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Wann und wie setzten sich gesellschaftliche Akteure aus Politik, Medien und Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland mit Reichtum und seiner gesellschaftlichen Verteilung auseinander? Welche Rolle spielte die (Nicht-)Wahrnehmung von Reichtum, der neben der wachsenden sozialen Ungleichheit zu den prägenden Erfahrungen unserer Gegenwart zählt, in der Durchsetzung der Demokratie und Marktwirtschaft? Anne Kurr fragt aus zeithistorischer Perspektive nach den Konjunkturen der Wissensproduktion zu Reichtum zwischen 1960 und 1990. Reichtum – so ihre These – wurde nur als Randthema in Verteilungsdebatten verhandelt, dennoch politisierte sich die Diskussion um ihn in den langen 1960er Jahren. Wer als reich galt und in wie fern sich Reichtum in wenigen Händen konzentrierte, blieb dabei umstritten. Die Skandalisierung einer Reichtumskonzentration nahm in den 1970er Jahren infolge der Wirkmächtigkeit marktliberaler Konzepte ab und gewann erst nach der »Wiedervereinigung« wieder an Fahrt.
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Seitenzahl: 536
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Anne Kurr
Verteilungsfragen
Wahrnehmung und Wissen von Reichtum in der Bundesrepublik (1960–1990)
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Wann und wie setzten sich gesellschaftliche Akteure aus Politik, Medien und Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland mit Reichtum und seiner gesellschaftlichen Verteilung auseinander? Welche Rolle spielte die (Nicht-)Wahrnehmung von Reichtum, der neben der wachsenden sozialen Ungleichheit zu den prägenden Erfahrungen unserer Gegenwart zählt, in der Durchsetzung der Demokratie und Marktwirtschaft? Anne Kurr fragt aus zeithistorischer Perspektive nach den Konjunkturen der Wissensproduktion zu Reichtum zwischen 1960 und 1990. Reichtum – so ihre These – wurde nur als Randthema in Verteilungsdebatten verhandelt, dennoch politisierte sich die Diskussion um ihn in den langen 1960er Jahren. Wer als reich galt und in wie fern sich Reichtum in wenigen Händen konzentrierte, blieb dabei umstritten. Die Skandalisierung einer Reichtumskonzentration nahm in den 1970er Jahren infolge der Wirkmächtigkeit marktliberaler Konzepte ab und gewann erst nach der »Wiedervereinigung« wieder an Fahrt.
Vita
Anne Kurr war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg und assoziiert an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg; sie arbeitet als freie Kuratorin, Kulturvermittlerin und Autorin.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
1.
Einleitung
1.1
Ausgangspunkt und Fragestellung
1.2
Reichtum ist relational und umstritten. Ein wahrnehmungs- und wissensgeschichtlicher Zugang
1.3
Aufbau der Arbeit
2.
Verteilungsfragen. Neue Perspektiven auf Reichtum im wirtschaftlichen Aufschwung seit Mitte der 1950er Jahre
2.1
Vermögenskonzentration als Problem. Veränderte Wahrnehmung der Verteilung
2.2
Über Reichtum sprechen heißt über die soziale Ordnung sprechen
2.2.1
Unternehmer für Privateigentum und Freiheit
2.2.2
Gewerkschaften für gerechten Anteil am Gesamtvermögen
2.2.3
Kirchen und christliche Soziallehre. Reichtum als ethisches Problem
2.2.4
Wirtschaftswissenschaften. Ein Versuch der »Versachlichung«
2.3
Konsens als Lösung? Politischer Umgang mit Verteilungsfragen
2.3.1
Reichtum der Großunternehmen. Die SPD drängt auf Ausgleich
2.3.2
Die CDU im Konflikt zwischen Marktwirtschaft und »Sozialismus«
2.4
Zwischenfazit. Moralisierung und Einhegung
3.
Vermessung von Reichtum in Wissenschaft und Politik der 1960er Jahre
3.1
1.566 Millionäre? Das Unwissen der Bundesregierung
3.2
Wissensproduktion. Wirtschaftswissenschaftliche Studien zur Vermögensverteilung
3.3
Umstrittenes Wissen. Fehlende Statistik als politisches Argument
3.4
Die »1,7 Prozent und ihr Produktivvermögen«. Politisierungspotential von Reichtum
3.5
Zwischenfazit. Ökonomische Konstrukte und verfestigte Wahrnehmung von Reichtum
4.
Reiche im Blick der Medien. Pluralisierung der Wahrnehmung in den langen 1960er Jahren
4.1
Kontinuitäten von Reichtum. Fragen nach Macht und Schichtzugehörigkeit
4.2
Soziale Aufstiege? Neue Reiche in den Massenmedien
4.3
Der Lebensstil der Reichen. Exklusiv und ungerecht?
4.4
Erwartungen an Reiche. Soziales Engagement und demokratische Teilhabe
4.4.1
Teilhaben lassen. Reiche und Vermögensbildung
4.5
Zwischenfazit. Reichtum im Spannungsfeld von Medialisierung und Politisierung
5.
Ungerechter Reichtum. Politisierung und Skandalisierung in der Öffentlichkeit (1967 bis 1973/74)
5.1
Verschiebung der Wahrnehmung 1967–1970
5.1.1
»Reiche werden immer reicher«. Skandalisierung von Reichtum – Medien machen Politik
5.1.2
Neue Vorstellungen von Vermögenspolitik in der Großen Koalition und der sozialliberalen Koalition
5.2
Politisches Handeln (1969/70)
5.2.1
Fehlende Statistiken. Initiativen zur Reichtumserfassung
5.2.2
Reichtum abgeben. Verteilungspolitische Zielsetzungen der sozialliberalen Koalition
5.2.3
Öffentliche Auseinandersetzung um Steuerprivilegien und Steuerflucht
5.3
Konflikte und Aushandlungsprozesse (1970–74)
5.3.1
Konfiskatorischer Staat? Konflikte bei der Umsetzung der Vermögens- und Steuerpolitik
5.3.2
Erneut umstritten – politisiertes Wissen. Infragestellung der Konzentration von Reichtum
5.3.3
Polarisierte Vermögenspolitik
5.4
Zwischenfazit. Enttäuschte Erwartungen und Grenzen staatlichen Handelns
6.
Akzeptanz der Ungleichheit? Verschiebung von Reichtumsdiskursen »nach dem Boom«
6.1
Reichtum als Investitionskapital. Der Rückzug des Staates aus der Vermögensverteilung (1974 bis zu Beginn der 1980er Jahre)
6.2
Abgebrochene Vermessung? Reichtumsverteilung verschwindet aus der politischen Problemwahrnehmung
6.2.1
Die »alte Leier« der statistischen Erfassung von Reichtum
6.2.2
Perspektivverengung und Potentiale. Vermessung der Lebenslagen in den Sozialwissenschaften und ihr Beitrag zur aktuellen Reichtumsforschung
6.3
Der Reichtum von allen, der Reichtum von Einzelnen. Veränderte Wahrnehmungen von Reichtum und Verteilung seit Ende der 1970er Jahre
6.3.1
Reichtum im Wohlstand/Reichtum in der Wohlstandsgesellschaft
6.3.2
Neoliberale Diskurse um Reichtum und Verteilung in Medien und Politik
6.4
Ausblick. Sichtbarer Reichtum und Wahrnehmung einer sozialen Polarisierung/wiederaufkommende Kritik an der Konzentration von Reichtum
7.
Fazit
Dank
Anhang
Abkürzungen
Abbildungen
Tabellen
Quellen und Literatur
Archivalien
Periodika und Jahrbücher
Gedruckte Quellen und Darstellungen
Die Zunahme von Reichtum und wachsender sozialer Ungleichheit sind eine der prägendsten Erfahrungen unserer Gegenwart. Der Verteilungsbericht 2018 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) beschreibt, dass die soziale Lage der Bundesrepublik sich durch »Dauerhafte Armut und verfestigte[n] Reichtum« ausdrücke.1 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen die Wissenschaftler*innen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin in ihrer Sozialberichterstattung.2 Deutschland habe die höchste Ungleichheit bei privaten Vermögen in der Eurozone und der größte Teil des Wirtschaftswachstums komme den Eigentümer*innen von Unternehmen und Kapital zugute.3 Diese wissenschaftlichen Untersuchungen analysieren nicht nur die aktuelle ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern sie problematisieren diese als Ausdruck sozialer Polarisierungsprozesse, die den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden. Sie intendieren mit ihren Darstellungen, die Öffentlichkeit zu informieren und ein Problembewusstsein zu schaffen, das im besten Falle die Bundesregierung dazu anregt, politisch zu handeln.4 Seit 2001 handelt die Bundesregierung zumindest dahingehend, dass sie die Informationen zu sozioökonomischer Ungleichheit und Verteilungsfragen sammelt und sie in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht. Sie verfolgt dabei das Ziel, ein »realistisches« Bild der Lebenslagen in der Bundesrepublik zu erlangen. Für die Berichte werden die bereits verfügbaren Daten durch Forschungsaufträge und Untersuchungen von vorwiegend sozialwissenschaftlichen Expert*innen erweitert.5 Die detaillierten Erkenntnisse über Armut, Reichtum und Ungleichheit dienen – so der politische Anspruch – letztendlich der »Entwicklung von grundlegenden politischen Handlungsoptionen zur Vermeidung und Bekämpfung von Armut und Ungleichheit.«6
Vor dem Erfahrungshintergrund sich verschärfender sozialer Ungleichheit, heutiger wissenschaftlicher Reichtumsforschung und politischer Umgangsformen mit Reichtum fragt die vorliegende Arbeit nach ähnlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen von Reichtum als Bestandteil des sozialen Ungleichheitsgeschehens in der Geschichte der Bundesrepublik.
