23,99 €
Fast alle Landschaften auf der Erde sind Kulturlandschaften, in die der Mensch großräumig eingegriffen hat. Was wir für ursprüngliche Natur und schützenswert halten, ist allzu oft degenerierter Wald, abgebrannte Heide oder kahl gefressenes Hügelland. Verwildert plädiert dafür, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen, und fordert in einem radikalen Ansatz, die Natur, die der Mensch jahrhundertelang gierig ausgebeutet hat, in ihr altes Recht zu setzen, ihr maximale Freiräume zu geben. George Monbiot fordert, eine Wildnis zu ermöglichen, die vielleicht nicht schön ist im Sinne der Naturidylle, in der aber womöglich eines Tages und mitten in Europa wieder Büffel und Elefanten zu Hause sein könnten. Wo Kahlschlag herrscht, könnte wieder Wald entstehen, und wo das Meer zu Tode gefischt wurde, ein artenreicher und üppiger mariner Lebensraum. Verwildert ist ein leidenschaftliches Plädoyer und eine unterhaltsame Reportage, die nicht nur Agrarlobbyisten und Umweltschützer, Wildnisträumer und Waldbesitzer befragt, sondern in der die Begegnung mit den Schwundformen und dem Reichtum der Natur zu einem ebenso intensiv erlebten wie eindringlich geschilderten Abenteuer wird: Monbiot fährt Kajak neben Delfinen an der walisischen Küste, wandert durch Osteuropa, wo Luchse und Wölfe ihre alten Jagdgründe wieder für sich beanspruchen. Er erzählt von Erfolgen und Misserfolgen und beginnt so, eine Welt zu imaginieren, in der der Mensch wieder Teil der Natur sein kann. »Teils persönlicher Reisebericht, teils Einführung in die Wiederherstellung der Umwelt, bricht Verwildert eine Lanze für das Konzept der Rückverwilderung und wird sehr wahrscheinlich Förster, Landbesitzer, Politiker und die Öffentlichkeit dazu bringen, ihre Wahrnehmung der Natur und ihre Rolle in unserem Leben infrage zu stellen.« - Science
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 611
George Monbiot
Aus dem Englischen von Dirk Höfer
Feral, engl. verwildert: in einem wilden Zustand, besonders nach der Flucht aus Gefangenschaft oder Domestizierung
Für Rebecca, Hanna und Martha In Liebe
Und im Gedenken an Morgan Parry, einen rechtschaffenen Mann
1)Ein Sommer voller Geräusche
2)Wilde Jagd
3)Vorahnungen
4)Durchbrennen
5)Der Leopard, der nie gesichtet wurde
6)Die Wüste begrünen
7)Holt den Wolf zurück
8)Ein Werk der Hoffnung
9)Schafskatastrophe
10)The Hushings / Freispülungen
11)Das Tier in uns oder wie Rückverwilderung nicht stattfinden sollte
12)Im Naturschutzgefängnis
13)Die Rückverwilderung der Ozeane
14)Gaben des Meeres
15)Letztes Licht
Danksagungen
Register
Anmerkungen
Ich steh jetzt auf und gehe, denn ich hör Tag und Nacht
Den See ans Ufer plätschern, die Wellen kräuseln sacht:
Gleich, ob ich auf dem Feldweg, auf grauem Pflaster steh,
Ganz tief im Herzen hör ich den See.
William Butler Yeats, Die Seeinsel von Innisfree1
Jedes Mal, wenn ich ein Stück Grassoden anhob, sah ich das Gleiche: Ein weißes Komma, das sich zwischen den Graswurzeln wand. Ich klaubte eines auf. Es besaß einen kleinen ingwerfarbenen Kopf und winzige Beinchen. Seine Haut war so straff gespannt, dass sie an den Segmenten beinahe platzen wollte. Am Schwanzende war der indigofarbenen Strich seines Verdauungstrakts zu sehen. Ich ging davon aus, dass es sich um den Engerling eines Maikäfers handelte, jenes Käfers mit dem bronzefarbenen Rücken, der im Frühsommer ausschwärmt. Einen Moment lang sah ich noch zu, wie er zuckte, dann steckte ich ihn mir in den Mund. Als er auf meiner Zunge zerplatzte, erlebte ich zwei Empfindungen, die mich wie Blitze durchzuckten. Die erste war der Geschmack. Er war süß, cremig, leicht rauchig, wie Alpenbutter. Die zweite betraf die Erinnerung. Ich wusste sofort, warum ich die Eingebung hatte, das Ding ließe sich essen. Ich stand in meinem Garten, Graupel bohrten sich in meinen Nacken, und erinnerte mich.
Als ich aufwachte, brauchte ich einen Moment, bis mir klar war, wo ich mich befand. Über meinem Kopf wogte und knallte eine blaue Plane im Wind. Die Pumpen liefen schon, ich musste also verschlafen haben. Ich schwang meine Beine über den Rand der Hängematte und saß blinzelnd in dem hellen Licht, starrte über das zerstörte Land. Die Männer standen schon bis zur Hüfte im Wasser und spritzten mit Hochdruckschläuchen die Kiesbänke frei. In der Nacht waren ein paar Schüsse gefallen, aber Leichen waren keine zu sehen.
Die Bilder der vergangenen Wochen gingen mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an Zé, den Massenmörder, dem die Landebahn in Macarão gehörte, wie er mit seinen schießwütigen Männern in die Bar kam und den Laden aufmischte. Ich erinnerte mich auch an den Mann, der später herausgetragen wurde, in der Brust ein Loch von der Größe eines Apfels. Ich dachte an João, einen mestizo aus dem Nordosten Brasiliens, der zehn Jahre lang den Amazonas zu Fuß durchstreift hatte, bis hinauf zu den Minen in Peru und Bolivien, um sich dann weitere 3500 Kilometer durch die Wälder zu schlagen und hier zu landen. »Ich habe in meinem Leben nur drei Männer getötet«, erzählte er, »und dass sie starben, war absolut notwendig. Aber wenn ich hier einen Monat bleibe, würde ich nochmal so viele umbringen.«
Ich erinnerte mich an den Mann, der mir die seltsame Schwellung an seiner Wade zeigte. Als ich sie mir genauer betrachtete, wimmelte das Fleisch von langen gelben Maden. Auch an den Professor mit dem gepflegten schwarzen Bart, der Goldrandbrille und der strengen asketischen Art erinnerte ich mich, an den zynischen Kopf, der für einen weniger belesenen Besitzer die Aufsicht über das größte Claim versah. Er sei, so sagte er, bevor es ihn hierher verschlagen habe, Direktor der Universität von Rondônia gewesen.
Aber allen voran musste ich an den Mann denken, der von den Schürfern Papillon genannt wurde. Blond und muskulös, wie er war, mit einem Schnurrbart à la Asterix, überragte er die kleinen dunklen Typen, die von Armut und Landraub getrieben hierhergekommen waren. Von den Chefs, den Händlern, den Luden und den Besitzern der Landebahnen abgesehen war er der Einzige, der sich freiwillig in diese Hölle begeben hatte. Bevor er, ein Franzose, sich dem Goldrausch anschloss, war er im Süden Brasiliens als Techniker für Landwirtschaftsmaschinen tätig gewesen. Er hatte noch kein Gold gefunden und saß nun hunderte Kilometer von der nächsten Stadt entfernt in den Wäldern Roraimas in der Falle, so mittellos wie alle anderen. Hier war ein Mann, der alles riskiert, der Behaglichkeit und Sicherheit aufgegeben hatte für ein Leben in gnadenloser Unsicherheit. Seine Chancen, aus dieser Situation lebend, zahlungskräftig und gesund herauszukommen, standen gering. Aber ich war nicht der Überzeugung, er habe die falsche Wahl getroffen.
Ich putzte mir die Zähne, nahm mein Notizbuch, ging hinaus, über den Schlamm und den Kies. Die Temperatur stieg und im umgebenden Wald erstarb der Lärm der Rufe, Pfeiftöne und Triller. Es war nun drei Wochen her, dass Barbara, die Kanadierin, mit der ich arbeitete, einen Weg durch den Polizeikordon am Boa-Vista-Flughafen gefunden und uns unregistriert auf einen Flug zu den Minen gebracht hatte. Gefühlt waren es Monate. Wir hatten den Schürfern zugesehen, wie sie die Adern aus dem Wald rissen: die Flusstäler, deren Sedimente von Gold durchsetzt waren. Wir waren auf Belege für den einseitigen Krieg gestoßen, den manche gegen die in der Gegend ansässigen Yanomami führten, und für den physischen und kulturellen Kollaps der Gemeinschaften, über die sie hergefallen waren. Wir hatten das Gewehrfeuer gehört, das jede Nacht aus den Wäldern kam, wo Banditen den Schürfern auflauerten, Diebe exekutiert wurden oder Männer, denen das Glück hold gewesen war, um das Gold kämpften, das sie gefunden hatten. In den sechs Monaten, seitdem der eigentliche Goldrausch hier einsetzte, waren von den 40 000 Schürfern 1700 durch Gewehrkugeln getötet worden. Von den Yanomami waren fünfzehn Prozent an Krankheiten gestorben.
