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Lady Cordelia und ihr Bruder, der Earl von Hunstanton, waren mit Captain Mark Stanton nach Valetta auf Malta gesegelt, weil der Earl dem Johanniterorden beitreten will. Danach wollte er, dass seine Schwester einem Kloster beitritt. Doch als Cordelia sich Mark Stanton anvertraut, wird ihre Welt fuer die Liebe geweitet. Ihr wird bewusst, dass sie niemals Nonne werden kann. Auf ihrer Suche nach der Liebe wird sie viele Abenteuer durchleben müssen - Schiffsunglück, Kampf auf hoher See und viel Gefahr, bevor sie wieder die Umarmung des Seefahrers spürt den sie liebt.
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Seitenzahl: 203
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2022
Copyright Cartland Promotions 1981
Gestaltung M-Y Books
www.m-ybooks.co.uk
Der Marquis von Darleston trank einen Schluck Champagner. Eigentlich gab es dafür keinen Anlaß, denn der Seegang war ruhig. Tagsüber trank er nur selten Champagner, es sei denn aus einem triftigen Anlaß.
Er befand sich in einer Luxuskabine des Dampfers, der den Passagierverkehr zwischen Dover und Calais versah. Sein Blick fiel auf die Dokumententasche, und er beschloß, die Zeit für die Lektüre der Memoranden zu nutzen, die der Premierminister ihm übergeben hatte.
Gerade als er die Hand nach seiner Tasche ausstreckte, wurde die Tür aufgerissen, zu seinem nicht geringen Erstaunen von einer Frau.
Der Marquis wollte ihr bedeuten, daß sie irrtümlich eine Privatkabine betreten hatte, als er den erschrockenen Ausdruck ihres noch so jungen Gesichts bemerkte.
Auch fiel ihm ihre ungewöhnliche Schönheit auf.
„Es tut mir leid“, sagte die Frau leise, fast atemlos, „aber dürfte ich mich hier einen Augenblick lang aufhalten?“
Sie sah sich noch einmal um, als wollte sie sich vergewissern, daß die Tür, die sie soeben geöffnet hatte, wieder geschlossen war, und fügte hinzu: „Ein Mann verfolgt mich, er läßt mich nicht aus den Augen.“
Der Marquis erhob sich.
„Nehmen Sie doch erst einmal Platz“, sagte er. „Jeder Aufdringling bekommt es mit mir zu tun. Darauf können Sie sich verlassen.“
Er wollte zur Tür gehen, doch die junge Frau hob abwehrend die Hand.
„Nein, bitte nicht“, sagte sie. „Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Es war einfach ein Fehler von mir, an Deck zu kommen, aber viele Leute unten sind seekrank, obwohl das Meer doch ganz ruhig ist.“
Der Marquis deutete auf einen Stuhl.
„Machen Sie es sich bequem“, sagte er, „und trinken Sie ein Glas Champagner. Das wird Ihnen bestimmt guttun.“
Sie erhob keinen Einwand. Er nahm die Flasche aus dem Eiskübel und füllte ein Glas, das auf dem Tablett daneben stand.
Dann wandte er sich um und reichte es ihr. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getrogen: diese Frau war schön, außergewöhnlich schön.
Sie war schlicht und unauffällig gekleidet.
„Sie reisen doch sicherlich nicht allein? Jemand begleitet Sie, nicht wahr?“
„Nein, das war nicht möglich“, antwortete die junge Frau verlegen.
Sie nahm das Glas entgegen und sah es unsicher an.
„Ich habe noch nie Champagner getrunken“, sagte sie zögernd, „aber Mama hat häufig davon gesprochen.“
Sie glaubte, dem Marquis eine Erklärung zu schulden, und fügte hinzu: „Meine Mutter war Französin.“
„Wir sollten uns miteinander bekannt machen“, lächelte er und setzte sich wieder. „Ich bin der Marquis von Darleston.“
„Mein Name ist Linetta Falaise.“
„Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle Falaise“, sagte der Marquis mit jenem Lächeln, das auf die meisten Frauen eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübte.