Sozialwissenschaftler*innen und Sozialhistoriker*innen ordnen das 20. Jahrhundert in Zyklen der Abnahme und Wiederverschärfung sozialer Ungleichheit ein, und spätestens seit der bekannten Studie von Thomas Piketty 2014 liegt auch eine Untersuchungsperspektive auf die Reichtumsentwicklung vor.7 Für die Bundesrepublik wie auch für Europa kategorisiert Piketty, wie auch andere Wissenschaftler*innen, die 1950er bis 1970er Jahre als Phase der Abmilderung sozialer Ungleichheit. Ursachen liegen hierfür vor allem in den Auswirkungen beider Weltkriege, die sich unter anderem in der Vernichtung großer Vermögen zeigten, aber auch im wirtschaftlichen Aufschwung seit den 1950er Jahren und den damit zusammenhängenden steigenden Einkommen, der Durchsetzung der Massenkonsumgesellschaft, der Abmilderung von Klassengrenzen und Verbürgerlichungsprozessen.8 Zudem habe die sozialstaatliche Einhegung von Armut und Notlagen einen großen Anteil daran, dass sich soziale bzw. materielle Ungleichheit abmilderte oder dies so wahrgenommen wurde.9 In der Geschichtsschreibung über diese Zeit spielt die Entwicklung von Reichtum wie auch dessen Wahrnehmung nur eine unbedeutende Rolle und es ist zu fragen, inwieweit zeitgenössische Akteure Reichtum nicht wahrnahmen und daher für die Historiker*in wenig Material in Form von Statistiken oder Debatten lieferten. Das Randthema Reichtum einer kleinen Oberschicht in den 1960er Jahren, so erwähnt der Historiker Axel Schildt in einer Fußnote, wäre nur ein mediales Dauerthema gewesen.10 Zudem hätte sich die zeitgenössische Soziologie wie auch die Politik auf die Mitte der Gesellschaft und soziale Mobilität fokussiert11 und Verteilungsfragen insbesondere am Nettoeinkommen der Arbeitnehmer*innen und an ihrem Konsumverhalten gemessen. Dabei sei aus dem Blickfeld geraten, dass sich die Relationen sozialer Ungleichheit zwischen breiter Masse und Oberschicht nur unwesentlich verschoben haben.12
Diese spezifische Perspektive auf soziale Ungleichheit, die sich insbesondere auf marginalisierte Gruppen, Armut, soziale Mobilität und Klassendiskussion richtet, war lange Tradition der historischen Sozialforschung, die die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik intensiv prägte.13 Zu fragen ist, ob nicht nur zeitgenössische Soziolog*innen durch ihre Gesellschaftsbilder und bundesrepublikanische Selbstbeschreibungen Reichtum ausklammerten, sondern auch die Sozialgeschichte/die Geschichtswissenschaft. Darin äußert sich in Bezug auf die Erforschung von Reichtum vermehrt Kritik. Die Geschichte der Bundesrepublik sei eine Meistererzählung der erfolgreichen Etablierung von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Die Abmilderung der sozialen Ungleichheit und soziale Mobilität gehörten als Bestandteile ihrer Modernisierung zu der Erzählung dazu. Daher habe sich Wissenschaft und Politik auf die wohlfahrtsstaatliche Einhegung, Demokratisierung, Bildung und Partizipation fokussiert. Dadurch sei aber die Reichtumskonzentration einer kleinen Spitzengruppe nicht untersucht worden, mit der Konsequenz einer »ständigen Verfestigung« sozialer Ungleichheit, die dem Aufstiegsnarrativ der Bundesrepublik so sehr widerspreche.14
Anders verhält es sich zumindest vordergründig für die Zeit »nach dem Boom« seit Mitte der 1970er Jahre in der Zeitgeschichtsschreibung. Das Randthema Reichtum spielt in dem jüngsten Zyklus sozialer Ungleichheit eine größere Rolle und gilt als Charakteristikum unserer Gegenwart. Das Produktionsregime des digitalen Finanzmarktkapitalismus und die Etablierung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung, die sich seit den 1980er Jahren und verstärkt seit den 1990er Jahren in den westlichen Demokratien durchgesetzt hatten, gelten ebenso als Faktoren eines grundlegenden Wandels wie die damit zusammenhängenden Prozesse der Globalisierung. Dadurch hätten sich Gesellschaften neu strukturiert und soziale Ungleichheiten seien sichtbarer und größer geworden.15 Mit dem Fokus auf materielle Ungleichheit bestätigen eine stetig wachsende Anzahl von ökonomischen, sozialwissenschaftlichen und historischen Untersuchungen diese Entwicklung einer sich wieder verschärfenden Ungleichheit und manche kritisieren dies als Umverteilung nach oben.16 Es zeigt sich in den Studien eine Verschiebung der Reichtumsdiskurse. Der wachsende Reichtum von wenigen Reichen wird in Zusammenhang mit den neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepten gesetzt. Kennzeichnend für diese Zeitspanne ist ein signifikanter Rückgang der Reichtumsbesteuerung auf der einen sowie eine Umgehung von nationaler Besteuerung von Reichen und Unternehmen bei gleichzeitiger Zunahme von sozialer Ungleichheit in den westlichen Demokratien auf der anderen Seite.17 Einige fordern zum Beispiel Steuerreformen im globalen Maßstab und begreifen diese als notwendige Maßnahmen, um der extremen Reichtumskonzentration zu begegnen.18 Sie widersprechen dadurch der lange vorherrschenden neoliberalen Meinung, dass freie Märkte und das staatlich nicht eingeschränkte Agieren von Unternehmen – oder im abstrakteren Sinne von privatem Reichtum – zu einer allgemeinen Wohlstandssteigerung führe, und stellen dadurch auch die damit verbundene Akzeptanz von materieller Ungleichheit als wirtschaftsfördernd infrage. Der Reichtum sickere nicht nach unten durch und schaffe keine neuen Arbeitsplätze, sondern diene vielmehr dazu, Reichen ihre Privilegien zu bewahren.19 Sozialwissenschaftler*innen agieren als Akteure der Politisierung bzw. veröffentlichen ihr Wissen, um die Reichtumskonzentration als gesellschaftspolitisches Problem zu politisieren. Die junge Wissenschaftsdisziplin der Reichtumsforschung versucht seit den 1990er Jahren, Daten über die Reichtumsentwicklung in der alten und wiedervereinigten Bundesrepublik zu erheben, und dient als Referenzrahmen und zu historisierende Quellengrundlage der historischen Reichtumsforschung/der Zeitgeschichte. Doch schaut man genauer auf die Ergebnisse und Aussagen zu den 1970er und 1980er Jahren, tauchen methodische Probleme auf, Reichtum an der Entwicklung von Einkommen und Vermögen untersuchen zu wollen. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen arbeiteten zum Beispiel auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die seit 1962/63 erhoben wurde und lange Zeit eine der wichtigsten Sozialberichterstattungen war. Diese bestätigen jedoch, dass wegen fehlender valider Daten zu Reichtum keine genauen Aussagen über seine Entwicklung getroffen werden können.20 Des Weiteren attestieren zeithistorische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen den 1980er Jahren, dass Reichtum und Reiche nicht im öffentlichen Problembewusstsein von sozialer Ungleichheit standen. In der Soziologie habe eine »kulturalistische Wende« bewirkt, dass vertikale Ungleichheiten in Einkommen, Besitz und damit zusammenhängend Macht, auch Kategorien wie Klasse oder Schicht nicht mehr erforscht wurden und dadurch die Erkenntnis darüber verloren ging.21 Darüber hinaus hätten fehlende Statistiken zur Verteilung vor allem des Produktionsmittelbesitzes zu einem »statistischen Verschwinden« von Reichtum geführt, was somit für diese Zeit keine Vorstellung seines Ausmaßes zugelassen habe.22 Der etwas polemisch geführte Diskurs bezieht sich auf die in den 1980er Jahren geführten Debatten über Individualisierungstendenzen und Differenzierungsprozesse in der westdeutschen Gesellschaft.23 Zugleich entwickelten sich in der sozialen Ungleichheitsforschung neue Kategorien horizontaler Dimensionen sozialer Ungleichheit wie Alter und Geschlecht, Gesundheit, Wohnort und Ethnie. Zur Diskussion steht dabei, ob die Klassenstrukturen trotzdem nach wie vor ein prägendes Strukturmerkmal waren.24 Zumindest tragen fehlende Daten zur Reichtumsentwicklung nicht dazu bei, darauf eine mögliche Antwort zu finden. Eine positive Deutung der 1980er Jahre vertritt hingegen die Sozialwissenschaftlerin Dorothee Spannagel. Seit Mitte der 1970er Jahre habe eine »Explorationsphase« der heutigen Reichtumsforschung begonnen. Vor dem Hintergrund der wieder aufkommenden (medialen und politischen) Armutsdiskurse zur »neuen sozialen Frage« oder »neuen Armut« sei Reichtum in der empirischen Sozialforschung als Facette und insbesondere in Studien im Rahmen des seit 1984 erhobenen sozio-oekonomischen Panels (SOEP) des DIW wahrgenommen worden.25 Das SOEP ist eine repräsentative Stichprobe der (west-)deutschen Bevölkerung, die sich aus der Sozialberichterstattung entwickelt hat und seit den 2000er Jahren sukzessive durch Stichproben zu Hochvermögen und Hochverdienenden erweitert wird.26 Dennoch hätten sich erst in den 1990er Jahren erste interdisziplinär angelegte Untersuchungen dezidiert mit Reichtum beschäftigt.27
Unter der Federführung des Politikwissenschaftlers Ernst-Ulrich Huster, der zuvor zu Armut und Sozialstaatlichkeit forschte, erschienen sozialwissenschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen zu Reichtum.28 Hauptnarrativ der Forschung der 1990er Jahre und auch in den folgenden Jahrzehnten ist weiterhin: Es fehlt an empirischen Daten zu Reichtum und Einblicken in die Welt der Reichen und deswegen sei es zugleich (gesellschaftlicher) Auftrag der Forscher*innen, Licht ins Dunkle zu bringen. Verbunden war dies mit Vorwürfen, dass von staatlicher Seite kein Wille bestehe, Reichtum zu vermessen, um dann Aussagen über seine Verteilung in der (west-)deutschen Gesellschaft treffen zu müssen.29 Das Wissen würde nämlich eine Ungleichverteilung beleuchten, die aufzeige, dass alte Besitzverhältnisse fortbestehen.30 Huster verweist in einem Aufsatz zur Genese der Reichtumsforschung darauf, dass Erkenntnisse, Fakten und Zusammenhänge sozialpolitisch kontrovers diskutiert wurden bzw. diese von vorneherein wertbesetzt waren. Er zeigt an divergierenden Begriffen von Reichtum wie »Unternehmensertrag« oder »moralisch unrechtmäßige Bereicherung« oder Bewertungen der Reichtumsforschung als »legitime Verteilungsdiskussion« oder »Neidhammel-Debatte« die je nach politischem Standpunkt unterschiedlichen Perspektiven und Bewertungen auf. Eine permanente Kritik hätte Wissenschaftler*innen, die Reichtum erforschen wollten, begleitet, aber auch vice versa Politiker*innen, die sich Verteilungsfragen verschlossen, und Darstellungen von Reichtumskonzentration als falsch abtaten.31
Wie am Beispiel der 1990er Jahre zu erkennen ist, spielen bestimmte gesellschaftliche Akteure eine bedeutende Rolle dabei, Reichtum als gesellschaftliches Phänomen zu betrachten und es in einen Verteilungskontext zu setzen, es zu skandalisieren oder es zu verharmlosen. Hierbei wird deutlich, dass, wenn überhaupt über Reichtum gesprochen und er untersucht wird, es häufig in einem gesellschaftspolitischen Rahmen stattfindet und mit Gerechtigkeitsvorstellungen aufgeladen ist. Dieser Aspekt der gesellschaftspolitischen Diskurse, die sich auch durch sozioökonomische Rahmenbedingungen in der Geschichte der Bundesrepublik gewandelt haben, ist eminent wichtig, um eine Geschichte des Reichtums zu schreiben. Im Rahmen dieser Diskurse spielen sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Wissensproduktion zu Reichtum ab, dennoch wurden sie bisher nur in Ansätzen für die alte Bundesrepublik beleuchtet.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass materieller Reichtum in der Geschichte in der alten Bundesrepublik ein Randthema als Komplementärphänomen von Armut bzw. der Mitte ist. Einerseits wird Reichtum in Metaerzählungen der Geschichte abnehmender und sich wiederverschärfender sozialer Ungleichheit miteinbezogen und das auch auf Grundlage von dürftigen Zahlen. Bei genauerer Betrachtung erfährt man andererseits jedoch weniger über detaillierte »realpolitische« Fakten zu Reichtum, sondern trifft vielmehr auf Aussagen zu fehlendem Wissen, verengten Forschungsperspektiven, die Reichtum dadurch ausklammerten, und Vorwürfe eines fehlenden politischen Willens, Reichtum zu erforschen. Für die Bundesrepublik der 1950er bis in die 1980er Jahre entwickeln sich daraus Fragen in Hinsicht auf die Wahrnehmung und die Vermessung von Reichtum sowie auf den politischen Umgang mit ihm im gesamten Untersuchungszeitraum.32 Um diesen Fragen nachzugehen, ist es notwendig, nach den beteiligten Akteur*innen in Wissenschaft, Politik und Medien zu fragen. Die Geschichte des sozialen Phänomens Reichtum ist nur zu schreiben, wenn man die Wahrnehmung und die Wissensproduktion dieser Akteur*innen sowie die kontroversen gesellschaftspolitischen Debatten, in denen sie sich wechselseitig beeinflussten, in die Analyse einbezieht.33 Ihre Wahrnehmung, Bewertung und ihr Handeln bilden einen wichtigen Kontext für Verschärfungen oder Abmilderungen von sozialer Ungleichheit.34 Daraus hat sich der methodische Zugang der vorliegenden Arbeit entwickelt.
