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Wie gehe ich als Betroffener mit einem nicht verarbeiteten Trauma aus meiner Kindheit um? Wie gehe ich mit Gewalterfahrungen um? Was kann ich tun, wenn ich immer und immer wieder Flashbacks, d. h. emotionale Zeitreisen in die Vergangenheit erlebe? Wie kann ich lernen, mit den Auswirkungen meines Traumas umzugehen? Gibt es Rettung für mich oder bin ich ein hoffungsloser Fall? Wie kann ich als Therapeut mich inspirieren lassen und Patienten noch besser in meiner täglichen Praxisarbeit bei der Bewältigung von Traumata unterstützen? Dr. rer. nat. Knut Menzel beschreibt relevante Modelle der Traumatherapie auf Basis systemischer Therapie. Dabei werden Modelle der inneren Teams als auch des inneren Kindes verwendet. Er erläutert dies anhand zahlreicher, eingängiger und realer Beispiele aus seiner Praxisarbeit.
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Seitenzahl: 326
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Geleitwort von Dr. Werner Weishaupt
Vorwort
Kapitel 1. Was passiert in und mit mir?
1.1 Was Traumata sind
1.2 Das Traumagedächtnis
1.3 Häschen & Denker
1.3.1 Was im Körper vorgeht
1.3.2 Was im Gehirn vorgeht
1.3.3 Dissoziation
1.3.4 Relokalisierung von Erlebnissen
1.4 Das Innere Team & Ego-States
1.4.1 Das Innere Team
1.4.2 Die Verbindung von Innen und Außen
1.4.3 Die Ego-States
1.4.4 Grundannahmen zu Ego-States
1.4.5 Arten von Ego-States
1.5 Das Innere Kind
1.5.1 Mein
Inneres Kind
ist verletzt
1.5.2 Umgang mit dem Inneren Kind
Kapitel 2. Der Heilungsprozess und wie ich dahin komme
2.1 Allgemeine Methoden zur Stabilisierung
2.1.1 Die Therapeutische Beziehung – Pacing
2.1.2 Das Emotions-Toleranzfenster
2.1.3 Die Anspannungskurve
2.1.4 Der Stress-Kreislauf
2.1.5 Umgang mit der Dissoziation
2.1.6 Panik – 5 Notfall-Techniken, die sofort helfen
2.1.7 Emotionsregulierung – Der Skill-Koffer
2.1.8 Imaginationsformate
2.1.9 Gesprächstrance
2.1.10 Die Kläranlage des Geistes
2.1.11 Helfersysteme aufbauen
2.1.12 Sozialumfeld einbeziehen
2.1.13 Struktur und Routine
2.1.14 Pharmakologische Unterstützung
2.2 Emotionsklärung nach C. Rogers
2.3 Bedürfnisklärung nach A. Maslow
2.4 Anpassung von Werten & Normen
2.4.1 Hypothesenbildung
2.4.2 Systemische Fragetechniken
2.4.3 Weitere Modelle für alternative Sichtweisen
2.5 Die Arbeit mit Häschen & Denker
2.5.1 Normalisierungsintervention für Denker
2.5.2 Reorientierung für das Häschen
2.5.3 Reorientierung für den Denker
2.5.4 Unterschiede in Zeit und Raum
2.6 Der Umgang mit Ego-States
2.6.1 Gespräche führen mit Ego-States
2.6.2 Reorganisation des inneren Teams
2.6.3 Nutzung von Bodenankern
2.6.4 Transkriptionen als Reflexionsunterstützung
2.6.5 Der Standup
2.7 Das
Innere Kind
versorgen
2.7.1 Externalisierung und Gespräch führen
2.7.2 Reflexion des Gesprächs
2.7.3 Ergänzende Hinweise
Kapitel 3. Gegenüberstellung der vorgestellten Modelle
Kapitel 4. Soziale Unterstützung
Kapitel 5. Wann ist eine Traumatherapie erfolgreich?
Kapitel 6. Integration und Wachstum
6.1 Langzeitbewältigung
6.1.1 Das Alarmsystem
6.1.2 Pacing von Patient und Therapeut
6.1.3 Meditative Techniken
6.1.4 Die Vergangenheit betrachten
6.2 Narration
Kapitel 7. Professionelle Hilfe und Ressourcen
Kapitel 8. Weitere Ansätze
Kapitel 9. Stigmatisierung und Selbstwert
Kapitel 10. Anleitung für Angehörige
Kapitel 11. Fallbeispiele aus der Praxis
11.1 Der Fall Kirsten
11.2 Der Fall Janine – 1. Fall
11.3 Der Fall Frederike
11.4 Der Fall Janine – 2. Fall
11.5 Der Fall Karl
11.6 Der Fall Mechtild
11.7 Der Fall Hanna
11.8 Der Fall Alicia
Kapitel 12. Hoffnung und Perspektive
Kapitel 13. Selbstfürsorge & Supervision
Kapitel 14. Anhang 1: Systemischer Konstruktivismus
14.1 Wir alle haben unterschiedliche Wahrheiten
14.2 Wir leben in offenen Systemen
14.3 Folgerungen des Systemischen Konstruktivismus
Kapitel 15. Anhang 2: Arbeitsblätter zur Eigenreflexion
15.1 Meine Emotionen entdecken
15.2 Mein inneres Team aufstellen
15.3 Alte Emotionen relokalisieren
15.4 Brief an das
Innere Kind
schreiben
Kapitel 16. Glossar
Kapitel 17. Literaturverzeichnis
Kapitel 18. Danksagung
Präsident des Verbands Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V.
In einer Zeit, in der die psychische Gesundheit immer stärker an Bedeutung gewinnt, erweist sich dieses Buch als unverzichtbarer Kompass für Betroffene und eine inspirierende Quelle für Therapeuten. Durch die einfühlsame Herangehensweise des Autors werden nicht nur die Herausforderungen von Traumata beleuchtet, sondern auch konkrete Wege zur Bewältigung und Heilung aufgezeigt.
Die enthaltenen Abbildungen und Tabellen erleichtern und unterstützen das Verständnis der Zusammenhänge wesentlich. Was dieses Buch jedoch besonders herausragend macht, sind die fundierten Inhalte, praxisnahen Anleitungen und Beispiele, die eine unentbehrliche Ressource für die Ausbildung zukünftiger Therapeuten darstellen und somit ihr Verständnis für Traumata und deren Therapiemöglichkeiten vertiefen möchten.
