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Versuchung und Vermächtnis Teil 2 Im Bann der Zweifel Die Vergangenheit wurde im einst so friedlichen Königreich von Hochbergen bereits zur Gegenwart. Die Schatten, die sich durch das Land ziehen, verheißen nichts Gutes. Auch die Pläne aller Beteiligten scheinen nicht aufzugehen, sondern werden von Zweifeln durchkreuzt: Zweifel an sich selbst, am jeweiligen Auftrag, an den Verbündeten und den gesetzten Zielen. Egal, ob es sich um die junge Novizin Madeleine, das Höllengeschöpf Usgalman und seine neun Untugenden oder den edlen Ritter Gernod und seinen König handelt – anscheinend alle beginnen ihr Handeln zu überdenken oder verlieren ihr ursprüngliches Ziel aus den Augen. Dadurch schwächen sie nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinschaft, für die sie eigentlich stark sein müssten. Krieg und Heuchelei finden in die friedliche Welt Hochbergens zurück. Verlieren die Beteiligten ihre Ideale oder sind sie genau von diesen verblendet und gefangen? Jeder wird auf seine Weise geprüft und hat selbstständig zu entscheiden, wie er mit den Entwicklungen am besten umgeht. Oder gibt es eine unbekannte Macht, die genau das will?
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Seitenzahl: 278
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Impressum
1.Die Strafe
2.Madeleines Einzug in das Schloss
3.Die Hölle im Höllenreich
4.Ruperts Befreiung
5.Ortwins Heimkehr
6.Der Raum der Finsternis
7.Die schwere Entscheidung
8.Madeleines Predigt
9.Arfalla verlässt das Höllenreich
10.Am Rande des Wahnsinns
11.Rupert bereitet den Krieg vor
12.Gernods Entscheidung
13.Revolte im Höllenreich
14.Ruperts zwielichtiger Plan
15.Der Sturm zieht ab
16.Der Feind rückt näher
17.Verzweifelte Versuche
18.Geheimnisvolle Schützen
19.Gernods Abschiedsgeschenk
20.Usgalman entscheidet sich
21.Kriegsvorbereitungen im Königreich
22.Der Krieg beginnt
23.Kampf und Verzweiflung
24.Madeleines Zweifel
25.Gernod im Bann der Versuchung
26.Ruperts Rache
27.Der Weg ins Ungewisse
28.Ortwins Vorhersehung
29.Rupert demonstriert seine Macht
30.Gernods Zuversicht kehrt zurück
31.Gernods Rückkehr
32.Gernod erfährt von Ortwins Vorhersehung
33.Ungewissheit im Höllenreich
Bereits erschienen: Teil 1 – Schatten der Vergangenheit
Erscheint demnächst: Teil 3 – Duell der Begierden
© 2017 DINIER verlag, Am Richtsberg 22, 35039 Marburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne ausdrückliche Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung. Alle Rechte vorbehalten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Auflage 2017
Umschlaggestaltung: Michael Barth
Lektorat: Rebekka Schütz
ISBN: 978-3-947032-04-4
Zweiter Teil der Trilogie von Versuchung und Vermächtnis
Im Bann der Zweifel
Auch erhältlich als:
Print-Ausgabe, ISBN: 978-3-947032-03-7
Hörbuch-Download, ISBN: 978-3-947032-05-1
www.cecilia-ventes.de
facebook.com/ceciliaventesschriftstellerin
Dieses Buch ist ein Roman. Die Charaktere und die Handlung sind von mir frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und keineswegs von mir beabsichtigt.
Cecilia Ventes
Vier Wachen traten in den Kerker und steuerten auf die beiden Königssöhne zu. Ortwin beobachtete dies mit wachem Blick, während Rupert die herannahenden Männer demonstrativ ignorierte. Hauptmann Hagedorn, ein stattlicher Mann mit harschem Gesichtsausdruck, stand nun vor der Zelle der beiden Königssöhne und musterte sie genau. Der Mann mit dem radikal kurz geschnitten rotblonden Haar und dem kantigen Gesicht war berüchtigt für die Disziplinierung von ungehorsamen Strafgefangenen. Hauptmann Hagedorn hatte zwar seine Arme auf dem Rücken verschränkt, jedoch forderte er die Wachen mit einer klaren Geste auf, sofort die Gitter zu öffnen. Eine Wache kümmerte sich um Ortwin, zwei um Rupert. Beide wurden von ihren Ketten befreit und herausgeführt. Dann ertönte die laute und krächzende Stimme des Hauptmannes.
»Gefangene, Ihr werdet nun Eure Strafarbeit antreten. Wir bringen Euch auf das Feld der Familie Milford. Solltet Ihr einen Fluchtversuch unternehmen, haben wir vom König höchstpersönlich die Anweisung, Euch mit allen Mitteln davon abzuhalten – selbst auf die Gefahr hin, dass wir Euch verletzen oder gar töten müssten. Wachen, führt sie ab!«
Rupert wurden Hand- und Fußketten angelegt.
»Es scheint, als habe sich mein schlechter Ruf herumgesprochen. Habt Ihr Angst vor mir, Hauptmann?«, züngelte der Königssohn hämisch.
Die Provokation blieb unerwidert. Als er am Hauptmann vorbeigezogen wurde, trafen sich die Blicke der beiden. Rupert flüsterte ihm zu:
»Das wird Euch teuer zu stehen kommen. Vielleicht nicht gleich, aber früher oder später …«
Dann stolperte er und fiel auf die Erde. Die Insassen des Kerkers, die alles mit ansahen, lachten.