Gab es Zeiten, in denen gesellschaftliche Akteur*innen in Medien, Politik und Wissenschaft sich intensiver mit Reichtum auseinandersetzten? Innerhalb welcher sozioökonomischen Rahmenbedingungen fanden gesellschaftspolitische Diskussionen um Reichtum statt bzw. nicht statt? Welche Rolle spielte die (Nicht-)Wahrnehmung von Reichtum in der Durchsetzung der Demokratie und Marktwirtschaft? Die vorliegende Arbeit fragt aus einer zeithistorischen Perspektive genau nach solchen Konjunkturen der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Wissensproduktion zu Reichtum in der Bundesrepublik der 1950er bis 1980er Jahre und bearbeitet dadurch ein Thema, das in der Zeitgeschichte und Reichtumsforschung bisher wenig Beachtung fand.35
Dabei folgt sie der These, dass Reichtum als gesellschaftspolitisches Thema nie als zentrales Thema, aber dennoch als Randthema von Verteilungsdebatten verhandelt wurde und sich in den langen 1960er Jahren politisierte. Die Auseinandersetzung um die Verteilung gesellschaftlichen Reichtums nahm jedoch in den 1970er Jahren durch die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit marktliberaler Konzepte im Nachgang der Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre ab und erst nach der Wiedervereinigung gewann sie auch durch Impulse der aufkommenden Reichtumsforschung als Reaktion auf die neoliberale Wirtschaftsordnung wieder an Fahrt. Eng verknüpft damit war die Kritik an diesem Wirtschaftssystem, welches nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme Anfang der 1990er Jahre als Gewinner der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West dastand.36
In den Geschichtswissenschaften formulieren manche Historiker*innen ein tiefes Bedürfnis, Reichtum zu definieren, ähnlich wie in der ressourcenorientierten sozialwissenschaftlichen Reichtumsforschung.37 Wie die Ausführungen vorab jedoch deutlich gemacht haben, sind genau diese Definitionsversuche bereits Teil einer Verhandlung von und des Sprechens über Reichtum, teilweise politisch motiviert, aber unweigerlich zu gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen beitragend. Wer als reich gilt, ab wann man von Reichtum spricht, was dies über die soziale Ungleichheit und das marktwirtschaftliche System der Bundesrepublik aussagt und welche Auswirkungen Reichtum als Vermögenskonzentration auf den demokratischen Zusammenhalt der Gesellschaft hat, ist höchst umstritten. Dies veranschaulichen exemplarisch die gesellschaftspolitischen Debatten um die Definition von Reichtum und die daraus resultierenden Repräsentationen der Verteilung von Vermögen und Einkommen im Armuts- und Reichtumsbericht. Im Frühsommer 2021 wurde dieser zum sechsten Mal veröffentlicht, die aktuelle Fassung beinhaltet eine verbesserte Datenlage im Bereich hoher Vermögen, die es zuvor nicht gegeben hatte.38 Durch die neuen Berechnungen stieg der Anteil der oberen 10 Prozent am Nettogesamtvermögen von 59 auf 64 Prozent, was das Bild der sozialen Ungleichheit verschärfe.39 Dennoch sei die Vermögensungleichheit seit 2008 leicht gesunken, doch bewege sie sich allerdings »weiterhin auf einem hohen Niveau.«40 Darüber hinaus wurde der Einkommensreichtum anhand der Definition gemessen, wonach eine Person einkommensreich ist, wenn diese über mindestens das Doppelte des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens verfüge. Dies wären ungefähr acht Prozent, und zwei Prozent der Bevölkerung würden mindestens das Dreifache verdienen.41 Insgesamt würden 9,1 Prozent der Gesellschaft zur Kategorie Wohlhabenheit gehören, so die Darstellung der »Landschaft der sozialen Lagen in Deutschland«.42 Die Definition der höchsten sozialen Lage wurde dahingehend spezifiziert, »dass sie nicht mit ›wirklichem‹ Reichtum, wie er insbesondere mit hohem Vermögen assoziiert wird, gleichgesetzt werden kann. Zwar finden sich hier auch Personen, die als ›reich‹ zu bezeichnen sind, doch können sie aufgrund der Datenverfügbarkeit nicht klar abgegrenzt werden.«43
Diese aktuellen relationalen Definitionen von Reichtum werden von vielen sozialwissenschaftlichen und politischen Institutionen angewendet44, doch sind sie sehr umstritten. Zum Beispiel kritisiert der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, der seit langem zu Armut, Reichtum und Ungleichheit forscht und dem Gutachtergremium des 6. Armuts- und Reichtumsbericht angehörte45, in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung die im Bericht enthaltenen Darstellungen der Gesellschaft. Durch die Definitionen für Einkommensreichtum fasse er zum Beispiel Personen mit einem Nettoeinkommen von 3.900 Euro und Milliardäre in eine Kategorie. Des Weiteren lasse die Soziallage »Wohlhabenheit« »Reichtum sprachlich verschwinden« und sei »ein semantischer Taschenspielertrick.«46 Er vermutet eine zugrundeliegende Intention der Politik, die Ursachen für die Reichtumskonzentration, sprich die marktliberale Wirtschafts- und Steuerpolitik der Bundesregierung seit den 1980er/1990er Jahren, verschleiern zu wollen. Diese Kritikpunkte sind ist kein Einzelfall, sondern wurden ähnlich schon zu früheren Armuts- und Reichtumsberichten von wissenschaftlicher und medialer Seite geäußert.47
Für die vorliegende Arbeit bestätigt die Diskussion der aktuellen Definition den methodischen Zugang, ihren Untersuchungsgegenstand Reichtum als relational zur Bevölkerung zu begreifen und mit einzubeziehen, dass dieser umstritten und je nach Akteur und Zeit politisch aufgeladen ist. Daher erscheint es nicht sinnvoll, die aktuelle Definition zum Beispiel der 200 Prozent-Regel für Einkommensreichtum auf die Geschichte der Bundesrepublik zu übertragen, um »realgeschichtlich« zu messen, wie viel Reichtum es wann gab. Daher arbeitet diese Untersuchung nicht mit einer klaren Definition von Reichtum, weder in einer relativen noch absoluten Größe, sondern interessiert sich vielmehr für die Akteure, die diese Kategorien bildeten, dafür, welche Intention sie damit verfolgten und in welchen politischen Kontexten diese verwendet wurden.
Die vorliegende Arbeit begrenzt Reichtum zwar auch auf materiellen Reichtum, der in Einkommen und vor allem in Vermögen gemessen wird. Nach Pierre Bourdieu handelt es sich dabei um das ökonomische Kapital, das die Grundlage der weiteren Kapitalsorten bildet und im Ungleichheitsgeschehen eine dominante Rolle einnimmt.48 Diese Annahme beinhaltet, dass Reichtum ein Bestandteil des gesellschaftlichen Ungleichheitsgeschehens ist und daher relational zur übrigen Gesellschaft definiert wird.
Zugleich folgt das Forschungsvorhaben den Überlegungen von Reinhard Kreckel zur Erforschung sozialer Ungleichheit49 und begreift Reichtum in diesem Zusammenhang als »historisch gewordenes und veränderliches Strukturmerkmal«. Reichtum werde dadurch definiert, welche Möglichkeiten des Zugangs zu »allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind«50, vorliegen. Die Vermessung von Reichtum kann sich im historischen Verlauf verändern, da diese von normativen Zuschreibungen abhängig ist, die Messeinheiten und Reichtumskategorien erst hervorbringen.51 Wie diese Begriffe gefüllt werden, ist dabei Ergebnis diskursiver Auseinandersetzungen.52 Genau diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen folgt die Arbeit. Daher ist es sinnvoll, die gesellschaftliche Wahrnehmung und die normativen Zuschreibungen in die Erforschung von Reichtum mit einzubeziehen. Darüber hinaus ist die Wahrnehmung von Repräsentationen sozialer Ungleichheit geprägt, deren Wandel bisher wenig erforscht wurde. Eva Barlösius bietet hierfür eine theoretische Grundlage: Sie versteht soziologische Beschreibungen ebenso wie das öffentliche Sprechen über soziale Ungleichheit als soziale Konstrukte, in die normative Überzeugungen eingeschrieben sind, und plädiert aus diesem Grund dafür, »Gerechtigkeitsvorstellungen, andere normative Erörterungen, speziell aber die gesellschaftlichen und politischen Darstellungen und Skandalisierungen sozialer Ungleichheiten als zentralen Bestandteil des Ungleichheitsgeschehens aufzufassen und systematisch zu erforschen.«53
Die vorliegende Studie verortet sich im Feld der historischen sozialen Ungleichheitsforschung. Darin verknüpft sie die Themen soziale Ungleichheit und Reichtum. Methodisch ist sie inspiriert von wahrnehmungs- und wissensgeschichtlichen Zugängen, die Kulturtechniken, die das Soziale beschreiben und Wissen darüber produzieren, untersuchen.
