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Zada Wagner hat in den Augen ihrer arabischstämmigen Familie Schande über sie gebracht. Obwohl sie in Hamburg aufwächst und von einem normalen deutschen Mädchenleben träumt, wird ihr Alltag von den strengen kulturellen Normen ihrer Familie und Demütigung geprägt. Die Begegnung mit Christian, einem deutschen Soldaten, stürzt sie in eine leidenschaftliche Liebe und wird zu einem Meilenstein auf Zadas Weg in die Freiheit. Die Last der familiären Konflikte, die sie schon von Kindesbeinen an tragen muss, führt sie als junge Mutter und Ehefrau schließlich in eine schwere Depression. Erst als sie sich einer christlichen Freundin anvertraut und sich zaghaft dem Gebet zuwendet, erfährt sie eine überraschende Kraft, die ihr die wahre Freiheit schenkt, nach der sie sich so lange gesehnt hat.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Über die Autorin
Zada Wagner ist ein Pseudonym, um die Anonymität aller Beteiligten zu gewährleisten und die Autorin zu schützen. Die Autorin ist 1988 geboren und Mutter von zwei Kindern. Sie arbeitet als Unternehmerin in Deutschland und steht leidenschaftlich für Frauenrechte ein, für die sie seit ihrer Kindheit kämpft. In ihrer Freizeit genießt sie ihre Freiheit, so leben zu dürfen, wie sie es möchte. Sie reist und taucht leidenschaftlich gerne und liebt es, Zeit in der Natur zu verbringen.
Prolog
Es regnete. Die Tropfen schlugen auf die Glasscheibe des Dachfensters und trübten sie ein. Ich konnte den Himmel nicht sehen. Regungslos lag ich da und horchte in mich hinein. Einige Minuten vergingen, doch es passierte nichts. Die Tropfen prasselten weiterhin auf die Scheibe – das war alles. Es war wirklich weg!
Immer wieder war ich morgens aufgewacht und schon nach wenigen Sekunden hatten mich eine schlechte Stimmung, Negativität und Trauer übermannt. Doch heute, das erste Mal nach einer so langen Zeit, fühlte ich mich ganz einfach FREI! Unglaublich! Ich lächelte und fing vor Dankbarkeit an zu weinen. Mein Mann Christian war bereits unterwegs, sodass ich diesen Moment nicht mit ihm teilen konnte. Ich wünschte mir, ihm nahe zu sein. Das hatte ich lange nicht mehr so empfunden.
Ich lauschte meinen Kindern, wie sie im Zimmer vor sich hin brabbelten. Voller Tatendrang stand ich also auf. Der Tag wartete auf mich! Als wir gemeinsam ins Bad gingen, betrachtete ich uns im Spiegel. Da war eine Frau, die ein Kind auf dem Arm hatte und ein weiteres stand mit der Zahnbürste in der Hand vor ihr. Es war lange her, dass ich uns ganz bewusst wahrnahm. Ich liebte meine kleine, süße, hübsche Familie. Mein Mädchen war komplett blond und blauäugig, mein Sohn hatte hellbraune Haare und braune Augen. Menschen, die uns nicht kannten, würden uns auf den ersten Blick nicht als Familie erkennen. Ich mit meinem gebräunten Teint, meinen dunklen Haaren und dunklen Augen würde nie als Mutter meiner Kinder erkannt werden. Es amüsierte mich, dass wir eine so bunte Familie waren. Hier fehlte nur mein Mann, der Vater meiner Kinder.
Ich war glücklich. So richtig glücklich wie schon lange nicht mehr. Und ich war ganz sicher: Gott, zu dem ich im Moment größter Verzweiflung gebetet hatte, hatte mich aus den dunklen Tiefen meines Lebens befreit.
Vorwort
Dieses Buch beruht auf einer wahren Begebenheit, meiner Lebensgeschichte.
Ich habe mich dazu entschieden, sie zu erzählen, weil mir in meinem Leben viel zu viele Menschen begegnet sind, die sich dem Zwang ihrer Familien oder der Gesellschaft gebeugt haben. Einige davon sind muslimische Mädchen, die einer arrangierten Hochzeit zustimmten, weil sie Angst hatten, sonst von ihrer Familie verstoßen zu werden. Doch ebenso lernte ich Christen aus sehr konservativen Familien kennen, die von ihren nahen Angehörigen deren feste Interpretation davon, wie man mit Gott zu leben hätte, aufgezwungen bekamen. Manche dieser Menschen wollten sich verwirklichen, erfuhren aber Ablehnung und Widerstand, weil sie damit scheinbar gegen die Werte ihrer Familien oder sogar gegen Traditionen ihrer Kultur verstoßen würden. Somit gaben und geben weiterhin viele auf. Die Sorge vor dem Alleinsein ohne Familie ist oft größer als der Wunsch, einen Lebenstraum zu erfüllen. Somit beugen sie sich.
Diese Menschen können sich selbst nicht finden, weil sie das Leben eines oder einer anderen führen, aber nicht ihr eigenes. Die, die nicht auf ihr Innerstes, ihr Herz, hören und sich deshalb ein Stück weit aufgeben, haben eines gemeinsam: Sie sind nicht glücklich. Immer wieder müssen sie sich fragen: Was wäre, wenn ich doch meinen eigenen Weg gegangen wäre?
Dieses „Was wäre, wenn …?“ habe ich gewagt. Auf meinem Weg musste ich sehr viele Hürden nehmen, und genau davon möchte ich berichten.
Bevor ich jedoch meine Geschichte erzähle, möchte ich betonen, dass es nicht meine Absicht ist, Streit und Konflikte in den betroffenen Familien und in Teilen der Gesellschaft heraufzubeschwören. Ich wünsche mir, dass alle Menschen, die eine enge Sichtweise auf das Leben haben – sei es aufgrund ihrer Tradition oder ihrer Religion – andere, die nicht nach ihren Vorstellungen leben, akzeptieren und respektieren.
Es geht mir nicht darum zu appellieren, dass man seine traditionellen Werte vergessen sollte, wenn sie für einen selbst wichtig sind. Mein Anliegen ist es, dass Menschen ihre Nächsten so respektieren können, wie sie selbst respektiert werden möchten.