Der Hauptmann beugte sich zu dem am Boden Liegenden.
»Solltet Ihr noch einmal über meine Füße stolpern, werden wir uns unter vier Augen unterhalten – wir zwei ganz allein. Ich denke, wir verstehen uns. Versucht, Eure Strafe in Würde anzunehmen, und hört mit diesen albernen Drohungen auf. Wenigstens das sollte Euch möglich sein.«
Dann rissen die Wachen Rupert hoch und führten ihn weiter. Eine Kutsche mit drei Reitern näherte sich dem kleinen Anwesen der Milfords. Die Milfords waren Vater Jamie, seine Frau Nicoletta und die kleine Roberta. Ruperts Angriff auf den Bauern hatte diesen sehr schwer verletzt. Seine Arbeitskraft blieb nun aus und so war die Familie in Versorgungsschwierigkeiten geraten. Jamie stand schwach und gekrümmt im Kreise seiner Familie vor der Haustür. Wie vom König versprochen, sollten Rupert und Ortwin die Familie in Zukunft tatkräftig bei der schweren Arbeit auf dem Feld und im Stall unterstützen.
»Mir gefällt der Gedanke nicht, dass wir nun diese beiden Raufbolde auf unserem Hof haben werden. Der König hätte uns lieber zwei Soldaten zu Hilfe schicken sollen«, fauchte die junge Bauersfrau, als die beiden Königssöhne aus der Kutsche stiegen und von Wachen auf das Haus zugeführt wurden.
Rupert und Ortwin waren die edlen Gewänder abgenommen und gegen einfache Hemden und Hosen, wie sie Bauern trugen, ausgetauscht worden. Hauptmann Hagedorn war von seinem Pferd gestiegen und näherte sich ebenfalls der Familie. Er begrüßte die Milfords höflich und bückte sich mit einem Lächeln zu der kleinen Roberta, die mit einem Lebensjahr noch etwas wackelig auf dem Boden stand, ihm aber freundlich zulächelte. Dann wandte er sich an den Vater des Kindes und sprach:
»Ich lasse Euch zur Sicherheit vier Soldaten zurück, die diese beiden Königssöhne bewachen und Euch selbstverständlich auch zur Hand gehen werden. Die Verurteilten werden zukünftig jeden Morgen nach Sonnenaufgang mit den Wachen zu Euch gebracht und kurz vor Sonnenuntergang wieder abgeholt. Dies geschieht so lange, bis Ihr selbst wieder richtig arbeiten könnt. Ich gebe Euch zwei Silbermünzen für die Verpflegung der Männer. Solltet Ihr noch Fragen haben, wendet Euch an Soldat Erik Paul. Er wird die Truppe leiten.«
Hauptmann Hagedorn verabschiedete sich schneidig, stieg umgehend auf sein Pferd und verließ zusammen mit der Kutsche das kleine Areal. Soldat Erik Paul schritt fröhlich auf die angespannte Familie zu und schüttelte ihnen zum Gruß die Hand. Er betrachtete das besorgte Gesicht der Mutter, während sie auf Ruperts Fuß- und Handfesseln blickte.
»Macht Euch keine Sorgen. Die Ketten sind nur zur Sicherheit. Der Gute ist sehr zornig und aufbrausend. Da ist es besser, wenn er uns nicht so schnell weglaufen kann. Sagt mir, was zu tun ist, und wir beginnen sofort damit. Seid unbesorgt, wir passen schon auf, dass alles den richtigen Gang geht.«
Unbemerkt war Roberta zu den Soldaten getapst, um die Gestalten näher zu beäugen. Besonderes Interesse hatten Ruperts Fußfesseln bei ihr geweckt. Sie hockte sich zu seinen Füßen, gluckste aufgeregt und rüttelte an der Kette. Während die Männer über den lustigen, kleinen Wonneproppen entzückt waren, spiegelte sich in Ruperts Blick Feindseligkeit gegenüber dem Kind wider. Mit einem leichten Stoß seines Fußes stieß er sie von sich weg, sodass sie auf den Hosenboden fiel. Nicoletta eilte zu ihrem Kind, doch Ortwin hatte den Winzling mit den blauen Kulleraugen schon aufgehoben und streckte ihn seiner Mutter entgegen.
Nicoletta nahm das Kind hastig an sich und rief:
»Nehmt Eure Hände von meiner Tochter weg!«
Ortwin schien von der ihm entgegenschlagenden Feindseligkeit irritiert zu sein.
»Aber ich wollte ihr doch nichts antun. Ich wollte nur freundlich sein …«, bemerkte er.
Nicoletta verschwand, ohne sich umzudrehen, ins Haus.
»Ihr legt es wirklich darauf an, Euch unbeliebt zu machen. Was hat das Kind Euch denn getan? Ihr seid zweifelsohne ein Trottel!«, schimpfte der Wachmann zu Ruperts Rechten und gab ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.
Soldat Erik Paul wies die Männer zur Arbeit an. Rupert, bewacht von zwei Männern, grub das Feld um. Ortwin und ein Soldat säuberten den Hühner- sowie den Schweine- und Kuhstall, während einer der Wachen Reparaturen im Haus und am Dach durchführte.
Ortwin schimpfte vor sich hin, als er mit einer Schaufel den Schweinemist in eine Schubkarre schippte.