Linetta neigte leicht den Kopf. Er fand diese sanfte Bewegung hinreißend graziös und gestand sich ein, daß alle ihre Gesten von bezaubernder Anmut waren.
Vielleicht lag es an ihrer schmalen Gestalt, die sie einem eben erst heranwachsenden Kind gleichen ließ. Das kleine ovale Gesicht mit den übergroßen Augen und der winzigen geraden Nase war ein Abbild zarter Jugend und Unberührtheit.
Wie eine Französin sieht sie nicht aus, dachte der Marquis, jedoch auch nicht wie eine Engländerin, trotz ihres hellen Haars.
Die Farbe ihrer Augen glich überraschend dem dunklen Graublau einer stürmischen See. Offenbar hatten die französischen Vorfahren ihr das gegensätzliche Erbe aus nachtschwarzen Wimpern und tag hellem Haar übereignet.
Als erriete Linetta seine Gedanken, sagte sie hastig: „Meine Mutter kam aus der Normandie. Ihr helles Haar unterschied sie von den meisten Französinnen. Und mein Vater war ebenfalls blond.“
„Sie waren schon einmal in Frankreich?“
Die Frage des Marquis war eher eine Feststellung.
„Nein.“ Linetta schüttelte den Kopf.
„Aber jetzt wollen Sie Ihre Verwandten in der Normandie besuchen?“
„Ich habe keine Angehörigen mehr. Ich fahre zu einer Freundin nach Paris.“
„Dann werden Sie also in Calais erwartet?“
Wieder schüttelte Linetta den Kopf.
„Nein. Ich befinde mich auf der Suche nach einem neuen Lebensweg. Wenn ich ihn erst einmal gefunden habe, wird sich alles regeln.“
Dem Marquis entging keineswegs der leise Zweifel in ihrer Stimme.
Dann aber sagte er sich, daß ihn das eigentlich alles gar nicht betraf. Es wäre ein Fehler, sich in die Angelegenheiten eines fremden Menschen zu mischen. Darüber hinaus mußte er sich auf die etwas heikle diplomatische Aufgabe vorbereiten, die ihn in Paris erwartete.
Trotzdem hatte Linetta Falaise sein Interesse erregt, und das lag nicht allein an ihrer Ausstrahlung. Sie hob sich auf unerklärliche Weise von allen anderen Frauen ab, denen er in London und auf seinen Reisen begegnet war.
Nach einigen vorsichtigen Kostproben sagte sie: „Mama hatte recht. Sie sagte immer, daß Champagner einen besonders anregenden Geschmack hätte.“
„Das hört sich ja an, als sei sie Kennerin auf diesem Gebiet“, lächelte der Marquis.
„Vielleicht klingt es anmaßend“, sagte Linetta schüchtern, „aber Mama wußte sehr gut über Wein Bescheid, und sie lehrte mich, einen guten von einem weniger guten zu unterscheiden, obwohl wir nur selten etwas anderes getrunken haben als Wasser.“
Sie lächelte ihn an, als hätte sie nur einen kleinen Scherz gemacht, und der Marquis hielt es für groben Leichtsinn, daß eine so schöne Frau diese Reise allein unternahm.
Es stand außer Zweifel, daß sie die beleidigende Aufmerksamkeit fremder Männer auf sich zog, die eine so auffallende, alleinreisende Frau als Freiwild betrachteten.
„Aus welchem Grund sind Sie in diese Kabine gekommen?“ fragte er.
Linetta schlug die Augen nieder. Eine leichte Röte schien ihre blassen Wangen zu überfliegen.
„Ich sah Sie an Bord kommen, Mylord“, sagte sie, „und Sie wirkten so vornehm auf mich.“
Linetta zögerte, und ihre Gesichtsfarbe vertiefte sich.
„Irgendwie glaubte ich, in Ihrer Nähe sicher zu sein.“
„Ihr Gefühl hat Sie nicht getäuscht“, erwiderte der Marquis ernst. „Aber davon abgesehen finde ich es höchst unvorsichtig von Ihnen, ohne Begleitung nach Paris zu reisen.“
„Ich weiß sehr wohl, daß es unschicklich ist“, sagte Linetta, „aber mir blieb keine andere Wahl.“
Es war unfaßbar, was Mademoiselle Antigny ihr mit müder, kaum hörbarer Stimme gesagt hatte.
