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Mehr als drei Jahre verhalf Dietrich Rohrbeck fluchtwilligen Menschen aus der DDR in die Freiheit. Dank seiner engen Verbindung nach Dänemark eröffnete er ganz besondere "Touren" in eine überraschende Richtung und trickste die Stasi-Kontrolleure aus. 16 Kleinkinder führte er wieder mit ihren Eltern zusammen – eine einzigartige Leistung. Er versteckte Flüchtlinge in einem umgebauten Mercedes und arbeitete mit in Dänemark gefälschten Ausweisen, Visa und Stempeln. Jetzt erzählt Rohrbeck zum ersten Mal selbst seine Geschichte. Der Herausgeber Sven Felix Kellerhoff hat diese Erinnerungen für die Publikation historisch kommentiert und um weiterführendes Material ergänzt.
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Seitenzahl: 211
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SVEN FELIX KELLERHOFF (HRSG.)
Die Erinnerungen des FluchthelfersDietrich Rohrbeck
Mit einem Vorwort von Holger Knaack
und einem Nachwort von Michael Kretschmer
IMPRESSUM
Kellerhoff, Sven Felix (Hrsg.):
Via Dänemark in die Freiheit -
Die Erinnerungen des Fluchthelfers Dietrich Rohrbeck
Mit einem Vorwort von Holger Knaack
und einem Nachwort von Michael Kretschmer
1. Auflage — Berlin: Berlin Story Verlag 2021
ISBN 978-3-95723-167-3
eISBN 978-3-95723-714-9
© Berlin Story Verlag GmbH
Leuschnerdamm 7, 10999 Berlin
Tel.: (030) 20 91 17 80
Fax: (030) 69 20 04 059
UStID: DE276017878
AG Berlin (Charlottenburg) HRB 132839 B
www.BerlinStory.de, E-Mail: [email protected]
Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Birgit Weichmann, Gerda Wüst
Lektorat: Gabriele Dietz
Umschlag und Satz: Norman Bösch
WWW.BERLINSTORY.DE
Vorwort von Holger Knaack
Einleitung
DIETRICH ROHRBECK: ERINNERUNGEN 1961 BIS 1965
Ein Heim
Ein Auftrag
Das »Reisebüro«
Die Fähren
Ein Tunnel
Der Mercedes
Die Kinder
Eine Weihnachtsgeschichte
Eine Festnahme
Der Ford
Ein Prozess
Die Pässe
EIN DEUTSCH-DÄNISCHES LEBEN
Deutschland 1936 bis 1961
Dänemark 1965 bis 1992
Deutschland und Dänemark seit 1992
Nachwort von Michael Kretschmer
ANHANG
Quellen und Literatur
Abkürzungen
Bildnachweis
Kinder sind das Wertvollste, was Menschen gegeben werden kann. Entsprechend schwer erträglich ist es, von den eigenen Kindern getrennt zu werden. Schier unerträglich muss erst recht das Wissen sein, dass die eigenen Kinder in Zwang und Unterdrückung aufwachsen, während man selbst in Freiheit lebt.
Mitmenschen dieses Schicksal zu ersparen – das nennt Dietrich Rohrbeck in den Erinnerungen an seine Zeit als Fluchthelfer den wesentlichen Antrieb, dessentwegen er 1962/63 fast anderthalb Dutzend Babys und Kleinkinder aus der DDR herausschmuggelte und zu ihren bereits in den Westen geflüchteten Müttern und Vätern brachte. Er ging damit ein enormes persönliches Risiko ein, denn dem Regime galt diese im eigentlichen Sinne humanitäre Tätigkeit als »kriminelle Menschenhändlerei«; westliche Fluchthelfer, die in die Fänge des SED-Geheimdienstes gerieten, wurden oft zu fünf bis zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Manchmal auch zu mehr – bis hin zu lebenslänglich.
Rohrbeck wäre sicher hart bestraft worden, da er dem Ministerium für Staatssicherheit spätestens seit Herbst 1962 als aktiver Fluchthelfer namentlich bekannt war. Doch obwohl ein Spitzel seinen Namen verraten hatte, bekam die Stasi ausweislich der erhaltenen Akten von dem Babyschmuggel erst 1982 etwas mit (und dann auch noch ziemlich viel falsch); auch von seinen sonstigen, teilweise waghalsigen Fluchthilfeaktionen mit Verstecken in Autos oder mit gefälschten Pässen erfuhr die Staatssicherheit nur schemenhaft.