Wegen des internationalen Skandals, den die Invasion auslöste, ließ die brasilianische Regierung die Minen nun räumen und die Schürfer zu Enklaven in anderen Gebieten des Yanomami-Lands abtransportieren. Von dort, das wussten die Schürfer, konnten sie wieder in ihre alten Claims einfallen, sobald das Interesse der restlichen Welt erlahmen würde. Die Bundespolizei hatte die Versorgungslinien unterbrochen, auf den Landepisten waren seit einigen Tagen keine Flugzeuge mehr gelandet. Die Schürfer brauchten ihren letzten Diesel auf und bereiteten sich auf ihren Abzug vor. Am Tag zuvor hätte eigentlich die Polizei eintreffen sollen, um noch vor der Räumung die Waffen zu beschlagnahmen, und die Männer waren den ganzen Morgen über in den Wald gegangen, um ihre Schusswaffen, in Plastik eingewickelt, zu vergraben. Ich war auf Beobachtungsstation geblieben, doch die Polizei war nicht aufgetaucht. Barbara – mein Gott, wo zur Hölle war Barbara?
Sie war gestern aufgebrochen, um in den Bergen ein Yanomami-Dorf ausfindig zu machen, und wollte eigentlich am heutigen Abend zurück sein. Aber niemand hatte sie gesehen. Ich hielt Ausschau in den von den Schürfern errichteten Hütten und Bars, unter den Trauben von Männern am Boden der Gruben – ohne Erfolg. Ich stieß auf meinen Freund Paolo, einen Mechaniker, der die Ureinwohner in Auseinandersetzungen mit anderen Schürfern verteidigt hatte. Zusammen schlugen wir uns das Tal hinauf, um sie zu suchen. Der Fluss war orange und tot, erstickt von dem Lehm des Waldes, der von den Minen aufgewirbelt wurde. Links und rechts war das Tal eine Wüstenei aus Gruben, Abraumhalden und umgestürzten Bäumen. Arbeiter auf einem Junior Blefé genannten Feldstück erzählten, Barbara sei zwar tags zuvor vorbeigekommen, aber nicht wieder zurückgekehrt. Ein Mann mit einem Trinkergesicht und einem blauen Auge wusste den Weg zum Dorf und erklärte sich bereit, uns zu führen. Wir gingen los, rannten, liefen in die Berge.
Bald nachdem wir in die Dunkelheit des Waldes vorgestoßen waren, stießen wir auf die Abdrücke von Barbaras Turnschuhen, sie waren einen Tag alt und überlagert von den nackten Fußspuren der Yanomami. Ich hatte meinen Blick auf den Boden gerichtet, aber Paolo hielt immer wieder mit lautem Rufen inne: »Sieh nur dieses Wasser, sieh nur die Bäume, wie schön, sind sie nicht schön?« Ich stoppte und starrte für einen Moment, sah Bäume, die von Moos und Epiphyten über das klare Wasser gebeugt wurden, in Lichtflecken schwebten Wasserjungfern.
Barbaras Fußabdrücken folgend liefen wir weiter, rutschten über den lehmigen Pfad. Gegen Mittag ging es steil aufwärts; wir kletterten und ich hatte das Gefühl, durch ein Tuch einzuatmen. Bald sah ich es vor uns hell werden: Wir erreichten den Kamm. Von dort sahen wir auf der gegenüberliegenden Talseite Frauen, die sich, nur mit einem Lendentuch bekleidet, durch einen Bananenhain bewegten und Körbe mit Früchten trugen. Hügel auf Hügel, bewaldet und unberührt, versanken in der Stille. Ein paar Minuten noch blieben wir versteckt zwischen den Bäumen, dann gingen wir hinunter durch den Talgrund und wieder in die Gärten hinauf, riefen auf Portugiesisch, dass wir Freunde seien. Die Frauen hielten an und beobachteten, wie wir näher kamen. Ich streckte meine Hände aus; sie schüttelten sie mit scheuem Lächeln. »Weiße Frau«, sagte ich. »Habt ihr die weiße Frau gesehen?« Mit den Händen ahmte ich Barbaras Größe und ihr langes Haar nach.
Sie lachten und wiesen den Hang hinauf, in den Wald hinter ihrem Rücken. Wir rannten wieder los, über die Anhöhe und in das nächste Tal hinunter. Wir strauchelten, schon erschöpft, durch das Tal, stolperten über Wurzeln und stießen gegen Bäume. Als wir um eine Windung des Pfads bogen, hielten wir an.
In einer an einem Bach gelegenen Lichtung saß oder kniete eine Gruppe Menschen, die honigfarbene Haut gekühlt von dem buntfleckigen Licht des Waldes. Die Frauen trugen Federn an den Ohren, waren bemalt mit Flecken und Streifen von Wildkatzen, und sie trugen die Schnurrhaare des Jaguars: ihre Nasen und Wangen waren von getrockneten Grashalmen durchbohrt. In der Mitte des Kreises saß Barbara, strahlend wie eine Blume im dunklen Grün des Waldes.
Sie drehte sie um und lächelte: »Schön, dass ihr es geschafft habt.«
Mit den jungen Yanomami gingen wir einen Pfad entlang, der zu ihren malocas führte: runde Gemeinschaftshäuser, die fast bis auf den Boden hinunter mit Palmblättern gedeckt waren. Ich zog Hemd und Schuhe aus – alle anderen waren so gut wie nackt – und setzte mich. Die Kinder scharten sich um mich, grinsten, kicherten, verbargen ihre Gesichter, wenn sie angeschaut wurden. Sie zogen an meinen Achselhaaren: die Yanomami besitzen keine. Man gab mir einen Pfriem grüner Blätter und als ich ihn unter meine Lippen schob und daran saugte, vergaß ich meinen Hunger.
Ein junger Mann bahnte sich einen Weg durch die Menge und gestikulierte, ich solle doch dabei helfen, die Gemeinschafts-maloca zu vergrößern: Ich sollte auf das Dach klettern und dort eine Plane anbringen, die die Gruppe von den Schürfern erhalten hatte. Ich stand ein paar Stunden auf dem Dach und flickte Löcher – unter Anleitung des jungen Manns. Als ich wieder unten war, fragte ich Barbara, warum er sich so herrisch aufführt.
»Er ist der Häuptling«, antwortete sie.
»Aber er ist doch gerade mal achtzehn.«
Sie warf einen Blick in die Runde. »Die älteren Männer liegen alle im Sterben oder sind tot.«
Die Hängematten im Wohnbereich der maloca waren von Kranken belegt. Als ich mich neben einen fiebernden Jungen setzte, brachen zwei alte Frauen durch den Schirm aus Bananenblättern, schwangen zuckend die Hüften, kreischten, fegten ihre Stöcke über den Boden, die Augen fest zugekniffen. Bevor ich aus dem Weg gehen konnte, wurde ich an den Knöcheln getroffen. Die Frauen stampften um die Hängematte, schrien und schlugen die Luft mit ihren Stöcken.
Das Gekreische ging noch fast den ganzen Tag weiter. Später erzählte man mir, dass Heilerinnen bei den Yanomami eigentlich unbekannt sind: Das war nur erklärlich, weil die Männer fehlten. Die alten Frauen führten mich zu einer Hängematte eines zwölf-, dreizehnjährigen Mädchens und machten mir vor, was ich tun sollte. Ich stampfte und schrie, wedelte mit den Armen durch die Luft, fegte etwas von der Oberfläche ihres Körpers und stieß es aus der maloca heraus. Von den zwei Frauen genötigt, tanzte und gellte ich schneller und lauter, stampfte und sprang über die Hängematte, bis ich fast ohnmächtig wurde und den Heilerinnen in die Arme fiel.
Als ich mich erholt und im Bach gewaschen hatte, brachten mir die Frauen etwas zu essen: Auf einem Bananenblatt hatten sie gebackene Kochbananen, Pilze und Käferlarven angerichtet, die Letzteren embryoartig zusammengekrümmt und sich noch windend. Meine Hände verharrten über dem Blatt. »Nur zu«, gestikulierten die Frauen. Ich klaubte eine Larve und öffnete den Mund.
Ich lehnte auf meinem Spaten und sah auf den Boden. An diesem garstigen Dezembertag – ich war erst seit Kurzem in Wales – holte mich die Kleinheit meines Lebens ein. Ich weiß nicht genau, wie es hatte passieren können, doch irgendwie führte ich plötzlich ein Leben, in dem schon das Einräumen des Geschirrspülers eine interessante Herausforderung darstellte.
Die Invasion Roraimas, deren Zeuge ich beinahe zwanzig Jahre zuvor gewesen war, steht für alles, was ich verabscheue. Armut und Verzweiflung hatten die Schürfer aus dem Nordosten Brasiliens, von denen viele aufgrund der Machenschaften von Geschäftsleuten und korrupten Beamten von ihrem Grund und Boden vertrieben worden waren, in die Minen getrieben. Doch die Leute, die das Ganze organisiert, die das Geld für den Bau der Landebahnen und den Kauf der Maschinen hatten, töteten und zerstörten aus reiner Gier. Wäre in Brasilien keine neue Regierung an die Macht gekommen und wären die Schürfer nach etlichen Monaten Verzögerung nicht aus dem Land der Yanomami vertrieben worden, hätte den Stamm das gleiche Schicksal ereilt wie die meisten derartigen Volksgruppen auf dem amerikanischen Doppelkontinent: Er wäre ausgelöscht worden. Der alten Regierung war dies bewusst gewesen. Der Genozid war nicht intendiert, er war nur eine unvermeidliche und kaum bedauerliche Folge ihrer Politik.
Und doch war ich von dem, was ich verabscheute, fasziniert, sogar als ich in den Goldminen war und die Schrecken der Invasion erlebte. Die Minen ließen die Metaphern, mit denen wir leben, zerplatzen. In den reichen Nationen betreiben wir unseren Goldhandel mit Zahlen und sind in unserem Trachten so sehr spezialisiert, dass wir Gefahr laufen, viele unserer Fertigkeiten zu verlieren. Gold war in den Minen Gold, und die Männer machten sich die Hände schmutzig – in jederlei Hinsicht. Konflikte wurden nicht durch gesetzliche Instrumente oder auf den Sofas von Fernsehstudios gelöst, sondern durch Schießereien in den Wäldern. All das war rauer, wilder und fesselnder als das Leben, das ich bis dahin geführt hatte, und als das Leben, das ich danach führen sollte.