»Das ist ja ekelhaft! Mir kommt es gleich hoch.«
Der Wachmann gab lächelnd zu bedenken:
»Euer Hochwohlgeboren haben wohl noch nie im Stall gearbeitet? Lasst Euch eines gesagt sein: Ohne diese Leute hier ginge es Euch nicht so gut. Dort wo Schweine sind, gibt es eben nicht nur Fleisch, sondern auch viel Mist. Und irgendjemand muss sich darum kümmern. Jetzt seid Ihr das, Majestät.«
Ortwin verzog beleidigt das Gesicht und schaufelte weiter. Dann hielt er inne und sah den fleißig arbeitenden Wachmann an.
»Was ist? Habt Ihr keine Lust oder keine Kraft mehr in den zarten, königlichen Armen?«, bemerkte dieser.
Der Königssohn schippte weiter und sagte:
»Ich wollte dem Kind doch gar nichts zuleide tun. Einfach nur nett sein – mehr nicht.«
Angewidert stieß der etwa gleichaltrige Wachmann Berthold Eyck seine Schaufel in die Erde und stützte sich darauf ab. Er zog ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Erstens habe ich den Eindruck, Ihr schaufelt nicht ganz so schnell, wie Ihr wirklich könntet. Zweitens wäre ohne das Einschreiten anderer dort draußen nun eine Witwe und eine Halbwaise, denn Euer Bruder und Ihr hättet dieser Familie beinahe den Vater genommen. Mir ist nicht bekannt, dass Ihr versucht hättet, den Vorfall zu verhindern, und drittens würde ich Euch auch nicht in die Nähe von meinen Liebsten kommen lassen. Könnt Ihr das vielleicht verstehen? Also arbeitet gefälligst mit etwas mehr Hingabe und haltet einfach die Klappe!«
Ortwin nickte und hing seinen Gedanken nach, während er mit aller Kraft schaufelte.
Madeleine ritt auf ihrem Esel still neben Gernod her. Ab und zu blickte dieser zu seiner offensichtlich missgestimmten Begleiterin.
»Wo ist Euer fröhliches Lachen geblieben? Euer Interesse an der Welt und an den Menschen? An Eurem von Gott vorgesehenen Weg? Hat Herr Geradville alles mitgenommen, als er Euch verließ?«
Sie vermied es, den Ritter anzusehen.
»Das, was das Schicksal für Euch bereithält«, fuhr er fort, »ist vielleicht nicht das, was Ihr Euch vorgestellt habt. Aber verstimmt Euch das dermaßen? Die Welt ist doch so schön, interessant und voll von liebenswürdigen Menschen. Haben die es alle verdient, künftig Euer mies gelauntes Antlitz ertragen zu müssen?«
Madeleine stoppte ihren Esel und antwortete kokett:
»Wenn Ihr mein Antlitz nicht ertragen wollt, kann ich ja wieder zurückreiten. Ich habe Euch nicht darum gebeten, mich mitzunehmen.«
Gernod hielt Hamilton ebenfalls an und dachte nach. Dann nickte er, wie zustimmend zu seinen eigenen Gedanken, und stellte fest:
»Ja, das wird es sein. Das ist Euer Problem.«
»Was?«, erwiderte sie.
Gernod trieb den Rappen wieder an und schritt langsam mit ihm weiter.
»Was? Was ist mein Problem?«, rief Madeleine aufgebracht.
Gernod hob belehrend den Zeigefinger, schwieg jedoch, während er weiter seines Weges ritt. Madeleine kochte vor Wut und wollte folgen, doch ihr Esel Pablo hatte plötzlich keine Lust mehr zu laufen und blieb stur stehen.
»Was soll das denn jetzt?«, rief sie empört.
Aller Anstrengungen zum Trotz bewegte sich der graue Vierbeiner nicht mehr. So stieg sie ab und versuchte, ihn zu schieben, zu ziehen, zu locken und ließ ihn letztendlich allein stehen, um dann doch wieder zu ihm zurückzukehren.
»Du bist mein Freund und Gefährte. Verlässt du mich jetzt auch?«, erkundigte sie sich trotzig.
Beleidigt setzte sie sich ins Gras und zog den zerknüllten Brief von Sebastian aus ihrem Gewand. Wehmütig las sie noch einmal die Zeilen. Dann ließ sie sich zurück auf die Wiese fallen und blickte in den Himmel. Pablo zupfte an den Grashalmen um sie herum. Gernod war bereits am langen Waldstück angekommen, das man auf dem Weg zwischen Gasthaus und Schloss durchqueren musste. Er war ebenfalls vom Pferd gestiegen und blickte betroffen auf den langen, zurückliegenden Weg zwischen den Wiesen. Madeleine würde sicher noch kommen. Sie war störrisch, aber neugierig. Er hoffte, dass sie diese Neugierde dazu bringen würde, ihm zu folgen. Er setzte sich auf einen Baumstumpf in den Schatten, als seine Gedanken sich wieder dem Verlust seines Freundes widmeten. Er nahm seine Augenklappe ab und wischte sich darunter den Schweiß weg. Eine schwere Traurigkeit fing ihn ein und ließ ihn für einen Moment wegdämmern.
Schlagartig schreckte er hoch, als er einen Stoß an seiner Schulter spürte. Hamilton hatte ihn etwas ungestüm angestupst. Gernod sah auf und konnte Madeleine am Horizont auf ihrem Esel erblicken.
»Ich danke dir, Gott«, flüsterte er leise zu sich, zog seine Augenklappe auf und stieg wieder auf sein Pferd.
In einer Waldschneise holte Madeleine Gernod ein und ritt wortlos auf gleicher Höhe mit ihm.