Diese Toleranz durfte ich in meinem Leben leider nicht erfahren. Ich verliebte mich als junge arabischstämmige Frau in Deutschland in einen deutschen Mann und wollte mit ihm zusammen sein. Deswegen entschied ich mich für ein Leben mit ihm. Dieses scheinbare „Vergehen“ wurde mir schwerwiegend zur Last gelegt und vom Großteil meiner Familie bis heute nicht „verziehen“. Sie entschieden sich, ihr Gesicht vor der Gesellschaft zu wahren, und somit wurde ich verstoßen.
So stand ich eines Tages als junge Frau verzweifelt in meinem Zimmer und legte den Wohnungsschlüssel auf meinen Schreibtisch, der mich über die Schulzeit stets begleitet hatte. Wenn ich jetzt ginge, so wusste ich, würde ich alles verlieren, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Wollte ich das alles wirklich aufs Spiel setzen? Gab es dann kein Zurück mehr? War dies der Preis, den ich für meine Freiheit zahlen musste?
Wenn es so kommen sollte, dann wäre das ein sehr hoher Preis. Auch wenn ich mit Gottes Hilfe viele Verletzungen im Laufe der Jahre überwinden durfte und meine Entscheidung nicht bereue, war sie unglaublich schmerzhaft für mich …
Kapitel 1
Meine Familie ist palästinensischen Ursprungs. Ein Großteil der Palästinenser, so auch meine Familie, flohen ab 1948 aufgrund der Auseinandersetzungen mit Israel ins Nachbarland Jordanien. Mein Großvater wuchs dort in einer wohlhabenden Familie auf und wurde in den 70er-Jahren ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er heiratete meine leibliche Großmutter und gemeinsam hatten sie sechs Kinder, drei Mädchen und drei Jungen. Um seiner Familie aber eine sichere Zukunft bieten zu können, ging mein Großvater daraufhin allein nach Deutschland. Dort fasste er beruflich Fuß und verdiente genug Geld, um mit dem Ersparten aus Jordanien und seinem Einkommen ein Mehrfamilienhaus in Hamburg kaufen zu können.
Während dieser Monate lernte meine Großmutter in seiner Abwesenheit einen anderen Mann kennen und brannte mit ihm durch. Sie verschwand einfach. Daraufhin bot mein Großvater seinen Kindern, die zu dieser Zeit im Teenageralter waren, an, nach Deutschland zu kommen, und die drei jüngsten, darunter mein Vater, nahmen das Angebot an. In den 80er-Jahren lernte er dann die Frau kennen und lieben, die zu meiner Oma wurde. Sie war Deutsche und Christin, er Araber und Muslim. Ja, tatsächlich – meine „zweite“ Oma war eine Deutsche. Sie war zwar nicht meine leibliche, dennoch immer wie eine echte Oma für mich gewesen. Für die damalige Zeit war die Liebe zwischen meinen Großeltern sicherlich ungewöhnlich, und auch heute, nach 40 Jahren, ist sie es für einige nach wie vor. Für meinen Vater und seine Geschwister war es jedenfalls alles andere als erfreulich, dass ihr Vater eine deutsche Frau zur Gattin genommen hatte. Dies hatte meine Großmutter leider auch des Öfteren zu spüren bekommen. Doch die Liebe meiner Großeltern war stark!
Mein Vater wurde in Jordanien geboren und war 14, als er nach Deutschland kam. Er ging hier zur Schule und machte eine handwerkliche Ausbildung. Da es für ihn, im Gegensatz zu seinem Vater, nicht infrage kam, eine Frau zu heiraten, die bereits westliche Lebensgewohnheiten angenommen hatte, beschloss er in seinem 20. Lebensjahr, nach Jordanien zu fliegen, um dort eine sunnitische Ehefrau zu finden. Damals, und bei vielen Familien auch heute noch, war das Interesse des Mannes und seiner Familie groß, eine Frau zu heiraten, die der kulturellen Tradition entsprach. Das bedeutete, sie war Jungfrau, arabischer Herkunft, konnte kochen, putzen, war gebärfreudig und im besten Fall auch noch gut aussehend. Für meinen Vater war es undenkbar, eine deutsche Frau zur Braut zu nehmen.
Während dieses Jordanien-Aufenthaltes lernte mein Vater dann meine Mutter kennen. Sie war wunderschön und erst 16 Jahre alt. Wie so oft kamen solche Begegnungen zustande, weil irgendwer immer jemanden kannte, der eine heiratsfähige Tochter hatte. Da er die Brautsuche selbst vornahm, ging er zu den Eltern meiner Mutter und bat diese, anstelle meines Großvaters, der dies eigentlich hätte tun müssen, um ihre Hand. Für sie war es wie ein „Sechser im Lotto“, ihn zu heiraten, um dann in Deutschland leben zu dürfen, denn auch sie hatte kein einfaches Leben.
Ihr Vater hatte bereits jung eine Familie gegründet. Um Geld zu verdienen, war er oft monatelang im Ausland gewesen. Während eines Aufenthalts in Ägypten zeugte er mit einer anderen Frau, die er als zweite Ehefrau heiratete, meine Mutter. Als er wieder zurück nach Jordanien ging, trennte er sich wieder von dieser Frau und nahm meine Mutter einfach mit. In arabischen Ländern besitzen oftmals die Väter das absolute Sorgerecht für ihre Kinder. Meine Mutter wuchs also bei ihrer Stiefmutter auf, die überhaupt nicht erfreut war, was mein Opa in Ägypten getan hatte. Dies hatte sie ihr junges Leben lang zu spüren bekommen.
Nachdem meine Eltern in Jordanien also eine islamische Trauung vorgenommen hatten, flogen sie gemeinsam nach Hamburg und heirateten dort standesamtlich mit der schriftlichen Einverständniserklärung der Eltern meiner Mutter, die aufgrund ihrer Minderjährigkeit nötig war. Damals war dies nach deutschem Recht noch möglich.