J. G. Ballard hat uns daran erinnert, dass »die Vorstädte von Gewalt träumen. Eingelullt in ihre schläfrigen Villen, geschützt von wohlwollenden Einkaufszentren, wartet man dort geduldig auf die Alpträume, die sie in einer zornigeren Welt aufwachen lassen werden.«2 Noch besitzen wir die Angst, den Mut, die Aggression, die einst entstanden sind, damit wir uns durch unser Streben und unsere Krisen erleben können. Und wir spüren noch immer den Drang, uns in ihnen zu üben. Doch unser sublimiertes Leben nötigt uns zur Erfindung von Herausforderungen als Ersatz für die Schrecken, derer wir verlustig gegangen sind. Die Folgen unserer Natur fürchtend, haben wir uns selbst eingehegt und führen aus Angst, andere zu reizen oder zu beschädigen, ein kleinlautes Leben. »So macht Gewissen Feige aus uns allen.«3
Die Sozialgeschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte ist vor allem von der oft widerwilligen Entdeckung geprägt, dass andere Menschen gleich welcher Sprache, Hautfarbe, Religion oder Kultur ähnliche Bedürfnisse und Wünsche haben wie wir. Seit die Massenkommunikation jenen, deren Rechten wir einst keine Beachtung schenkten, Mittel an die Hand gegeben hat, für sich selbst zu sprechen und die Auswirkungen unserer Entscheidungen auf ihr Leben zu schildern, sehen wir uns zunehmend durch die nun unumgänglich gewordene Rücksicht auf die anderen eingeschränkt. Nicht minder wirksam ist heute das Wissen, dass so gut wie alles, was wir tun, Folgen für die Umwelt hat. Die durch die Technik ermöglichte Ausweitung unseres Lebens verleiht uns eine Macht über die natürliche Welt, die zu nutzen wir uns nicht länger leisten können. In allem, was wir tun, müssen wir heute auf das Leben der anderen Rücksicht nehmen, voller Bedachtsamkeit, Selbstbeschränkung und peinlicher Genauigkeit. Wir dürfen nicht länger leben, als gebe es kein Morgen.
In vielen Nationen wachsen mächtige Bewegungen heran von Menschen, die diese Einschränkungen ablehnen. Sie protestieren gegen Steuern, Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen, Handelsregulierungen, Rauchverbote, Tempolimits oder das Verbot von Schusswaffen. Aber vor allem rebellieren sie gegen Einschränkungen um des Umweltschutzes willen. Wie die Leute, die die Invasion des Yanomami-Landes vorangetrieben haben, treten sie Verbote, die einzuhalten uns der Anstand gebietet, mit Füßen. Sie sind der festen Meinung, sie könnten gleich, wessen Nase gerade im Weg ist, ihre Fäuste schwingen, als sei dies ein Menschenrecht.
Ich hege kein Bedürfnis, zu diesen Leuten zu gehören. Ich akzeptiere die Notwendigkeit von Beschränkungen, eines Lebens der Selbstbeschränkung und Sublimierung. Doch an diesem grauen Tag in Wales realisierte ich, dass ich so, wie ich bisher gelebt habe, nicht mehr weiterleben konnte. Ich konnte nicht einfach weiterhin am Schreibtisch sitzen und schreiben, für meine Tochter sorgen und nach dem Haus schauen, joggen, nur um fit zu bleiben, bloß etwas erstreben, was unsichtbar bleibt, die Jahreszeiten vorüberziehen sehen, ohne wirklichen Bezug dazu. Ich hatte diesem Leben zu wenig angeboten, dem Leben des Geistes,
Dem, was sich nicht in unserm Nachruf findet
Nicht in Aufzeichnungen, die die Spinne gütig überflort,
Noch unterm Siegellack, den der Notar erbricht
In unsern leeren Zimmern4
Ich glaube, ich war ökologisch gelangweilt.
Mir liegt nicht daran, die Zeit unserer Evolution zu romantisieren. Ich habe bereits länger gelebt, als die Lebensspanne der meisten Jäger-Sammler währte. Ohne Ackerbau, sanitäre Maßnahmen, Impfung, Antibiotika, Chirurgie und Augenoptik wäre ich schon tot. Wie ein Kampf um Leben und Tod zwischen mir, der ich kurzsichtig, einen Speer mit Steinspitze in der Hand, durch die Gegend stolpere, und einem riesigen wutschnaubenden Auerochsen enden würde, ist leicht abzusehen.
Untersucht man Ökosysteme der Vergangenheit, so zeigt sich, dass die Menschen, so rudimentär ihre Technologie und so klein ihre Zahl auch gewesen sein mag, beim Einfall in neue Gebiete schon bald viele der dort lebenden Wildtiere – insbesondere die größeren Tiere – ausgerottet hatten. Es gab keinen Zustand der Gnade, kein goldenes Zeitalter, in dem die Menschen in Harmonie mit der Natur gelebt hätten. Mir liegt auch nicht daran, zu den Opfer- und Hinrichtungsstätten jener Zivilisationen, die wir hinter uns gelassen haben, zurückkehren.
Schon gar nicht bin ich auf der Suche nach Authentizität: Das ist für mich kein brauchbarer oder sinnvoller Begriff. Selbst wenn es sie geben sollte, wäre sie per definitionem unmöglich zu erreichen, indem man sie erstrebt. Lediglich meinen Hunger nach einem reicheren, raueren Leben wollte ich stillen, in diesem Leben, das ich damals führte. Doch irgendwie musste ich diesen Drang mit dem Leben in Übereinstimmung bringen, das ich nicht so einfach aufgeben konnte: Mein Kind aufziehen, meine Hypotheken abbezahlen, die Rechte und Bedürfnisse meiner Mitmenschen respektieren, mich davon abhalten, der Natur Schaden zuzufügen. Erst als ich über ein selten gebrauchtes Wort stolperte, wurde mir klar, wonach ich suchte.
Das Wort ist noch jung, besitzt aber schon viele Bedeutungen! Als 2014 das Wort »Auswilderung« (rewilding) Eingang in die Lexika fand, war es schon heiß umstritten.5 Als es geprägt wurde, meinte es das Freilassen von in Gefangenschaft gehaltenen Tieren in die Wildnis. Bald wurde die Bedeutung auch auf die Wiedereinführung von Tier- und Pflanzenarten in Habitate ausgeweitet, aus denen diese verdrängt worden waren. Manche Leute verwendeten das Wort nicht nur für die Wiedereinführung einzelner Arten, sondern die ganzer Ökosysteme: Wiederherstellung der Wildnis. Später wendeten Anarcho-Primitivisten das Wort auch auf das Leben des Menschen an und meinten damit ein Wildwerden der Menschen und ihrer Kulturen. Die zwei Bedeutungen, die für mich von Interesse sind, unterscheiden sich etwas von den genannten.
Die Rückverwilderung natürlicher Ökosysteme, die mich interessiert, bedeutet nicht den Versuch, sie in einen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, sondern schafft die Voraussetzung, dass ökologische Prozesse wieder in Gang kommen. In Ländern wie dem meinen sind die Naturschutzbewegungen bei aller guten Absicht bestrebt, lebende Systeme in der Zeit einzufrieren. Sie versuchen, Tiere und Pflanzen davon abzuhalten, diese Systeme zu verlassen oder – falls sie nicht schon darin vorkommen – in sie einzudringen. Sie versuchen die Natur zu verwalten, wie man einen Garten pflegt. Viele Ökosysteme, etwa Heide- und Moorlandschaften, Hochmoore und Grasland, die man zu erhalten trachtet, werden von der niedrigen, buschigen Vegetation dominiert, die entsteht, wenn Wälder wiederholt gerodet und abgebrannt werden. Diese Vegetation wird von Naturschutzgruppen gehegt und gehätschelt; mit der intensiven Beweidung durch Schafe, Rinder und Pferde verhindern diese Gruppen die Umwandlung solcher Gebiete in Waldland – als hätten sich die Naturschützer im Amazonas entschlossen, anstatt des Regenwaldes die dortigen Rinderfarmen zu schützen.
Rückverwilderung erkennt an, dass Natur nicht nur aus einer Ansammlung von Arten besteht, sondern auch ihre stets veränderlichen Beziehungen untereinander und mit ihrer physischen Umgebung eine Rolle spielen. In dieser Sichtweise bedeutet das Anliegen, ein Ökosystem in seiner Entwicklung zu stoppen und in einem Status quo zu halten, es sozusagen wie ein Glas Gurken einzuwecken, soviel wie etwas zu schützen, das wenig Beziehung zur natürlichen Welt aufweist. Zu dieser Sichtweise haben im Übrigen die faszinierendsten wissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Zeit beigetragen.
Ökologen haben in den vergangenen Jahrzehnten die Existenz breitgefächerter trophischer Kaskaden entdeckt. Dabei handelt es sich um Prozesse, die von Tieren an der Spitze der Nahrungskette ausgelöst werden und die bis an die unterste Ebene der Nahrungskette durchschlagen. Prädatoren und große Pflanzenfresser sind in der Lage, die Orte, an denen sie leben, umzuformen. In manchen Fällen verändern sie dabei nicht nur das Ökosystem, sondern auch die Bodenzusammensetzung, das Verhalten von Flüssen, die Chemie der Ozeane und sogar die Zusammensetzung der Atmosphäre. Befunde wie diese legen nahe, dass die natürliche Umwelt aus weit faszinierenderen und komplexeren Systemen besteht, als wir bislang dachten. Mit ihnen verändert sich unser Verständnis vom Funktionieren der Ökosysteme und sie stellen bestimmte Modelle des Naturschutzes radikal infrage. Zudem liefern sie ein stichhaltiges Argument für die Wiedereinführung großer Raubtiere und anderer verschwundener Arten.