Im Zentrum der Wahrnehmung von und des Sprechens über Reichtum steht das Wissen bzw. die Pluralität der Formen und Bestände von Wissen über die soziale Wirklichkeit. Dabei geht die Arbeit davon aus, dass es sich hierbei um soziale Konstrukte handelt, mit denen die Akteure die gesellschaftliche Wirklichkeit deuten.54 Je nach Akteur*in handelt es sich beispielsweise um wissenschaftliche Darstellungen, Statistiken, mediale Visualisierungen, oder politische Berichte. Diese Vergegenständlichungen erfüllen die Funktion, soziale Ordnung greifbar zu machen. Mitglieder einer Gesellschaft, wirkmächtige Akteure wie Massenmedien, Wissenschaften oder Politik greifen auf Beobachtungen zurück, um eine Position im sozialen Raum zu finden, Positionen zuzuweisen oder um zu vergegenwärtigen, wie die Gesellschaft beschaffen ist. Damit sind sie an der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten beteiligt. In der Gesellschaft dienen Darstellungen den sozialen Gruppen, sich über sich selbst zu verständigen, und beeinflussen dadurch deren Handlungen.55
Die Wahrnehmung von Verhältnissen wandelt sich, nicht nur weil sich Gesellschaft politisch und ökonomisch wandelt, sondern vielmehr verändern sich die Perspektiven, mit denen gesellschaftliche Ordnung wahrgenommen und bewertet wird. Diese selbstkonstruierten Wahrnehmungen und Bewertungen wirken dann wiederum auf die gesellschaftliche Ordnung zurück. Insofern stellen Politik, Medien und Wissenschaften nicht einfach dar, was ist, vielmehr sind ihre Darstellungen von eigenen Überzeugungen und Grundwerten geprägt.56 Das spiegelt sich in den Begriffen wider, die in den unterschiedlichen Arten des Sprechens – in Wissenschaft, Medien und Politik – benutzt werden. Im Verlauf der Arbeit werden den Leserinnen und Lesern unterschiedliche Begriffe für Reichtum begegnen: Reichtum, Vermögen, Eigentum, Produktivvermögen, Gewinn und Investitionskapital. Dies sind normativ-politische Begriffe, die im Untersuchungszeitraum von unterschiedlichen Akteuren aus Wissenschaft, Medien und Politik mit einer spezifischen Intention verwendet und mit einem spezifischen Bedeutungsinhalt gefüllt wurden. Diese wissenschaftlichen Beschreibungen, das öffentliche Sprechen oder politische Aussagen über soziale Ungleichheit werden daher als Konstrukte untersucht.57 An diesem Punkt setzt die folgende Arbeit an: Sie will die Wahrnehmung und Beschreibung von Reichtum und Reichtumsverteilung in der Bundesrepublik seit Ende der 1950er Jahre bis Anfang der 1980er Jahre als konstruktiven und auch produktiven Prozess der Auseinandersetzung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen beschreiben.
Bestimmtes Wissen kann sich für eine gewisse Periode und für einen bestimmten Ort durchsetzen. Dafür entscheidend, ob bestimmtes Wissen sich Geltung verschaffen kann, ist, an welchen Orten es produziert und von welchen gesellschaftlichen Gruppen es getragen wird und wie es zwischen den Gruppen zirkuliert.58 Deutlich an diesem Verständnis von Wissen wird zum einen, dass die Arbeit von einer fundamentalen Konstruiertheit von Wissen ausgeht. Zum anderen zeigt der Begriff der Zirkulation an, dass zumindest in demokratischen Gesellschaften Wissen immer im Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft, Politik, Medien und Gesellschaft wandert.59
Die verschiedenen Akteure haben also ein je eigenes Wissen, was sich unterschiedlich stark voneinander unterscheidet. Auf das, was als Wissen gesellschaftlich anerkannt ist, versuchen die verschiedenen gesellschaftliche Akteure zum Teil bewusst und zum Teil unbewusst einzuwirken. Je nach gesellschaftlichem Kräfteverhältnis haben die Akteure eine unterschiedliche Wirkmächtigkeit. Dies erklärt sich aus den gesellschaftlichen Machtpositionen, die die Akteure innehaben. Damit ist gemeint, dass die Akteure unter anderem unterschiedliche finanzielle Möglichkeiten besitzen und unterschiedliche Zugänge zur Zirkulationssphäre von Wissen in Medien und Politik haben. Daraus ergeben sich unterschiedliche Ausgangspositionen für die Produktion und Kommunikation eigenen Wissens. Macht bedeutet meistens einen Wissensvorsprung und Macht bringt bestimmte Wissensbestände hervor, um die Herrschaft zu sichern.60 »Wer mächtig ist, versucht die ›richtige‹ Bedeutung der Wörter vorzuschreiben. […] Mächtig sind nicht nur die, die Machtpositionen innehaben. Macht haben auch jene, die fähig sind, sprachliche Inhalte und den Gebrauch von Wörtern durchzusetzen.«61
In einer Gesellschaft wie der bundesrepublikanischen im Untersuchungszeitraum folgt die Durchsetzung bestimmten Wissens nicht einem einfachen Ursache-Wirkungs-Schema, sondern das vorherrschend als richtig angenommene Wissen entwickelt sich aus den Interdependenzen der verschiedenen Wissensproduktionen untereinander und in Wechselwirkung miteinander sowie mit den übrigen gesellschaftlichen Einflussfaktoren. Damit steht das Wissen in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext, durch den es entschlüsselt und auch erklärt werden kann. Das Wissen umfasst die handlungsleitenden Grundwerte des jeweiligen Akteurs und prägt damit auch seine Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Auf den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit bezogen bedeutet dieses Verständnis von Wissen, dass das Wissen über die Gesellschaft und damit auch die Wahrnehmung von Reichtum bei den unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren ganz unterschiedlich sein kann. Ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend ist ihre Wahrnehmung durch einen bestimmten Erfahrungs- und Wissenshorizont geprägt, der sich mit Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und in der Auseinandersetzung mit den anderen Akteuren entlang der Zeitdimension wandelt.62
Die Machtunterschiede spielen bei der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Reichtum eine besondere Rolle, da derjenige, der das ökonomische Kapital hat, Wissen produzieren und zumindest ansatzweise kontrollieren kann. Für die vorliegende Arbeit spielt das insbesondere bei der Erfassung bzw. Nichterfassung von Reichtum eine Rolle. So fehlte über weite Zeiträume die Datengrundlage über den Reichtum der Oberschicht. Das liegt zum einen daran, dass das private Eigentum in der Bundesrepublik durch Art. 14 des Grundgesetzes gesichert ist, was von rechtlicher Seite den Zugriff auf die Erfassung von Reichtum einschränkt, wodurch Einblicke in die Vermögensverhältnisse verhindert werden können. Zum anderen verwenden staatliche Institutionen häufig Steuerstatistiken zur Vermessung von Reichtum. Diese Steuerstatistiken basieren auf der Richtigkeit der Angaben in den Steuererklärungen. Reiche Personen wie auch transnationale Unternehmen hatten und haben weitaus mehr Möglichkeiten, sich der steuerlichen Erfassung zu entziehen und ihren Reichtum transnational zu streuen.63 Dadurch haben reiche Akteure Macht, Wissen über ihren Reichtum zu verhindern. Des Weiteren spielt der Machtfaktor bei den medialen Darstellungen eine Rolle, auf die Reiche größere Einflussmöglichkeiten als andere Gruppen haben. Die vermittelten Bilder können daher auch Selbstinszenierungen sein.64
Die Arbeit folgt einer Chronologie der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Wissensproduktion und setzt dabei Schlaglichter auf einzelne Akteursgruppen, die als qualitative Beispiele fungieren. Im Zentrum der Arbeit steht, wie diese Gruppen sich gegenseitig darin beeinflussten, wie sie über Reichtum sprachen und diesen als gesellschaftspolitisch bewerteten. Diese Wechselwirkungen und Verknüpfungspunkte von Akteuren sind besonders spannend und an ihnen können Phasen einer öffentlichen Wahrnehmung von Reichtum und gesellschaftspolitische Debatten um Verteilung untersucht werden. In den Kapiteln werden Schwerpunkte auf einzelne Akteure aus Wissenschaft, Medien und Politik gelegt, wobei auf den Verflechtungen und gegenseitigen Einflussnahmen zwischen den Akteuren ein besonderes Augenmerk liegt. Hinter den Auseinandersetzungen standen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die zum Teil bewusst und zum Teil unbewusst versuchten, ihre eigenen Vorstellungen von Reichtum hegemonial zu setzen. Es werden die Wahrnehmungen und Darstellungen der politischen Akteure in Form der im Untersuchungszeitraum relevanten Parteien CDU/CSU, SPD und F.D.P., der Vertretungen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, wissenschaftliche Vertreter der großen kirchlichen Organisationen, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und der einflussreichen Medien untersucht. Dabei werden die Interdependenzen und Wechselwirkungen der unterschiedlichen Wissensproduktionen nachverfolgt. Diese Darstellungen und Veröffentlichungen führten durch den spezifischen gesellschaftspolitischen Kontext im Untersuchungszeitraum zu einer sehr starken Politisierung und Polarisierung der Auseinandersetzungen. In den chronologisch geordneten Kapiteln betrachtet die Arbeit die Akteursgruppen aus Wissenschaft, Politik und Medien und ihr Sprechen in ihrer Wechselwirkung.
Die Massenmedien gliedern sich insbesondere im 20. Jahrhundert in viele relevante Akteure auf, denen ein großer Einfluss auf die Wahrnehmung und Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse – so auch der Wahrnehmung von Reichtum und seiner Ungleichverteilung – zukommt. Sie produzierten in Texten, Fotografien und Fernsehformaten/Bewegtbildern Wissen über soziale Lagen. Durch ihre spezifischen Darstellungsformen und Visualisierungen beteiligten sie sich an der Konstruktion von sozialen Wirklichkeiten.65 Sie beeinflussten dadurch als soziale Kommentatoren die Thematisierung und Wahrnehmung von Reichtum und schafften mit ihrer Reichweite zugleich eine größere Öffentlichkeit als Expertenwissen, das häufig nur in spezifischen akademischen Räumen zirkuliert.66 Insbesondere seit den 1960er Jahren kommentierten sie kritisch zunehmend soziale Selbstbeobachtungen und den politischen Umgang mit sozialer Ungleichheit.67 In diesem Kontext kann davon ausgegangen werden, dass sie spezifische Darstellungen verbreiteten und dadurch gesellschaftliche Wahrnehmungen und Deutungsmuster prägten.68
Ein weiteres Feld wichtiger Akteure für die Wahrnehmung von Reichtum und seiner Ungleichverteilung sind bestimmte wissenschaftliche Disziplinen. Für die Bundesrepublik ist die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit mit den Beobachtungen und (Selbst-)Beschreibungen der Sozialwissenschaften verbunden.69 Diese wissenschaftlichen Erforschungen und Konzeptionalisierungen der Beschaffenheit der westdeutschen Gesellschaften waren seit ihrer Gründung wirkmächtige Darstellungen, wie zum Beispiel die viel zitierte These der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« illustriert.70 Vor allem aber die zunehmende »Verwissenschaftlichung« der Politik seit den 1960er Jahren veranschaulicht ihren weitreichenden Einfluss auf die Wahrnehmung und Deutung sozialer Phänomene.71 Relevant wurden vor allem sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Experten, die einerseits mit ihrer Expertise politisches Handeln beeinflussten72, andererseits aber auch zur Legitimierung von politischen Entscheidungen herangezogen wurden. Stand in den geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen vorwiegend die Soziologie als mit der Beschreibung der sozialen Lage befasste Wissenschaft im Vordergrund, erweitert die vorliegende Arbeit dies um die Frage nach den Akteuren, die Reichtum und dessen Verteilung in den Blick nahmen. Schaut man abseits der neomarxistischen Strömungen der sozialen Ungleichheitsforschung73 und Dahrendorfs Elitensoziologie74, beschäftigten sich vor allem Volkswirtschaftler und Wirtschaftswissenschaftler mit der Entwicklung von Reichtum. Bisher traten diese in der zeithistorischen Forschung als Gutachter und Berater der Wirtschaftspolitik in Erscheinung.75 Bisher unterbelichtet blieb die Rolle der Wirtschaftswissenschaft als Wissensproduzentin über Reichtum. Die Arbeit geht der Frage nach, welchen Einfluss ihre fachspezifische Sichtweise und Erforschung auf dessen Wahrnehmung, insbesondere in Hinblick auf den Einfluss ihrer Vertreter durch ihre Tätigkeiten als politische Berater, hat.