Als Präsident des VFP, des Verbands Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e. V., bin ich zutiefst beeindruckt von der Expertise und dem Engagement, die in dieses Buch eingeflossen sind. Es ist ein Zeugnis für die bedeutende Rolle, die Psychotherapie bei der Förderung von Heilung und Wohlbefinden spielt, und es trägt dazu bei, das Bewusstsein für die Bedeutung der psychischen Gesundheit in unserer Gesellschaft zu stärken.
Ich möchte dem Autor meine aufrichtige Anerkennung aussprechen für seine herausragende Arbeit und dafür, dass er einen so wertvollen Beitrag zur Traumatherapie und zur Ausbildung künftiger Therapeuten leistet.
Möge dieses Buch dazu beitragen, dass Menschen Hoffnung finden, Heilung erfahren und angehende Therapeuten inspiriert werden, ihr Bestes zu geben, um ihren zukünftigen Patienten zu helfen.
Dr. Werner Weishaupt
31582 Nienburg / Weser, im August 2024
Ich möchte mich bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, bedanken und Sie beglückwünschen. Ich beglückwünsche Sie dazu, dass Sie den Mut und die Kraft gefunden haben, sich für die Bewältigung Ihrer Vergangenheit zu interessieren. Ich bedanke mich bei allen, die mit kranken Menschen in Verbindung stehen oder mit psychologischer Beratung oder Psychotherapie Berührungspunkte haben und sich in der täglichen Arbeit mit diesem Buch inspirieren lassen möchten.
Mein Name ist Dr. rer. nat. Knut Menzel. Als Heilpraktiker für Psychotherapie und mit langjähriger Praxiserfahrung möchte ich Sie einladen, traumatische Zusammenhänge und Emotionen in der Gegenwart und in der Vergangenheit besser einschätzen und verstehen zu können.
Als betroffene Person können Sie für sich entscheiden, ob Sie vielleicht mit einer erfahrenen Therapeutin oder einem Therapeuten daran arbeiten möchten. Als Angehöriger, Freund oder Freundin können Sie die betroffene Person besser verstehen und vielleicht sogar ermuntern, sich von einem Therapeuten unterstützen zu lassen.
Das Ziel ist dabei, für alle Betroffenen einen Weg zu mehr Zufriedenheit und Ausgeglichenheit zu finden. Es gilt, für die Patienten einen gesünderen Umgang mit den aktuellen und vergangenen Emotionen zu finden, die eigenen Bedürfnisse bewusster wahrzunehmen und zu schärfen, um genau hierauf besser einzahlen zu können.
Vielleicht sind Sie Therapeut und möchten sich inspirieren lassen, um die Therapie in Ihrer Praxis noch erfolgreicher im Sinne des Klienten oder Patienten gestalten zu können.
Ich selbst habe eine naturwissenschaftliche Vergangenheit, habe in diesem Bereich promoviert und anschließend lange Zeit im Management eines großen Medienunternehmens gearbeitet. Nach einer Ausbildung 2008 zum systemisch konstruktivistischen Management-Coach, habe ich mich nach freiberuflicher Tätigkeit 2013 zum Heilpraktiker für Psychotherapie weitergebildet. Dies erfolgte auf Basis des Heilpraktikergesetz, zur Ausübung der Heilkunde, beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie. Die Prüfung und Beurkundung erfolgten durch das Gesundheitsamt Köln.
Vom Herzen her bin ich systemischer Konstruktivist. Im Begriff systemischer Konstruktivist sind die beiden Begriffe „System“ und „Konstruktivismus“ enthalten, die die Basis meines Arbeitens in meiner therapeutischen Praxis darstellen.
„System“ steht dafür, dass wir alle in Systemen leben. Sowohl die Familie als auch die Arbeit sind solche Systeme. Der Verein, indem Sie vielleicht sind, ist ein System. Die Deutschen, die Europäer, die Erde, sind Systeme. Alle diese Systeme sind offen, es können Menschen dieses System verlassen und in dieses System hineinkommen.
Der „Konstruktivismus“ befasst sich mit der Komplexität unserer Welt. Unsere Welt ist komplex. Jede Minute prasseln tausende und abertausende von Eindrücken auf uns ein. Wir Menschen müssen mit dieser Komplexität umgehen lernen, damit wir nicht von den vielen Eindrücken erschlagen werden und wir uns auf die aktuelle Situation fokussieren können. Aus diesem Grund unterscheiden wir wichtige von unwichtigen Dingen. Wir selektieren.
Was ergibt sich nun daraus? Für uns Menschen ist wesentlich, dass wir uns in unterschiedlichen Systemen unterschiedlich verhalten. Ebenfalls haben wir unterschiedliche Sichten auf Dinge, eben genau unsere persönliche und eigene Vorstellung von Welt. Beides ist essenziell für das eigene Verstehen von Verhalten und für ein gemeinsames Verständnis und Miteinander in unseren sozialen Umfeldern. Für die Interessierten gehen wir in Kapitel 14 Anhang 1: Systemischer Konstruktivismus auf diese Dinge tiefer ein.
Traumatische Ereignisse, oder besser Ereignisse, die nicht vollständig verarbeitet werden konnten, führen später manchmal zu Emotionen und Verhaltensmustern, die im Alltag des Betroffenen behindern und zudem immer wiederkehren. Was einst beschützend war, ist später möglicherweise belastend oder behindernd. Und hier haben wir schon eine Regel in Systemen, in denen wir leben: Verhaltensmuster sind häufig stabil, denn stabile Muster haben Struktur und geben dem Betroffenen dadurch mehr Sicherheit. Diese zuvor gelernten Verhaltensmuster bleiben daher manchmal über lange Zeit bestehen. Die Erde dreht sich unter uns, die Zeit verstreicht, der Lebenskontext ändert sich. Und manchmal passiert es dann, dass diese Verhaltensmuster in Alltagssituationen im Hier & Jetzt nicht mehr hilfreich sind, und das macht die Menschen betroffen.
Lisa wurde von ihren Eltern sehr streng erzogen. Sie musste laufend die vorgegebenen Regeln befolgen. Die Eigenverantwortung wurde nicht entwickelt. Es wurde nur unbedingtes Gehorchen ohne Nachfragen erlaubt. Bei Nichtbefolgung wurde Lisa hart bestraft. Heute ist Lisa erwachsen, sie vertraut Respektspersonen nicht, ist introvertiert und ihr ist es nicht möglich, für sich und die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Dies führt zu Unzufriedenheit und Traurigkeit.
Beispiele in diesem Buch werden in grau hinterlegten Boxen, wie dieser Box, mit einem senkrechten seitlichen Balken vorgestellt. Es sind fiktive Beispiele. Sie sind der Praxiserfahrung entlehnt und stellen typische Situationen in Patientengesprächen dar. Ähnlichkeiten zu bestehenden Personen sind ungewollt und rein zufällig.
