig – erinnern, ich wusste auch so, dass Benny nicht mehr da war. Also bin ich, die auserwählte »Single-Dame ohne feste Bindung, Kinder oder Haustiere«, mit dem Zug von Freiburg nach Stuttgart gefahren, wo ich die Herrschaften aus Fernost zwei Tage lang durch die liebevoll geschmückte Schwabenmetropole geleitete und dabei viel Lob und sogar Anerkennung abbekam.

Während die chinesischen Anzugträger allerdings schon heute Morgen abgereist sind und inzwischen sicherlich bereits in London die Weihnachtsmärkte unsicher machen, sitze ich hier in Stuttgart fest, seit Stunden, und die Flocken vor den großen Glasfenstern werden immer größer und dicker. So sieht es also aus, wenn Frau Holle mal zeigt, was sie so kann. Offenbar hat sie heute einen extrem großzügigen Tag, was Schneeflocken angeht, denn nichts geht mehr, zumindest wird das hier gemunkelt, und auch meine Frage, ob ich vielleicht mit dem Zug nach Freiburg in meine kuschelige Einzimmerwohnung kommen könnte, wurde von einer unfreundlichen Dame am Flugschalter mit dieser Auskunft beantwortet: »Auf den Schienen sieht es noch schlimmer aus.«

Also sitze ich hier auf meiner Reisetasche in der Wartehalle, weil Bing Crosby einer überambitionierten Frau Holle die Flausen in den Kopf gesetzt hat, dass wir alle von weißen Weihnachten träumen und es daher an einem Tag wie diesem schneien muss. Wenn ich ein paar ungestörte Minuten mit Frau Holle hätte, würde ich gerne mal ein paar Worte mit ihr wechseln. So von Single-Frau zu Single-Frau. Bei einem Glas Glühwein würde ich sie dann davon überzeugen, dass es Zeit wird, in Rente zu gehen oder uns ausgerechnet an den Reisetagen um Weihnachten herum eine kleine Pause gönnen könnte. Denn mal ehrlich: Schneeweiße Weihnachten sind doch vollkommen überbewertet. Die Leute in wärmeren Gefilden können doch auch sehr gut darauf verzichten. Wie viele Menschen wohl auf den Kontinenten der südlichen Hemisphäre leben? Ich schätze mal, so … Nein, besser nicht, aber es sind bestimmt viele und die feiern alle am Strand in kurzen Hosen und mit einem kühlen Bier in der Hand. Wie um alles in der Welt kann dann ein Song über Schnee an Weihnachten ein Welthit werden?

Wenigstens teile ich das tragische Schicksal, hier für eine hoffentlich sehr kleine Weile festzusitzen, mit einer ganzen Menge anderer Menschen. Zahllose Gestrandete bevölkern die Wartehalle, fluchen und schimpfen, ebenso wie ich. Hektisch ziehen Familien von einem Schalter zum nächsten, Kinder weinen, Paare streiten sich, Manager versuchen die Flugbegleiterinnen abzuchecken. Fast alles wie immer, wäre da nicht die weiße Daunendecke, die uns alle am Weiterkommen hindert.

Ich sitze ruhig auf meiner großen Reisetasche, während mein Blick auf die Anzeigetafel über unseren Köpfen geheftet ist, aber es verändert sich nichts. Noch gebe ich allerdings die Hoffnung auf ein kleines Weihnachtswunder nicht auf. Selten habe ich mir so sehr gewünscht, ein Jedi-Ritter zu sein. Für alle, die mich jetzt auslachen wollen, sei gesagt: In Neuseeland haben sich 70000 Menschen zum Jediismus bekannt. Dort ist es inzwischen als Religion anerkannt. Ha! Da könnte die Macht jetzt doch auch mit mir sein. Konzentriert starre ich auf die Anzeigetafel und versuche, mit der Macht meiner Gedanken einen baldigen Abflug meiner Maschine nach Berlin zu erzwingen. Aus dem ärgerlichen »Flug gestrichen. Flight cancelled« müsste nur eine Flugzeit werden. Ich zwinge die Fallblätter der Anzeigetafel, sich meinem Willen zu beugen. Mit aller Kraft und Macht. Ohne Erfolg. Spitze. Da braucht man einmal die Hilfe einer fiktiven Science-Fiction-Kraft und wird im Stich gelassen. Nur Obi-Wan Kenobi kann mich jetzt noch retten, denn die Dame hinter dem Schalter ist ganz sicher kein Jedi. Sie war recht deutlich, als sie sagte, im Moment sähe es schlecht aus, später könnten aber vielleicht noch einige Flüge rausgehen. Meinen hat sie dabei nicht genannt. Ich solle mich gedulden. So lange hier nichts passiert, könne ich mir ja irgendwo ein Brötchen und einen Kaffee holen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir beides herzaubern kann, ist – vor allem nach meinem gescheiterten Jedi-Experiment – gering. Denn es gibt da ein kleines, beziehungsweise ein sehr schweres Problem. Ich bin eine Frau. Auf Reisen. Ja, wir Frauen packen eben nun mal zu viel ein. Viel zu viel, um genau zu sein, und irgendwie habe ich es mir – ohne es wirklich zu merken – zur Aufgabe gemacht, die Reißfestigkeit dieser schönen großen Reisetasche einer anerkannten Sportfirma zu testen. Bis zum Limit. Beim Versuch, die Tasche über meine Schulter zu wuchten und erhobenen Hauptes zu gehen, nachdem die Dame am Schalter all meine Hoffnungen auf ein Fest im Kreise meiner Familie zunichtegemacht hat, habe ich einen Teil meiner Mission erfüllt und den Verlust des Tragegurts bedauern müssen. Nach den Feiertagen werde ich ein Beschwerdeschreiben an besagte Firma schicken. Wer denkt sich schon eine Tasche mit nur einem Tragegurt aus?