»Ungefähr hier ist es gestern Nacht passiert«, sagte sie ruhig und mit belegter Stimme.
Der schwarze Ritter schaute zu ihr und fragte mit sanfter Stimme:
»Was ist hier passiert?«
Beide stoppten ihre Tiere und Madeleine schilderte die Begebenheit der letzten Nacht: Von den seltsamen Gestalten, die ihre Kutsche stoppten, woraufhin Sebastian mit ihnen kämpfte und sie verjagte, obwohl er sie zu kennen schien. In diesem Moment bahnte sich die Sonne ihren Weg zwischen dem saftig grünen Laub der Bäume hindurch auf den weichen Waldboden. Der Wind spielte mit den Blättern und zauberte durch deren Schatten verschiedene Muster auf die Erde.
»Gestern Abend sah das alles anders aus – überhaupt nicht freundlich und hell. Die ganze Begegnung war gespenstisch und die Frauen unheimlich. Wieso die Tür der Kutsche nicht mehr zu öffnen war, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich sie nicht aufbekommen. Seltsam war nur, dass Hans die Kutsche fuhr, als sei er besessen. Und hätten wir keine Panne gehabt, hätte er es auch sicher geschafft, uns vor den Gestalten in Sicherheit zu bringen«, betonte Madeleine.
»Habt Ihr Hans heute Morgen schon getroffen? Er hat Euch doch sicher von dem seltsamen Zwischenfall erzählt.«
Fragend sah die junge Frau den Ritter an. Die Miene ihres Begleiters wurde ernst. Er atmete tief durch, als er intensiven Blickkontakt zu ihr suchte.
»Nein, nicht direkt. Er verhielt sich heute Morgen sehr verändert im Gegensatz zu sonst und stammelte, dass er etwas Schreckliches gesehen habe und er etwas wisse, worüber er nicht reden dürfe. Er tat es doch und musste mit seinem Leben bezahlen.«
»Er ist gestorben?«, erkundigte sich Madeleine fassungslos.
Gernod nickte und stellte traurig klar:
»Er wurde ermordet. Ihr habt nicht vielleicht irgendetwas Sonderbares bemerkt, etwas Schreckliches gesehen? Hans meinte, den Teufel gesehen zu haben.«
Der Ritter wartete geduldig auf Antwort, denn Madeleine schien bestürzt.
»Aber wieso Teufel? Und wieso bloß wurde er ermordet? Ich verstehe das alles nicht. Was ist denn nur geschehen?«, rief sie aufgeregt.
Erbost ließ Gernod seinen Gefühlen freien Lauf.
»Wollt Ihr oder könnt Ihr es nicht verstehen? Habt Ihr es nicht in seinen Augen gesehen? Die Art, wie er die Menschen mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten in den Wahnsinn treibt? Er ist nicht offensichtlich böse oder brutal, nein, er treibt es viel geschickter. Und Ihr? Ihr seid blind vor Liebe. Deshalb seht Ihr nicht, was in seinen Augen zu lesen ist. Niemand außer Euch fühlt sich in seiner Gegenwart wohl. Aber Ihr habt Euch in einen Geist verliebt. Das was Ihr an ihm zu lieben glaubt, existiert in Wirklichkeit gar nicht. Was immer er von Euch wollte, er scheint es bekommen zu haben. Oder was meint Ihr? Warum ist er so plötzlich verschwunden, Euer Sebastian?«
»Ihr seid unverschämt, Ritter von Demian, und ungerecht. Er hat auch Gutes getan. Ich finde auch einige Dinge an ihm sehr mysteriös, aber deshalb ist er noch lange kein …«
Das letzte Wort vermied sie auszusprechen.
»Seht Euch das Pferd an. Es sieht friedlich und nett aus, aber heute Morgen war es vom Teufel besessen und hat Hans in der Pferdebox aus heiterem Himmel zu Tode getrampelt. Meint Ihr wirklich, das war ein Zufall?«
Für einen Moment war nichts weiter zu hören als das leise Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume. Selbst die Vögel waren verstummt. Hamilton unterbrach die Stille mit einem ungeduldigen Schnauben und dem Scharren einer seiner Hufe. Bedächtig und gedankenvoll setzten beide ihren Weg fort. Als der schwarze Ritter und Madeleine im Innenhof des Schlosses ankamen, hatte sich gerade ein kleiner Trupp von zehn Soldaten versammelt. Dr. Peer Firdassen, der Hofarzt und der König standen unter ihnen. Als König Zito Gernod und Madeleine erblickte, hob er erfreut die Hände und lief ihnen entgegen.
»Gerade wollten wir einen Suchtrupp losschicken. Mein Gott, Gernod, wir haben uns Sorgen gemacht. Niemand wusste, wohin Ihr verschwunden seid, und das auf diesem gefährlichen Pferd.«
Gernod schien wenig erfreut über den Menschenauflauf und begrüßte seinen König mit den Worten:
»Ich bitte Euch um eine Audienz – sofort.«
Zitos Freude über Gernods Rückkehr wurde von der Dringlichkeit, mit der sein Freund die Bitte vorbrachte, getrübt.
»Seit wann erfragt Ihr eine Audienz bei mir? Ihr seid mein Freund und könnt zu mir kommen, wann immer Ihr wollt«, bemerkte der König und rieb sich verwirrt die Stirn.
Kopfschüttelnd folgte er dem schwarzen Ritter.