Als dritte Akteursgruppe werden die verschiedenen politischen Akteure in den Fokus genommen, die im Untersuchungszeitraum relevante Beiträge und Initiativen in Bezug auf Reichtum und seine Verteilung geliefert haben. Einen entscheidenden Einfluss auf die Reichtumsdiskurse der Zeit hatten Vertreter*innen der Regierungsparteien CDU/CSU, SPD und F.D.P., außerdem die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften und für die erste Phase des Untersuchungszeitraums auch Vertreter*innen der Kirchen. In ihrem Sprechen und ihren Handlungen griffen sie auf bestimmte Wissenskontingente zurück oder gaben die Produktion von einschlägigem Wissen in Auftrag. Politische Reflexionen und Debatten verschoben zeitgenössische Wahrnehmungen und Deutungen. Diese semantischen Verschiebungen wurden für die Geschichte der Bundesrepublik an anderen Themen analysiert76, jedoch fehlt bisher eine zeitgeschichtliche Untersuchung der Wahrnehmungen und Deutungen politischer Akteure des Themenkomplexes Reichtum.
Um nun zu untersuchen, wie von den entscheidenden gesellschaftlichen Akteuren im Untersuchungszeitraum Reichtum und seine Verteilung wahrgenommen und darüber gesprochen wurde, wird auf drei größere Quellenkomplexe zugegriffen. Auf den Feldern (1) der fachwissenschaftlichen Untersuchungen, (2) der massenmedialen Produkte und (3) der politischen Aussagen wurde die gesellschaftliche Wahrnehmung von Reichtum gebildet, Wissen dazu produziert und die öffentliche Auseinandersetzung gespiegelt.
(1) Für den Quellenkomplex der fachwissenschaftlichen Untersuchungen wurde für den Untersuchungszeitraum zunächst recherchiert, welche sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studien zum Thema in der Zeit entstanden sind und in welchem Kontext und in wessen Auftrag sie produziert wurden. Ihre Auswahl wurde daraufhin auf diejenigen Studien eingeschränkt, die in der politischen Öffentlichkeit rezipiert und öffentlich diskutiert wurden oder Einfluss auf den politischen Meinungsbildungsprozess hatten. Aus dieser Eingrenzung ergab sich eine Liste mit bestimmten vor allem wirtschaftswissenschaftlichen Studien zur Vermögensentwicklung. Die damaligen Forschungsergebnisse wurden daraufhin rezipiert und auf ihren Beitrag zur Konstruktion der zeitgenössischen Wahrnehmung von Reichtum hin untersucht. Bei der Analyse wurden die Studien anhand ihrer normativen Bezugnahmen und gegebenenfalls der Auftraggeber historisch eingeordnet und gesellschaftlich kontextualisiert.77
(2) Den zweiten Quellenkomplex bilden massenmediale Produkte. Hierzu zählen Medienberichte überregionaler Zeitungen und Zeitschriften, politische Fernsehformate der öffentlich-rechtlichen Sender78 sowie populärwissenschaftliche Arbeiten.
Die Auswahl der Zeitungen und Zeitschriften wurde in dieser Arbeit auf überregionale, meinungsbildende Medienprodukte eingeschränkt. Zum einen wurde online in Volltextsuchen nach Schlagwörtern (Reichtum, Vermögen, Reichtumsverteilung, Vermögensverteilung, Vermögensbildung, Vermögenspolitik, Eigentum, Millionär, Milliardär, Reiche, Luxus) im Spiegel, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit gesucht, die entsprechenden Artikel wurden gesammelt. Weitere Zeitschriften und Zeitungen wurden mit Hilfe von Presseschnittsammlungen der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Gruner+Jahr Dokumentation zu den genannten Schlagwörtern gesichtet. Zusätzlich zu diesen Presseerzeugnissen wurden in den Archiven des Norddeutschen Rundfunks, des Westdeutschen Rundfunks, des Süddeutschen Rundfunks, des Bayerischen Rundfunks, des Hessischen Rundfunks und des Zweiten Deutschen Fernsehens audiovisuelle Quellen zum Themenfeld Reichtum eingesehen und für die Arbeit wichtige Quellen heraussortiert. Damit wurde ein ausgewogenes Fundament massenmedialer Erzeugnisse für die Untersuchung zusammengestellt. In einem ersten Schritt wurden anhand dieser Quellen Konjunkturen der Thematisierung erarbeitet und in einem zweiten Schritt die Presse- und Fernsehberichte für die einzelnen Phasen der Aufmerksamkeit systematisiert. In einem dritten Schritt wurden entscheidende Artikel und Berichte text- und bildanalytisch ausgewertet. Der Schwerpunkt lag auf den Textquellen bzw. auf dem Gesagten in den audiovisuellen Quellen. Aber auch die visuellen Darstellungen aus Presse und Fernsehen in Form von Fotografien, Grafiken, Zeichnungen und Darstellungsweisen in Fernsehberichten wurden berücksichtigt.
(3) Den dritten Quellenkomplex stellen politische Aussagen, Veröffentlichungen und andere Quellen der auf dem Feld der Vermögenspolitik relevanten Akteure dar. Um die verteilungs- und vermögenspolitischen Äußerungen der im Untersuchungszeitraum an der Regierung beteiligten Parteien, der Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaften und Kirchen herausarbeiten zu können, wurde eine Vielzahl an publizierten Quellen gesichtet: Öffentliche Programme, Broschüren, Leitlinien, Grundsatzprogramme, Produkte von Think-Tanks, Jahresberichte, öffentliche Debatten im Bundestag, Reden, Anfragen, Jahreswirtschaftsgutachten, Hintergrundwissen, Briefe, Sprachregelungen und interne Vermerke. Nicht publizierte Quellen wurden im Bundesarchiv in Koblenz gesichtet. Dabei beschränkte sich die Recherche auf Quellen der Bundesebene.
Die Quellenlage stellte sich als schwierig heraus, da der Untersuchungsgegenstand nie im Zentrum des Politikgeschehens lag. Erste Quellen entstanden aus der Diskussion um die Vermögenslosigkeit der Arbeitnehmer. Aus den relevanten Quellen zur Vermögenspolitik und teilweise zur Steuerpolitik wurden dann die sich wandelnden Wahrnehmungen der Akteure und ihre gegenseitigen Bezugnahmen herausgearbeitet.
Die Ergebnisse der Untersuchung der drei Quellenkomplexe wurden miteinander in Bezug gesetzt. Damit konnte mittels der gewonnenen Daten die öffentliche Wahrnehmung von Reichtum und das Sprechen darüber als eine wissenschaftlich-mediale-politische Auseinandersetzung rekonstruiert werden.
Im zweiten Kapitel der Arbeit wird die Veränderung des Sprechens über Reichtum und die Vermögensverteilung in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren untersucht. Dabei soll gezeigt werden, wie die veränderte gesellschaftliche Situation mit dem Wirtschaftsaufschwung und dem damit einhergehenden Reichtum auch die Wahrnehmung von Reichtum und das Sprechen über ihn bei unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Gruppen verändert hat. Im Blick der Untersuchung stehen dabei die Wahrnehmung von und die daraus resultierenden Forderungen an Reichtum auf Gewerkschafts- bzw. Arbeitgeberseite. Dabei werden auch Widersprüche und Entwicklungen innerhalb dieser Gruppen und den ihnen nahestehenden Parteien verfolgt. Als weitere wichtige Einflussfaktoren auf diesem diskursiven Feld werden die Aktivitäten unterschiedlicher kirchlicher und kirchlich geprägter Akteure in den Fokus genommen. Von allen diesen Gruppen nie gänzlich unabhängig, aber abgegrenzt, wird die wissenschaftliche Wissensproduktion und Einmischung in den Diskurs um Reichtumsverteilung aufgezeigt. Zum Schluss werden dann Aktivitäten der Bundesregierung auf diesem Themenfeld fokussiert. Während des gesamten Kapitels werden die wechselseitigen Beeinflussungen und Reaktionen der verschiedenen Akteure untereinander verdeutlicht.
Im dritten Kapitel wird ausgehend von dem fehlenden Wissen der Bundesregierung über die Reichtumsverteilung in der Bevölkerung am Ende der 1950er Jahre untersucht, welche Initiativen von der Bundesregierung ausgingen, um diese Wissenslücke zu füllen. Dabei verfolgt die Arbeit den wechselseitigen Prozess von wissenschaftlicher Wissensproduktion und der Aneignung dieses Wissens durch die gesellschaftlichen Akteure insbesondere der Interessenvertretungen, aber auch der Parteien in den 1960er Jahren. Ein Augenmerk liegt auf den zu Rate gezogenen Experten einschließlich ihrer Profession. Ein Thema, welches in diesem Kapitel immer wieder aufgegriffen wird, sind die fehlenden Grundlagendaten zum Reichtum, die die wissenschaftliche Arbeit erschwerten. Außerdem soll gezeigt werden, dass auch die als »neutral« angerufene Wissenschaft immer mit einer bestimmten gesellschaftspolitischen Perspektive die Frage der Reichtumsverteilung untersucht. Dementsprechend wird aufgezeigt, wie die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Reichtum der arbeitgeber- bzw. gewerkschaftsnahen Wissenschaftler*innen das Sprechen über Reichtum prägen.