„Ich habe über dich nachgedacht, Linetta. Du wirst nach Paris übersiedeln müssen, zu meiner Nichte. Es gibt keine andere Möglichkeit. Nur diese eine.“
„Bitte, Mademoiselle, so dürfen Sie nicht reden“, hatte Linetta gefleht. „Sie werden sich wieder erholen. Ganz bestimmt. Sie müssen nur daran glauben.“
Trotz ihres leidenschaftlichen Wunsches fühlte sie aber, daß es keine Hoffnung mehr gab.
Sie hatte es dem Gesichtsausdruck des Arztes abgelesen, als er nach der ersten Untersuchung aus dem Krankenzimmer kam.
Obwohl er versuchte, ihre Gefühle so weitgehend wie möglich zu schonen, wußte sie, daß ihre Erzieherin, die sie von Kindheit an gekannt und verehrt hatte, im Sterben lag.
„Ich muß dir etwas sagen.“ Allein diese Worte bereiteten Mademoiselle Antigny unsagbare Mühe, das spürte Linetta.
„Was ist denn?“ fragte sie vorsichtig. „Aber bitte, überanstrengen Sie sich nicht.“
„Ich wollte es dir schon seit langem sagen“, erwiderte Mademoiselle, „aber ich habe es immer wieder hinausgezögert, weil ich glaubte, es eilte nicht. Aber jetzt bleibt mir nicht mehr viel Zeit.“
Linettas Finger umschlossen die auf der Decke liegende Hand der alten Frau. Sie beugte den Kopf vor, um Mademoiselle das Sprechen zu erleichtern, und wartete.
„Als deine Mutter vor zwei Jahren starb“, sagte Mademoiselle, „hörten die Geldzuwendungen, von denen sie lebte, plötzlich auf.“
„Hörten auf?“ rief Linetta überrascht aus.
„In einem amtlichen Brief wurde mitgeteilt, daß die Anweisungen, die deine Mutter nach dem Tod deines Vaters in vierteljährlichem Abstand erhalten hatte, eingestellt würden. Das Schriftstück liegt im mittleren Schubfach meines Schreibtischs.“
Diese wenigen Sätze hatten Mademoiselles Kraft derart beansprucht, daß sie nach Atem ringen mußte.
Nach einer Weile fragte Linetta: „Aber von welchem Geld haben wir seitdem gelebt?“
„Von meinen Ersparnissen.“
„Aber Mademoiselle! Warum sind Sie denn nur so großzügig gewesen, so gütig? Ich hätte mich doch nach einer Arbeit umsehen können. Niemals hätte ich zugelassen, daß Sie Ihr eigenes Geld für mich ausgeben.“
„Du hättest es ohnehin bekommen, nach meinem Tod“, erwiderte Mademoiselle. „Aber jetzt, mein liebes Kind, ist nichts mehr davon übrig.“
Sie atmete schwer.
Dann sagte sie: „Nach meinem Ableben solltest du alles verkaufen und mit dem Geld, das du für das Haus und die Möbel bekommst, nach Paris reisen. Ich bin nicht mehr imstande, meiner Nichte zu schreiben, aber du könntest es an meiner Stelle tun; und ich werde den Brief unterzeichnen.“
„Aber woher wissen Sie, daß ich ihr willkommen wäre?“ fragte Linetta.
„Marie-Ernestine ist ein liebes Mädchen. Sie wird sich um dich kümmern und dir behilflich sein, eine Anstellung zu finden“, erwiderte Mademoiselle.
Atemnot überkam sie, und Linetta erhob sich schnell, um eine Tablette und ein Glas Wasser vom Waschtisch zu holen.
Der Arzt hatte dieses Medikament nur für den Ernstfall verordnet. Diese Notlage war eingetreten, als Mademoiselle die Absicht bekundete, ihr einen Brief zu diktieren.
Geschickt stützte Linetta mit einer Hand die Schulter der Gouvernante, gab ihr die Arznei und hielt das Wasserglas an ihre Lippen.
Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, lehnte Mademoiselle Antigny sich einen Augenblick lang in die Kissen zurück und schloß die Augen.
Linetta holte Schreibpapier und einen Bleistift.
Sie hielt es für angebracht, so schnell wie möglich zu notieren, was ihrer Erzieherin am Herzen lag, und es dann sorgfältig aufzusetzen.
Eine kleine Weile später öffnete Mademoiselle Antigny die Augen.
„Linetta, ich sagte dir bereits, daß Marie-Ernestine ein sehr nettes Mädchen ist. Ich hatte mich ihrer angenommen, bis ihre Mutter sie nach Paris kommen ließ.“
Sie seufzte etwas.
„Arme Marie-Ernestine! Aus lauter Verzweiflung darüber, das Landleben aufgeben zu müssen, versteckte sie sich in ihrer Dachkammer. In einem ihrer Briefe berichtete sie mir über die Klosterschule, die sie auf Veranlassung eines guten Bekannten ihrer Mutter besuchte. Seither schrieb sie mir zu jedem Weihnachtsfest.“
„Ja, ich erinnere mich daran, wie sehr Sie sich immer über diese Briefe gefreut haben“, sagte Linetta.
„Es scheint, als hätte Marie-Ernestine eine gute Anstellung in Paris gefunden“, fuhr Mademoiselle Antigny fort. „Worum es sich dabei handelt, hat sie mir nicht erzählt, aber ihre Mutter arbeitete als Näherin und auch als Hausdame für etliche vornehme Familien. Der letzte Weihnachtsgruß trug eine neue Adresse: Avenue de Friedland.“
Mademoiselle Antigny schloß erneut die Augen, als ginge dies alles über ihre Kraft.
„Bitte, schreib jetzt den Brief, mein Liebes“, sagte sie, und Linetta entsprach ihrem Wunsch.
Dieser Brief war der einzige Schutz für sie, als Mademoiselle gestorben und das Haus verkauft worden war, in dem sie und ihre Mutter seit ihrer Kindheit gelebt hatten.
Linetta wußte, daß alle Hinweise und Ratschläge von Mademoiselle auf einer reichen Lebenserfahrung beruhten. Sie konnte tatsächlich unmöglich allein leben. In Paris, sagte sie sich, würde Marie-Ernestine irgendeine Arbeit für sie finden, und dann hätte sie wenigstens auch eine Freundin, mit der sie reden konnte, wenn sie eines Zuspruchs bedurfte.
Linetta fand es bedauerlich, daß sie außerhalb des Lebenskreises ihrer Mutter und ihrer Erzieherin kaum einen Menschen kannte.
Ihr Heimatdörfchen Oakley lag tief in einer einsamen Landschaft, wie abgeschnitten von der übrigen Welt. Dort hatte ihre Mutter seit ihrer Heirat gelebt.
Linetta erinnerte sich, daß ihre Mutter nie den Wunsch geäußert hatte, nach Oxford zu fahren.
Sie hatten keinerlei Bedürfnisse, denn sie waren vollauf zufrieden in ihrem kleinen Haus mit dem wunderschönen Garten, den Mrs. Falaise ohne Unterstützung eines Gärtners mit liebevoller Hingabe pflegte.
„Vielleicht liegt es an Mamas französischer Herkunft, daß sie so wenige Engländer kennt“, dachte Linetta häufig.
Aber sie wußte, daß ihre Mutter grundsätzlich allen fremden Menschen aus dem Weg ging. Sie hatte sich der Einsamkeit verschrieben, bis zu dem Zeitpunkt, als Mademoiselle Antigny, ihre Lehrerin, zu ihnen zog. Damals war Linetta elf Jahre alt.
Das war eine überaus glückliche Fügung. Nach jahrzehntelanger Unterweisung von Kindern französischer und englischer Adelsfamilien hatte Mademoiselle sich in ein winziges Häuschen im Dorf zurückgezogen, das ihr von ihrem letzten englischen Dienstherrn zur Verfügung gestellt worden war.