Obwohl mein Opa eine Generation älter war als mein Vater und mein Onkel, teilte er nicht die gleichen kulturellen Ansichten wie der Rest meiner Familie. Seinen Glauben hat er zur Grundlage seines Lebens gemacht. Er betete fünfmal am Tag, indem er seinen Gebetsteppich gen Mekka ausrichtete und in den Dialog mit Gott ging. Die Werte seiner Religion lebte er. Mit anderen Menschen ging er sehr liebevoll um. Er betrachtete die drei Weltreligionen Christentum, Islam und sogar das Judentum – was meiner Meinung nach für einen Palästinenser bemerkenswert ist – als gleichwertig. Für ihn zählte nur, dass man Gott liebt und jeden Menschen so behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte.
Mein Großvater unterwarf sich dem Zwang der arabischen Gemeinschaft, in der er lebte, nicht. Die Meinung anderer Leute war ihm nicht so wichtig. Darum war es ihm auch egal, was die Menschen über seine Ehe mit einer Deutschen dachten. Der Koran sagt ganz klar aus, dass ein Mann eine Frau einer anderen Religion heiraten darf. Und nur was im Koran stand, galt für ihn. Der Mann gilt dort als Oberhaupt der Familie und gibt die Religion an seine Kinder weiter. Mein Großvater hatte mit seiner zweiten Ehefrau jedoch keine weiteren Kinder mehr bekommen können. Einer Muslima war es hingegen nur gestattet, einen Muslim zu heiraten, da eine Frau die Religion an die Kinder nicht weitergeben konnte. Und wenn eine Frau einen Ungläubigen heiraten und mit ihm Kinder zeugen würde, würden diese Kinder in die Hölle kommen, da sie aufgrund der Missetat der Mutter ungläubig aufwuchsen.
Was ich an meinen beiden Großeltern immer sehr bewundert habe, war, dass sie einander trotz ihrer unterschiedlichen Religionen von Herzen respektierten und sich noch mit über 80 Jahren bedingungslos liebten. Tagtäglich lasen sie gemeinsam aus der Bibel oder dem Koran vor und philosophierten über die Botschaften darin. Mein Opa lies jedes Jahr zum Zucker- oder Opferfest seine Enkelkinder aus der Bibel vorlesen. Sein Lieblingspsalm aus der Bibel war Psalm 23:
„Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“
Die größte Sorge meiner Oma war, dass mein Opa vor ihr aus dieser Welt scheiden würde, denn dann würde sie sich allein mit der muslimischen Familie auseinandersetzen müssen. Die negative Einstellung der Kinder meines Opas gegenüber seiner zweiten Ehe war besonders verwunderlich, da sie bereits eine längere Zeit in Deutschland gelebt und die Vorteile und Freiheiten der deutschen Gesellschaft genossen hatten.
Im besagten Hamburger Mehrfamilienhaus wohnten also meine Großeltern, mein Onkel sowie mein ältester Cousin jeweils mit ihren Familien und mein Vater mit meiner Mutter, meinem Bruder und mir. Ich liebte dieses Haus. Wir hatten dort einen wunderschönen Garten mit vielen Obstbäumen und Blumenbeeten.
Man würde meinen, dass mein Opa, der ohne Zweifel das autoritäre Familienoberhaupt meiner Familie war, seine Toleranz und Weltoffenheit an seine Kinder weitergeben konnte. Er hatte es auch immer wieder versucht, indem er kein Gespräch über dieses Thema mied. Mit seiner glücklichen Ehe und seinem großen deutschen Freundeskreis lebte er es seiner Familie vor. Trotzdem konnte er sie nicht erreichen. Sie tolerierten zwar die Bürger, die in diesem Land wohnten, grüßten die Nachbarn und zahlten ihre Steuern, jedoch wäre es eine Katastrophe, ja, eine „Familienschande“ gewesen, wenn sich eine Tochter von ihnen jemals in einen deutschen Mann verlieben würde …
Kapitel 2
Einige Monate nach der Hochzeit meiner Eltern war ich geboren worden. Doch ich kam nicht allein, denn mein Zwillingsbruder Jamal erblickte nur wenige Minuten vor mir das Licht der Welt. Gemeinsam wuchsen wir im Haus meines Opas auf.
Als wir vier Jahre alt wurden, ließen sich unsere Eltern scheiden, denn sie stritten sehr viel. Sie waren einfach zu unterschiedlich und hatten sich vor der Hochzeit nicht gut gekannt. Meine Mutter hatte sich dazu entschieden, kein Kopftuch mehr zu tragen, womit mein Vater nicht einverstanden war und was ihn gegen sie aufbrachte. Er schämte sich vor der arabischen Gesellschaft zutiefst wegen der „Verwestlichung“ seiner eigenen Ehefrau.
Die ersten drei Jahre nach der Trennung waren wir jedes zweite Wochenende bei meinem Vater. Später hatte ich nicht mehr in dieser Regelmäßigkeit Kontakt zu ihm. Ich fand Gründe, nicht mehr jedes Mal mit meinem Bruder zusammen zu ihm zu fahren, denn ich wollte lieber bei meiner Mutter bleiben und ihr damit gefallen. Es war für mich ein Akt der Solidarität ihr gegenüber, obwohl ich das Haus meines Opas mit seinen Bewohnern vermisste.
Meine Mutter hingegen, bei der wir unter der Woche lebten, war mit der Situation überfordert. Sie schrie herum, beleidigte uns und immer wieder schlug sie uns aus nichtigen Gründen. Mal war das Zimmer zu unordentlich und wir bekamen eine Ohrfeige oder wir waren zu laut und erhielten Schläge mit dem Gürtel. Wir durften nie ein Wort über meinen Vater verlieren, es sei denn, wir sagten etwas, das ihren Hass gegen ihn bestätigte und damit weiter schürte. Alles, was ihn betraf, nahm sie persönlich und versuchte stets, uns gegen ihn aufzuhetzen. Und sie drohte mit uns Dinge zu tun, die uns demütigen sollten, wenn wir nicht das täten, was sie von uns erwartete. Sie würde uns „rausschmeißen“ aus dem, wie sie sagte, „gesegnetem Leben“ mit ihr. Da sie uns das Leben geschenkt habe, hätte sie auch das Recht, darüber zu bestimmen. Obwohl ich mich an all das gewöhnt hatte, war mir eine Drohung sehr unangenehm in Erinnerung. Sie wollte uns, wenn wir nicht so funktionierten, wie sie wollte, nackt ins Treppenhaus setzen. Nicht nur dass es kalt sein würde – der Gedanke daran, dass andere Menschen mich so sehen würden, ging mir als Kind sehr nahe.