Bei der Recherche zu diesem Buch bin ich mit der Hilfe Adam Thorogoods, eines visionären Försters, auf eine aufwieglerische Idee gestoßen, die mit Ausnahme einer beiläufigen Feststellung in einem Wissenschaftsartikel noch nirgendwo erörtert worden ist.6 Ich hoffe, dass diese Idee dazu anregen wird, die Funktionsweise unserer Ökosysteme und auch das Ausmaß, in dem sie als naturgegeben wahrgenommen werden, neu zu bewerten. Wir glauben, dass es schlagkräftige Indizien für die Annahme gibt, dass sich zahlreiche in Europa heimische Bäume und Büsche unter dem Einfluss von Elefantenattacken entwickelt haben, die zu spezifischen Abwehrstrategien führten. Der europäische Waldelefant (Elephas antiquus), der mit der heute noch in Asien lebenden Art verwandt war, lebte in Europa bis vor etwa 40 000 Jahren, das ist kaum mehr als ein Ticken der Evolutionsuhr.7 Er starb wahrscheinlich durch Überjagung aus. Wenn die Indizien tatsächlich so stringent sind, wie es scheint, dann legen sie nahe, dass diese Art die gemäßigten Zonen Europas dominierte. Unsere Ökosysteme sind offenbar an den Elefanten angepasst.
Mir liegt es allerdings fern, die Landschaften oder Ökosysteme der Vergangenheit wieder erschaffen, ursprüngliche Wildnis – als sei dies möglich – wiederherstellen zu wollen. Rückverwilderung heißt für mich, dem Drang, die Natur kontrollieren zu müssen, zu widerstehen und ihr stattdessen die Möglichkeit einzuräumen, sich ihren eigenen Weg zu suchen. Dazu gehört, verschwundene Pflanzen und Tiere wieder einzubürgern (und in einigen Fällen exotische Arten, die nicht der einheimischen Tierwelt angehören können, auszumerzen), Zäune abzubauen, Entwässerungsgräben zu schließen, aber ansonsten den Dingen ihren Lauf zu lassen. Auf dem Meer bedeutet es, die kommerzielle Fischerei und andere Formen der Ausbeutung auszuschließen. Die entstehenden Ökosysteme sind dann weniger als Wildnis, sondern als selbstgesteuert zu beschreiben: Nicht vom Menschen beherrscht, sondern von ihren eigenen Prozessen gelenkt.* Rückverwilderung kennt keine Ziele, besitzt keine Anschauung darüber, wie ein »richtiges« Ökosystem oder ein »richtiges« Artengefüge auszusehen hätte. In ihr ist kein Trachten, aus dem eine Heide, eine Wiese, ein Regenwald, ein Kelpgarten oder ein Korallenriff hervorgehen soll. Es ist die Natur, die entscheidet.
Die in unserem veränderten Klima, auf unseren ausgelaugten Böden entstehenden Ökosysteme werden anders aussehen als die in der Vergangenheit vorherrschenden. Wohin sie sich entwickeln, ist nicht vorhersehbar – ein Grund auch, warum dieses Projekt so spannend ist. Wo sich der Naturschutz allzu oft an der Vergangenheit orientiert, blickt die so verstandene Rückverwilderung in die Zukunft.
Die Rückverwilderung von Land und Meer könnte selbst in ausgelaugten Regionen wie in Großbritannien und Nordeuropa Ökosysteme produzieren, die so überreich und faszinierend sind wie jene Gegenden, die zu Gesicht zu bekommen Enthusiasten um den halben Globus reisen. Ich hoffe zudem, dass durch diese Strategie der Aufenthalt in einer großartigen, freilebenden Tierwelt für jedermann möglich wird.
Mich interessieren, wie gesagt, zwei Definitionen der Rückverwilderung. Die zweite ist die Rückverwilderung des menschlichen Lebens. Sehen manche Primitivisten einen Konflikt zwischen der zivilisierten und der wilden Welt, hat die Rückverwilderung, wie ich sie im Auge habe, nichts mit dem Abstreifen der Zivilisation im Sinn. Ich bin der Überzeugung, dass wir die Vorzüge einer avancierten Technik ebenso genießen können wie ein Leben, das mehr an Abenteuer und Überraschungen bietet. Bei der Rückverwilderung geht es nicht darum, die Zivilisation aufzugeben, sondern sie zu verbessern. Es gilt, »nicht den Menschen abgewandt, doch mit Natur vertrauter« zu werden.8
Würde man eine ausgefeilte, von hohen Ernteerträgen gestützte Ökonomie aufgeben, wäre das katastrophal. Bevor der Ackerbau auf der Britischen Insel begann, hat sie offenbar höchstens 5000 Menschen ernährt.9 Wenn diese Menschen gleichmäßig verstreut gewohnt hätten, hätte jede Person 54 Quadratkilometer beansprucht, eine Fläche, die etwas größer ist als das Stadtgebiet von Southampton (das heute 240 000 Einwohner beherbergt).10 Das war anscheinend die Anzahl der Menschen, die sich durch Jagen und Sammeln ernähren ließ. (Gleichwohl haben die Männer und Frauen der Mittelsteinzeit das Vorkommen großer Säugetiere beträchtlich reduziert.) Ich habe Primitivisten getroffen, die mit der Fantasie liebäugelten, zu einer Jäger-und-Sammler-Ökonomie zurückzukehren. Allerdings würde dies die Eliminierung fast aller Menschen voraussetzen.
Aus dem gleichen Grund bin ich der Auffassung, dass eine extensive Rückverwilderung nicht auf ertragsfähigem Land erfolgen sollte. Sie kommt besser an Orten zur Anwendung, an denen die Ertragsfähigkeit so niedrig ist, dass Ackerbau nur noch aufgrund der Großzügigkeit der Steuerzahler stattfinden kann, insbesondere etwa in den Bergregionen. Da aufgrund mangelnder Finanzierung die Grundversorgungsleistungen allerorts in Europa (und in einigen anderen Teilen der Welt) gekappt werden, können Landwirtschaftssubventionen in ihrer heutigen Form sicherlich nicht länger ausbezahlt werden. Ohne sie allerdings kann man sich schwerlich vorstellen, wie der Landbau in den genannten Regionen noch aufrecht erhalten werden soll: zum Guten oder Schlechten wird er nach und nach aus den Bergregionen verschwinden.
Für manche Leute bedeutet Rückverwilderung den Rückzug des Menschen aus der Natur; für mich bedeutet sie seine neuerliche Einbindung. Ich würde nicht nur gerne eine Wiedereinführung von Wolf, Luchs, Vielfraß, Biber, Wildschwein, Elch, Wisent und – vielleicht eines Tages, in ferner Zukunft – von Elefanten und anderen Arten erleben, sondern auch von Menschen. In anderen Worten: Ich sehe in der Rückverwilderung eine verbesserte Möglichkeit für den Menschen, sich mit der natürlichen Welt zu verbinden und sich an ihr zu erfreuen.
Verwildert nimmt auch jenes Leben ins Visier, das wir nicht mehr führen können, so wie die – oft unabdingbaren – Zwänge, die uns davon abhalten, unsere vernachlässigten Fähigkeiten zu üben. Es legt dar, wie ich selbst versucht habe, innerhalb dieser Zwänge mein eigenes Leben wieder wilder zu machen und der ökologischen Langeweile zu entrinnen. Mit Sicherheit bin ich nicht der Einzige, der ein unerfülltes Bedürfnis nach einem wilderen Leben verspürt, und ich möchte behaupten, dass dieses Bedürfnis zu einer bemerkenswerten kollektiven Wahnvorstellung geführt haben dürfte, an der heute tausende Menschen leiden und die in der fast perfekten Abkapselung des Wunsches nach einem weniger gebändigten, weniger vorhersehbaren Ökosystem zu bestehen scheint.
Wenn Sie mit Ihrem Leben in all seinen Facetten zufrieden sind, wenn es bereits so bunt und überraschend ist, wie Sie es sich immer gewünscht haben, wenn das Entenfüttern schon das höchste der Naturgefühle ist, das sie erleben möchten, dann ist dieses Buch wahrscheinlich nichts für Sie. Wenn Sie aber, wie manchmal ich, das Gefühl haben, Sie kratzten an den Mauern Ihres Lebens, wenn Sie hoffen, einen Ausweg in eine hinter den Mauern liegende größere Welt zu finden, dann dürften Sie in diesem Buch etwas entdecken, in dem Sie sich wiedererkennen. Wie wir unseren Platz in der Welt verorten, ihre Ökosysteme verstehen und die Mittel, mit denen wir uns mit ihnen verbinden können, wahrnehmen, möchte ich auf den Prüfstand stellen.