Als sie Linetta zu unterrichten begann, wurde sie gelegentlich noch von ihren ehemaligen Schülerinnen besucht.
Doch im Lauf der Zeit blieben die Besucherinnen nach und nach aus. Um so dankbarer war Mademoiselle Antigny für die häusliche Gemeinschaft mit Mrs. Falaise.
Linettas Mutter und Mademoiselle hatten sich immer in der französischen Sprache miteinander unterhalten, doch beide hatten großen Wert darauf gelegt, daß sie die englische Sprache ebenso vollendet beherrschte wie die französische.
„Dein Vater war Engländer“, pflegte Mrs. Falaise zu sagen. „Er hatte eine wundervolle Stimme, und seine Aussprache klang wie Musik.“
„Erzähl mir mehr von Papa“, bat Linetta dann manchmal, aber ihr schien, daß sie mit diesem Wunsch an allzu schmerzliche Erinnerungen rührte.
„Er ist tot, Linetta“, seufzte sie, und jedes Mal verließ sie das Zimmer, aus Angst, in Gegenwart ihrer Tochter die Beherrschung zu verlieren.
Linetta ging in der Nacht vor ihrem Aufbruch nach Paris noch einmal durch das Haus.
„Dies ist nun meine Welt gewesen“, überlegte sie, „und diese Welt lasse ich hinter mir zurück.“
Die von ihrer Mutter so sehr geliebten Möbel, die im Wohnzimmer gestanden hatten, waren fort. Sie hatten nur einen geringen Gegenwert eingebracht.
Auch die Bücherregale waren leer. Lieber als alles andere in der Welt hätte Linetta die Bücher für sich behalten. Sie waren ihre besten Freunde gewesen, seitdem sie lesen konnte. Nur waren sie für einen Umzug nach Paris zu schwer. Etwas schuldbewußt gestand sie sich ein, daß ihr Gepäck ohnehin zu umfangreich war.
Nicht, daß sie viele Kleider gehabt hätte. Für „Rüschen und Pleureusen“, wie ihre Mutter lächelnd allen Tand zu umschreiben pflegte, war nie viel Geld übrig gewesen.
Linetta hatte nur den größten Teil der kleinen Kunstschätze ihrer Mutter vor dem Verkauf bewahrt, als einziges Andenken an ihr Haus und ihre Kindheit.
Ganz zuletzt hatte sie noch das Grab ihrer Mutter besucht. Der Grabstein war schlicht. Ein Kunstwerk hätte Linetta nicht bezahlen können. Aber er trug die Inschrift „Yvonne Leonide Falaise. Geboren 1832. Gestorben 1867“.
Linetta fragte sich, wo wohl ihr Vater begraben lag. Sie hatte ihre Mutter nie danach gefragt.
Sie legte die Blumen, die sie am Morgen im Garten gepflückt hatte, auf das Grab ihrer Mutter: Akeleien, die Vorboten des Frühlings, Schlüsselblumen und eine Handvoll Schneeglöckchen, die in diesem Jahr erst spät aufgeblüht waren.
Linetta hatte sich im kalten Gras niedergekniet und darum gebetet, daß Mademoiselle ihrer Mutter im Himmel wiederbegegnen möge.
Dann schloß sie noch ein Gebet für sich an: Bitte, Gott, steh’ mir bei und beschütze mich vor allem Bösen. Hilf mir, gut zu sein und stets daran zu denken, was Mama mich gelehrt hat. Und bewahre mich vor aller Angst.
Dennoch hatte sie gegen ein Gefühl der Furcht anzukämpfen, als sie auf die Kutsche wartete, die sie auf die lange Reise nach Dover bringen sollte.
Sie mußte mehrmals die Kutsche wechseln, und jedes Mal befand sie sich in Sorge um ihr Gepäck.
Aber die Mitreisenden kümmerten sich um sie, und so schwand ihre Unsicherheit. Wohlbehalten erreichte sie Dover, und dort brauchte sie nicht mehr lange zu warten, bis die Kanalfähre den Hafen verließ.
Noch nie zuvor war Linetta mit einem Schiff gefahren. Sie war überwältigt von seiner Größe.