Auf Ausnahmen wird explizit hingewiesen. In diesem Fall werden anonymisierte, von Patienten explizit freigegebene Fälle vorgestellt, sodass auch hier keine Rückschlüsse auf existierende Personen auftreten.
Das Beispiel gibt einen Eindruck von emotionalen Zeitreisen, die die Betroffenen vielleicht tagtäglich erleben. Ebenso zeigt es, dass alte Verhaltensmuster aus der Kindheit damals vielleicht brauchbar waren und sogar das Überleben gesichert haben, heute jedoch die Betroffenen sich damit belastet fühlen. Auf der Verständnisebene ist das vielleicht bewusst, jedoch gibt es ein Gummiband, welches die Betroffenen daran hindert, von ihrem Sofa aufzustehen, um sich anders verhalten zu können. Die Verhaltensmuster sind stabil. Es ist für die Betroffenen schwer, manchmal unmöglich, diese Verhaltensmuster zu verlassen. Es ist tief emotional im Inneren der Person verankert.
Das Buch spricht sowohl Betroffene, Interessierte als auch Therapeuten an!
In den Beispiel-Boxen sehen sie fiktive, den Sachverhalt erläuternde, hilfreiche, typische Praxisvorfälle. In den Tipp!-Boxen finden sie akzentuierte Hinweise im Umgang mit den vorgestellten Inhalten oder Formaten.
Mit diesen Tipps haben Sie die Möglichkeit schnell und gezielt die Informationen zu selektieren, die Sie interessieren und die Sie anschauen möchten.
Ich verbinde das Mindset des systemischen Konstruktivismus mit den traumatherapeutischen Verfahren, die ich in meiner Praxis anwende. So hebt sich dieses Buch von den intrapsychischen Verfahren ab, in denen nur der Klient bzw. Patient betrachtet wird. Inspiriert wurde ich unter anderem durch das Werk von R. Hanswille und A. Kissenbeck, Systemische Traumatherapie (Reinert Hanswille, 2014). Dies brachte mich dazu, die Erfahrungen aus meiner Praxis und die Verbindung verschiedener therapeutischer Modelle zu beschreiben, um Betroffenen einen Kompass zu liefern und Therapeuten Inspiration zu verleihen. Dieses Buch ist ausgelegt für die interpsychische Arbeit. Das heißt, die Arbeit mit dem Klienten bzw. Patienten betrachtet ebenfalls das Sozialumfeld und die unterschiedlichen Sichtweisen der nahestehenden Menschen des Klienten bzw. Patienten.
Im Anhang 1 gibt es hierzu einen gesonderten Teil über Systemtheorie, Konstruktivismus, den Umgang mit Emotionen und die Relevanz von Bedürfnissen, die Grundlage meines Selbstverständnisses im Umgang mit meinen Klienten und Patienten und somit auch Basis dieses Buches sind. Leser, die sich in dieser Thematik auskennen, können dieses Kapitel überspringen oder es nutzen, um ihre eigene Perspektive zu reflektieren.
Liebe Leserinnen und Leser. Bitte sehen Sie es mir nach, dass ich nicht gendere. Ich verwende bewusst die klassische Ansprache für eine leichtere Lesbarkeit und ein einfacheres Verständnis. Ich verwende bis auf wenige Ausnahmen, die explizit genannt werden, ausschließlich den Bezeichner „Patient“ und nicht „Klient“, da wir uns in diesem Buch mit therapeutischen Formaten befassen, die im Rahmen von Beratung und Coaching nicht angewendet werden können und dürfen. Ausnahmen werden explizit angegeben.
Es ist mir ein Bedürfnis hier klarzustellen, dass dieses Buch kein Buch zur Selbsttherapie ist. Es soll den Zusammenhang zwischen traumatischen Erlebnissen, den Auswirkungen auf die Betroffenen und den damit verbundenen Handlungsmustern aufzeigen. Es soll Verständnis wecken. Das Buch soll Betroffene ermuntern, sich mit professioneller Unterstützung auf ihren eigenen Weg zu machen. Therapeuten soll es eine Unterstützung darstellen, ihre Möglichkeiten in der eigenen Praxis zu reflektieren und vielleicht mit dem einen oder anderen Modell und Format anzupassen.
Der „rote Faden“ dieses Buches ist wie folgt:
In Kapitel 1 beschreibe ich, was in uns vorgeht, wenn wir bei nicht hinreichend verarbeiteten Erlebnissen aus der Vergangenheit eine emotionale Zeitreise durchführen. Wir verfallen dann in eingelernte Handlungsmuster, die wir früher erlernt haben. Diese Vorgänge sind in unserem Gehirn sehr komplex. Um mit dieser Komplexität besser umgehen zu können stelle ich die sowohl die Modelle von Häschen & Denker von Görges & Hantke (Lydia Hantke, 2012), die Ego-States nach Kai Fritzsche (Fritzsche, 2021), als auch die Arbeit mit dem Inneren Kind, welche als Spezialfall der Ego-States angesehen werden kann, vor.
In Kapitel 2 gehe ich dann auf den Weg des Heilungsprozesses ein und was in unserem Inneren passieren muss, damit Betroffene besser mit den Folgen des Traumas umgehen können. Zu den im vorherigen Teil präsentierten Modellen werden an dieser Stelle praxistaugliche Formate vorgestellt. Es geht um den in der Traumatherapie wichtigen ersten Bereich der Stabilisierung von Patienten, gefolgt von Emotions- und Bedürfnisklärung und systemisch konstruktivistischer Gesprächsführung. Es folgen spezielle Formate für oben genannten drei Modelle.
In Kapitel 3 stelle ich die betrachteten drei Modelle einander gegenüber. Sie sind eng miteinander verzahnt und die Parallelen werden aufgezeigt, sodass Therapeuten im Praxisbetrieb die Formate gegebenenfalls kombinieren können. Kapitel 4 geht auf die Unterstützung des Sozialumfeldes ein. Wann eine Therapie erfolgreich ist und woran wir das bemerken können, wird in Kapitel 5 besprochen. In Kapitel 6 wird anschließend auf die Langzeitbewältigung eingegangen.
Wo sind unsere Grenzen? Wir müssen uns mit der Fragestellung beschäftigen, wann andersartiger, neuer Therapieinput erfolgen sollte. Hierauf gehe ich in Kapitel 7 ein. Hierzu passend werden im darauffolgenden Kapitel 8 in diesem Buch nicht betrachtete, weitere Therapieansätze aufgezeigt.