Damit hoffe ich, zu einem positiven Umweltschutz zu ermutigen. Die lebenden Systeme der Erde haben im zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhundert eine von Zerstörung und Entwürdigung gekennzeichnete Behandlung erfahren. In dem Versuch, dieses Gemetzel zu stoppen, haben Umweltschützer deutlich erklärt, welche Dinge die Menschen unterlassen sollten. Das Argument, das wir anführten, lautete, dass bestimmte Freiheiten – die Freiheit, der Umwelt Schaden zuzufügen, sie zu verschmutzen und zu vergeuden – eingeschränkt werden müssten. Für Verfügungen dieser Art gibt es gute Gründe, im Gegenzug aber hatten wir bisher nur wenig zu bieten. Wir haben lediglich darauf gedrungen, dass die Leute weniger konsumieren, weniger reisen, nicht unbekümmert, sondern mit Bedacht leben, den Rasen nicht betreten sollen. Da wir keine neuen Freiheiten im Austausch gegen die alten anzubieten haben, werden wir oft für Asketen, Spielverderber und Pedanten gehalten. Wir wissen, wogegen wir sind; jetzt heißt es erklären, wofür wir eintreten.
Verwildert tritt für einen Umweltschutz ein, der die Lebensdimension der Menschen nicht einschränkt, sondern erweitert, ohne das Leben anderer oder die Textur der Biosphäre zu beschädigen, und zieht dabei Regionen in Wales, Schottland, Slowenien, Polen, Ostafrika, Nordamerika und Brasilien als Fallstudien heran, an denen die Praxis zeigt, was gut oder schlecht funktioniert. Einen Umweltschutz, der im Austausch gegen Freiheiten, die wir einzuschränken versuchen, neue anbietet. Einen, der große Land- und Meeresgebiete auf seiner Zukunftsagenda hat, die sich selbst regulieren, Orte, die wieder von dort verschwundenen wilden Tieren bevölkert werden und an denen wir frei umherstreifen können.
Vielleicht am wichtigsten: Es ist ein Umweltschutz, der Hoffnung bietet. Die Rückverwilderung sollte den Schutz bedrohter Orte und Arten nicht ersetzen; die Geschichte, die sie vorbringt, lautet allerdings, dass der ökologische Wandel nicht immer die gleiche Richtung einzuschlagen hat. Im zwanzigsten Jahrhundert hatte der Umweltschutz einen stummen Frühling vorausgesehen, wobei die weitere Beeinträchtigung der Biosphäre unausweichlich schien. Die Rückverwilderung bietet Hoffnung auf einen geräuschvollen Sommer, in dessen Verlauf zumindest in manchen Weltteilen zerstörerische Prozesse eine Umkehrung erfahren.
Wie alle Visionen muss auch die Rückverwilderung fortwährend infrage gestellt und auf ihre Folgen abgeklopft werden. Sie sollte nur mit der Zustimmung und dem Enthusiasmus derjenigen erfolgen, die auf dem betreffenden Land arbeiten. Sie darf auf keinen Fall als Instrument der Enteignung und Zwangsräumung benutzt werden. Ein Kapitel des Buchs beschreibt erzwungene Rückverwilderungsmaßnahmen, wie sie hie und da auf der Welt stattgefunden haben, sowie die menschlichen Tragödien, die mit ihnen einhergehen. Rückverwilderung sollte zum Wohl der Menschen stattfinden und nicht um einer Abstraktion willen, die wir als Natur bezeichnen. Sie sollte die Welt, in der wir leben, verbessern.
Die Recherchen zu diesem Buch sind ein großes Abenteuer gewesen: seine Themen gehören zu den bezauberndsten, denen ich je nachgegangen bin. Sie haben mich an wilde Orte geführt, mich mit dem wilden Leben und mit leidenschaftlichen Menschen in Kontakt gebracht. Durch sie bin ich mit überaus faszinierenden Erkenntnissen im Bereich der Biologie, der Archäologie, der Geschichte und der Geographie in Berührung gekommen. Sie haben mein Leben tiefgreifend verändert. Bisweilen kam es mir bei meinen Nachforschungen vor, als würde ich, wie in der Erzählung vom König von Narnia, durch einen Kleiderschrank in eine andere Welt treten. Die hier erzählte Geschichte beginnt eher sachte in dem Bemühen, mich mit den Ökosystemen direkt vor meiner Haustür zu beschäftigen und in ihnen etwas von dem unbändigen Geist zu entdecken, den ich so gerne wiedererstehen lassen würde. Wenn Sie sich bitte durch die Mäntel und Kleider schieben wollen, wir treffen uns dort.
* Der Ausdruck wurde von Jay Hansford Vest geprägt. Siehe Jay Hansford Vest, »Will-of-the-Land: Wilderness among Primal Indo-Europeans«, in: Environmental Review, Bd. 9, Nr. 4, (Winter 1985), S. 323–329. Er ist von Dr. Mark Fisher, dessen Arbeit für das Zustande-kommen dieses Buchs nicht unwesentlich war, propagiert worden.
Ich muss wieder hinab zum Meer, zum einsamen Meer
und dem Himmel / Und ich brauche nur ein großes Schiff
und einen Stern, nach dem ich steuern kann.
John Masefield, Seefieber1
Am Flussufer neben der alten Eisenbahnbrücke belud ich mein Boot. Ich band ein Rolle an ihm fest, die ich aus Haselstangen gemacht, mit orangener Schnur umwickelt und mit einer Auswahl Lamettaködern versehen hatte. Ich zurrte eine Flasche Wasser und einen Holzknüppel an die links und rechts von meinem Sitz angebrachten Schlagleisten und befestigte das Paddel mit einer Leine am Boot: Alles, was nicht festgebunden ist, könnte leicht verloren gehen. In den Taschen meiner Schwimmweste befanden sich Ersatzköder, Wirbel und Gewichte, ein Schokoladenriegel, ein Messer und für den Fall, dass ich gestochen wurde, ein Feuerzeug.
Ich setzte meine Füße in das braune Wasser. Es drang in meine Tauchschuhe ein und durchtränkte meine Socken. Den ganzen Tag lang würde es meine Füße warm halten. Ich stieß das Boot in tieferes Wasser, schwang mich hinein und legte flussabwärts ab. Zwei Brachvögel pickten und stocherten am Ufer entlang. Eine Schwanenfamilie mühte sich, kleine Bugwellen aufwerfend, gegen die Strömung. Bald erreichte ich das schnell sprudelnde Wasser in den Untiefen nach dem ersten Mäander. Wolkig bäumte es sich über den Felsen auf, schoss zwischen ihnen hindurch und zerstob zu gischtigen Mähnen. Ich raste durch die Stromschnellen, hüpfte über die Wasserkissen an den Felsbrocken, fühlte mich lebendig und frei. Dann erreichte der Fluss den Strand, wo er sich zu einem flachen Fächer verbreiterte. Ich fand einen Kanal, der gerade tief genug war, um mich zu tragen, und glitt in die erste Welle hinein, die das Kajak überspülte und mich dann passieren ließ. Die weiteren Brecher schwemmten abwechselnd über den Bug oder hoben das Boot, um es mit einem Beben wieder ins Wasser krachen zu lassen. Ich paddelte mit aller Kraft, tauchte unter, tauchte wieder auf, stürzte in die Wellentäler und schob mich durch die brechenden Wellen in die dahinterliegenden rollenden Wasser.
Ich drehte mich noch einmal um, prägte mir die Landmarken der Küste ein und fuhr auf das offene Meer. Ein schwacher unregelmäßiger Wellengang mit Schaumkronen hie und da. Die Wogen sahen aus wie abgeplatzter Flintstein. Ihre muschelig facettierten Kämme glitzerten im Sonnenlicht. Mir voraus segelte ein Eissturmvogel bis beinahe auf die Wasserfläche hinab, machte eine halbe Rolle und schwang sich wieder fort in die Höhe.
Ich ließ die Leine aus, platzierte die Rolle neben meinen Fuß und führte die Schnur kurz unter dem Knie über mein Bein. Beim Paddeln konnte ich das Blei über die Steine des Riffs holpern fühlen. Hin und wieder spannte sich die Leine und ich zog sie hinauf, fand aber an den Haken nichts als Klumpen krustigen rosafarbenen Korallenmooses oder ledrige Seetangschnüre, die manchmal bis zu vier Meter lang waren. Einen knappen Kilometer von der Küste entfernt überquerte ich eine Schar fliederfarbener Quallen. Sie sahen fast wie Ölflecken aus, eine blasse zweidimensionale Ausfärbung des Wassers, aber hin und wieder hob der Wind sie an und sie stießen fett und gummiartig durch die Oberfläche. Zu Tausenden strömten sie unter dem Boot hindurch. Manche trugen orangefarbene Nematozysten auf ihren Tentakeln. Mit ihren Segmenten und samenartigen Strukturen sahen die Tiere aus wie aufgeplatzte Feigen.
Auf der anderen Seite des Riffs drehte ein Krebsfischer seine einsamen Runden, zog seine Reusen hoch, versah sie mit neuen Ködern und ließ sie wieder an der Leine ins Wasser, während sein Boot langsam von Boje zu Boje tuckerte. Über einen Kilometer Meer hinweg konnte ich den Köder riechen und den Diesel. Der Fischer dampfte wieder in Richtung Küste davon und ich war allein.
Je näher ich dem Rand des Riffs kam, desto höher stieg der Wellengang. Die Leine suchte sich ihren Weg durch das Meer wie eine Erweiterung meiner Sinne, eine an meine Haut geheftete Antenne, die zuckte und zitterte. Von Zeit zu Zeit ruckte die Rolle und auf meinem Knie straffte sich die Schnur, doch wenn ich anhielt und zog, spürte ich, sobald die Welle, die die Leine angehoben hatte, vorbeigerollt war, lediglich das Gewicht zurücksinken. Ich befand mich jetzt einen guten Kilometer, vielleicht etwas mehr, von der Küste entfernt, aber wonach ich suchte, hatte ich noch nicht gefunden. Immer wenn ich damit in Berührung kam, schien es ein bisschen weiter vom Land entfernt als zuvor.