Auf Empfehlung eines Stewards ging sie nach unten und machte es sich in einem behaglichen Salon bequem, in dem bereits einige Damen mit kleinen Kindern saßen.
Als das Schiff ablegte, begannen die Kinder zu quengeln. Viele Passagiere wurden entsetzlich seekrank.
Linetta sah keinen Grund dafür, denn das Schiff schaukelte nur geringfügig. Vielleicht lag es einfach an ihrem Reisefieber.
Sie war an Deck gegangen, um etwas frische Luft zu schöpfen und das Schiff ein wenig genauer zu betrachten.
Ein Mann näherte sich ihr. Er trug einen Tweedumhang und einen Hut aus demselben Stoff.
Er war kein Gentleman, das bemerkte sie an seiner Art zu sprechen, doch sie beantwortete höflich seine Fragen, weil ihr zunächst nicht aufgefallen war, daß sein Verhalten über reine Hilfsbereitschaft hinausging.
Er wies zurück auf die Kreideklippen von Dover, rechnete aus, wieviel Zeit sie bis Calais benötigten, und gab ihr zu verstehen, daß es sich bei dieser Fahrt um seine zwölfte Frankreichreise handelte.
Linetta versuchte, ihm auszuweichen, aber er bestand darauf, daß sie gemeinsam etwas trinken sollten.
„Hätte ich vorher gewußt, daß ich an Bord einer Schönheit wie Ihnen begegnen würde, hätte ich natürlich eine Privatkabine genommen“, sagte er, „aber jetzt sind sie alle belegt. Trotzdem werden wir ein gemütliches windgeschütztes Plätzchen finden.“
„Ich muß wieder hinuntergehen“, erklärte Linetta, aber er packte ihr Handgelenk.
„Sie werden mir schon eine Weile Gesellschaft leisten müssen, schönes Kind“, sagte er. „Ich glaube, wir haben uns eine Menge zu erzählen.“
Dabei legte er seinen Arm um sie, und sein rotes Gesicht näherte sich auf ekelerregende Weise.
Linetta riß sich los und lief über das Deck. Sie hörte seine Schritte hinter sich und wußte, daß es nicht lange dauern würde, bis er sie einholte.
In ihrer panischen Angst erinnerte sie sich eines großen, vornehmen Herrn, der ihr aufgefallen war, ehe sie an Bord ging. In seiner Begleitung befanden sich ein Diener und zwei Gepäckträger von der Eisenbahnstation, die unmittelbar an den Hafen grenzte.
Linetta wäre auch lieber mit dem Zug nach Dover gefahren, aber das wäre bedeutend kostspieliger gewesen als die Reise in der altmodischen Kutsche, die gegen Ende der Fahrt praktisch nur noch als Gepäckwagen diente.
Interessiert hatte sie die Eisenbahnpassagiere beobachtet, die zu dem Schiff gingen. Der Herr, der ihr sofort aufgefallen war, hob sich in jeder Beziehung von ihnen ab.
Er unterschied sich von allen Männern, die ihr bisher begegnet waren.
Natürlich hatte sie im Lauf der Zeit schon viele Männer entfernt kennengelernt: den Jäger, der zuweilen ins Dorf kam, einige Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft und schließlich die Landadeligen, die mit herrlichen Pferden auf die Jagd ritten und in ihren roten Röcken und Zylinderhüten außerordentlich autokratisch wirkten.
Der Herr, der vom Zug zum Schiff hinüberging, verkörperte in Linettas Augen alle nur denkbaren männlichen Vorzüge.
So muß mein Vater ausgesehen haben, sagte sie sich.
Ihre Mutter hatte so wenig von ihrem Vater erzählt, daß sie sich im Lauf der Jahre ein väterliches Ideal geschaffen hatte, das alle Heldengestalten der Bücher in sich vereinigte, die sie so begierig las.
Sie war davon überzeugt, daß ihr Vater wie Richard Löwenherz in der Beschreibung von Sir Walter Scott gewesen war, wie Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, vielleicht auch wie die Skulptur des David von Michelangelo und schließlich wie die Inkarnation fast aller Helden von Shakespeare in einer Person.