Madeleine wurde auf Bitten des schwarzen Ritters ein kleines Zimmer im Dachgeschoss des südlichen Schlossflügels zugewiesen. Ihren kleinen grauen Weggefährten gab sie vertrauensvoll in die Hände von Franz, dem Stallburschen. Die Hausmagd Annette geleitete sie zu ihrem neuen Gemach. Es war auf den ersten Blick eine sehr kleine Stube, ausgestattet nur mit dem Nötigsten, das jedoch in sehr edler Ausführung: Ein Bett, ein Schrank, ein Nachttisch sowie eine Kommode. An der Wand befand sich ein Bild, das die Kreuzigung Christi darstellte. Ein Sonnenstrahl drang durch ein kleines Fenster in die eher dunkle Kammer. Neugierig schob Madeleine noch einen schweren weinroten Vorhang zurück, der etwas zu verbergen schien.
Fast geblendet von der Schönheit des dahinterliegenden Raumes, trat sie einen Schritt zurück. Ein großzügiges, von Licht durchflutetes Schreibzimmer kam zum Vorschein. Die Wände waren mit Wandmalereien verziert, die Motive der verschiedenen Jahreszeiten zeigten. Überwältigend waren die von Rundbögen eingefassten Fenster mit einem unbeschreiblichen und wunderschönen Panorama der Umgebung. Der Schreibtisch war ein Kunstwerk mit Goldrandverzierung. Ebenso der dazu passende Stuhl mit elegantem rotem Bezug. Der Anblick berührte sie zutiefst. Der blaue Himmel erstrahlte über die geschmeidig verlaufenden Bergrücken, die das grüne Tal umfassten. Weit, sehr weit in die Ferne konnten hier die Gedanken und Sehnsüchte dem Horizont folgen. Annette hatte sich schon diskret zurückgezogen, als Madeleine bemerkte, dass sie dieser Welt für einige Minuten entrückt gewesen war. So wunderschön war dieser Vormittag und hatte doch bereits so viel Trauriges mit sich gebracht.
Gernod und die Königliche Hoheit saßen im offiziellen Empfangszimmer mit einem Balkon, von dem man direkt den Marktplatz überschauen konnte.
»Es wäre schön gewesen, wenn Ihr mich wenigstens gefragt hättet, bevor Ihr die Entscheidung traft, die junge Frau hierher zu bringen«, eröffnete Zito das Gespräch.
Der schwarze Ritter schüttelte den Kopf und fragte:
»Welche junge Frau? Meint Ihr Eure Tochter?«
Zito strich sich nervös die zerzausten Haare aus dem Gesicht. Dann sprach er leise:
»Meint Ihr, ich habe heute Nacht nicht über die gestrigen Ereignisse nachgedacht? Für wie kaltherzig haltet Ihr mich eigentlich? Gernod, mein Freund! Ich habe nicht vor, diesmal wieder einen Fehler zu begehen, deshalb will ich das, was ich tue, sehr gründlich überlegen. Habt Ihr dafür kein Verständnis?«
Ritter von Demian versuchte, ruhig und respektvoll gegenüber seinem König zu bleiben, obwohl in seinem Inneren ein Kampf der Gefühle entbrannte. So stellte er unmissverständlich klar:
»Ich habe dieses wundervolle Wesen einmal gerettet und mich dann wieder von ihm getrennt. Jetzt hat mir Gott die kleine Prinzessin wiedergegeben und ich will sie nicht noch einmal verlieren. Könnt Ihr das nicht verstehen? Euch sollte viel mehr daran liegen als mir, sie in die Arme zu schließen und als Euer eigen Fleisch und Blut vorzustellen. Euer Majestät, ich bitte Euch inständig. Lasst sie hier wohnen, damit wir wissen, dass es ihr gut geht, und wir sie näher kennenlernen können. Sie gehört hierher. Sie muss nicht durch die Welt reisen, um etwas zu suchen, was sie doch eigentlich schon längst gefunden hat. Heute Morgen haben sich die Ereignisse überschlagen. Hans wurde von meinem Pferd zu Tode getrampelt, Sebastian Geradville ist verschwunden und dann die seltsame Begegnung gestern Nacht – das waren doch keine Zufälle. Hans ist überzeugt davon gewesen, den Teufel gesehen zu haben, und auch Ortwin faselte etwas von Hexen im Kerker. Madeleine bestätigte, dass seltsame Gestalten die Kutsche überfallen haben, in der Hans sie und Sebastian zum Gasthaus gefahren hatte. Ich habe keine Zeit gehabt, Euch um Erlaubnis zu bitten. Ich musste handeln. Wir müssen achtgeben, Eure Majestät. Auf sie, auf Euch, vielleicht auf das ganze Königreich.«
Der König stand auf und lief zur geöffneten Balkontür, um frische Luft zu atmen. Die Last auf seinen Schultern drohte, ihn zu erdrücken.