Eines Tages lernte meine Mutter einen neuen Mann bei einer Freundin kennen, die eine verheiratete Muslima war. Deren Ehemann hatte an demselben Abend, an dem auch meine Mutter zu Besuch war, einen Freund eingeladen. Meine Mutter und der Freund des Mannes unterhielten sich die ganze Nacht. Zum Ende hin fragte er sie, ob sie ihn heiraten würde. Sie willigte dem Fremden ein und kein Jahr später gebar sie meine Halbschwester.
Unser Vater nahm meinen Bruder und mich zu sich, damit unsere Mutter die Geburt und die ersten Tage im Krankenhaus verbringen konnte. Doch leider hatte er auch anderes im Sinn. Mein Vater fuhr mit uns in seinem Auto durch Hamburg und stellte sehr geschickt Fragen, die uns dazu brachten, schlechte Dinge über unsere Mutter zu erzählen, nämlich dass sie uns beschimpfte und schlug. Es entsprach zwar der Wahrheit, doch wir wussten nicht, dass er unsere Stimmen während der Fahrt auf Tonband aufnahm. Mit den Aufnahmen ging mein Vater anschließend zum Jugendamt. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er uns kurz darauf ebenfalls dorthin brachte und wollte, dass wir dem Sozialarbeiter alles erzählten. Ich war damals gerade erst neun Jahre alt geworden. Der Mann vom Jugendamt war ein älterer Herr mit weißem Schnurrbart. Mein Bruder und ich saßen an einem großen Tisch und ich sah, wie er entsetzt alles aufschrieb. Ich hatte das Gefühl, dass er hoffte, dass wir alles wieder verneinen würden. Er sagte sogar: „Dass eine Hand mal ausrutscht, passiert halt. Seid ihr euch sicher, dass es so schlimm ist, wie ihr es schildert?“ Mein Bruder und ich schauten zu unserem Vater, der uns freundlich anblickte, und bejahten unsere Schilderung. So wie wir es erzählt hatten, war es ja auch! Ich hatte keine Ahnung, was das für Konsequenzen für uns haben sollte. Ich kann mich noch gut an dieses Gefühl erinnern, den Sozialarbeiter zu sehen und nicht zu verstehen, warum er hoffte, dass wir alles zurücknehmen würden. Er ahnte nämlich, was folgen sollte. Ein Teil in mir warnte mich, jedoch war ich zu jung und zu naiv, um auf diese Stimme zu hören. Es kam, wie es kommen musste: Wir wurden meiner Mutter weggenommen. Auch wenn wir bei ihr Gewalt erfuhren, war es keinesfalls meine Absicht gewesen, von ihr getrennt zu werden.
Nach dem Besuch beim Jugendamt waren alle im Haus meines Opas besonders nett zu meinem Bruder und mir. Am nächsten Tag fuhr mein Vater uns beide zur Schule. Dass er uns brachte, freute mich sehr. Ich drückte die Hand meines Bruders, der neben mir saß, denn es kam eine Erinnerung in mir hoch. In dem Jahr, in dem ich eingeschult worden war, war meine Mutter umgezogen. Die Umschulung sollte aber erst zum nächsten Schuljahresanfang stattfinden. Meine Mutter erwartete, dass wir mit dem Bus allein durch einen Teil der Stadt Hamburg fuhren, um zur Schule und wieder nach Hause zu kommen. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie mein Bruder und ich mit unseren sieben Jahren das erste Mal mit dem Bus nach Hause fahren sollten. Wir hatten uns nach dem Schulschluss nicht gefunden, denn als Zwillinge waren wir unterschiedlichen Klassen zugewiesen worden. Daher waren wir beide getrennt gefahren. Glücklicherweise hatte ich den Weg nach Hause gefunden. Mein Bruder dagegen hatte sich verfahren. Der Busfahrer konnte über unsere Schule die Telefonnummer meiner Mutter erfahren und hatte sie zur Endstation gebeten. Dort angekommen, beleidigte sie ihren Sohn sofort aufs Niedrigste, weil er es mit seinen sieben Jahren nicht geschafft hatte, allein nach Hause zu finden. Sie war so wütend und ungehalten darüber, dass er ihr solche Umstände machte und sie ihn abholen musste.
Bei der Familie meines Vaters hingegen fühlten wir uns einfach wohl. Meine Großeltern verwöhnten uns und gaben uns das Gefühl, wichtig und geliebt zu sein. Nachdem uns mein Vater vor der Schule abgesetzt hatte, betraten mein Bruder und ich das Schulgebäude. Sofort fühlte ich eine Erleichterung. Der gewohnte Ablauf eines Schultages, dieselben Gesichter meiner Klassenkameraden und Lehrer – dies gab mir das Gefühl, dass alles wie immer war. Als die ersten beiden Schulstunden um waren, hatten wir eine große Pause. Ich traf mich mit meinem Bruder, denn auch hier waren wir in getrennten Klassen untergebracht, und gemeinsam gingen wir auf den Schulhof. Als sich die Pause dem Ende neigte, liefen wir die Treppen des Schulhauses hoch. Ich weiß noch, wie ich mich mit einer Klassenkameradin und meinem Bruder unterhielt, als ich das Schreien einer Frau hörte. Diese Stimme kannte ich und zuckte fürchterlich zusammen. Es war unsere Mutter, die bitterlich vor dem Lehrerzimmer weinte. Als ich sie so sah, wurde mir klar, was ich angerichtet hatte. Sie rannte zu mir und sagte, dass mein Vater uns ihr weggenommen hätte. Er sei zu ihr gefahren und habe das Band abgespielt, das er dem Jugendamt vorgelegt hatte. Der Schulleiter kam und nahm meine Mutter mit in sein Büro. Mit der ganzen Situation, den Blicken und dem Getuschel der Schüler und Lehrer waren wir total überfordert. Meine Klassenlehrerin beendete diese schreckliche Situation schließlich und brachte meinen Bruder und mich in unsere Klassenzimmer. Dort angekommen, fing auch ich fürchterlich an zu weinen. Ich konnte mich kaum beruhigen. Ich war so traurig über den Verlust meiner Mutter, hatte Angst vor dem, was noch kommen würde, und fühlte Scham darüber, dass wir das Gesprächsthema der Schule waren. Meinem Bruder ging es genauso.