Nach seiner Zeit als Fluchthelfer ging der gebürtige Berliner Dietrich Rohrbeck Anfang 1965 als Architekt nach Dänemark und engagierte sich hierviele Jahre lang im Rotary-Club Nyköping. Zu den DDR-Bürgern, die er mit einem umgebauten Mercedes in seine Wahlheimat Dänemark schmuggelte, gehörte am 2. und 3. November 1962 der damals 22-jährige Hanns Stephan Wüst. Nach der zunächst ganz planmäßig verlaufenden Flucht spitzte sich die Lage des Flüchtlings unerwartet dramatisch zu, wovon Rohrbeck jedoch erst ein halbes Jahrhundert später erfuhr. Wüst schaffte es dennoch nach Westdeutschland, wurde ein international bekannter Gartenbau-Experte und ist seit 1979 Mitglied im Rotary-Club Kaiserslautern.
Von dieser gemeinsamen Geschichte zweier späterer Rotarier erfuhr ich im vergangenen Frühjahr von dem Historiker und Journalisten Sven Felix Kellerhoff. Er bereitete zu dieser Zeit die Erinnerungen von Rohrbeck für die Veröffentlichung vor. Kellerhoff ist ebenfalls Rotarier, im Club Berlin-Süd, und er fragte mich, ob ich bereit wäre, zu der Edition ein Vorwort beizusteuern. Das habe ich gern zugesagt, denn mich faszinierte die enge Verwobenheit des selbstlosen Handelns des jungen Dietrich Rohrbeck mit den Werten, die Rotary vertritt. Außerdem erinnerte ich mich dabei intensiv an meine eigenen Grenz-Erfahrungen. Ich bin in Sichtweite, nur 500 Meter von der Zonengrenze (wie es damals hieß), aufgewachsen. Im kleinen Grenzfluss Wakenitz in Schleswig-Holstein sind wir Kinder im Sommer geschwommen. Da war die Welt für uns zu Ende; als mutig galt, wer am Ostufer kurz an Land ging. Es bleibt für mich unvergesslich, nach der Grenzöffnung das eigene Dorf Groß Grönau, den Kirchturm zum ersten Mal aus einem ganz anderen Blickwinkel zu sehen. Auf einmal lebten wir mitten in Deutschland, mitten in Europa.
In diesem Jahr 2020/2021 darf ich Rotary International als erster Deutscher in unserer schon 115-jährigen Geschichte vorstehen. Wir sind eine Organisation von mehr als 1,2 Millionen Mitgliedern in fast allen Ländern der Welt. Wir legen Wert darauf, dass wir weltanschaulich neutral sind; ideologische und politische, gar parteipolitische Zwecke verfolgt Rotary nicht, haben Rotarierinnen und Rotarier in ihren Clubs niemals verfolgt. Wenn allerdings Menschen das ihnen zustehende Recht, ihr Leben selbstbestimmt zu führen, verweigert wird, wenn sie gehindert werden, in ihrem eigenen Heimatland ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, obwohl sie nichts verbrochen haben – dann ist das keine Frage von Weltanschauung oder Ideologie. Es ist eine Frage der Menschlichkeit, ihnen diese Freiheit zu ermöglichen.
Dietrich Rohrbeck hat rund drei Jahre lang, vom Sommer 1961 bis zum Frühherbst 1964, Menschen aus dem damaligen Ostdeutschland geholfen, ihr Schicksal im Westen in die eigenen Hände zu nehmen. Insgesamt waren es mehrere Dutzend. Das ist eine zutiefst mitmenschliche und damit eben auch rotarische Leistung, vor der ich großen Respekt habe. Seine Tätigkeit hatte kein Netz, keinen doppelten Boden. Bei einer Tunnelflucht im März 1962 musste Rohrbeck miterleben, dass ein Fluchthelfer, einer seiner Bekannten, von der Stasi erschossen wurde. Sein Bruder Helmut flog durch Pech bei einer Fluchthilfeaktion auf und wurde in einem DDR-Gefängnis inhaftiert; zwei Kommilitonen wurden an die Stasi verraten – Rohrbeck tat, was er konnte, ihr Schicksal zu verbessern. Solche Erfahrungen des Scheiterns hielten Dietrich Rohrbeck jedoch nicht davon ab, die Grenzkontrollen der DDR auszutricksen, um Menschen vom unfreien ins freie Deutschland zu holen. Dazu nutzte er die ganz speziellen Möglichkeiten, die er als ein mit einer Dänin verheirateter West-Berliner hatte.