Im vierten Kapitel wird die veränderte Wahrnehmung von Reichtum und seiner Darstellung in den Medien von den späten 1950er bis ins erste Drittel der 1970er Jahre analysiert. Ziel dabei ist es, die unterschiedlichen Wissensordnungen der Medien herauszuarbeiten. In einem ersten Abschnitt wird dargestellt, wie durch populärwissenschaftliche Studien bestimmte Medienbilder von Reichtum entstanden und welche gesellschaftlichen Impulse davon ausgingen. In einem zweiten Abschnitt wird untersucht, wie der Zusammenhang von Reichtum, sozialer Herkunft und Bildung in den 1960er und 1970er Jahren in den Medien verhandelt wurde. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Bezugnahme und der Bewertung von NS-Vergangenheit der Reichen in den medialen Darstellungen. Daran anschließend wird den von den Medien produzierten Bildern vom Lebensstil des reichen Teils der Bevölkerung nachgegangen. Dabei soll gezeigt werden, wie diese Darstellungen zur Politisierung der Reichtumsverteilung beigetragen haben und welche gesellschaftlichen Fragen in ihnen verhandelt wurden. Im letzten Abschnitt wird erläutert, welche neuen Reichtumsbilder einschließlich bestimmter Verantwortungen sich durch die mediale Berichterstattung entwickelten und wie sich dies in der Darstellung bestimmter Reicher widerspiegelte.
Im fünften Kapitel wird die Phase zwischen 1968 und 1973/74 untersucht, in der das Thema Reichtum und Reichtumsverteilung seine stärkste Politisierung und Polarisierung in der Öffentlichkeit erfuhr. Zuerst folgt das Kapitel den Wahrnehmungen, Darstellungen und Debatten der Reichtumsverteilung und den dazugehörigen politischen Entwicklungen zu Beginn dieses Zeitabschnitts und fragt, wie sie auf die Politik zurückwirkten. Daran anschließend wird aufgezeigt, wie sich die Positionierungen der Parteien in Bezug auf die Reichtumsverteilung Ende der 1960er Jahre entwickelt haben. Danach werden die damit einhergehenden Debatten und Initiativen zur Datenlage zur Reichtumsverteilung untersucht. In den beiden darauffolgenden Abschnitten werden die Pläne zur Vermögensverteilung der Bundesregierung und der in ihr vertretenen Parteien dargestellt und die daran anschließenden Reaktionen in den Medien nachgezeichnet. Danach wird den intensivierten Debatten zur Umsetzung der Vermögenspolitik zwischen 1970 und 1972 gefolgt. Der daran anschließende Abschnitt erläutert die Infragestellungen des Wissens, auf das diese Initiativen aufbauten, und die Versuche, mittels Gegenstudien die gesellschaftliche Meinungsbildung zu beeinflussen. Im letzten Abschnitt werden die Debatten um die erneuten vermögenspolitischen Initiativen nach der Wiederwahl der sozialliberalen Koalition zur Zeit der beginnenden Wirtschaftskrise dargestellt.
Im sechsten Kapitel werden anfangs die Verschiebungen der gesellschaftlichen Diskurse um Reichtum und seine Verteilung in den Folgejahren der Wirtschaftskrise 1973 untersucht und es wird nach den Gründen gefragt, warum Reichtum als gesellschaftspolitisches Thema weniger Aufmerksamkeit erfuhr und dies für eine Akzeptanz von sozialer Ungleichheit spricht. Dabei folgt das Kapitel den schon zuvor untersuchten Akteuren. Zuerst werden die politischen Diskussionen um die Vermögenspolitik dargelegt, die sich zwischen den Parteien und Interessensvertretungen entfalteten. Damit einhergehend veränderte sich die Wissensproduktion und Wissensrezeption der unterschiedlichen Akteure zum Thema Reichtum seit Mitte der 1970er Jahre, was im folgenden Abschnitt aufgezeigt wird. Genauso wie in Politik und Wissenschaft wandelte sich das Bild von Reichtum und seine Darstellung in den Medien. Dem widmet sich der letzte Abschnitt.
Am Ende der 1950er Jahre befand sich die Bundesrepublik Deutschland in einem kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwung.79 In der öffentlichen Wahrnehmung zeigte sich dieser in steigenden Einkommen und im Rückgang von Notlagen und Armut.80 Die fast erreichte Vollbeschäftigung, die Verbesserung der Konsumgüterversorgung und die Teilnahme am Massenkonsum veranschaulichten den Anstieg des allgemeinen Wohlstandes. Der enorme wirtschaftliche Aufschwung beinhaltete zugleich eine enorme Gewinn- und Vermögenssteigerung bei den Unternehmen. Zwar konnten die Arbeitnehmer durch wachsende Einkommen an der Massenkonsumgesellschaft teilhaben, dennoch änderte sich die Vermögensverteilung zwischen der besitzenden Oberschicht und dem größten Teil der Bevölkerung in ihrer Relation kaum.81
In zeithistorischen Untersuchungen spielt jedoch dieses soziale Ungleichheitsverhältnis zwischen einer kleinen besitzenden Schicht und einer breiten Masse ohne relevantes Eigentum nur eine marginale Rolle. Im Vordergrund der Darstellungen stehen die Veränderungen der Lebensverhältnisse der Mittel- und Unterschichten, anhand derer Nivellierungstendenzen zwischen den Schichten82 sowie die Wirkmächtigkeit von gesellschaftlichen Selbstbeobachtungen diskutiert werden.83 Auf der Wahrnehmungsebene habe trotz der erkennbaren Konturen vertrauter Sozialformationen wie den Klassen des Wirtschaftsbürgertums, dem Bildungsbürgertum und der nach wie vor klar abgegrenzten industriellen Arbeiterschaft »die Illusion, bereits in einer ›nivellierten Mittelstandsgesellschaft‹ zu leben, wie sie der Soziologe Helmut Schelsky in den frühen 50er Jahren zu erkennen glaubte, eine auch politisch erstaunlich weitreichende Resonanz«84 gehabt. Der Begriff habe einerseits in einer veränderten Form das Erbe der nationalsozialistischen klassenlosen »Volksgemeinschaft« angetreten. Andererseits habe er als »ideologischer Schirm« in der Deutung von Ralf Dahrendorf »die endgültige Auflösung der herkömmlichen Klassenschranken« suggeriert.85 Die vermeintlich gleichen Ausgangsbedingungen durch die Verteilungswirkungen der Währungsreform von 1948 seien in den 1950er Jahren als illusionär enttarnt worden, doch hätten die Konsumchancen und der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft eine neue Illusion genährt: dass auch eine breite »Querverteilung« der Vermögen möglich sei und sich der wirtschaftliche und soziale Antagonismus der Klassengesellschaft auflöse.86 In historischer Perspektive wurden diese Auflösungsprozesse anhand der Arbeiterklasse oder unter dem Begriff der Verbürgerlichung von Unter- und kleinbürgerlichen Schichten untersucht.87
Die ungleiche Vermögensverteilung widersprach diesem wirkmächtigen Gesellschaftsbild, die in geschichtswissenschaftlichen Narrativen auch nur wenig Beachtung findet. Nach der Währungsreform und den vermeintlich gleichen Startchancen bildete sich relativ schnell das industrielle Anlagevermögen neu. Die Unternehmen finanzierten sich größtenteils durch Selbstfinanzierungen, die durch Steuergesetze begünstigt wurden. Die Unternehmens- und Vermögenskonzentration verstärkte sich dadurch.88 In diesem Abschnitt wird daher nach der zeitgenössischen Wahrnehmung der Vermögenskonzentration seit den 1950er Jahren gefragt. Dabei fällt auf, dass gesellschaftliche Akteure der christlichen Sozialehre, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik die Verteilung der Vermögen seit der Währungsreform und der Gründung der beiden deutschen Staaten kritisch beäugten und sich in diesem Zusammenhang vermögenspolitische Konzeptionen entwickelten.89 Innerhalb der vermögenspolitischen Diskussionen der 1950er Jahre stand zuerst die Vermögenslosigkeit der Arbeitnehmer als soziales Problem im Zentrum. Das Komplementärphänomen der Vermögenskonzentration bei den Unternehmern spielte zuerst noch eine marginale Rolle. Die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit war noch auf die unteren Schichten der Gesellschaft gerichtet.