Einen Kilometer hinter dem Riff zog ein Basstölpel an mir vorbei. Er stieg ein paar Meter in die Luft, legte seine Flügel an und stieß wie ein Pfeil ins Wasser, eine Gischtfahne aufwerfend. Er schwamm auf der Oberfläche und verschlang, was er gefangen hatte, flog auf und tauchte erneut. Ich nahm die Verfolgung auf, die Leine aber schlingerte schlaff durch das Wasser. Der Himmel hatte sich zugezogen, der Wind war heftiger geworden und nun begann Regen niederzuprasseln. Das Meer fühlte sich an wie ein halb erstarrtes Gelee.
Ich paddelte drei Stunden lang in westlicher Richtung, direkt hinaus aufs Meer. Das Land war nur noch ein olivgrüner Schmierstreifen, die Küstenstadt im Süden eine undeutliche, blasse Linie. Die Wellen nahmen an Höhe zu und der Regen prasselte in mein Gesicht wie Vogelschrot. Ich hatte mich nun zehn, elf Kilometer weit von der Küste entfernt, weiter als je zuvor. Aber noch immer hatte ich den Platz nicht gefunden.
Am Horizont entdeckte ich eine Schar dunkler Vögel. Überzeugt, dass sie auf Fische gestoßen waren, erhöhte ich mein Tempo auf Rammgeschwindigkeit. Die Vögel verschwanden, tauchten wieder auf, wirbelten ein paar Fuß über dem Wasser. Beim Näherkommen sah ich, dass es Sturmtaucher waren, etwa fünfzig an der Zahl, die aufstiegen, kehrtmachten und wieder auf dem Meer landeten. Eine Handvoll Vögel löste sich aus der Schar und umkreiste mich. Ihre samtig schwarzen Flügel streiften beinahe die Wellen. Sie waren so nahe, dass ich den Schimmer in ihren Augen sehen konnte. Sie fraßen nicht – hielten bloß Ausschau. Das vage Einsamkeitsgefühl, das mich beschlichen hatte, je weiter ich mich vom Land entfernte, zerstreute sich.
Die Vögel ließen sich wieder auf dem Wasser nieder und ich hielt nur wenig entfernt von ihnen an. Kein Geräusch war zu hören, nur das Schlagen der Wellen und der Wind, der in hohen Tönen und kaum vernehmbar durch am Boot befestigte Gummischnüre pfiff. Die Vögel waren stumm.
Jedes Mal, wenn ich auf das Meer hinausfahre, suche ich nach diesem bestimmten Platz, einem Platz, an dem ich eine Art Frieden spüre, wie ich ihn auf dem Land nie erlebt habe. Andere finden ihn in den Bergen, in Wüsten oder in der methodischen Ruhigstellung ihrer Gedanken durch Meditation. Mein Platz jedoch war hier; ein Hier, das stets anderswo war, sich aber immer gleich anfühlte; ein Hier, das sich mit jeder Ausfahrt weiter von der Küste zu entfernen schien. Auf meinen Handrücken hatte das Salz Krusten gebildet, meine Finger waren rissig und runzelig. In meinen Gedanken verfing sich der Wind, von den Wellen wurde ich geschaukelt. Nichts existierte außer dem Meer, den Vögeln, der Brise. Mein Kopf war wie leer geblasen.
Ich legte mein Paddel ab und beobachtete die Vögel. Sie traten das Wasser, hielten die Distanz zwischen uns. Regen trommelte in Böen gegen meine Stirn. Die Wellen, die jetzt höher waren, hoben Bug und Heck und schwangen das Kajak herum: Ich musste das Paddel wieder in die Hand nehmen und das Boot gelegentlich in den Wind drehen. Auf der Oberfläche der Wellen ließen die Regentropfen kleine Sporne emporwachsen. Hier war mein Schrein, ein Ort der Geborgenheit, wo mich das Wasser wiegte, an dem ich mich von Wissen frei machte.
Nach einer Weile bewegte ich mich langsam nach Süden parallel zu der in der Ferne liegenden Küste. Ich fuhr etwa anderthalb Kilometer, hörte mit dem Paddeln auf und ließ mich vom Wind tragen. Ich hätte mich bis ans Land treiben lassen können, aber mir wurde kalt und ich nahm das Paddeln wieder auf. Ich war jetzt so müde, dass das Meer, obwohl ich den Wind im Rücken hatte, sich holprig und steif anfühlte.
Etwa fünf Kilometer von der Küste entfernt kam ich an zwei Lummen vorbei; sie tauchten ihre Schnäbel ins Wasser und richteten sich gelegentlich auf, um mit ihren Flügeln zu schlagen. Als ich an ihnen vorbeipaddelte, streckten sie ihre Köpfe in die Luft und beobachteten mich aus ihren Augenwinkeln, ohne jedoch vom Meer aufzufliegen. Gleich danach spürte ich ein scharfes unmissverständliches Zerren an meinem Knie. Ich riss an der Leine und holte sie Hand um Hand ein. Ich meinte fast, so etwas wie das elektrische Sirren der Schnur zu hören. Als das Vorfach in Bootsnähe kam, ruckte es wie verrückt hin und her. Tief unten im Grün sah ich etwas Weißes aufblitzen und kurz darauf zog ich den Fisch ins Boot. Er hüpfte über das Deck und trommelte dann mit raschen Zuckungen auf das Plastik. Ich brach ihm das Genick.
Der Rücken der Makrele hatte das gleiche tiefe Smaragdgrün wie das Wasser, war mit schwarzen Streifen versehen, die auf dem Kopf aufbrachen und verwirbelten. Der Bauch war weiß und gespannt, verengte sich zu einem schlanken Stiel und dem knapp gegabelten Schwanz eines Mauerseglers. Das Auge des Fischs war eine Scheibe aus kaltem Gagat. Mein Raubtiergenosse, kaltblütiger Dämon, mein Bruder und Schüler des Orion.
Einen guten Kilometer weiter fühlte ich erneut ein kaum merkliches Zucken an der Leine. Ich nahm sie auf und zog, aber da war nichts. Ich zog erneut und sie wurde mir fast aus der Hand gerissen. Was auch immer daran gezupft hatte, es war zurückgekommen, als es die Köder aufsteigen sah. Es fühlte sich anders an: schwerer und nicht so ungleichmäßig. Das aufblitzende Weiß zeigte mir, dass ich drei Fische hatte – die komplette Hakenreihe. Ich holte sie ein, versuchte, als sie auf dem Boot landeten und sich herumwarfen, die Leine freizuhalten: Eine kurze Unaufmerksamkeit und ich wäre zwanzig Minuten mit der verhedderten Schnur beschäftigt. Sobald ich die Fische verstaut hatte, wendete ich das Boot und paddelte dorthin zurück, wo sie mir an den Haken gegangen waren. Ich kreiste auf dem Wasser, konnte aber keinen Schwarm entdecken.
Ich aß meine Schokolade und paddelte weiter. Einen Moment lang brach die Sonne durch und das Meer verwandelte sich in frisch geschmolzenes Blei. Dann zogen sich die Wolken wieder zu und es regnete erneut.
Einen knappen Kilometer vor der Küste traf ich auf einen kleinen Schwarm und zog ein halbes Dutzend Makrelen ins Boot. Dann fand ich mich in einem Band voller Quallen wieder, die stellenweise so dicht gepackt waren, dass es kaum noch Wasser zu geben schien. Sie zogen unter meinem Boot in einer gerade mal einen Meter breiten Kolonne hinaus aufs offene Meer. Sporadisch kamen die Makrelen nach oben, in Zweier- und Dreiergruppen. Eine Strömungslinie vielleicht, was erklären würde, warum die Raubfische sich um diesen Streifen geschart hatten: Wie die Quallen war das Plankton von einer sanften Kabbelung zusammengetrieben worden und die Beutefische waren ihm gefolgt.
Ich sah den Mondquallen zu, die übereinanderrollten wie die Blasen in einer Lavalampe. An einer Stelle war die Prozession unterbrochen. Ein paar Meter klares Wasser, dann zuckte ich angesichts einer blassen hässlichen Qualle etwas zusammen, ein monströses und gespenstisches Ding, das das nächste Bataillon anführte. Ich brauchte einen Moment, bis ich erkannte, dass es sich um eine Plastiktüte handelte, vom Wasser prall aufgeblasen, der Quallenkönig, dem die Untertanen hinaus in die See folgten.
Ich trieb mit ihnen, lupfte und senkte die Leine. Sobald ich paddelte, stießen die Quallen gegen die Schnur, was mich wieder anhalten ließ, um das Signal zu überprüfen, um zu sehen, welche Lebensform ihre Botschaft aus dem Dunkel heraufmorste. Eine Schwarmkugel entdeckte ich nicht.
Warum die Makrele in jenem Jahr so spärlich erschienen war, darüber gab es wie häufig bei solchen Dingen ebenso viele Meinungen, wie es Leute gab, die man fragen konnte. Ein Fischhändler vor Ort berichtete mir sehr überzeugend von einem monströsen Schiff, das in der Irischen See unterwegs sei und nicht mit einem Netz, sondern mit einem Vakuumschlauch arbeitete, der die Makrelen und alles, was ihm sonst noch in den Weg kommt, aufsauge. Das Ganze würde dann zu Fischmehl vermahlen und als Dünger und Tierfutter verwendet. Das Schiff habe eine von der Umweltbehörde ausgestellte Lizenz und dürfe 500 Tonnen Makrelen pro Tag fangen und habe zudem von der Europäischen Kommission Subventionen in Höhe von 13 Millionen Pfund erhalten. Ich überprüfte die Geschichte und stellte rasch fest, dass die Umweltbehörde auf See keine Rechtskraft hat, dass Vakuumschläuche nicht zum Fischen eingesetzt wurden, sondern um den Fang aus den Netzen zu saugen, dass in der Irischen See keine Fischmehloperation im Gange war und dass es kein einziges Schiff mit einer Lizenz über so viele Tonnen gibt. Ansonsten aber war die Erklärung makellos.