Aber es war ihr nie gelungen, sich ein Bild seiner Gesichtszüge zu machen, und sie wußte auch nicht, inwieweit sie ihm ähnlich war.
Doch als sie den Herrn, der sich inzwischen als Marquis von Darleston vorgestellt hatte, auf der Gangway der „Victoria“ sah, war sie davon überzeugt, daß ihr Vater zu seinen Lebzeiten ebenso ausgesehen hatte.
Sie stellte das Champagnerglas wieder zurück, nachdem sie daran genippt hatte. Wie ein Kind, das sich auf seine Erziehung besinnt, sagte sie dann: „Ich bin Ihnen sehr zu Dank verbunden, Mylord, daß Sie mir diese Zuflucht gewährten. Vielleicht empfinden Sie es als Dreistigkeit, daß ich in Ihre Kabine gedrungen bin, aber mir blieb keine andere Wahl.“
„Mademoiselle, Sie haben genau das Richtige getan“, erwiderte der Marquis. „Und wenn wir in Calais sind, werde ich mich darum kümmern, daß Sie in einem Wagen fahren, der nur für Damen reserviert ist.“
„Danke, Mylord“, sagte Linetta schnell. „Ich wußte nicht, daß es solche Wagen gibt.“
„Wie ich bereits sagte, sollten Sie nicht ohne Begleitung reisen“, fügte er hinzu. „Aber das geht mich natürlich nichts an. Ich lege nur Wert darauf, daß Sie sich in guter Obhut befinden, bis Ihre Freunde Sie in Paris abholen werden.“
Linetta wollte eigentlich sagen, daß niemand sie in Empfang nehmen würde, denn Marie-Ernestine Antigny, der sie den Brief ihrer Tante aushändigen wollte, wußte ja nicht, daß sie kam.
Dann dachte sie aber, dieses Geständnis könnte den Eindruck erwecken, als erwarte sie von dem Marquis noch weitere Aufmerksamkeiten, und so schwieg sie lieber.
Am „Gare du Nord“ würde sie eine Droschke mieten und dem Kutscher die Adresse von Marie-Ernestine geben. Das würde ihr bestimmt keine Schwierigkeiten bereiten.
Sie hatte ein kindliches Vertrauen in alles, was andere Menschen für sie planten. Nicht einen Augenblick lang kam ihr in den Sinn, daß Marie-Ernestine verreist oder umgezogen sein könnte während der zwei Monate, die seit ihrem letzten Weihnachtsbrief an ihre Tante verstrichen waren.
„Sie sind sehr liebenswürdig“, sagte sie schließlich zu dem Marquis. Die Arglosigkeit in ihren Augen rührte ihn.
In Calais machte er einen Eisenbahnwagen mit der Aufschrift „Nur für Damen“ ausfindig und zog sich dann in sein luxuriöses Einzelabteil zurück, das für ihn vor seiner Abreise aus England bestellt worden war. Er sagte sich, daß er seiner Pflicht Genüge geleistet hatte und mehr nicht von ihm erwartet werden konnte.
Während er auf die Abfahrt des Zuges wartete, machte er es sich bequem und beschloß, sich seiner Arbeit zu widmen, die zu tun ihm während der Kanalüberfahrt nicht möglich gewesen war.
Als sein Diener ihm einen großen Eßkorb ins Abteil brachte, der, wie er wußte, seinen Abendimbiß enthielt, fiel ihm ein, daß Linetta sich an der Station etwas zu essen besorgen mußte, falls sie hungrig war.
Aus einem Impuls heraus, der ihn selbst verwunderte, beauftragte er seinen Diener, alles Notwendige zu beschaffen und zusammen mit einer Flasche Weißwein in das Abteil zu bringen, das er für sie ausgewählt hatte.
Im Anschluß daran öffnete der Marquis resolut seine Arbeitsmappe, um sich gegen weitere Unterbrechungen zu wappnen.
Linetta war angenehm überrascht und erfreut, als der Diener ihr die Köstlichkeiten überbrachte.