Auf dem Bochumer Katholikentag 1949 erläuterten katholische Sozialreformer, dass die momentanen Eigentumsverhältnisse katastrophal seien, und forderten einen Lastenausgleich, um die sehr ungleichen materiellen Verhältnisse, die durch Kriegseinwirkungen und Heimatverlust entstanden seien, gerechter zu gestalten. Ferner sollten zukünftig die unternehmerischen Gewinne unter den Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Kapitalgebern gerecht verteilt werden.90 Die Eigentumsverhältnisse waren seit der Industrialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein traditionelles Thema der katholischen Soziallehre91, die schon frühzeitig entscheidende Impulse für die soziale Entwicklung des neugegründeten Staates setzen wollte. Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sollte durch staatliche Förderung der Vermögensbildung der Arbeiternehmer entschärft werden. Soziale Spannungen, die durch eine ungleiche Verteilung der Vermögen entstehen konnten, sollten in der neu gegründeten Demokratie vermieden werden. Die Erfahrungen extremer sozialer Ungleichheit während der Währungs- und Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik und dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie prägten ihre Erwartungen an die Regierungsverantwortlichen, die Verteilung in der Bundesrepublik gerechter zu gestalten.92 In der Denktradition der katholischen Soziallehre kritisierte auch der in den Sozialausschüssen organisierte Arbeitnehmerflügel der CDU die Vermögensverteilung im Wiederaufbau. Die Sozialausschüsse forderten auf ihrer Bundestagung 1953 Miteigentum der Arbeitnehmer am Neuvermögen der Wirtschaft.93 Sie richteten ihre Bemühungen auf die Verbesserung und auch Bildung der Arbeitnehmer bzw. der unteren und mittleren Schichten, um Klassengegensätze abzumildern. Im Vordergrund stand die Bewahrung der Gesellschaftsordnung, indem die Lage der Arbeitnehmer durch soziale Reformen verbessert werde. Neben den rhetorischen Formeln zur Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen auf Bundesebene entwickelte sich eine, wenn auch nicht im Zentrum des Politikgeschehens stehende Vermögenspolitik heraus, die sich auf eine »Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand« konzentrierte. Innerhalb der CDU/CSU wurde die Vermögenpolitik zum Austragungsort der Gefechte der Sozialausschüsse mit dem Wirtschaftsflügel und den marktliberal beeinflussten Teilen der Ministerialbürokratie.94 Im Hamburger Programm der CDU von 1953 wurde unter dem Titel Eigentum für alle Schichten des Volkes die Vermögenspolitik vom wirtschaftsnahen Flügel eher als Abwehr von kollektivistischen Tendenzen, so der damalige sprachliche Ausdruck für die Abgrenzung von sozialistischen Enteignungen wie in der DDR, gesehen. Arbeitnehmer sollten zu einem kleinen Eigentum kommen, das sie durch Sparen und Konsumverzicht erreichen könnten, um so die Klassengegensätze abzumildern und die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu sichern.95 Gesellschaftliches Konfliktpotential und eine Gefährdung des marktwirtschaftlich-demokratischen Systems wurde in den besitzlosen Arbeitern gesehen und es wurde gefragt, wie viel ungerechte Verteilung das System aushalte und dabei an die Grundfragen des Kapitalismus angeknüpft. Die Vermögenspolitik der CDU-Regierung fokussierte sich daher seit den 1950er bis in die 1960er Jahre auf die Verbesserung der Lage der Arbeitnehmer. Daraus entstanden Konzepte zur Sparförderung, um ein eigenes Vermögen zu bilden, um so die sozialen Spannungen zwischen den Schichten abzumildern und die Gesellschaftsordnung zu stabilisieren. Konzepte der Sozialausschüsse der CDU zum Miteigentum von Arbeitnehmern an den Unternehmen ihrer Arbeitgeber, die in ihren Grundüberlegungen an den Vermögenszuwächsen der Unternehmer ansetzten, fanden keine Mehrheit in der CDU und wurden von Wirtschaftsverbänden diskreditiert.96
Der Konflikt um die ungleiche Verteilung zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern war seit der Gründung der Arbeiterbewegung eines ihrer zentralen Themen. In der Nachkriegszeit forderte die SPD in ihrem Dortmunder Aktionsprogramm 1952 in Anbetracht der ungerechten Verteilung der Produktionsmittel, dass das kleine und mittlere Privateigentum an Produktionsmitteln gefördert werde. Trotz der stetigen Steigerung der Einkommen würden die Arbeitnehmer nicht an dem wachsenden volkswirtschaftlichen Gesamtvermögen beteiligt werden und die Löhne seien zu niedrig, um durch Sparen zu einem eigenen Vermögen zu kommen.97 Der Deutsche Gewerkschaftsbund interpretierte die wachsende ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung in den 1950er Jahren noch in sozialistischer Tradition. Otto Brenner, Vorsitzender der IG Metall und einer der führenden Köpfe der Gewerkschaftsbewegung, vertrat 1955 die Ansicht, dass eine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung nicht auf dem Boden des kapitalistischen Systems zu erlangen sei.98 Trotz dieser Skepsis gehörte Brenner zu den Autoren des gewerkschaftlichen Aktionsprogramms, mit dem 1955 mittels Lohnpolitik und Forderungen nach Mitbestimmung eine Umverteilung der Vermögen erreicht werden sollte. Mit dem Konzept der aktiven bzw. expansiven Lohnpolitik, mit der Lebensstandard und Nachfrage erhöht, Konjunktur und Vollbeschäftigung gesichert und zugleich eine gerechtere Verteilung des Sozialprodukts erreicht werden sollte, war zugleich eine Ablehnung der Regierungspläne zur Vermögensbildung in breiteren Schichten verbunden.99
Mit dem anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung und dem zunehmenden Gesamtvermögen wuchs die Problemwahrnehmung der ungleichen Vermögensverteilung. Die Perspektive auf die soziale Ungleichheit veränderte sich dahingehend, dass erstmals die Vermögenskonzentration bei den Unternehmern in die Untersuchungen der Besitzlosigkeit der Arbeiter und Angestellten einbezogen wurde. Auf dem Fuldaer Katholikentag 1954 wie auch dem folgenden 1956 in Köln und weiteren Arbeitstagungen des Zentralkomitees der Katholiken wurde die Eigentumsproblematik intensiv diskutiert. In Fulda kontrastierte der Vortrag des CDU-Abgeordneten Anton Sabel mit der vorherrschenden Meinung zum Status quo der Vermögensverteilung und Vermögensbildung. Er beschrieb die zurückliegende Entwicklung der Vermögensverteilung als »völlig unbefriedigend« und »unhaltbar«. Wenige Kapitalbesitzer hätten in der Nachkriegssituation ihr Eigentum nicht durch Leistung, sondern durch Zufall vergrößert und dies sei durch Steuerprivilegien, vorenthaltene Löhne und überhöhte Preise subventioniert worden.100
Diesen Perspektivwechsel auf das Eigentum der Unternehmer und dessen Entstehung rekurrierte auf eine Strömung in der katholischen Soziallehre, die bis dahin eine Minderheit darstellte, jedoch seit Mitte der 1950er Jahre mehr und mehr Zuspruch fand. Paul Jostock – seit 1953 Präsident des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg und finanz- und wirtschaftspolitischer Experte – teilte die kritische Einschätzung der Vermögenskonzentration. Schon 1946 beobachtete er kritisch die einbehaltenen Gewinne der Unternehmen, noch ehe diese in den Juni-Gesetzen des Frankfurter Wirtschaftsrates zwei Jahre später massiv steuerlich begünstigt wurden. Unter verteilungspolitischer Perspektive war die Selbstfinanzierung der Unternehmer widerrechtliche Besitznahme eines dem Arbeitnehmer zustehenden Lohnanteils.101 Zehn Jahre später veröffentlichte er als einer der Ersten eine Untersuchung der Verteilung des Sozialprodukts unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Verteilung. Er merkte an, dass die Vermögensverteilung in wissenschaftlichen Studien und in der Wirtschaftspolitik nur eine geringfügige Rolle spiele, obwohl die Vermögenszusammenballung in der Bundesrepublik 1955 ein »Skandal« sei.102 In seiner kurzen Abhandlung zeichnet er ein Bild der Vermögensverteilung in der Nachkriegszeit, das nach wie vor eine tiefe Spaltung zwischen den Klassen der besitzenden Unternehmer und besitzlosen Arbeiter aufwies. Er bezog sich auf die Ansichten der katholischen Soziallehre, die schon 1931 in der päpstlichen Verlautbarung Quadragesimo anno103 formuliert wurden, und forderte, dass der
»ungeheure Gegensatz zwischen wenigen Überreichen und der Masse der Eigentumslosen allmählich verschwinde. Bekanntlich hat nun Westdeutschland seit 1948 sehr große Erträge erwirtschaftet und allein in Industrie und Gewerbe wohl gegen 60 Milliarden DM neu investiert, d. h. über den Ersatz des Kapitalverzehrs hinaus. Davon stammten gegen 40 Milliarden DM aus unverteilten Gewinnen der Unternehmungen, die übrigen 20 Milliarden aus verteilten Gewinnen, sonstigen Einkommen und Kreditgewährung. Es ist also nach alter Übung wohl so gut wie alles wieder ins Eigentum der Unternehmer und Kapitalbesitzer übergegangen. Wohl haben die Arbeiter einen schönen Lohn dabei verdient, aber ein gerechter Anteil am Ertrag, vor allem an den unverteilten Gewinnen, wurde ihnen vorenthalten.«104
Jostock vermaß die Ungleichheit statistisch an der Verteilung des Sozialprodukts. Er interpretierte die Ergebnisse mittels seiner durch die katholische Soziallehre geprägten Überzeugungen und den politischen Erfahrungen aus der Weimarer Republik, in der die Vermögenskonzentration verheerende Auswirkungen hatte. Aus dieser Perspektive warnte er vor erneuten Klassenkonflikten und leitete die Notwendigkeit gerechterer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ab. Den Missstand der Vermögenskonzentration bei den Unternehmern sah er durch die bisherige Politik verursacht. Deswegen sei die Bundesregierung nun zu Reformen gezwungen, deren Initiierung sie bisher verpasst hätte. Dennoch sah er in der Nachkriegszeit und dem anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung eine gesellschaftliche Chance, die ungerechte Vermögenszusammenballung zu verändern.
Seine statistische Untersuchung war zwar gemäß wissenschaftlichen Standards durchgeführt, jedoch war sie ethisch moralisch aufgeladen und vertrat eine dezidierte Wertung der Vermögenskonzentration. Sein Appell richtete sich weniger an Unternehmer, sondern an die Politik, gegen die soziale Ungleichheit vorzugehen. In den folgenden Jahren beeinflusste er mit seinen Untersuchungen die katholische Soziallehre und Teile der CDU, insbesondere die Sozialausschüsse, stark und gab einen Anstoß, die eigene Politik zu hinterfragen und vermögenspolitisch zu handeln.105 Darüber hinaus verwiesen Wirtschaftswissenschaftler in den folgenden Studien zur Vermögensverteilung auf die Analyse von Jostock.106
Seit 1956 verstärkte sich die Kritik an der Vermögenspolitik der Bundesregierung von Seiten der Gewerkschaften. Bereits auf dem vierten Bundeskongress des DGB beschäftigten sich die Delegierten mit der enormen Ungleichverteilung von Privatvermögen und lösten eine inhaltliche Auseinandersetzung um Verteilungsgerechtigkeit aus. Der Bundesvorstand sollte nun einen Vorschlag ausarbeiten, wie die Arbeitnehmer an der westdeutschen Wirtschaft und ihrem Wertzuwachs beteiligt werden können. Ludwig Rosenberg, der zukünftige Vorsitzende des Dachverbands, und Bruno Gleitze, Wirtschaftswissenschaftler und von 1954 bis 1968 Direktor des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften, entwickelten daraufhin ein Konzept.107 Gleitze war neben Jostock einer der ersten Wirtschaftswissenschaftler, der auf Basis empirischer Daten die Bilanz zog, dass die Vermögenskonzentration seit der Währungsreform das Resultat einer ungeeigneten und einseitigen Vermögenspolitik zugunsten der Unternehmer war. Im Gegensatz zu Jostock war seine Untersuchung zur Vermögenskonzentration der empirische Beleg und Ausgangspunkt für ein eigenes vermögenspolitisches Konzept, das zu einer gesteigerten Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand führen sollte. Ziel seiner Überlegungen war es, die vermögenslosen Arbeitnehmer an den Gewinnen der Kapitalgesellschaften zu beteiligen. Dies sollte nicht in den einzelnen Betrieben geregelt werden, sondern über einen überbetrieblichen Fonds, an den die Unternehmen Teile ihrer Gewinne abführten und der diese Anteile an die Arbeitnehmer ausgab. Seine Überlegungen bezogen sich auf die Gewinne der Großunternehmen, da sich seinen Untersuchungen zufolge hier vor allem das neu geschaffene Vermögen konzentrierte.108
In seiner Untersuchung veranschaulichte Gleitze die Vermögensentwicklungen während des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1950er Jahren. Er erläuterte, wie es seit der Währungsreform zu der Anhäufung von »neuem Sachbesitz« kam, die einherging mit Kapitalkonzentration in der Wirtschaft. Nach seinen Erkenntnissen hatte sich Reichtum vor allem durch die politische Unterstützung der Bundesregierung konzentriert, was es nun zu ändern gelte.109
»Die gewerblichen Anlagen sind ganz überwiegend auf dem Wege der sogenannten Selbstfinanzierung, und zwar unter Ausnutzung aller steuerlichen Begünstigungen, bezahlt worden. […] Die in der Selbstfinanzierung erzielte gewaltige Kapitalanreicherung der Betriebe verschwand in Rücklagen und Rückstellungen aller Art oder ermöglichte starke Anlageunterbewertungen und schaffte damit wirksame Kapitalpolster in der Form stiller Reserven. […] Die riesige Kapitalvernichtung des letzten Krieges haben also die von der Währungsreform großzügig geschonten Sachbesitzer gestärkt in ihrem Besitz und machtvoller als je zuvor überstanden. Es hat nie zuvor in Deutschland so viele Millionäre gegeben wie heute. Es haben sich aber auch nie zuvor so viele Milliarden an Sachwerten in Händen einiger Familien konzentriert wie in der Gegenwart. Das soll hier nur als Tatsache festgestellt werden, weil diese Tatsache den Hintergrund abgibt für all diejenigen Überlegungen, die die wirtschaftliche Macht des Besitzes wieder auf eine größere Zahl von Menschen verteilen möchten.«110
Er zog die ernüchternde Bilanz, dass diese Veränderungen des Sozialgefüges oft gar nicht wahrgenommen würden.111 Gleitze vermaß als einer der ersten eine soziale Gruppe der Reichen, die sich für ihn dadurch auszeichneten, »Millionäre« zu sein. Des Weiteren würde sich der größte Reichtum in Unternehmerfamilien konzentrieren, die Großunternehmen kontrollierten. Dennoch fasste er die soziale Gruppe in der unkonkreten Formulierung »in Händen weniger Familien« zusammen und distanzierte sich so von einer orthodox-marxistischen Deutung der Reichtumskonzentration als Nachweis eines sich verschärfenden Klassenkonflikts zwischen der Bourgeoisie und der besitzlosen Arbeiterklasse. Das Gesellschaftsbild einer binären Ungleichverteilung wurde von ihm nicht im marxistischen Sinne als Klassenantagonismus interpretiert, sondern es wurden andersartige Lösungsstrategien für das neue demokratische markwirtschaftliche System der Bundesrepublik gesucht. Sein Lösungsweg war eine gewerkschaftliche Vermögenspolitik für die Arbeitnehmer anstelle der Sozialisierung von Unternehmen.