Andere schrieben die Schuld den Delfinen zu, die in jenem Jahr in größerer Zahl als sonst in die Bucht gekommen seien (die Aufzeichnungen belegen eher das Gegenteil), oder den seit Ende Mai vorherrschenden Nordwestwinden, die wohl die Schwärme auseinandergerissen hätten. Einige Leute verwiesen auf die sogenannten schwarzen Anlandungen durch eine Gruppe betrügerischer Fischer aus Schottland (sie hätten über die Quote hinaus Makrelen und Heringe im Wert von 63 Millionen Pfund angelandet),2 andere auf das Versagen der Europäischen Union, Norwegens, Islands und der Faröer, die jetzt, da die Schwärme im Winter weiter gen Norden zögen, falsche Entscheidungen hinsichtlich der Fangmengen der einzelnen Nationen getroffen hätten;3 oder es wurde der Überfischung der Biskaya durch die spanische Fischereiflotte zugeschrieben, die vor Kurzem fast das Doppelte der erlaubten Quote in ihren Netzen gehabt hätte.
Ich konnte bislang nicht mit Sicherheit feststellen, ob die in die Cardigan Bay wandernden Fische zu der gleichen Population gehören wie die, die in anderen Gewässern einem immensen Fangdruck ausgesetzt waren. Jedenfalls sind die in die Bucht kommenden Makrelen selbst in besseren Jahren, wenn man in etwa einer Stunde 100 oder 200 Fische an Bord ziehen kann, die zerfledderten Reste einer einst gewaltigen Population. Sie könnten sich noch daran erinnern, sagen die örtlichen Fischer, dass die Schwärme früher bis zu fünf Kilometer lang gewesen seien; heute könne man von Glück reden, wenn man einem Schwarm begegnet, der hundert Meter lang ist. Die Europäische Union klassifiziert den Makrelenbestand in der Irischen See als »innerhalb sicherer biologischer Grenzen«,4 was allerdings mehr über unsere verminderten Erwartungen hinsichtlich einer gesunden Population als über den Zustand der Art aussagt.
Ein weiteres Stoßen an der Leine, und ich zog einen kleinen braunen Fisch heraus. Ich zögerte, bevor ich ihn ins Boot schwang. An diesem Küstenstrich werden braune Fische nur mit Vorsicht eingeholt, denn sie könnten zu der für Angler gefährlichsten Art in britischen Gewässern gehören.
Zum ersten Mal kaschte ich einen bei meiner Jungfernfahrt in die Cardigan Bay. Ich hatte Makrelen gefangen, die wild herumschlugen, als ich sie am Haken hatte. Aber dieses Ding blieb unten und schüttelte den Kopf. Die Schwingungen waren über die Leine zu spüren. Ich brachte es an die Oberfläche und sah, dass es 40 bis 50 Zentimeter lang war, eher bleich und braun-weiß gefleckt.
Als ich es aus dem Wasser zog, begann es sich wie verrückt hinund herzuwerfen. Ich schwang es in Richtung meiner freien Hand, aber gerade als ich es ergreifen wollte, schrillte ein uralter, tief in den Basalganglien eingegrabener Alarm. Ich ließ den Fisch in das Boot fallen und inspizierte ihn, als er auf dem Deck zappelte. Ich hatte gedacht, jede in den britischen Gewässern vorkommende Art zu kennen, aber so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ein grün und purpur leuchtender Flossensaum lief den ganzen Körper entlang. Die Seiten waren mit Schlängellinien gezeichnet, Glupschaugen oben auf seinem Kopf und ein riesiges nach oben gerichtetes Maul. Dann, plötzlich, von einem lang vergessenen Buch oder Plakat herrührend, hatte ich den Namen im Kopf.
Es gab zwei Arten. Der Fisch gehörte nicht der kleineren Art an, die sich bei Ebbe im Sand versteckt und die Ferien von barfuß laufenden Kindern ruinieren kann. Es war ein Großes Petermännchen, das, wie ich später gelesen habe, erwachsene Männer vor Schmerz zum Weinen und Toben bringt. Wie die Viperqueise, die kleinere Art, besaß es drei giftbewehrte Stachel in seiner Rückenflosse und eine auf jedem Kiemendeckel. Wenn ein Stich nicht gleich behandelt wird, können die Schmerzen über Tage andauern. Eine Frau aus der Gegend, die auf einem gecharterten Boot angelte, setzte sich aus Versehen auf einen dieser Fische, den jemand auf Deck abgelegt hatte, und musste sechs Wochen im Rollstuhl verbringen. Ich habe einen Mann getroffen, der sechs Monate lang seine linke Hand nicht bewegen konnte. Es sind nur wenige Todesfälle durch Petermännchen bekannt, doch wenn man in einem Kajak gestochen wird und keine Gegenmittel zur Verfügung hat, wird man kaum aus eigener Kraft zurück an Land gelangen. Schmerz und Schock machen das Paddeln absolut unmöglich.
Nachdem ich fast aus dem Boot gefallen war, schaffte ich es, das seltsame Geschöpf vom Haken zu schütteln. Seither habe ich stets einen Holzknüppel dabei. Wann immer ich ein Petermännchen fange, ziehe ich es gegen die Seite des Kajaks und verpasse ihm einen heftigen Schlag. Es hat festes weißes Fleisch, das eine exzellente Bouillabaisse oder ein hervorragendes Curry ergibt. Im Mittelmeer dürfen die Angler auf den Charterbooten alle Fische, die sie fangen, behalten – mit Ausnahme der Petermännchen, die die Crew für sich beansprucht.
In der Saison zuvor gab es Zeiten, an denen ich Petermännchen in größerer Zahl geangelt habe als Makrelen. Auf dem Boot bin ich nie gestochen worden, doch eines Tages, als ich, zurück am Ufer, den Fisch filetierte, während mein Partner ein Feuer in den Dünen machte, rutsche ich mit der Hand aus und rammte meinen Daumen in einen Stachel. Es fühlte sich an, als hätte ich meinen Daumen auf eine Werkbank platziert, einen Hammer geschwungen und so heftig wie möglich zugeschlagen. Ich erstarrte vor Schmerz und spürte voller Panik eine sich durch den Arm über die Schulter bis zur Brust ausbreitende Taubheit. Obwohl mein Gehirn von rotglühendem Schmerz überflutet war, begann es zu arbeiten. Die Stiche von Petermännchen werden am besten mit heißem Wasser behandelt, was so schnell wie möglich geschehen muss. Am Strand gab es kein heißes Wasser. Da aber Haut wasserabweisend ist, konnte der erwünschte Effekt nicht vom Wasser ausgehen. Es musste die Hitze sein. Das Gift musste hitzeempfindlich sein. Und es spielte keine Rolle, woher die Hitze kam. Wo gab es Hitze? Mit nervösem Blick suchte ich die Gegend ab und sah den Rauch zwischen den Dünen aufsteigen.
Ich rannte, über meinen Arm gebeugt, den Strand hinauf, sprang über die Dünen und stieß meinen Daumen in die Flammen. Mein Partner starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Doch die Wirkung war bemerkenswert. Binnen einer Minute begann der Schmerz abzuklingen. Ich hielt meinen Daumen so nah ans Feuer, dass er beinahe versengte; der von den Flammen verursachte Schmerz war weniger heftig als der vom Gift herrührende. Schon bald beruhigten sich meine in Aufruhr befindlichen Nerven. Die Taubheit ließ nach und innerhalb einer halben Stunde fühlte ich mich wieder so wohl wie vor dem Moment, als ich mir den Stachel eingerammt hatte.
Bei dem Fisch allerdings, den ich nun ins Boot zog, handelte es sich nicht um ein Petermännchen. Er hatte eine hohe rechteckige Stirn, ein zartes schnabelförmiges Maul, damastene, kastanienbraune und mit Gold durchsetzte Flanken sowie zinnoberrote Flossen mit türkisen Flecken in der Form spanischer Fächer. Unter der Kehle befanden sich lange knochige Finger, mit denen er die Sedimente nach Nahrung abtastet. Von vorne gesehen sah der rote Knurrhahn wie eine Gans aus, seine Augen saßen seitlich und hoch angesetzt auf seinem beschnabelten Kopf. Von der Seite war er so hübsch wie ein Aquarienfisch. Ich ließ ihn frei und er huschte zurück in die Tiefe.
Ein paar hundert Meter von der Stelle, an der ich mich befand, brachen die Wellen auf dem Kies. Noch immer die Leine hinter mir her ziehend, mühte ich mich mit schweren Armen und vor Anstrengung zitternden Beinen Richtung Norden, wo eine Reihe weißer Brecher den Rand des Riffs markierte. Ich wickelte die Schnur auf die Rolle, sicherte die Haken und verstaute sie. Kurz darauf passierte ich die Salzgrenze. Eine säuberliche weiße Linie aus Schaum. Auf der einen Seite war das Wasser grün und klar; auf der anderen war es braun und trübe: Aus dem Fluss strömte Süßwasser und drang, sich ausfächernd, ins Meer vor. Der Farbwechsel war so abrupt wie auf einem Diagramm.