In Kapitel 9 beschäftigen wir uns mit dem Thema Stigmatisierung und Selbstwert. Es geht um gesellschaftliche Aspekte und die Bewertung des eigenen ICHs. Ebenfalls relevant ist der Umgang mit Betroffenen aus der Perspektive von Angehörigen, Verwandten und Freunden. So gibt Kapitel 10 hierzu eine kurze Anleitung, wie diese mit betroffenen Menschen umgehen können und vor allem sich selbst gesunderhalten können.
In Kapitel 11 wird es sehr anschaulich und praktisch: Ich zeige konkrete Fallbeispiele aus der Praxis. Es werden Beispiele aus der Anwendung visueller Methoden, Transkriptionen, d. h. Mitschriften von Therapiegesprächen und aus Arbeiten mit dem Inneren Kind vorgestellt. Alle Beispiele wurden anonymisiert und verfremdet. Sie sind zusätzlich von den Patienten freigegeben, sodass keinerlei Rückschlüsse auf existierende Personen gezogen werden können, verlieren aber dennoch nicht ihre praktische Bedeutung für ein besseres Verständnis.
Hoffnung und Perspektive gibt es immer. Daher widme ich dieses Thema Kapitel 12. Es ist aber gerade für Therapeuten und Angehörige wichtig, den eigenen Akku aufzuladen, denn ohne Ressourcen geht gar nichts. Speziell für die therapeutische Arbeit und den Umgang mit Kranken gehe ich daher auf die wichtige Selbstfürsorge und Supervision in Kapitel 13 ein.
Zum Abschluss finden Sie in Anhang 1 das zuvor erwähnte Kapitel zum systemischen Konstruktivismus, sowie im Anhang 2 einige Arbeitsblätter zur Eigenreflexion bzw. für den Einsatz in Therapie und Praxis.
Ein traumatisches Erlebnis erfahren zu haben und darunter zu leiden, bedeutet nicht gebrochen oder den emotionalen Zeitreisen für immer unterlegen zu sein oder gar ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit schlucken zu müssen. Die Emotionen gehören zu den ICHs aus unterschiedlichen Zeiten, dem damals und dem Hier & Jetzt. Es sind Teile des ICHs, mit denen Betroffene lernen können umzugehen, um eines zu erreichen: selbstwirksam die Dinge tun zu können, um sich gesund und stark durch das Leben zu führen.
So wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser viel Vergnügen beim Erkunden und der Reflexion der unterschiedlichen Modelle. Den Therapeutinnen und Therapeuten wünsche ich viel Erfolg bei der Arbeit mit den Patienten.
Auf dass die Welt für die Betroffenen heller und leuchtender wird.
Dr. rer. nat. Knut Menzel
33330 Gütersloh, im August 2024
Ein Trauma (griech.: Wunde) ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und adäquat verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur. So wie der Körper nach Gewalteinwirkung verletzt werden kann, so ist auch die Seele verletzbar. So kann ein Trauma bildhaft auch als eine seelische Verletzung verstanden werden.
Therapeutisch arbeiten Ärzte, Psychotherapeuten, alternative Therapeuten wie beispielsweise Heilpraktiker für Psychotherapie mit dem internationalen Katalog für Krankheiten, dem ICD10. ICD steht für International Statistical Classification of Diseases, die 10 steht für Version 10 und das darin enthaltene Kapitel F steht für die Auflistung und Beschreibung der psychischen Störungen.
Gemäß der Klassifikation in der ICD10 wird ein Trauma mit dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTB) bezeichnet und ist wie folgt definiert (Horst Dilling, 2015, S. 207-208):
Die PTB (F43.1) entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören eine durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge des gewaltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterungen, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen zu sein. Prämorbide Persönlichkeitsfaktoren wie bestimmte Persönlichkeitszüge (z. B. zwanghafte oder asthenische) oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung diese Syndroms senken und seinen Verlauf verstärken, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären.
Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), oder in Träumen, vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Anhedonie sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Üblicherweise findet sich Furcht vor und Vermeidung von Stichworten, die den Leidenden an das ursprüngliche Trauma erinnern könnten. Selten kommt es zu dramatischen akuten Ausbrüchen von Angst, Panik oder Aggression, ausgelöst durch ein plötzliches Erinnern und intensives Wiedererleben des Traumas oder der ursprünglichen Reaktion darauf.
Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Drogeneinnahme oder übermäßiger Alkoholkonsum können als komplizierende Faktoren hinzukommen. Die Störung folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung über (F62.0).
Wichtig ist die aus der Definition abzuleitende Unterscheidung von sogenannten Typ-I- und Typ-II-Traumata, da diese im Allgemeinen auch unterschiedlich behandelt werden: Typ-I-Traumata sind durch ein plötzlich eintretendes Ereignis gekennzeichnet, das zeitlich klar begrenzt ist und bei dem entweder akute Lebensgefahr für sich oder eine andere Person besteht oder diese subjektiv angenommen wird. Typ-II-Traumata dagegen bestehen entweder aus einer Reihe von Einzelereignissen oder aus einem langanhaltenden traumatischen Geschehen (beispielsweise bei Traumatisierungen in der Kindheit durch die Familie).
Trauma
Merke: Ein Trauma setzt sich zusammen aus einem lebensbedrohlichen Ereignis, Angst, Hilflosigkeit und fehlender Verarbeitung.
Weiterhin wird zwischen akzidentiellen und interpersonellen Traumata unterschieden. Akzidentielle Traumata sind zufällig aufgetretene traumatische Ereignisse, die außerhalb des Einflusses von Menschen stehen, wie beispielsweise Naturkatastrophen oder unbeabsichtigte Autounfälle. Dagegen sind interpersonelle Traumata (englisch: man made disaster) solche, die vorsätzlich von einem oder mehreren anderen Menschen verursacht wurden. Eine Übersicht gibt hier im Detail (Boos, 2014, S. 21). In Tabelle 1.1 ist hierzu eine tabellarische Darstellung:
Ereignisfaktoren
Typ-I-Trauma (einmalig, kurzfristig)
Typ-II-Trauma (wiederholt, langfristig)
Interpersonelles Trauma
Sexueller Übergriff
Körperliche Gewalt
Kriminelle Gewalt
Psychische Gewalt
Langanhaltende oder wiederholte sexuelle und / oder körperliche bzw. psychische Gewalt
Kindesmisshandlung
Kriegserleben, Folter, politische Haft
AkzidentiellesTrauma
Verkehrsunfälle
Naturkatastrophen
lang andauernde Katastrophen
Tabelle 1.1: Typ-I- und Typ-II-Traumata
Auch wenn die aktuelle, international gültige Ausgabe, die ICD 10 ist, gibt es bereits eine erste Version der zukünftigen ICD 11. Diese Version ist von der WHO auf deren Weltgesundheitsversammlung vorgestellt worden und seit 1.1.2022 grundsätzlich einsetzbar (World Health Organization, 2024). Jedoch aus rechtlichen Gründen ist sie noch nicht in einer vollständig freigegebenen Form in Deutsch zu beziehen (Medizinprodukte, 2024).