Rotary-typisch ist dieses Buch, in dem die Erinnerungen Dietrich Rohrbecks an seine Zeit als Fluchthelfer zwischen Berlin und Dänemark in Form einer lesbaren, zugleich aber nach geschichtswissenschaftlichen Maßstäben aufbereiteten Edition veröffentlicht werden, als Non-Profit-Projekt konzipiert. Schon seine Aktionen 1961 bis 1964 waren, obwohl für Auslagen kleinere Summen flossen, altruistisch – Rohrbeck hat immer viel eigenes Geld in seine Hilfe für Mitmenschen investiert, neben dem erheblichen Risiko für das eigene Leben und die eigene Freiheit, das er bereitwillig einging. Mindestens eine der aufwendig geöffneten Routen durch die Mauer erwies sich als komplette Fehlinvestition. Trotzdem machte Dietrich Rohrbeck mit seinem Einsatz weiter, weil er von der Richtigkeit dieses Engagements überzeugt war.
Die frühen 1960er-Jahren waren eine völlig andere Zeit als das beginnende dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Die meisten Leser dieses Buches werden nicht mehr unmittelbar nachempfinden können, welchen Herausforderungen sich der damals junge Dietrich Rohrbeck stellen musste. Gewiss, heute gibt es andere Herausforderungen – werwüsste das besser als all die Rotarierinnen und Rotarier, die überall auf der Welt versuchen, mit ihren Möglichkeiten das Leben vieler Menschen wenigstens ein winziges Stückchen besser, fairer und gerechter zu machen?
Aber gerade Rohrbecks einzigartiger Einsatz, Kleinkinder aus der DDR zu holen und zu ihren Eltern zu bringen, ist eine Leistung, die auch heute jedem empathischen Menschen unmittelbar einleuchtet. Ich freue mich sehr, dass jetzt seine Erinnerungen an eine dramatische Zeit vorliegen. Ich wünsche diesem Buch viele Leser und seiner zutiefst mitmenschlichen, im eigentlichen Sinne rotarischen Botschaft eine weite Verbreitung.
Oktober 2020Holger Knaack,Präsident Rotary International 2020/2021
Wiedersehen nach fast 53 Jahren – Hanns Stephan Wüst und Dietrich Rohrbeck 2015
Tagsüber ist es am Straußberger Platz in Berlin-Friedrichshain selten ruhig. Auch nicht am 17. Oktober 2015. An diesem wolkigen, aber nicht allzu kühlen Vormittag sitzt ein etwas aufgeregter 79-Jähriger auf einer Bank und wartet. Wartet auf einen Menschen, den er zwar fast 53 Jahre lang nicht gesehen hat, mit dessen Leben und dessen Schicksal er dennoch eng verbunden ist. Dietrich Rohrbeck wartet auf Hanns Stephan Wüst. Organisiert hat das Treffen der dänische Journalist Jesper Clemmensen, der auch mit der Videokamera dabei ist und das Wiedersehen nach mehr als einem halben Jahrhundert dokumentiert. Als Rohrbeck und Wüst einander dann begegnen, fallen sie sich in die Arme. Tränen fließen. Für beide ist es ein höchst emotionaler Moment. Denn sie waren einmal vor langer Zeit für einige Stunden eine Schicksalsgemeinschaft.
Damals, in der Zeit nach dem Bau der Berliner Mauer, war der Mittzwanziger Dietrich Rohrbeck Student an der Staatlichen Ingenieurschule für Bauwesen in West-Berlin und Fluchthelfer; der vier Jahre jüngere Hanns Stephan Wüst, der bis zum Mauerbau eine Gärtnerlehre absolviert hatte und demnächst in die Nationale Volksarmee der DDR eingezogen werden sollte, zählte zu den Fluchtwilligen, die Rohrbeck aus der SED-Diktatur herausschleuste. Am 2. November 1962 stand Wüst am Straußberger Platz, genau genommen vor den Schaufenstern des damaligen »Haus des Kindes«, dem größten Kinderkaufhauses in der DDR. Rohrbeck trat von hinten an ihn heran, damit Wüst möglichst wenig von ihm sah. Dann raunte er ihm das verabredete Codewort zu und forderte ihn auf, mit dem nächsten Zug vom Berliner Ostbahnhof nach Rostock zu fahren; dort werde ihm weitergeholfen. Tatsächlich wartete am selben Abend wieder Rohrbeck, der mit seinem Wagen ebenfalls nach Rostock gefahren war, auf Wüst. Wieder tat er alles dafür, nicht identifiziert werden zu können. Nun begann die eigentliche Flucht.