„Seine Lordschaft dachten, Ihnen könnte entgangen sein, mein Fräulein, daß dies ein Expreßzug ist, der nur ein- oder zweimal während der Nacht hält.“
„Richten Sie Seiner Lordschaft bitte meinen aufrichtigen Dank aus“, sagte Linetta. „Seiner Fürsorge verdanke ich, daß ich nicht halb verhungert in Paris ankommen werde.“
„Ich werde es ihm bestellen, mein Fräulein“, sagte der Diener und zog seinen Hut.
Linetta fand das Abteil zweiter Klasse sehr komfortabel. Sie teilte es glücklicherweise mit nur einer Reisegefährtin, einer Französin mittleren Alters.
Sie war so müde, daß sie ganz ruhig schlief und nicht einmal aufwachte, als der Zug in Amiens hielt. Sie erwachte erst, als ihre Gefährtin sagte, daß Paris nur noch eine halbe Reisestunde entfernt war.
„Werden Sie abgeholt?“ fragte sie.
„Nein, Madame, ich werde mir eine Droschke nehmen.“
„Wohin führt Sie Ihr Weg?“
„In die Avenue de Friedland.“
„Was für ein Zufall! Mein Bestimmungsort liegt im selben Stadtviertel. Lassen Sie uns gemeinsam eine Droschke nehmen. Dann wird es nicht ganz so teuer.“
Mit Hilfe ihrer neuen Freundin sprang Linetta aus dem Zug, als er im Bahnhof eingelaufen war.
Die Reise erfahrene Französin machte einen Gepäckträger ausfindig, und weil sie den Zug vor allen anderen Reisenden verlassen hatten, bekamen sie sofort eine Droschke.
Das bedeutete für Linetta, daß sie keine Gelegenheit mehr hatte, den Marquis noch einmal zu sehen und ihm für seine Gefälligkeiten zu danken.
„Wahrscheinlich hat er mich schon längst vergessen“, dachte sie.
Allzu gern hätte sie ihm ihre Dankbarkeit bezeugt und, wichtiger noch, einen letzten Blick auf ihn geworfen.
Es war noch sehr früh am Morgen, und sie glaubte zu wissen, daß er nicht in Eile war, zumal zweifellos eine Privatdroschke auf ihn wartete, um ihn ans Ziel seiner Reise zu bringen.
Er ist der bestaussehendste Mann, dem ich jemals begegnet bin, dachte Linetta und sah sich noch einmal um, in der Hoffnung, daß er vielleicht auf dem Bahnsteig stände.
„Kommen Sie“, sagte ihre Freundin, und sie wandte sich ab. Sie wußte sehr wohl, daß ihre Enttäuschung lächerlich war.
Nie mehr werde ich einem so stattlichen Mann begegnen, dachte sie, und sie war davon überzeugt, daß die Helden aller Bücher, die sie künftig lesen würde, ihm ähnlich sähen.
Paris nahm ihre Aufmerksamkeit derart gefangen, daß es ihr leicht fiel, die Erinnerung an den Marquis abzuschütteln. Sie saß auf dem vorderen Rand der Sitzbank und betrachtete staunend die großen grauen Häuser, die genauso aussahen, wie ihre Mutter sie beschrieben hatte.
Sie fuhren durch kopfsteingepflasterte Straßen, die sich wahrscheinlich nicht verändert hatten seit der Zeit, als die Aristokraten zur Guillotine abgeführt wurden.
Linetta rief sich ins Gedächtnis, daß jeder einzelne Stein in Paris Geschichte atmete, eine historische Vergangenheit, die sie nicht allein in ihren Unterrichtsstunden studiert, sondern auch in Büchern nachgelesen hatte, mit einem Eifer, der jedes Wort zur Freude machte.
Der Sonnenkönig, die Intrigen von Staatsmännern wie Talleyrand, Aufstieg und Fall von Napoleon Bonaparte: Linetta hatte sich nie daran satt gelesen, und jetzt befand sie sich auf der Spur alles dessen, was sie den Büchern entnommen und sich selbst vorgestellt hatte.
Erst als sie in der Avenue de Friedland ankam, fühlte sie plötzlich Angst in sich aufsteigen.