Im Entwurf der ICD 11 sind relevante Anpassungen enthalten: Die posttraumatischen Belastungsstörungen sind im Bereich ICD 11, 6B40, Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind enthalten. Es wurden wiederkehrende Gewalterfahrungen, langandauernde häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Kindsmissbrauch oder auch Situationen aufgenommen, in denen Menschen nicht unmittelbar selbst bedroht, aber dennoch traumatisiert wurden. Hierzu gehören beispielsweise Suizidfälle im öffentlichen Personenverkehr oder auch Situationen bei Rettungs- und Polizeieinsätzen. Auch sind jetzt begleitende Störungsbilder, wie Panik und Dissoziation, mit aufgeführt (Hölze, 2024).
Dies sind alles Themen, die mit der Definition in der ICD 11 jetzt eine entsprechende Beachtung und Würdigung erfahren und den Therapieprozess bestätigen bzw. in die richtige Bahn lenken kann. Die in diesem Buch vorgestellten Formate lassen sich gerade in den in der ICD 11 neu beachteten Aspekte sehr gut anwenden.
Das Traumagedächtnis bezieht sich auf die Art und Weise, wie traumatische Erfahrungen im Gehirn gespeichert und abgerufen werden. Es ist keine eigene Form eines Gedächtnisses, vielmehr ist es die besondere Art und Weise, wie traumatische Erlebnisse abgespeichert und in Raum und Zeit verortet abgelegt und auch wieder abgerufen werden können.
Normal verarbeitete Erinnerungen werden oft in einer kohärenten und zeitlich geordneten Weise im Gedächtnis abgelegt. Traumatische Erinnerungen liegen im Gegensatz dazu eher fragmentiert und nicht zeitlich geordnet vor. Zudem sind die Erinnerungen häufig emotional intensiv und körperliche und psychische Reaktionen darauf zum Teil nur sehr schwer kontrollierbar.
Nehmen wir beispielsweise an, eine junge Frau geht durch den Supermarkt und schaut sich die Parfüms und Makeups an, als plötzlich ein Mann an ihr vorbeigeht. Plötzlich erlebt die junge Frau eine emotionale Sensation. Ihr wird heiß, alles kribbelt, das Herz schlägt wie wild und sie empfindet Angst bis kurz vor einer Panik. Was ist passiert? Das Traumagedächtnis hat zugeschlagen. Sie wurde von dem Geruch getriggert. Es war das Aftershave ihres Peinigers, welches sie während des sexuellen Übergriffs des Peinigers gerochen hat, und welches nun der vorbeigehende Mann im Supermarkt wohl aufgetragen hatte.
Das Traumagedächtnis…
… steuert das Erleben und Verhalten von Patienten im Hier & Jetzt, kommend von vergangenen traumatischen Erlebnissen. Dies kann in Form von Bildern, Gedanken, Emotionen oder mit schweren körperlichen Symptomen einhergehen. Die Symptome, wie beispielsweise Flucht, Kampf, Totstellen, sind Schutzmechanismen, die über Distanzierung zu möglichen Gefahren uns das Überleben sichern möchten.
Traumatische Erlebnisse können in unterschiedlicher Art und Weise erinnert werden. Sie werden oft beschrieben als:
Belastende Flashbacks, also Gedanken, Bilder und Gefühle, die immer wieder sich vor das geistige Auge stellen oder als Körpersensation erlebt werden.
Durch Träume oder Albträume, in denen Ereignisse wiederholt erlebt werden, auch einhergehend mit Aufschrecken in der Nacht, Schweißausbrüchen, Pulsrasen und anderen körperlichen Symptomen.
Aufkommen von Erinnerungssplittern, fragmentarischen Erlebnissen, die in Teilen mit den traumatischen Ereignissen in identischer Form, abgewandelt oder verfremdet auftauchen.
Als Dissoziation, in denen das Gehirn sich von den Erlebnissen distanziert, bis hin zu einer dissoziativen Ohnmacht.
Emotionale Zeitreisen, in denen man sich fühlt, als würde man die Situation im Hier & Jetzt noch einmal wiedererleben.
Die Traumatherapie zielt dabei darauf ab, die Auswirkungen des Traumagedächtnisses zu mindern und dem Patienten zu helfen, mit diesem Wiedererleben besser umgehen zu können.
Die folgenden Unterkapitel befassen sich mit den Erklärungsmodellen von erlebten Traumata. Wir betrachten dabei zwei Modelle, zum einen Häschen & Denker von Görges & Hantke (Lydia Hantke, 2012) und zum anderen die Arbeit mit Inneren Teams, basierend auf den Arbeiten von Schulz von Thun (Friedemann Schulz von Thun, 2004). Das Modell wird erweitert zum Ego-State Modell. Ego-States stehen für ICH-Zustände, basierend auf Fritzsche (Fritzsche, 2021). Es beschreibt die inneren Teammitglieder einer Person im Zusammenhang mit Glaubenssätzen und Traumata. Hier werden die systemischen und konstruktivistischen Aspekte zusammengeführt und geben dem Leser eine völlig neue Perspektive, wie wir mit uns selbst kommunizieren und Entscheidungen treffen.
Die Arbeit mit dem sogenannten Inneren Kind ist dabei ein Spezialfall, aber deswegen nicht weniger wichtig zu betrachten. Ganz im Gegenteil sogar, manchmal stellt sich heraus, dass das Innere Kind in verschiedenen Situationen innerlich schimpft und poltert. Aber dazu mehr in diesem Kapitel.
Sie werden feststellen, dass diese Modelle miteinander in Beziehung stehen und sich in der therapeutischen Arbeit ergänzen.
Das Modell Häschen & Denker wurde von Görges & Hantke (Lydia Hantke, 2012) eingeführt und wird fortwährend als Modell für schnelles und langsames Denken verwendet (s. Abb. 1.1).