»Gut. Lasst sie hier wohnen. Aber Gernod, bitte, bitte gebt mir Zeit. Wenigstens ein paar Tage, dann werde ich ihr die Wahrheit erzählen. Ich verspreche es. Ich frage mich nur, was mit diesem Königreich geschehen ist? Warum gerät plötzlich alles aus den Fugen? Hat Gott uns verlassen?«
Gernod lächelte erleichtert. Dann entgegnete er sanftmütig:
»Die Saat unserer Sünden geht auf und beginnt zu wachsen. Das Gewächs nagt an unserer Seele, bis wir vor Schmerz schreien und es nicht mehr ignorieren können. Gott schickt uns alles, was wir selbst gesät haben, aber nicht bereit waren, zu ernten. Solange wir die Wunden auf unserer Seele nicht heilen lassen können, wird das Böse immer wieder und immer weiter an diesen wunden Stellen reißen. Wir können ihm nicht sicher und überzeugt entgegentreten, solange wir unsere eigenen Ideale verraten. So einfach ist das. Gott hat uns nicht verlassen, aber wir vielleicht seinen Weg …«
Zito schmunzelte. Sichtlich verblüfft und getroffen von Gernods Worten, murmelte er:
»Ihr hättet Pfarrer werden sollen, Gernod. Eure Worte sind hart, aber ehrlich und voller Liebe. Sie trösten, weil sie immer einen Weg aufzeigen und Kraft geben. Anders als die Männer des kirchlichen Ordens, die nur drohen, strafen und meist selbst nicht an das glauben, was sie sagen.«
Gernod war gerührt und geehrt von den Worten seines Königs. Hochachtungsvoll verbeugte er sich und verließ den Raum.
Die Aufregungen legten sich fürs Erste und ein paar Tage vergingen. Die Söhne des Königs arbeiteten ihre Strafe ab, Gernod widmete sich dem Tagesgeschehen und Madeleine knüpfte Kontakte zu jeder Person im Schloss: Der Hausmagd, den Dienern, dem Koch, dem Wachmann, dem Leibarzt, dem Nachtwächter, dem Sattler, dem Hufschmied, dem Bäcker und vielen anderen auch. Überall predigte sie die Gebote Gottes und sog die Erlebnisse, Fragen und Meinungen der Menschen auf wie ein Schwamm das Wasser. Gernod gefiel Madeleines Interesse an ihren Mitmenschen sehr. König Zito nahm die wachsende Beliebtheit der jungen Frau im Schloss ebenfalls mit Freude wahr. Jedoch bereitete sie ihm auch etwas Unbehagen. Er konnte noch nicht ausmachen, woher es kam, geschweige denn es benennen, und so schwieg er weiter und ließ seine vermeintliche Tochter gewähren. Er gewöhnte sich an ihre Anwesenheit und hier und da ließ er gedanklich zu, dass gewisse Züge und Verhaltensweisen an ihre Mutter Magdalena erinnerten. Madeleine und er tauschten sich über das Tagesgeschehen aus und nahmen gemeinsam ihre Speisen ein. So sehr Gernod, Zito und auch Madeleine das Zusammensein genossen, so unbarmherzig holte sie alle die Schwermut ein, sobald sie allein in ihren Gemächern weilten.
Zitos Gedanken kreisten immer um das »Wie« eines künftigen Zusammenlebens mit Madeleine. Was sollte er sagen, wann sollte er ihr die Wahrheit beichten und wie würden seine Söhne reagieren? Seine Söhne hielt er fern von ihr und hatte der jungen Frau deshalb auch den Besuch im Kerker auf höfliche Weise vorerst untersagt. Und wie sollte er die wiedergefundene Tochter seinen Untertanen erklären? Für Zito war der richtige Moment noch nicht gekommen, diese unangenehme und wenig vorbildhafte Angelegenheit ans Licht zu bringen. Jedoch spürte er jeden Tag Gernods stille Aufforderung, sich nicht mehr allzu viel Zeit damit zu lassen.
Am Abend blickte Madeleine abermals zu den Sternen auf und sinnierte über den Verbleib von Sebastian. Ob er sie irgendwann einmal wieder aufsuchen würde? Ob er sie vermisste? Eines war, trotz aller Zweifel gegenüber seiner Person, gewiss: Er fehlte ihr sehr. Wenn sie spät abends noch wach im Bett lag und die Lichtspiele der Kerze an der Decke beobachtete, flammte die Sehnsucht nach der Wahrheit ihrer Wurzeln wieder auf. Obwohl sie die schützenden Mauern des Klosters verlassen hatte, um die Welt kennenzulernen, hatte sie ihr Weg abermals direkt hinter schützende Mauern geführt. Diesmal hinter die eines Schlosses.
Gernod genoss Madeleines Nähe und hielt immer ein wachsames Auge auf die junge Frau. Für ihn gab es keinen Zweifel daran, dass Madeleine irgendwann die Königin dieses Landes sein würde. Die Königssöhne waren für diese tragende Position nicht geeignet. Ob der König dies auch so sah und vor allen Dingen seine Söhne dies so einfach akzeptieren würden, stand jedoch auf einem anderen Blatt Papier geschrieben. Bevor Gernod zu Bett ging, blickte er immer zu Madeleines Fenster, um zu sehen, ob bei ihr noch Licht brannte. Wie gerne hätte er ihr erzählt, welch trauriges Abenteuer er mit ihr erlebt hatte, wie wunderschön ihre Mutter gewesen war oder wo ihre noch lebenden Verwandten wohnten. Was würde ihre Großmutter wohl sagen, wenn sie das Abbild der verstorbenen Tochter antreffen würde? Dies war nicht abwegig und die Gefahr bestand besonders an den Markttagen. Aber er wusste, dass sein Grübeln sinnlos war, solange Zito nicht den wichtigsten und ersten Schritt machte – die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen.