Unsere Lehrer hatten sich mit dem Jugendamt in Verbindung gesetzt und veranlasst, dass auch meiner Mutter Gehör verschafft wurde. Sie hatte ausgesagt, dass mein Vater sie in ihrer Ehe geschlagen hätte und uns nach wie vor schlagen würde. Darauf folgte einer der schrecklichsten Tage meines Lebens: Mein Bruder und ich saßen betrübt auf einer Holzbank, die in einem riesigen Flur eines Gerichtes stand, und klammerten uns aneinander, um uns gegenseitig Trost zu spenden. Unsere Eltern saßen mit einem Richter in einem Raum, dessen Tür direkt vor uns war. Wir schauten den Gang hinunter und blickten auf all unsere Lehrer, die uns unterrichteten. Abgesehen von einer kurzen Begrüßung ignorierten sie uns. Es fühlte sich wie eine Strafe an. Denn es beschämte mich zugleich, dass sie unseretwegen da waren und, was noch viel schlimmer war, sie anscheinend mehr wussten als wir. Nacheinander wurde jede beteiligte Person hereingebeten und machte eine Aussage. Der Richter hatte meiner Mutter anscheinend jedes Wort geglaubt. Er wäre wohl nie auf die Idee gekommen, dass es auch andersherum hätte sein können.
Zum Schluss wurden mein Bruder und ich dem Richter vorgeführt. Ja, dieses Wort spiegelt genau mein damaliges Gefühl wider. Wir saßen mit ihm an einem großen, runden Tisch. Ohne irgendwelche einleitenden Worte, die uns ein bisschen auf alles vorbereitetet hätten, fragte er uns, wo wir leben wollten: bei unserer Mutter oder unserem Vater. Wir hatten beide solche Angst. Ich sagte sofort „Bei meiner Mutter“, obwohl ich wusste, dass ich es bei meinem Vater besser haben würde. Doch es ging einfach alles zu schnell, weil wir uns sofort entscheiden mussten und keinerlei Bedenkzeit hatten. Mein Bruder wollte zwar mit mir zusammenbleiben, hatte jedoch auch Mitleid mit meinem Vater, weil er ihn nicht allein lassen wollte. „Zu meinem Vater“, kam es deswegen prompt aus seinem Mund. Somit wurden wir auseinandergerissen. Mein Bruder und ich waren bis dahin unzertrennlich gewesen. Wir gaben uns Halt und waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Aber nun wurde entschieden, dass Ruhe in diese Familie einkehren müsste. Beide Familienhälften sollten unabhängig voneinander leben. Es sollte komplette Funkstille herrschen. Dies sollte uns schützen, doch die Trennung brachte nur noch mehr Schmerz und Kummer.
Mein Vater hatte meinen Zwillingsbruder folglich an einer uns damals nicht bekannten Schule angemeldet. Beide Elternteile verboten mir, meine Familie in unserem großen Haus weiterhin zu besuchen. Am Anfang war mein Bruder öfters heimlich zu uns nach Hause gekommen. Nur für wenige Minuten, weil er Angst hatte, dass es unser Vater herausfinden würde. Leider hatte meine Mutter ihm immer wieder schmerzhafte Vorwürfe für die Trennung zwischen uns gemacht, weil er sich für unseren Vater entschieden hatte. Aufgrund dieser Worte kam er uns dann irgendwann nicht mehr besuchen.
Kapitel 3
Im Laufe der Zeit und des langen Zusammenlebens mit meiner Mutter wirkten ihre Drohungen nicht mehr. Sie gingen mir in das eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder hinaus. Meine Kindheit mit ihr hatte mich schlicht und ergreifend abgestumpft. Alles, was mich nicht umbrachte, wusste ich, konnte nicht so schlimm sein. Bis zu dieser Phase meines Lebens habe ich vieles nicht hinterfragt. In der Vergangenheit wurde ich geschlagen, gedemütigt und beschimpft. Ich habe es einfach hingenommen. Meine Mutter hatte mir oft gesagt, dass sie mich töten dürfte, da sie mir das Leben geschenkte hatte und folglich auch das Recht besäße, es mir zu nehmen. Ich kann mich noch gut an eine Situation erinnern, als sie mir dies an einer Ampel voller Wut auf Arabisch entgegenschleuderte. Mich belastete es nicht, dass sie so etwas zu mir sagte, doch ich schämte mich dafür, die Aufmerksamkeit der Menschen an der Ampel auf uns zu ziehen. Und so tat ich, als ob alles in Ordnung sei, und lächelte nur.
Eines Tages veränderte sich jedoch etwas in mir. Ein Erlebnis knackte meine emotionale Schale, als ich elf Jahre alt war. Nach der Schule ging ich mit meiner Freundin Taraneh zu ihr nach Hause. Ihre Eltern kamen aus dem Iran und waren Muslime, lebten ihre religiöse Überzeugung aber nicht aus. Aus meiner Sicht waren sie sehr liberal in ihren Ansichten. Als wir beide in die Wohnung kamen, umarmten sich Mutter und Tochter und küssten sich zu Begrüßung auf die Wange. Sofort schoss es mir in den Kopf: Wann hatte mich jemals jemand nach der Schule so umarmt? Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben einsam. Nicht dass ich gar keine körperliche Zuwendung bekommen hatte, doch diese Herzlichkeit und Wärme zwischen diesen beiden Menschen zu spüren, löste einen Schmerz in mir aus. In diesem Moment wurde mir klar, in welchen Familienverhältnissen ich lebte und dass es andere gab. Es war, als ob mein Schutzmantel plötzlich von mir abfiel und all das Vergangene, das ich erfahren hatte, mich erneut einholte und mich diesmal all die Verletzungen und der Schmerz nicht unberührt ließen. Es wühlte mich sehr auf.