Das Gehirn, das zentrale Nervensystem (ZNS), ist in diesem Modell in drei Teile gegliedert: der erste und evolutionär älteste Teil sind Kleinhirn und Hirnstamm für die nicht willkürlich steuerbaren Funktionen, wie beispielsweise Atmung und Herzschlag. Hier ist auch die Schaltstelle zum peripheren Nervensystem (PNS), den Nervenbahnen im Körper. Der zweite und evolutionär nächst jüngere Teil ist das emotionale Nervensystem, dem limbischen System, bestehend aus dem „Alarmsystem“ Amygdala für das schnelle Denken, und dem Hippocampus für die Zuordnung von Erlebnissen in Kontext, Ort und Zeit. Der dritte und jüngste Hirnbereich ist die Großhirnrinde, die für das algorithmische Denken, dem langsamen Denken zuständig ist. Die Großhirnrinde wird auch umgangssprachlich Ratio genannt und ist zuständig für die höheren Gehirnfunktionen und das Gedächtnis.
Der Denker, als Synonym für die Großhirnrinde, beurteilt die Situation, gleicht mit Erlebtem ab, nimmt die Emotionen dazu und wägt seine Entscheidungen ab. Das kostet viel Energie und vor allem Zeit. Das Häschen, als Synonym für das limbische System, reagiert und schlägt Haken – wie im richtigen Häschenleben – emotionsgetrieben und impulsiv.
Haben Sie schon einmal ein Häschen im eigenen Garten gefangen? Das ist gar nicht so einfach. Eine Flucht beim Häschen zeigt sich darin, dass das Häschen im Zick-Zack von einem wegrennt, um sich vom vermeintlichen Aggressor schnellstmöglich zu entfernen.
Es geht aber im Fall von Gefahr nicht nur um Flucht und höchste Überanspannung, sondern auch um höchste Unteranspannung. So macht es der Igel, der sich bei Gefahr einkugelt und totstellt, damit der Aggressor denkt, dass er nicht mehr lebt und von dem Igel als mögliche frische Nahrungsquelle Abstand hält.
Sowohl höchste Überanspannung als auch höchste Unteranspannung haben eines gemeinsam: es sind fest programmierte Entscheidungen, die ohne langsames Denken unmittelbar getroffen werden. Fluchthandlungen sind im Gehirn fest verdrahtet, wie auf einer Platine in einem Radio: schnell und nicht willentlich änderbar.
Weil wir Menschen soziale Wesen sind und wir im Allgemeinen nur in einer Gemeinschaft überleben können, ist es für das Überleben in kritischen Situationen zunächst wichtig zu erfassen, wer unterstützen und schützen kann („wer zeigt mir das Rettungsboot“?). Gleichzeitig suchen die Stärkeren und Erfahreneren nach schwächeren, denen sie im Überlebenskampf Hilfestellung geben können („Frauen und Kinder zuerst in die Boote!“). Diese Form der Suche wird als „Orientierungsreaktion“ bezeichnet (Lydia Hantke, 2012, S. 57-58).
Ist Orientierung nicht möglich, so aktiviert der Körper die sogenannte Notfallreaktion. Der Organismus antwortet dann auf Gefahr folgendermaßen: Die oberen Hirnregionen werden weniger stark durchblutet und können dadurch weniger stark genutzt werden. Die unteren Hirnbereiche nutzen die festverdrahteten Hauptfunktionen, die zum Kämpfen, Weglaufen oder Totstellen benötigt werden.
Im Fortschreiten der Panikreaktion wird als Vorbereitung für Kampf und Flucht die Energie für Arme, Beine, Herz- und Lungenfunktion vorbehalten und alles andere, was zusätzliche Energie kostet, abgeschaltet. Darm und Blase werden entleert und die Schmerzweiterleitung wird reduziert. Die Verbindung zwischen Denker und Häschen wird immer schwächer und rationales Handeln ist dann kaum mehr möglich. Die Verbindung wird schließlich unterbrochen, was in Abb. 1.1 an der gestrichelten Linie zwischen Häschen und Denker zu sehen ist. Im Fall der Unteranspannung wird das ganze System im Körper runtergefahren. Puls- und Atemfrequenz werden runtergeregelt, alles wird umgestellt auf die notwendigste Lebenserhaltung.
Wir kennen das aus dem täglichen Leben: Wenn wir uns über jemanden ärgern, dann geraten wir in Rage. Je mehr sich der Spannungszustand steigert, desto weniger durchlässig ist der Weg zur Ratio. Der Diskurs wird zum Streit, bis die Fetzen fliegen. Der Betroffene kann sich bis in eine Notfall- oder auch Panikreaktion steigern (s. Abb. 1.2). Details zu solchen und anderen Verhaltensmustern in unseren Lebensumfeldern finden Sie im Anhang 1, 14.2 Wir leben in offenen Systemen.
Abbildung 1.1: Modell Häschen & Denker
Das haben Sie bestimmt auch schon einmal erlebt: Auf der Arbeit schreiben wir in höchster Aufregung am liebsten eine E-Mail, um dem anderen es mal so richtig zu zeigen und unsere Meinung kundzutun. Das ist vermutlich alles andere als rollenkonform und geht wahrscheinlich auch mit einer Vertiefung des Streits einher. Vielfach hören wir: „Schlaf erst einmal darüber und schreibe morgen die E-Mail“.
Der Rat ist gut, denn das ist gleichbedeutend damit, dass die Überanspannung sich reduzieren soll, bevor gehandelt wird. Damit ist die Durchlässigkeit von Emotio zur Ratio wieder hergestellt und resultierend kann der Betroffene noch einmal alles überdenken und die Situation aus anderen Gesichtspunkten betrachten. Dies kann dann angreifende Emotionalität und Vorwürfen in der Kommunikation vorbeugen. Es wird weniger Porzellan zerschlagen. Dies erfordert aber Ratio, Energie und damit Zeit. Da heißt es für manchen: einfach mal abwarten.
Wann Häschen & Denker nicht mehr kommunizieren können
Je näher der Betroffene an einer Notfallreaktion ist, desto weniger können Häschen und Denker miteinander kommunizieren. Die höheren, zeit- und energieaufwändigen Ressourcen der Ratio sind nicht mehr verfügbar.