Beide riskierten viel: Falls die ostdeutschen Grenzer das Vorhaben vereiteln würden, drohten Wüst zwei bis drei Jahre Haft in einem DDR-Zuchthaus; auf mindestens zehn Jahre hätte wohl das Urteil für Rohrbeck gelautet, abzusitzen im zu Recht berüchtigten Stasi-Sondergefängnis Bautzen II. Eine Entdeckung hätte sie beide die beste Zeit ihres Lebens gekostet, und die weiteren Folgen des gnadenlosen Strafregimes wären unabsehbar gewesen.
In den ersten Jahren nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 verhalfen West-Berliner Fluchthelfer, einige Dutzend regelmäßig und hunderte gelegentlich, mehreren tausend DDR-Bürgern zu einem Leben in Freiheit. Sie organisierten Pässe ähnlich aussehender westlicher Bürger oder fälschten Papiere, mit denen sie die Grenzkontrolleure der Stasi austricksten; sie öffneten Wege durch die immer dichteren Sperranlagen und untergruben sie mit Tunneln. Oder sie versteckten Fluchtwillige in allen möglichen und unmöglichen Fahrzeugen, um sie in den Westen zu schmuggeln.
Anfangs war die Fluchthilfe überwiegend uneigennützig und nur ausnahmsweise kommerziell ausgerichtet. Wenn Geld floss, dann meist nur als Ersatz für Auslagen. Weil die DDR buchstäblich alles tat, um Fluchten zu verhindern und die einfallsreichen Helfer auszuschalten, sei es durch Abschreckung, durch Festnahme oder auch durch tödliche Gewalt, gehörte Geheimhaltung zu den wichtigsten Prinzipien der mutigen jungen Männer; Frauen waren in dieser Szene zwar als Kurierinnen aktiv, nicht aber als Akteure. Wegen der strikten, meist gewahrten Vertraulichkeit erfuhren auch erfolgreich geflüchtete DDR-Bürger nur selten etwas über ihre Helfer, wenn es sich nicht gerade um Verwandte oder Freunde handelte. Entsprechend selten gab es Wiedersehen zwischen Fluchthelfern und Flüchtlingen.
Dietrich Rohrbeck und Hanns Stephan Wüst waren sich vor dem 2. November 1962 niemals begegnet und trennten sich nach der erfolgreichen Flucht, während der ihrer beider Zukunft voneinander abgehangen hatte, ohne mehr als das Allernötigste gesprochen zu haben. Etwa ein halbes Jahrhundert schwieg Rohrbeck in der Öffentlichkeit über seine Tätigkeit als Fluchthelfer, dann wurde Jesper Clemmensen eher zufällig auf seine Geschichte aufmerksam und begann zu recherchieren. Da viele Fluchthilfeaktionen Rohrbecks über Dänemark liefen und nur möglich waren aufgrund der Sondersituation eines deutschen Ehemanns einer Dänin, fand der Kopenhagener Dokumentarfilmer die Geschichte interessant. Im Zuge seiner Arbeit knüpfte er Kontakt zu Wüst, der nach seiner erfolgreichen Flucht an der Technischen Universität Berlin Landschaftsgestaltung studiert, anschließend in Aachen und seit 1978 als ordentlicher Professor an der Universität Kaiserslautern gelehrt hatte. Clemmensen arrangierte 2015 das Wiedersehen von Fluchthelfer und Flüchtling nach fast 53 Jahren.
Im Zusammenhang mit Clemmensens Buchprojekt erfuhr auch ich von Dietrich Rohrbecks Geschichte und traf mich auf der süddänischen Insel Lolland mit ihm und Hanns Stephan Wüst. Als Geschichtsredakteur der WELT bin ich stets an außergewöhnlichen Zeitzeugen und ihren Erlebnissen interessiert, und was der dänische Kollege mir vorab berichtet hatte, versprach äußerst spannend zu sein. Der daraus entstandene Artikel erschien zum 56. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 2017 in der WELT AM SONNTAG.