Ich fragte meine Freundin, ob sie sich öfter so begrüßen würden. Als sie verwundert über meine Frage sagte: „Jeden Tag“, spürte ich eine Wut in mir aufkommen. In diesem Moment wurde ich geradezu überwältigt von einem sehr intensiven Gefühl und es richtete sich gegen alle arabischen Menschen. Ich – palästinensischer Herkunft – fing an, meinesgleichen zu hassen. Alle Araber sind gleich, so dachte ich. Ich wusste noch nicht, dass ich wenige Jahre später jedoch eines Besseren belehrt werden sollte.
Als ich 14 Jahre alt war und mein Bruder und ich schon unendliche fünf Jahre getrennt voneinander aufwuchsen, war die Sehnsucht nach ihm so gewachsen, dass ich ihn über seinen Kindheitsfreund heimlich ausfindig machte und seine Handynummer bekam. Wir telefonierten miteinander und schickten uns Nachrichten. Kurze Zeit später beschlossen wir, uns heimlich zu treffen. Unsere Eltern wussten von alldem nichts. Wir verabredeten uns vor einem Einkaufscenter. Ich hatte vor unserem Widersehen Angst davor gehabt, dass ich meinen Bruder nicht wiedererkennen würde. Als mir eine Menschenmenge entgegenkam, hielt ich jedoch inne. Sofort erkannte ich ihn. Er war einen Kopf größer geworden als ich, besaß aber noch leicht seine zarten Gesichtszüge von damals. Wir umarmten uns und liefen stillschweigend durch das Einkaufscenter. Später unterhielten wir uns, doch es kam nicht mehr als eine oberflächliche Unterhaltung zustande. Wir kannten uns nicht mehr. Keiner von uns wusste so richtig, was er sagen sollte. Von da an telefonierten wir einmal im Monat und trafen uns weiterhin heimlich alle paar Monate. Es hatte lange gedauert, bis wir wieder eine enge Bindung zueinander aufbauen konnten. Dafür besteht diese bis heute noch und ist unzertrennbar.
Mit der Zeit erfuhr ich, wie es ihm zwischenzeitlich ergangen war. Mein Vater hatte wieder geheiratet und erneut Kinder bekommen. Nun hatten wir auch von dieser Seite weitere Halbgeschwister. Doch seine neue Stiefmutter hatte ihn nicht gut behandelt. Im Endeffekt war es ihm nicht besser ergangen als mir. Auch er hatte dort leider Demütigungen und Gewalt erfahren. Mein Vater hatte seine Augen davor verschlossen und meinen Bruder seiner Frau vollkommen ausgeliefert. Ich fragte mich, wie unser Vater seinen eigenen Sohn nur so im Stich lassen konnte. Dem vielen Geschrei aus der Nachbarwohnung wollten meine Großeltern schließlich ein Ende setzen. Der Konflikt wurde gelöst, indem mein Opa einen Anbau an das Haus setzen ließ, den er mit meiner Oma nutzen wollte. Mein Bruder zog daraufhin in das ehemalige Schlafzimmer meiner Großeltern, wo es ihm endlich gut ging.
Kapitel 4
Mit 14 Jahren flog ich in die Heimat meiner Eltern nach Jordanien, wo ich das letzte Mal mit vier Jahren gewesen war. Der Besuch war geplant worden und nun waren wir zu sechst am Flughafen: meine Mutter, ihr Mann, meine drei neuen, geliebten Halbgeschwister und ich. Ich hatte eine enge, liebevolle Binding zu meinen beiden Halbschwestern und meinem Halbbruder aufgebaut, die im Jahresabstand voneinander geboren waren.
Nach langem Warten waren nun endlich wir an der Reihe, in das Flugzeug einsteigen zu dürfen. Im schmalen Gang des Flugzeuges suchten die Passagiere ihre Plätze. Fast überall nur diese Araber, ging es mir dabei ständig durch den Kopf. Mein kleiner Halbbruder wollte unbedingt an einem Fensterplatz sitzen. Er setzte sich in eine beliebige Reihe und schaute mit strahlenden, großen Augen aus dem Fenster. Plötzlich schrie meine Mutter auf Arabisch durch das ganze Flugzeug: „Du verdammter Hund! Komm gefälligst her, dass ist nicht dein Platz!“ Ich schämte mich wieder so sehr. Der Unterschied diesmal war aber, dass alle Menschen im Flugzeug meine Mutter verstanden hatten. Ein fremder arabischer Mann mittleren Alters, dem der Platz, auf dem mein Bruder saß, gehörte, sagte zu meiner Mutter: „Meine Schwester, du brauchst doch nicht so mit deinem Kind zu reden. Er kann meinen Fensterplatz haben.“ Dieser Mann war so freundlich und hatte Verständnis für meinen kleinen Bruder. Mir wurde klar, dass es auch andere Araber geben musste: jene, die nicht gleich beleidigten und drohten. Ich sagte mir: Sie sind nicht alle gleich! Es ist meine Familie, die so ist, wie sie ist.
Kurz danach lernte ich meine in Jordanien lebende Familie kennen. Es waren viele wunderbare, herzliche und intelligente Menschen darunter, die nichts mit meiner Mutter und einem gewissen Teil meiner Familie in Deutschland gemeinsam hatten. Diese Erlebnisse machten mir deutlich, dass es falsch war, alle Menschen meines Kulturkreises zu hassen.