Dieses Notfallprogramm ist schon im Säuglingsalter aktiv. Görges und Hantke befassen sich auch mit Traumareaktionen von Kindern und Jugendlichen. Sie schreiben dazu (Lydia Hantke, 2012, S. 58)
Wenn im Leben des Säuglings etwas nicht stimmt, versucht er zunächst, andere auf sich aufmerksam zu machen. Er versucht Blickkontakt mit dem Gegenüber herzustellen, durch Laute und zunehmende Bewegung Aufmerksamkeit zu erregen. Gelingt dies nicht, so dreht er den Kopf weg, versucht den Kontakt zum nicht einschätzbaren Gegenüber zu vermeiden. Führt auch das nicht zu einer Verbesserung der Situation, zu Kontaktaufnahme oder Beruhigung, so windet sich das Kind auf Sitz oder Bett, alle Muskeln versuchen eine Flucht aufzunehmen, die noch nicht gelingen kann. Ist dies immer noch erfolglos, so steigt die Anspannung weiter, der Körper verspannt sich, das Kind schreit und fällt letztlich, sollte auch dies zu keiner Besserung seiner Situation führen, apathisch in sich zusammen.
In einer Gefahrensituation passiert somatisch, also in unserem Körper, folgendes:
Die Körperspannung steigt / sinkt (je nach Reaktionstyp)
Atmung wird schneller / langsamer
Blutdruck steigt und ist ggf. in den Ohren als pochen oder dröhnen zu hören / fällt ab
Verdauung entleert sich oder wird eingestellt
Schmerzweiterleitung wird reguliert
Gefahr wird klar fokussiert oder ausgeblendet
Die Wahrnehmung von Zeit, Raum, Körper und Gefahr verändert sich
Gesichtsfeld und Altersempfinden verändern sich
Es treten ggf. willkürliche Bewegungen auf
Soweit zu den Vorgängen im Körper. Schauen wir uns einmal etwas mehr im Detail an, was nun in unserem Gehirn vorgeht.
Görges & Hantke vergleichen den Hippocampus mit einem äußerst gewissenhaften Arbeiter, einem Beamten in uns (s. Abb. 1.1), der alle Eindrücke und Reize von außen aufnimmt, diese bewertet und Erfahrungen zuordnet und im Langzeitspeicher unseres Gehirns ablegt (Lydia Hantke, 2012, S. 60). Dies geschieht durch Zuordnung eines Etiketts mit Informationen zu Kontext, Raum und Zeit. Wir werden sehen, dass gerade dieses Etikett essenziell für die weitere Arbeit mit traumatisierten Personen sein wird.
Dieser Beamte geht in uns absolut akribisch und genau vor. Alles nacheinander. Reicht die vorhandene Zeit nicht aus bzw. ist der Hippocampus überlastet, so weist er die Eindrücke zurück und wartet, bis er Gelegenheit hat, diese wieder entsprechend zuzuordnen. Dies geschieht beispielsweise in Ruhezeiten oder in der Schlafenszeit, d. h. dann hat der Hippocampus Zeit, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Das Gedächtnis wird wie ein Lagerregal aufgeräumt und zusammenhängende Erfahrungen umsortiert, neu gruppiert oder zugeordnet. Einige von Ihnen kennen das vielleicht, dass während des Schlafes in der REM-Phase (Rapid Eye Movement) unsere Lern- und Gedächtnisprozesse optimiert werden.
Reicht dieses auch nicht mehr aus, da die Eindrücke so schwerwiegend und massiv sind, dass dies nicht mehr in der vorhandenen Zeit passieren kann, so gerät der Schreibtisch in Unordnung. Der Beamte in uns muss dann für Ordnung sorgen.
Eine der Möglichkeiten ist es, die Papiere und Akten vom Tisch zu werfen, damit dieser leer und ordentlich für den nächsten Tag wird. Diese Informationen fliegen dann bildlich gesehen unkontrolliert durch den Raum (s. Abb. 1.3). Die Informationsfetzen, auch Erinnerungssplitter, oder im Kontext von Görges & Hantke rote Karten genannt, können somit auch nicht in Raum & Zeit zugeordnet werden (Lydia Hantke, 2012, S. 67-68).
Folge 1: Im Notfallprogramm (s. Abb. 1.2) können Häschen und Denker nicht mehr miteinander kommunizieren. Der Denker wird deaktiviert, das Häschen ist auf sich allein gestellt (s. Abb. 1.1)
Folge 2: Das Einordnen der Eindrücke in Kontext, Zeit und Raum ist nicht mehr möglich. Der Hippocampus weist die Eindrücke zurück.
Folge 3: Was nicht in Kontext, Raum und Zeit zugeordnet wurde, kann nicht vorbei sein. Es ist damit auch nicht im Gedächtnis auf der Zeitlinie eingeordnet und integriert (s. Abb. 1.1).
Folge 4: Trigger rufen Erinnerungssplitter hervor, die nicht zugeordnet werden können und die Angst machen. Dadurch wird das Notfallprogramm wieder ausgelöst. Dieser Vorgang heißt Flashback (s. Abb. 1.3).
Warum entsteht nun eine Notfallreaktion? Dies liegt daran, dass der Ressourcenbereich, d. h. der Erfahrungsbereich der Person zu gering ist (s. Abb. 1.2). Normalerweise sind Häschen und Denker untereinander in Kommunikation und stimmen sich ab. Es findet im Allgemeinen eine Kosten-Nutzen-Bewertung der Situation unter Berücksichtigung der Emotionen statt. Das funktioniert so lange, wie eine Orientierung möglich ist. Ist dies nicht mehr gegeben, so reichen die vorhandenen Ressourcen nicht aus, um in der Situation angemessen zu reagieren. Das normale Schwingungsverhalten von Spannung und Entspannung ist gestört, es kommt zu einer Reaktion, die in totaler Überanspannung oder in Unteranspannung resultiert. Die Überanspannung zeichnet sich durch Kampf oder Flucht aus, ohne Eingriffsmöglichkeit. Die Unteranspannung durch Apathie/Ohnmacht, dem Totstellreflex, ebenfalls ohne Eingriffsmöglichkeit.
Abbildung 1.2: Die Notfallreaktion
Diese Notfallreaktion ist eine Schutzfunktion unseres Gehirns und hindert andere daran, dass wir weiter verletzt werden können. Eine Besonderheit ist die sogenannte Dissoziation. Was Dissoziation genau ist und wie diese im Zusammenhang mit Traumata steht, sehen wir im nächsten Kapitel.
Die Notfallreaktion
Sie ist eine Schutzfunktion, die uns entweder in Überanspannung in Form von Kampf & Flucht oder in Unteranspannung mittels eines Totstellreflexes bzw. Dissoziation versetzt.
Warum können nun einige besser mit kritischen Situationen umgehen als andere? Das liegt daran, dass diese Menschen mehr Erfahrungen im Umgang mit potenziell traumatisierenden Ereignissen und damit einen größeren Ressourcenbereich haben.