Die neu etablierte gewerkschaftliche Vermögenspolitik ist ein Anhaltspunkt dafür, dass sich die politische Ausrichtung zumindest in Teilen des DGB dahingehend verschob, innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems zu agieren. Der vermögenspolitische Vorschlag von Gleitze liefert auch ein Zeugnis dafür, dass das Sprechen über Reichtum, die Vorstellung vom Umgang mit Reichtumsverteilung immer eine Diskussion über die gesellschaftliche Ordnung beinhaltete. Gleitze forderte einerseits eine gerechtere Verteilung des volkswirtschaftlichen Gesamtvermögens. Jedoch sollte dies nicht durch eine Umverteilung der bisherigen Vermögen, sondern durch eine Verteilung des sich neubildenden Vermögens erreicht werden, das durch den anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung stetig wachsen würden.112 Gleitze schaffte so den Spagat zwischen einer gerechteren Verteilung und dem Verzicht auf eine Enteignung von Unternehmen. Darin lag er auf Linie Ludwig Rosenbergs, der zwar eine scharfe Kapitalismuskritik übte, aber in der praktischen Umsetzung zu nicht mehr als traditionellen sozialistischen Schlüssen kam. Es sollte durch rechtsstaatliche Mittel und gewerkschaftliches Handeln der Missbrauch von wirtschaftlicher Macht, die durch Reichtumskonzentration gefördert werde, verhindert werden. Diese Neuorientierung, der Verzicht auf eine radikale Veränderung der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik als Grundlage des politischen Handelns, konkretisierte sich auf dem DGB-Kongress im September 1959. Der Bundesvorstand Ludwig Rosenberg akzeptierte in seinen wirtschaftspolitischen Ausführungen das Privateigentum als solches. Er unterstrich, es gehe zukünftig darum, dass alle gesellschaftlichen Schichten aus dem gemeinsam erarbeiteten Sozialprodukt eigenes Eigentum und Vermögen erwerben können.113 Das vermögenspolitische Denken in den Zeiten stetigen wirtschaftlichen Aufschwungs und wachsenden volkswirtschaftlichen Gesamtvermögens basierte auf keynesianischen Überlegungen, durch ordnungspolitische Steuerungsinstrumente die ungerechte Vermögensverteilung gerechter zu gestalten und so eine Reichtumskonzentration zukünftig einzuschränken. Der gemäßigt reformorientierte Flügel des DGB, zu dem auch der Vorsitzende der IG Bau-Steine-Erden Georg Leber gehörte, entfernte sich vom Münchner Programm der Anfangsjahre, in denen das Ziel der Systemüberwindung noch niedergeschrieben war. Leber gab schon 1957 die Sozialisierung als Ziel auf. Dennoch hatte die Position der Reformer bis zur Änderung des Grundsatzprogramms 1963 lange keine Mehrheit, vielmehr beherrschte die Gruppe um Otto Brenner die Mehrheitsmeinung innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes.114 Sie lehnten weiterhin eine Vermögenspolitik ab und setzten auf aktive Lohnpolitik und Mitbestimmung.115
Die Ergebnisse seiner ersten Studie zur Vermögensverteilung und einen Plan zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand veröffentliche Bruno Gleitze in einem Vortrag vor der Landesbezirkskonferenz des DGB Hessen am 26. Januar 1957 in Heppenheim. Sein vermögenspolitisches Referat zur Schaffung eines »Sozialkapitalfonds« galt laut Aussagen der Zeitschrift Sozialer Fortschritt als erste »Vermögensbildungsstrategie« des DGB, die öffentlich vorgetragen wurde.116 Auch wenn der Bundesvorstand dies zurückwies117, erregte der Plan der überbetrieblichen Gewinnbeteiligung von Gleitze als Positionierung der Gewerkschaften in der Vermögenspolitik enorme Aufmerksamkeit und verstärkte dadurch die öffentliche Wahrnehmung der Vermögenskonzentration bei den Unternehmern. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte zwei Wissenschaftler des arbeitgebernahen Deutschen Industrie-Instituts, dass die Vorschläge von Bruno Gleitze eine Sozialisierung der Eigentumstitel und zusammen mit den Forderungen nach Mitbestimmung eine Sozialisierung der Verfügungsmacht bedeuteten und aufs Äußerste abzulehnen seien.118
Die vermögenspolitische Initiative des Deutschen Gewerkschaftsbunds Ende der 1950er Jahre kann als ein zentraler Grund für den Beginn einer öffentlichen Wahrnehmung und politischen Diskussion von Reichtum und seiner Verteilung gesehen werden. Im Zusammenspiel mit der moralischen Aufladung des Diskurses von Vertretern der christlichen Soziallehre regte vor allem die Positionierung der traditionellen Interessenvertretung der Arbeiterbewegung die Auseinandersetzung mit der Vermögensverteilung an. Ihre Verurteilung der Vermögenskonzentration, ihre Forderung der Beteiligung von Arbeitnehmern an den Vermögenszuwächsen und ihre Verurteilung der bisherigen Vermögenspolitik hatten weitreichende Folgen für die Diskussion um Reichtum, Vermögen und Eigentum.
Ende der 1950er Jahre beteiligten sich, neben den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden als klassischen Interessenvertretungen von Kapital und Arbeit, vermehrt wirtschaftswissenschaftliche Experten und die christlichen Kirchen an der vermögenspolitischen Diskussion. Die Sozialdemokratie veröffentlichte 1960 erstmals ein eigenes vermögenspolitisches Konzept. Die gesellschaftlichen und politischen Akteure eröffneten Diskussionsräume in Form von Tagungen, Konferenzen und Expertenrunden. Diese Entwicklung indizierte die Zunahme des gesellschaftspolitischen Interesses und der Wichtigkeit des Themas. Einerseits nahm die Zahl der Experten in dem Prozess zu. Auf den Tagungen trafen sich meist immer wieder die gleichen Wissenschaftler, Politiker und Funktionäre, die untereinander ihr Wissen über Reichtum austauschten oder sich auch gegenseitig bestätigten. Andererseits öffneten sie in dieser Zeit den relativ geschlossenen Raum der Expertenrunden und wollten die westdeutsche Öffentlichkeit über die Vermögensverteilung informieren und für das Thema sensibilisieren. In diesem größeren Diskussionszusammenhang der Vermögenspolitik wurde die Vermögenskonzentration verstärkt diskutiert.
Im folgenden Abschnitt werden die Untersuchungen, Publikationen und Tagungen sowie Institute und Stiftungen der einzelnen Interessenvertretungen, der Kirchen und der Wirtschaftswissenschaft als Zugänge und Kristallisationspunkte dieser Entwicklung untersucht. Verstärkt durch die empirischen Erkenntnisse um die Vermögenskonzentration bei einer kleinen besitzenden Gruppe beinhalteten die vermögenspolitischen Diskussionen fortan die Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung und der daraus resultierenden Definition von Reichtum in der Bundesrepublik. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf Reichtum als privates Eigentum, sozial verpflichtet oder als gemeinschaftlich erwirtschaftet, standen im Konflikt zueinander. Dies politisierte die Diskussion und erhöhte den Druck auf die Politik.
Die Untersuchungen des DGB und des Sozialkatholizismus vermaßen die Vermögen der Unternehmen, der Großwirtschaft und der privaten Haushalte der Selbstständigen und kritisierten die aufgezeigte Reichtumskonzentration als ungerecht. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände als Interessenvertretung der westdeutschen Wirtschaft reagierte Ende der 1950er Jahre auf die Initiativen ihrer Gegenspieler, vor allem auf die Pläne zur »Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand« der Gewerkschaften, die im Wesentlichen darauf basierten, die Unternehmensgewinne für eine gerechtere Verteilung von Vermögen zu nutzen. Auf einer Tagung der evangelischen Akademie Bad Boll im November 1957 korreferierte der Generaldirektor Dr. Walter Raymond, Ehrenpräsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, einen Vortrag von Bruno Gleitze zur Vermögensverteilung. Der Gedankenaustausch über die Eigentumspolitik zeigte, dass die Sozialpartner in ihren Vorstellungen einer gerechten Verteilung noch weit entfernt voneinander lagen.119 Ein Streitpunkt waren die Erkenntnisse über die Konzentration des Reichtums. Während die gewerkschaftliche Seite von einer Kapitalakkumulation seit der Währungsreform auf Seiten der Unternehmer ausging, widersprach die Arbeitgeberseite dieser Deutung vehement. Raymond erläuterte, dass nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung die Vermögensbildung nicht nur im Bereich der Wirtschaft, sondern auch auf staatlicher Seite wie bei privaten Haushalten in den 1950er Jahren massiv gestiegen sei. Betrachte man dies im Verhältnis zueinander, relativiere sich der Zuwachs der Wirtschaft und zudem habe sich in den vergangenen Jahren schon »Eigentum für alle« gebildet. Darüber hinaus seien die Betriebsvermögen zum Beispiel durch Altersversorgungszusagen für die Arbeitnehmer erheblich belastet, was aber nicht in den allgemeinen Berechnungen zur Vermögensverteilung berücksichtigt werde.120