Usgalmans Gespielinnen waren im Thronsaal versammelt und warteten. Diadora, die Hexe der Wollust, begann vor Langeweile zu tanzen und zu singen. Dabei warf sie ihre langen schwarzen Haare hin und her und bewegte ihren Körper geschmeidig zum Takt ihres Schellenringes. Währenddessen drückte Esmeralda ihre rote Hochfrisur mit etwas Spucke richtig in Form und kommentierte die sehr eigenwillige Showeinlage:
»Geschmeidig wie eine Katze, aber eben genauso erbärmlich, was die stimmliche Qualität angeht. Erspare uns dein Gejaule. Usgalman ist seit drei Tagen nicht mehr aus dieser Pforte getreten und er wird es heute auch nicht tun, wenn er dich singen hört.«
Diadora verstummte und setzte sich beleidigt auf einen der Steinkegel. Dabei formte sie ihre Lippen zu einem kleinen Schmollmund und antwortete in einem jammernden Ton:
»Mir ist langweilig. Früher war es hier schöner – bevor diese doofe Madeleine in unser Leben trat. Wir feierten Feste, wir haben immer etwas Böses unternommen und Usgalman badete sich in unserer Bewunderung. Er hat uns dafür begehrt und zufriedengestellt. Und jetzt? Er kommt noch nicht mal mehr aus seiner dämlichen Höhle heraus. Ich will, dass es hier wieder so wird wie früher und unseren ›alten‹ Meister zurückhaben: Erfüllt von Verlangen, Triebhaftigkeit, Unzucht, Wollust, Fleischeslust, Schamlosigkeit … die personifizierte Sünde …«
»Es reicht jetzt! Wir wissen selbst, was uns fehlt!«, unterbrach Giselda erbost die Aufzählung.
»Aber mir fehlt er mehr!«, zischte Diadora zurück und legte sich schmachtend auf die Treppenstufe vor dem Thron.
Dabei beobachtete sie die fließenden Lavamassen des Thrones, die immer wieder aufs Neue Gesichter in der leuchtenden Materie formten und zerfließen ließen. Bursalda, die Hexe der Habsucht und Gier, verdrehte genervt ihre Augen über dieses Verhalten.
Sie zupfte sich lieber ihr blau- und lilafarbenes Gewand zurecht und formte ihren ausladenden Kragen neu. Heroika, die Hexe des Zweifels, beobachtete Bursalda und stellte die Frage:
»Warum machst du dich eigentlich so schick? Du siehst perfekt aus – wie immer. Erwartest du jemanden?«
Gekicher machte sich im Raum breit. Selbst Arfalla musste über diesen Satz schmunzeln und verkündete:
»Wir warten doch hier alle, liebe Heroika, und zwar alle auf den einen und selben. Und da wollen wir uns doch von unserer besten Seite zeigen, du etwa nicht?«
Bevor Heroika antworten konnte, schritten Esmeralda und Giselda langsam auf sie zu. Beide musterten Heroika mit ihren Blicken. Dann packten die beiden Frauen sie. Heroika war starr vor Schreck. Mit ihren großen Augen sah sie sich Hilfe suchend im Saal um. Verängstigt rief sie:
»Was ist los? Wisst ihr nichts mit euch selbst anzufangen? Was wollt ihr von mir?«
Esmeralda spielte mit ihren langen Fingern in der zerzausten Frisur der eingeschüchterten Kumpanin und ratschlagte:
»Du musst dich auch chic machen, Heroika. Wie wäre es mit einer neuen Frisur? Einem neuen Kleid? Ich denke, deine Haare streng nach hinten gekämmt und oben klein gelockt, würde dir sehr gut stehen …«
Verstört schrie Heroika auf, als sie sich in einem Spiegel sah, den Giselda ihr vor die Nase hielt. Schnell versuchte sie, wieder ihre ursprüngliche Haarpracht herzustellen. Die Hexen kreischten ausgelassen vor Lachen und wollten sich gar nicht mehr beruhigen. Immer wieder imitierten sie die verängstigte und irritierte Heroika, die diese Scherze überhaupt nicht lustig fand.
»Ihr seid so gemein!«, rief sie empört und zog sich in eine Ecke zurück.
»Wir sind gemein? Woher das bloß kommt? Mal nachdenken …«, kratzte sich Giselda nachdenklich am Kopf, um dann mit den anderen Hexen loszulachen.
Plötzlich erhallte ein lautes Grollen. Dampf stieg aus der sich öffnenden Pforte der Thronempore und Usgalman trat mit mürrischer Miene hervor. Mit einem überraschten Raunen nahmen die Hexen ihre gewohnten Plätze ein und knieten ehrfürchtig nieder. Mit einer klaren Handbewegung gestattete er seinen Gespielinnen, wieder aufzustehen. Langsam schritt er zwischen den Frauen hindurch und sah sie eindringlich an. So sehr sie ihn gerade noch vermisst hatten, war ihnen gar nicht wohl, als sie sein Gesicht erblickten. Die Zurechtweisung für den nächtlichen, unangemeldeten Ausflug, bei dem sie ihn im Wald überrascht hatten, stand noch aus. Sein betretener Gesichtsausdruck sprach Bände. Langsam und stolz schritt er zurück zur Empore und setzte sich auf seinen Thron. Eine bedrohliche Stille machte sich im Raum breit. Man hörte nur das leise Atmen von Usgalman, dem hier und da ein unzufriedener Grunzlaut beigefügt war.
»Ich halte das nicht aus! Sagt etwas, Meister. Schimpft mit uns, aber dieses strafende Schweigen halte ich nicht aus«, durchdrang Heroikas Stimme mit einem leidenden Tonfall den Raum.
Dann wankte sie und fiel ohnmächtig zu Boden. Bombastica eilte zu ihr, rüttelte sie wach und stützte, oder besser gesagt, hielt sie halbwegs gerade neben sich.