Nach wie vor wohnte ich bei meiner Mutter und hatte keinen Kontakt zu meinem Vater. Doch das Leben ging auch so weiter. Es gab Tage, da musste ich darum betteln, meine Hausaufgaben zu Ende machen zu dürfen, weil meine Mutter keinerlei Verständnis dafür hatte. Sie wollte, dass ich sofort mit den Dingen begann, die im Haushalt erledigt werden mussten. Ich wusste aber, dass mein Wunsch nach einem anderen Leben als das, welches meine Mutter führte, nur in Erfüllung gehen könnte, wenn ich die Schule gut meisterte. Dies war die Grundlage dafür, eine gute Ausbildung zu erhalten und um später selbst genug Geld zu verdienen. Dadurch erhoffte ich die Unabhängigkeit zu erhalten, nach der ich mich so sehnte. Ich wünschte mir, dass meine Mutter, wie die meisten anderen Eltern auch, zu den Elternabenden meiner Schule gegangen wäre, um mein Lernen wertzuschätzen. Doch während meiner gesamten Schullaufbahn war sie nur zweimal auf solch einer Veranstaltung gewesen. Auch mein Stiefvater konnte sich an kaum einen Elternabend seiner Kinder aus erster Ehe erinnern. Beide rühmten sich stolz vor mir, wer von ihnen beiden an weniger solchen Veranstaltungen ihrer Kinder teilnahm.
Als ich mal wieder in meinem Zimmer saß und Hausaufgaben machte, hörte ich das Kreischen meines Halbbruders und dazu passend das Gebrüll meiner Mutter. Ich ignorierte es, denn es kam öfter vor. Meistens war der Lärm binnen kürzester Zeit wieder vorbei, weil meine Mutter sich nicht anders zu helfen wusste, als den Fernseher anzuschalten und die Kinder damit abzulenken. Aber diesmal hörte mein kleiner Bruder nicht mehr auf zu weinen. Ich lief aus meinem Zimmer zu meiner Mutter ins Wohnzimmer und fragte: „Mama, warum weint Mohammed?“ Sie schaute mich nicht an. Sie starrte auf den Fernseher, rechts und links neben ihr saßen meine beiden Schwestern. Genervt antwortete sie: „Dein Bruder hört nicht! Darum muss er jetzt richtig erzogen werden! Geh nicht zu ihm! Das wird ihm eine Lehre sein!“ Irritiert schüttelte ich den Kopf und verließ das Wohnzimmer. Eine Lehre sein? Was meint sie? Was hat sie mit ihm gemacht?, schoss es mir durch den Kopf, während das Weinen meines Bruders anhielt. Ohne auf die Worte meine Mutter zu hören, lief ich leise den Flur entlang aufs Schlafzimmer zu, wo die Geräusche herkamen, und öffnete vorsichtig die Tür. Eine Gänsehaut überkam mich und Tränen schossen mir in die Augen. Es tat unendlich weh, ihn so zu sehen. Mein Bruder streckte mir flehend seine Hand entgegen und schluchzte bitterlich: „Zada, Hilfe!“ Seine andere Hand und sein rechter Fuß waren mit dem Gürtel eines Bademantels an einem Heizkörper festgebunden. Ich sah eine Erniedrigung und Hilflosigkeit in ihm, die ein dreijähriges Kind niemals fühlen sollte. Schnell schloss ich die Schlafzimmertür hinter mir, lief zu ihm und löste die Knoten. Dabei flüsterte ich ihm zu: „Alles wird gut, ich bin jetzt da und passe auf dich auf.“ Er umklammerte mich fest und hörte nicht auf zu schluchzen. Mein Körper zitterte vor Wut auf meine Mutter. Warum musste sie ihm das antun? Ich hasste sie so sehr dafür.
Wenn sie in diesem Moment das Zimmer betreten hätte, weiß ich nicht, ob ich mich hätte beherrschen können. Ich hatte es mir nahezu gewünscht, dass sie hereingekommen wäre. Es war mir egal, ob sie mich dabei erwischt hätte, wie ich gegen ihren Willen meinen Bruder befreit hatte. Ich hatte gehofft, ihr den Spiegel vors Gesicht halten zu können! Ihr zu zeigen, wie grausam das ist, was sie getan hatte. Doch sie kam nicht. Mein Bruder und ich hielten uns lange in diesem Zimmer auf, bis wir uns beide beruhigt hatten. Mohammed wollte mich einfach nicht loslassen und ich hielt ihn noch lange im Arm. Auch ich konnte mich nicht vom ihm lösen.
Insgeheim hoffte ich, dass meine Mutter spürte, dass sie zu weit gegangen war, denn sie fragte nie nach, wie mein Halbbruder sich befreit hatte, als er wieder spielend durch die Wohnung lief.
Der Mann meiner Mutter war bei unseren Problemen mit ihr leider keine Hilfe. Er wohnte bei uns mit in der Wohnung, obwohl er eine weitere kleinere Wohnung als Rückzugsort nur für sich gemietet hatte. Ich hatte keine enge Bindung zu ihm. Wir hatten Respekt voreinander und meistens grüßten oder verabschiedeten wir uns lediglich mit ein bis zwei Worten. Im Gegensatz zu meiner Mutter war er aber nicht verbal beleidigend mir und meinen Geschwistern gegenüber. Doch wenn seine Kinder unartig waren, schlug er sie. Bei mir wagte er es nicht. Jedes Mal, wenn ich das sah, wurde ich unendlich wütend auf ihn. Zu sehen, wie er einer Zweijährigen ins Gesicht schlug, auch wenn er es verharmlosend als „Backpfeife“ titulierte, brachte mich gegen ihn auf. Ich wünschte mir immer mehr, dass er nicht bei uns wohnen würde. Und dennoch war er trotz allem der stabilere Elternteil. Er war nicht grundlos wütend und damit berechenbar. Manchmal konnte er sogar liebevoll mit seinen eigenen Kindern umgehen, dann gab es mal einen Kuss oder ein gutes Wort mit auf dem Weg.
Was sich für mich endlich änderte, war, dass meine Mutter mich nicht mehr schlug, denn mittlerweile war ich so groß wie sie. Vermutlich hatte sie Hemmungen, mir weiterhin körperliche Gewalt anzutun. Vielleicht spürte sie auch, dass ich mich wehren würde. Was blieb, war ihre Art, mich durch Beleidigungen und Erniedrigungen stets emotional zu verletzten.