Ich torkelte durch die brechenden Wellen. Sie schlugen gegen die Felsbrocken in der Flussmündung. Sie schubsten das hintere Ende meines Bootes herum und drohten, mich breitseits in die felsige Brandung zu drücken. Ich wurde von dem Ende einer großen rollenden Welle erfasst; sie drehte mich und mein Bug knallte auf einen Felsen. Ich paddelte rückwärts, glitt durch den nächsten Brecher und fand schließlich zwischen zwei Wellen einen Durchgang. Ich drückte mein Paddel ins Wasser und schob mich in die Flussmündung hinein. Aufgrund der steigenden Tide hatte das Wildwasser im Fluss an Tempo verloren und ich vermochte, mich an die Innenseite der Mäander haltend, gegen es anzupaddeln. Kleine Plattfische schossen unter dem Bootsrumpf davon. Nach ein paar hundert Metern stieg das Flussbett an und das Wasser gewann an Macht. Ich paddelte mit aller Kraft, kam aber schon bald nicht mehr vorwärts. Ich klemmte das Paddel zwischen die Steine und glitt aus dem Boot. Müde und erschöpft, wie ich war, verlor ich den Halt, fiel Kopf voran ins Wasser und verfing mich mit dem Handgelenk in der Paddelleine. Das Boot trieb flussabwärts und zog mich mit sich. Ich strampelte, bis ich die Leine zu fassen bekam, und befreite mich, gerade als mein Gesicht unter Wasser gedrückt wurde. Dann stürzte ich den Fluss hinab, um das Kajak einzufangen. Ich drehte es um und watete wieder flussaufwärts, war aber so müde, dass ich mich kaum gegen das Wasser stemmen konnte.
In dem ruhigeren Wasser unter der Eisenbahnbrücke zog ich das Heck auf das Ufer und rüttelte das Boot, damit die Fische bis zur vorderen Luke glitten. Ihr Rücken hatte sich in ein dunkles Aquamarin verfärbt und der Bauch hatte ein irisierendes Rosa angenommen. Sie glühten im Abendlicht.
Ich holte ein Brett aus dem Wagen sowie ein weiteres Messer. Ich filetierte eine Makrele, legte die helle, durchscheinende Mittelgräte frei, heftete das Filet am Schwanzende mit meinem Taschenmesser an das Brett und häutete es mit dem anderen Messer. Das Fleisch schmeckte nach rohem Steak. Ich filetierte noch zwei weitere Fische und aß sie. Ich saß noch eine Weile an der Flussböschung, sah den Meeräschen zu, wie sie die Wasseroberfläche kräuselten, und den Krähen, die für einen kurzen Moment auf der rostigen Brücke landeten und wieder davonflatterten, wenn sie mich entdeckten. Die restlichen Fische nahm ich aus. Es war kein großer Fang, aber in diesem Sommer war es das erste Mal auf dem Boot, dass ich mehr Energie gefangen hatte, als ich verbraucht hatte.
Als jung die Welt, mahnt’ schlau Natur zur Hast
Es reifte früher und machte länger Rast
John Donne, Vom Fortschritt der Seele
Alles fing damit an, dass mein Freund Ritchie Tassel mich anrief. »Da gibt es etwas, was du dir ansehen solltest. Wie schnell kannst du hier sein?«
»Ich bin am Strand. In einer Stunde vielleicht?«
»Das reicht.«
Ich warf meinen Neoprenanzug ins Auto und machte mich auf den Weg um das Mündungsgebiet. Wenn Ritchie, der fast alles gesehen hatte, der Meinung war, die Sache würde sich lohnen, dann war es auch so.
In den Marschen links und rechts des Pfads zirpten und sirrten die Schilfrohrsänger. Schwalben schwirrten über den Gräben und flatterten um die Köpfe der Schafe. Der Duft des Gagelstrauchs – Honig und Kampfer – hing in der Luft, eine Reminiszenz an viktorianische Zeiten. Ritchie hatte mir ein Fernglas geborgt. Wir warteten.
»Da ist er!«
Bei der Entfernung hätte es sich für mein untrainiertes Auge um einen Bussard oder eine Mantelmöwe handeln können. Als der Vogel aber den Flussarm hinaufflatterte, mit einem seltsam linkischen Flügelschlag, bemerkte ich zwei Dinge. Erstens, dass etwas unter ihm baumelte und schwebte. Zweitens, dass er für eine Möwe zu dunkel und für einen Bussard zu weiß war. Ich brauchte eine Weile.
»Jesus Maria auf dem Fahrrad!«
»Habe ich doch gesagt, oder.«
»Ich kann gar nicht glauben, was ich da sehe.«
»Er ist seit drei Tagen hier. Wenn er sich ansiedelt, dann ist das das erste Mal seit dem siebzehnten Jahrhundert.«
Der Vogel flog auf uns zu. Etwa zwanzig Meter, bevor er den Pfad erreichte, wendete er, zeigte sein Profil und flog langsam vorbei. Er trug einen großen Plattfisch. Nach etwa hundert Metern landete er auf einem Zaunpfahl und begann an dem Fisch zu rupfen.
Indirekt war dafür Ritchie verantwortlich. Er hatte überlegt, dass die Fischadler, die seit 1954 wieder in Schottland brüteten, auf ihrem Weg nach und von Afrika die Küste entlangwandern würden und in den Mündungsgebieten und Seen pausieren und fressen würden – und war zu dem Schluss gekommen, dass die Jungvögel nach Revieren suchen würden. Er hatte die höchste Fichte auf seiner Seite des Tals ausfindig gemacht, sich aufgeseilt, die Spitze abgeschnitten und 15 Meter über dem Boden eine hölzerne Plattform gebaut. Er hatte sie mit Zweigen bedeckt und mit weißer Farbe bespritzt, damit es wie Vogelkot aussah: offenkundig die beste Methode, Fischadler zum Bleiben zu bewegen.
Auf der anderen Seite des Tals hatte ein eifriger Naturschützer diese Maßnahmen beobachtet. Es dauerte nicht lange, und er hatte den örtlichen Naturschutzbund davon überzeugt, eine eigene Plattform zu bauen. Also wurde ein Telegrafenmast neben das Eisenbahngleis gepflanzt und eine Sperrholzplatte auf ihre Spitze genagelt.
»Eigentlich ein Selbstläufer«, meinte Ritchie. »Der Vogel konnte zwischen einem kleinen, tief im Wald gelegenen hübschen Anwesen oben auf einem Baum mit Blick über den gesamten Flussarm wählen und einem exponierten Pfosten direkt an der Eisenbahnlinie. Und was tut der Blödmann? Er hat sich natürlich für das Angebot des Naturschutzbunds entschieden. Nicht, dass mich das ärgern würde oder so was.«
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Es fiel mir noch immer schwer zu glauben, was ich gerade gesehen hatte. Mein Herz pochte. Ein wildes Verlangen überkam mich von der Art, die mich jedes Mal anfiel, wenn ich aus dem immer wiederkehrenden vorpubertären Traum aufwachte, in dem ich, meine Füße ein paar Zentimeter über dem Teppich, die Treppen hinabschwebte. In den letzten Jahren hatte ich ihn nur noch einmal geträumt; tatsächlich nur ein paar Monate, bevor ich den Fischadler zu Gesicht bekommen hatte.
Wie etwa alle vierzehn Tage hatte sich bei mir wieder einmal eine alarmierende Abwesenheit jenes Überlebensinstinkts gezeigt, mit dem andere Leute gesegnet sind, als ich am Strand der Ortschaft Pwlldiwaelod mein Kajak bei drei Meter hohem Wellengang ins Wasser stieß. Das Boot, das auf seiner Bahn durch die Wellen zurückgeschleudert wurde, überschlug sich über mir und ich knallte mit dem Kopf auf den Kies. Ein Glück, dass ich nicht ohnmächtig geworden war. Es erübrigt sich zu sagen, dass ich die Sache wiederholte. Aber beim zweiten Mal schaffte ich es durch die Wellen und paddelte auf das Meer hinaus. Nachdem ich ein paar Fische gefangen hatte, wollte ich wieder an Land zurückkehren. Die Flut stand höher und hässliche, chaotische Sturzseen donnerten gegen die Ufermauer. Etwa zweihundert Meter vor der Küste kam ich ins Grübeln. Selbst von meiner Position aus konnte ich sehen, dass die Wellen braun waren von dem groben Kies, den sie aufwirbelten. Ich hörte ihn gegen die Mauer krachen und prasseln. Ein kalter Angstschauder kroch über meine Haut. Ich suchte das Ufer nach einer besseren Landestelle ab, konnte aber nichts entdecken.
Hinter mir hörte ich ein monströses Zischen: eine Riesenwelle, die über meinen Kopf rollen würde. Ich duckte mich und presste das Paddel auf das Wasser. Nichts. Ich drehte mich um. Die Wogen rollten gleichmäßig heran: hoch, mit weißen Kämmen, aber in dieser Entfernung zum Ufer noch nicht bedrohlich. Verdutzt wendete ich das Boot in alle Richtungen und suchte nach einer Erklärung. Sie tauchte neben dem Boot aus dem Wasser auf: eine graue hakenförmige Flosse, narbig und verschrammt, deren Spitze direkt unter dem Paddelschaft vorbeistrich. Ich wusste, was es war, aber der Schock darüber verstärkte meine aufkeimende Angst und ich geriet fast in Panik. Ich sah nach links und nach rechts und glaubte schon, angegriffen zu werden.
Dann geschah etwas Bemerkenswertes. Ich hörte vom Heck kommend ein anderes Geräusch: ein Klatschen und Aufspritzen von Wasser. Ich wendete den Kopf und ein riesiges Delfinmännchen sprang in die Luft und fast über meinen Kopf. Beim Vorbeifliegen fixierte er