Wie sehen also, dass sowohl die Regulierung von emotionalen Über- und Unteranspannungen (s. Kapitel 2.1.2Das Emotions-Toleranzfenster) als auch die Vergrößerung des Ressourcenbereichs und damit des Emotions-Toleranzfensters wesentlich für die Stabilisierung von Patienten ist.
Werfen wir noch einmal einen Blick in den Internationalen Katalog für Krankheiten, dem ICD10. Dieser sagt hierzu (Horst Dilling, 2015, S. 212-213):
Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder Konversionsstörungen ist der teilweise oder völlige Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen, sowie der Kontrolle von Körperbewegung. […]
Diese Störungen wurden früher als verschiedene Formen der Konversionshysterie klassifiziert. Heute jedoch erscheint es günstiger, den Terminus „Hysterie“ wegen seiner vielen unterschiedlichen Bedeutungen so weit wie möglich zu vermeiden. Die hier beschriebenen dissoziativen Störungen werden als „psychogen“ entstanden angesehen. Das heißt, es besteht eine nahe zeitliche Verbindung zu traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen. […]
Alle dissoziativen Zustände tendieren dazu, nach einigen Wochen oder Monaten zu remittieren, besonders wenn der Beginn mit einem traumatisierenden Lebensereignis verbunden war. Eher chronische Zustände, besonders Lähmungen und Gefühlsstörungen, entwickeln sich manchmal recht langsam, vor allem wenn sie mit unlösbaren Problemen oder interpersonellen Schwierigkeiten verbunden sind. […]
Ergänzend ist anzumerken, dass zu den diagnostischen Leitlinien gehört, dass bei dissoziativen Störungen keine körperlichen Erkrankungen diagnostiziert werden können, welche die Symptome erklären könnten.
Dissoziation wurde schon in der Vergangenheit von namhaften Psychologen beschrieben. Hierzu gibt es verschiedene Schulen beispielsweise von Sigmund Freud, Pierre Janet und anderen (Giuseppe Craparo, 2022). Während Freud keine zwei Bewusstseinsströme nebeneinander zulässt (somit auch keine multiplen Persönlichkeitsstörungen), gehen Janet und auch Görges & Hantke (Lydia Hantke, 2012, S. 74-76) einen anderen Weg und gehen davon aus, dass verschiedene Bewusstseinszustände nebeneinander möglich sind, ohne dass diese voneinander Kenntnis haben.
Dissoziation wird somit als ein Mechanismus beschrieben, der es uns erlaubt, im Falle von Bedrohung und Überforderung das verstandesmäßige, vernünftige und aufwändige Denken abzuschalten, um Lebens- und damit arterhaltende Aktivitäten einzuleiten (beispielsweise Erstarren bei plötzlichem Erscheinen eines Autos). Dissoziation ist somit ein normaler Vorgang des Gehirns, der der erste Schritt zu den Symptomen nach einer Traumatisierung ist, wenn keine Zeit und keine Hilfe da sind, das Erleben im Nachhinein hinreichend zu verarbeiten.
Görges und Hantke beschreiben die Dissoziation in grundsätzlich drei verschiedenen Ausprägungen (Lydia Hantke, 2012, S. 78-79):
Sie beschreibt, dass in der Traumatisierung ein Teil des Erlebens nicht in Kontext, Raum und Zeit zugeordnet und verarbeitet werden konnte und nun Erlebnisanteile immer wieder in Form von Flashbacks auftauchen, wenn etwas an das unverarbeitete Erlebnis erinnert wird. Dieser Teil wird „emotionaler Persönlichkeitsanteil (EP)“ genannt (Lydia Hantke, 2012, S. 78).
Wenn in einer traumatischen Erfahrung eine Dissoziation in der Unteranspannung war und sich die bewusste Wahrnehmung sozusagen aus dem Körper entfernt hat und die Situation von außen beobachtet, so wird von zwei EPs gesprochen. Der eine Anteil ist dann mit der Situation noch verbunden, der andere abgespalten und beobachtend von außen. Dies wird als „sekundäre Dissoziation“ bezeichnet (Lydia Hantke, 2012, S. 79).
Die tertiäre strukturelle Dissoziation ist verbunden mit der Ausprägung mehrerer anscheinend normaler Persönlichkeitsanteile, die in jeweils unterschiedlichen Situationen bzw. Kontexten in Erscheinung treten. Die Anteile selbst haben i. A. keine Traumaerinnerungen, denn sie sollen ja funktionieren und das Alltagsleben in diesen unterschiedlichen Kontexten aufrechterhalten. Diese wissen auch nichts voneinander (Huber, 2011). Die EPs sind in Gefühl und Alter stecken geblieben, weil sie auf der Zeitlinie noch nicht integriert werden konnten. Diese EPs werden als „Multiple Persönlichkeiten“ beschrieben (Lydia Hantke, 2012, S. 79).
Eine spezielle Form, gerade im Umgang in einer Therapie, ist der Dissoziative Stupor. Dilling sagt dazu (Horst Dilling, 2015, S. 217):
Der dissoziative Stupor wird aufgrund einer beträchtlichen Verringerung oder des Fehlens willkürlicher Bewegungen und normaler Reaktionen auf äußere Reize wie Licht, Geräusche oder Berührung diagnostiziert. Der Patient liegt oder sitzt lange Zeit überwiegend bewegungslos.
Häufig erzählen die Patienten, wenn sie dissoziieren, dass es erst nebelig oder diesig wird und sie dann in sich verharren. Es ist eine Schutzfunktion des Körpers, nichts mehr an sich heranzulassen oder nach außen zu geben. Wir verwenden im weiteren Verlauf den Begriff der Dissoziation in diesem Zusammenhang. Dissoziation kann somit als eine Form höchster Unteranspannung angesehen werden.
Dissoziation
Vereinfacht kann man sagen, dass die Dissoziation einen Zustand bezeichnet, in dem eine Person den Kontakt zum Hier & Jetzt verliert und nicht mehr erreichbar ist, starr wird oder einfach nicht mehr da zu sein scheint und sich oder die Umgebung als nicht mehr wirklich empfindet.
Um Ihnen ein einfaches Beispiel einer primären strukturellen Dissoziation aus der Praxis darzulegen, stellen Sie sich folgende Situation vor:
Chantal kommt als Klientin in die Praxis und wünscht ein Coaching. Ich nutze das Konzept der lohnenden Pause, d. h. ich lasse der Klientin Zeit zu reflektieren und nutze diese Zeit selbst, um die aktuelle Situation aus der Coach- bzw. Therapeutenbrille zu betrachten. Chantal antwortet nicht mehr. Ihre Augen sind geradeaus und starr. Sie bewegt sich nicht und verharrt in ihrer Position.