Was sich jedoch auch änderte, war das Thema des anderen Geschlechts. Meine Mutter fing an, mir zu drohen und ermahnte mich wöchentlich: „Wenn ich herausfinden sollte, dass du einen Freund hast oder dich mit einem Jungen triffst, dann werde ich dich umbringen!“ In diesem Alter hatte ich noch keinen Freund und hatte auch nicht vor, mich mit einem Jungen zu treffen. Meine Mutter versuchte mich und meine Geschwister nach den kulturellen, islamischen Moralvorstellungen zu erziehen. Jedoch trug sie kein Kopftuch. Sie mochte es, sich zurechtzumachen und ihre Haare zu frisieren und das wollte sie auch in der Öffentlichkeit zeigen. Fünfmal am Tag betete sie zu Allah auf die Art und Weise und zu den Uhrzeiten, wie es den traditionellen islamischen Regeln entsprach. Nur wenn sie Blutungen bekam, durfte sie nicht beten. Dann galt sie als unrein und durfte sich nicht an Allah wenden. Obwohl meine Mutter mir tagtäglich dieses Ritual vorgelebt hatte, hatte ich nie einen Zugang dazu gefunden, auch wenn sie darauf bestand, dass ich es ihr gleichtun sollte. Viel wichtiger war ihr jedoch, dass wir nach außen hin als muslimische Familie wahrgenommen wurden. Und das bedeutete besonders für das weibliche Geschlecht, dass es Regeln gab, die eingehalten werden mussten.
Vielen Mädchen aus meinem Freundeskreis und der Schule erging es wie mir. Auf ihnen lag der Fokus. Sie mussten nach diesen Vorstellungen leben und insbesondere die Grenzen einhalten. Ich ging auf eine Schule, die zu 60 % von Kindern besucht wurde, die aus einem Haushalt mit Migrationshintergrund stammten. Der größte Teil von ihnen lebte nach einer Form des Islam, die von ihren Vätern, Brüdern und leider sogar auch von den Müttern stark konservativ geprägt war und damit die Rolle der Frau klar umriss.
Genau dieser Umstand sollte meiner Meinung nach auf den Prüfstand gestellt werden. Viele muslimische Frauen leiden unter der ihnen zugewiesenen Rolle, würden aber nie dagegen aufbegehren, geschweige denn dazu ermutigt werden, für sich selbst eine Rolle in ihrer Religion zu finden. Eher würden sie bestraft und mitunter von ihrer Familie verstoßen werden, sollten sie eigene Vorstellungen von sich entwickeln. Warum ich nie Angst davor hatte, lag – denke ich – daran, dass ich von Grund auf einen extrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaß und mir ein Leben wünschte, wie meine deutschen Mitbürgerinnen es hatten. Außerdem hatte ich nie Angst davor, ganz allein dazustehen. Ich hatte schon immer einen starken Willen und damit das nötige Rüstzeug, um mein Leben meistern zu können. Ob ich diesen Willen gehabt hätte, wenn ich in einem arabischen Land geboren wäre, kann ich nicht sagen. Was ich weiß, ist, dass die Gleichberechtigung der Frau hinsichtlich ihrer Selbstbestimmung in Deutschland unterstützt wird, sodass ich stets das Gefühl hatte, dass mich ein unsichtbares Schild begleitete, dass mich beschützen sollte.
Auf der anderen Seite machte es mich traurig zu sehen, wie viele Frauen und Mädchen den anderen Weg gingen und sich zum großen Teil aufgaben. Ich sah, wie viele sich dem Willen ihrer Familien beugten. Die mutigen unter ihnen, und es waren wirklich nicht viele, die sich trauten, unterdrückten ihre Bedürfnisse nicht mehr und taten die Dinge, die verboten waren, heimlich. Die meisten anderen Mädchen hatten sich untergeordnet – aus Angst vor Strafe. Im Laufe der Zeit sah ich, wie unglücklich sie als Frauen wurden. Sie trauerten tagtäglich ihrem verpassten Leben hinterher. Noch heute kenne ich einige Frauen, die vom Leben enttäuscht sind.
Schon damals wusste ich, dass mein Weg anders aussehen sollte und würde. Mir ein Leben aufzwingen zu lassen, welches ich nicht führen wollte, nur damit sich ein möglicher Partner und meine Familie wohlfühlten, stand für mich in keinem Verhältnis! Damals wie heute bin ich der Ansicht, dass es richtig ist, seinen eigenen Weg zu gehen.
Kapitel 5
Je älter ich wurde, desto mehr hinterfragte ich die mir vorgelebten Werte. Ich empfand vieles als ungerecht: einerseits das Tragen von Kopftüchern für die Frauen und anderseits, dass es kulturell unangemessen war, als junge Frau mit seinen Freundinnen abends auszugehen. Selbst abends in einem Café zusammen zu sitzen, galt für Mädchen und Frauen als unanständig.
Ich tat es trotzdem und setzte mich damit über die moralischen Grenzen meiner Mutter hinweg. Doch mit jeder Überschreitung ereigneten sich regelrechte Dramen mit vielen bösen Worten und ich durfte immer nur mit hart erkämpften Kompromissen meines Weges gehen.
An einem heißen Sommertag bei über 30 Grad entdeckte ich ein wunderschönes Sommerkleid. Da ich sehr sparsam mit Geld umging und nebenbei mit einem Job in einer Bäckerei mein Taschengeld aufbesserte, konnte ich mir diesen besonderen Wunsch leisten und kaufte es. Am selben Tag wollte ich mich mit meinen Freundinnen treffen. Zu Hause angekommen, zog ich das neue Kleid an, denn ich wollte es voller Stolz allen zeigen. Als meine Mutter mich sah, fing sie gleich an, mich anzuschreien. Sie bezichtigte mich, eine Hure zu sein, weil ich so gekleidet durch die Straßen laufen wollte. Das Kleid war bodenlang, nicht durchsichtig, jedoch ärmellos und hatte nur zwei Zentimeter breite Träger. Somit waren die Schultern, wie es sich aus Sicht meiner Mutter für ein anständiges Mädchen gehörte, nicht bedeckt. Also zwang sie mich, trotz der Temperaturen, die draußen herrschten, eine Strickjacke überzuziehen. Das tat ich zunächst auch, als ich aber weit genug von zu Hause entfernt war, zog ich sie wieder aus. Wut und Verzweiflung überfluteten mich und ich dachte.