Wenn ich jetzt also aufstehen und diese Tasche mit mir nehmen will, brauche ich einen starken Mann oder einen Gepäckwagen – oder beides. Fälschlicherweise habe ich, als ich am Flughafen angekommen bin, noch angenommen, dieses Jahr wäre mir zum Abschied freundlich gesinnt. Deswegen habe ich auf einen Gepäckwagen verzichtet und bin direkt zum Flugschalter gegangen, wo ich meine schwere Reisetasche loswerden wollte. Ich habe ja nicht ahnen können, dass daraus nichts werden würde und dass sich außerdem die Tragebeziehung zwischen der Tasche und mir so sehr intensiviert. Beim darauf folgenden Versuch, doch noch einen Gepäckwagen zu bekommen, habe ich dann schnell festgestellt, dass es sich auf diesem Flughafen offensichtlich um ein sehr begehrtes Objekt handelt. Alle waren vergriffen – fast so schnell wie die Tickets zur letzten Stadion-Tour von Take That mit Robbie Williams. Woher sollte ich auch wissen, dass ich so viel Zeit hier verbringen würde? Und mich dabei auch noch bewegen muss! Jetzt habe ich jedenfalls eine überpackte Reisetasche ohne Träger, keinen Gepäckwagen und das dringende Bedürfnis nach einem Erfrischungsgetränk und etwas Süßem.

Wieso packen wir Frauen nur so viel ein? Klar, Sie wissen schon, man weiß ja nie, was passieren wird – deswegen ist es immer besser, für alle möglichen und unmöglichen Zwischenfälle Massen an Klamotten in der Tasche zu haben. Aber ich habe es übertrieben. Ich gebe es zu. In solchen Momenten wie jetzt wünsche ich mir nichts mehr, als nur einen Kulturbeutel tragen zu müssen. So wie die Männer. Was packen die schon groß ein? Zwei Unterhosen – wenn wir Glück haben! – und eine Zahnbürste. Klar, sie sehen in den Klamotten von gestern ja auch am Tag darauf noch unverschämt sexy aus, denken sie, während es bei uns Frauen schon fast als Hygienemangel angesehen wird, wenn wir am nächsten Tag den gleichen Lippenstift auftragen wollen.

Während ich auf meiner viel zu großen Reisetasche festsitze und finster vor mich hin starre, sammelt sich langsam, aber sicher immer mehr Wut in meinem Bauch. Mein Schicksalsbeauftragter hat Glück, dass er jetzt nicht vor mir steht. Was hat er sich nur dabei gedacht, den heutigen Tag auf mich loszulassen? Erwartet er für dieses Drama eine Emmy-Nominierung?

Mein Tag hat heute um fünf Uhr morgens angefangen. Das ist die Zeit, zu der ich mich für gewöhnlich gerade mal von der einen auf die andere Seite drehe, wenn ich mich überhaupt bewege. Mein Frühstück bestand aus einem »Coffee to go«, den ich aus Versehen fast zu einem »Coffee on the floor« gemacht hätte, weil ich etwas zu spät dran war und meine Bahn zum Flughafen noch erwischen musste. Rennen an sich gehört schon nicht zu meinen liebsten körperlichen Betätigungen, Rennen mit einer viel zu schweren Reisetasche über der Schulter und einem heißen Kaffee in der Hand ist ungefähr so, als würde man Usain Bolt eines der Weather Girls auf den Rücken schnallen und dann sagen: »So, brich jetzt mal den Weltrekord, mein Guter.« Das Ergebnis des bisherigen Tages? Ich sitze hier fest, hungrig und einsam, zwischen gestrandeten Fluggästen, und ich muss meinen Eltern gleich noch sagen, dass sie mein Zimmer in Berlin an meinen Bruder und das Tier vergeben können. Während alle den Pferd-mit-Geweih-Braten meiner Mutter genießen dürfen, werde ich in Stuttgart sein – alleine. Wieso? Weil es immer noch schneit.

Ich hasse Weihnachten.

Ich sitze da und beobachte, wie sich die Wartehalle langsam füllt und die Gesichtsausdrücke der anderen hier Gestrandeten immer verzweifelter werden. Es ist fast schon tröstend zu sehen, dass ich in so einem Moment nicht alleine bin. Aber warum drücken sie sich alle zeitgleich vor den wenigen Telefonzellen herum? Das Bild der aufgebrachten Menschen, die sich mir gegenüber um die kleinen Zellen drängeln, in der Hoffnung, den gnadenlosen Kampf um die Hörer zu gewinnen, erinnert mich an eine Schlachtenszene aus Spartacus. Allerdings mit weniger Blut. Im Zeitalter der iPhones sollte man doch annehmen, dass Telefonzellen ausgestorben sind und höchstens noch den Kids der 90er-Jahre ein Begriff sein dürften. Also jemandem wie mir. Ich wühle jedenfalls lieber kurz in meiner dicken Jacke und ziehe mein iPhone aus der Tasche. Ja, liebe Leute, auch wenn ich in den 80er-Jahren geboren bin, kann ich dennoch ein Touchscreen-Handy bedienen. Fast ein bisschen überheblich und mit großer Geste beginne ich, die Nummer meiner Eltern zu wählen … Was? Kein Empfang? Das muss ein schlechter Scherz sein. Aber dann begreife ich plötzlich, warum all diese Menschen, die wahrscheinlich ebenfalls über ein Smartphone verfügen, hier sind – und nicht ihr zigarettenpäckchengroßes Handy ans Ohr halten.

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