»Meine Güte, reiß dich doch mal zusammen. Es ist doch noch gar nichts passiert«, flüsterte sie der Geschwächten zu.
Usgalman legte fragend das Kinn auf seinen Handrücken, während seine außergewöhnlichen Augen die Menge durchstreiften.
Ein kaum erkennbares Schmunzeln machte sich auf seinen Lippen breit, als er anmerkte:
»Nur eine, die aufgrund ihres schlechten Gewissens leidet? Ich hätte mir eigentlich einen anderen Empfang von solch bösartigen, ungehorsamen und durchtriebenen Damen gewünscht.«
»Ja, genau«, schrie Diadora erleichtert auf und sprang zu ihrem Meister, um sich zu seinen Füßen niederzusetzen.
Sie schmiegte sich an seinen muskulösen Oberschenkel und strich mit ihrer Hand an seinem halb nackten Oberkörper entlang. Dann seufzte sie:
»Alles ist wieder wie früher. Der Hölle sei Dank!«
Usgalman schien dies zu gefallen und er belohnte diese Unterwürfigkeit mit einem freudigen Grinsen. Esmeralda, die Hexe des Hochmuts, zischte empört zu Giselda, der Hexe der Falschheit:
»Was soll man davon halten?«
Bombastica lächelte und merkte an:
»Was spricht denn aus euch beiden? Doch nicht etwa Neid? Das passt ja gar nicht zu euch.«
Usgalman erhob sich und rief mit seiner tiefen Stimme:
»Ich will ein Fest feiern! Bereitet alles vor. Dieser Palast braucht wieder Sünden, Niedertracht und Ausgelassenheit!«
Hurlebaus ließ sich entspannt auf einem der Steinkegel nieder und verkündete:
»Jawohl, dann können wir also das Thema ›Madeleine‹ endlich abhaken. Ihr Schicksal und das des Königs werden schon ihren Lauf nehmen. Durcheinander haben wir genug verbreitet. Jetzt können wir uns endlich wieder ausruhen.«
Die Gespielinnen durchzuckte ein Schauer. Dieses heikle Thema hätten alle doch am liebsten vergessen, zumindest für die nächsten Tage, Wochen, vielleicht sogar Monate. Wieso musste Hurlebaus »Madeleine« überhaupt erwähnen? Der Schreck stand allen ins Gesicht geschrieben, als sie angespannt und behutsam ihren Blick von Hurlebaus zu Usgalman schweifen ließen.
Sichtlich berührt von dieser eigentlich bedeutungslosen Feststellung seitens Hurlebaus, wirkte Usgalmans Gesicht plötzlich versteinert. Leise pflichtete er der kleinen, dicken Hexe bei:
»Ja, wir haben andere Vergnügungen, denen wir uns widmen sollten. Die junge Frau namens Madeleine ist erfüllt von Zweifel. Ihre Predigten werden wohl nicht mehr allzu überzeugend zu den Herzen der Menschen dringen.«
Er spürte Arfallas Blick, während er die Worte sprach. Sie schien keineswegs überzeugt zu sein von dem, was ihr Meister gerade gesagt hatte, denn sie spürte den Hauch von Traurigkeit, der ihn umgab. Arfalla war sich über eines bewusst: Die Herausforderung »Madeleine« war angenommen worden, aber noch lange nicht überwunden.
Die Tage vergingen und es herrschte reges Treiben im Höllenreich. Man feierte Feste, hielt Orgien ab und die Zusammenkunft von unzählbaren niederträchtigen Kreaturen und Gestalten wurde in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß zelebriert. Tage- und nächtelang wurde getanzt, gestritten, gelogen, geschlemmt und sich allen Sünden hingegeben, die der menschlichen Seele bekannt waren. Wilde Raufereien wurden von den Umherstehenden gar mit Begeisterung angefeuert. Endeten diese mit dem Tod einer der Kontrahenten, nahmen die Anwesenden dies mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Das Gefühl von allem mehr zu wollen und nie genug zu bekommen, ließ Usgalmans Gäste in ihrem Rausch erbärmlich, würdelos und dumm erscheinen. Maßlosigkeit und unstillbare Gier hatten bei den Gästen ein Zuhause gefunden.
Usgalman selbst war geplagt von Stimmungsschwankungen. Seine gnadenlosen Zornausbrüche, die ungerechte Behandlung seiner Gespielinnen sowie die erbarmungslose und verletzende Ignoranz allem und jedem gegenüber steigerten seine Egozentrik in eine unermessliche Brutalität, Arroganz und Selbstherrlichkeit. Das Leben im Höllenreich war zur »Hölle« geworden.
Alles was die Gespielinnen taten, war falsch. Nichts, aber auch gar nichts, war in seinem Sinne ausgeführt. Alles wurde von ihm kritisiert, niederschmetternd kommentiert oder belächelt. Kein Tröstungsversuch, keine Tat, keine Hilfe und keine Art der Hingabe für ihn konnten ihn zufriedenstellen. Die Gespielinnen waren verzweifelt. Ihr Meister war anders geworden. Er hatte an nichts mehr Spaß. Nur Groll erfüllte ihn. Nicht einmal das Ausleben der Untugenden bereitete ihm Freude und die Verführungsergebnisse seiner Gespielinnen bei den Menschen waren ihm gleich. Die Logik des Bösen war durcheinandergeraten. Arfalla sah dem ganzen Treiben kommentarlos zu, jedoch beobachtete sie alles sehr genau und machte sich ihre Gedanken.