Bei der Vorstellung von Jesper Clemmensens Buch Skyggemand. Flugthjælper i den kolde krigs Berlin (auf Deutsch: Schattenmann – Fluchthelfer im Kalten Krieg Berlins) am 1. September 2017 im Hafen von Gedser traf ich Rohrbeck und Wüst wieder – und erfuhr nebenbei, während einer Besichtigungsfahrt durch den Ferienort Marielyst, von einem weiteren, schier unglaublichen Erlebnis Rohrbecks: der Flucht von zwei jungen Pärchen aus der DDR über die zugefrorene Ostsee zu Weihnachten 1962. Auf den Tag genau 55 Jahre später veröffentlichte ich einen Artikel darüber abermals in der WELT AM SONNTAG. Spätestens jetzt war mir klar, dass Dietrich Rohrbeck noch weitere Erlebnisse von hoher Eindringlichkeit beisteuern konnte.
Der Plan, Jesper Clemmensens hochinteressantes Buch aus dem Dänischen ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen, zerschlug sich nach mehreren Anläufen. Umso schöner ist es, nun die Erinnerungen von Dietrich Rohrbeck an seine Zeit als Fluchthelfer in Form einer kommentierten Quellenedition vorlegen zu können. Ich habe seinen vorliegenden Text durchgesehen und in Absprache mit dem Autor gekürzt sowie geordnet. Ergänzende Recherchen durch Gespräche, in Stasiakten, Pressearchiven und der Literatur sind in die Fußnoten eingeflossen, die von mir stammen, sofern es nicht jeweils anders angegeben ist. Außerdem habe ich eine Biografie Dietrich Rohrbecks vor und nach der Zeit als Fluchthelfer hinzugefügt, also seines deutsch-dänischen Lebens.
Mein Dank als Herausgeber gilt zuallererst Dietrich Rohrbeck selbst, der seinen ursprünglich von Gabriele Seifarth (www.die-textbienen.de) niedergeschriebenen Text vertrauensvoll in meine Hände gegeben hat und stets bereit war, die Nachfragen des kritischen Historikers und Journalisten nach bestem Wissen zu beantworten. Jesper Clemmensen Findigkeit, sein Gespür für das Thema und seine umfangreichen Recherchen ermöglichten auch dieses Buch; ich danke ihm dafür. Hanns Stephan Wüst hat das Projekt nach Kräften unterstützt, die redaktionelle Hilfe von Gerda Wüst und Dr. Birgit Weichmann war für mich ebenfalls sehr wichtig. Wieland Giebel hat nicht gezögert, das Vorhaben für den Berlin Story Verlag anzunehmen, dessen Verlagsleiter Norman Bösch das Projekt in gewohnt engagierter, professioneller Art zum Buch machte. Enno Lenze, der Geschäftsführer der Berlin Story Bunker GmbH förderte die Edition engagiert, Gabriele Dietz hat das Lektorat kompetent und kritisch geleistet. Holger Knaack, der erste deutsche Präsident von Rotary International, hat zu unserer großen Freude das Vorwort beigesteuert; Michael Kretschmer, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, verfasste dankenswerterweise das Nachwort.
Nur wenn wahre Geschichten wie jene des Fluchthelfers Dietrich Rohrbeck nicht in Vergessenheit geraten, auch nicht rund sechs Jahrzehnte später, werden uns die Lehren aus der Vergangenheit davor bewahren, Fehler früherer Zeiten wiederholen zu müssen.
9. November 2020Sven Felix Kellerhoff
Familienglück – Vibeke und Dietrich Rohrbeck 1961 mit ihrer ersten Tochter Betina
Am 25. April 1961 hatte meine Frau Vibeke in Dänemark unser Töchterchen Betina zur Welt gebracht. Ich dachte, an jenem Tag könne es kein Elternpaar auf der ganzen Welt geben, das glücklicher und stolzer war als wir. Mein Ziel war es, meine kleine Familie so rasch wie möglich nach Berlin zu holen. Deswegen gab ich mir schon seit längerem alle erdenkliche Mühe, eine Wohnung für uns zu mieten. Doch das war ein schwieriges Unterfangen.
In den Osterferien hatte ich in Berlin den Fliesenlegermeister Günther Kurtze kennengelernt, der einen eigenen Handwerksbetrieb führte. Nun fragte er mich, wann ich denn Frau und Kind nachholen würde, und ich erzählte ihm von meinen Schwierigkeiten, eine geeignete Wohnung zu finden. Kurtze antworte mir, er habe in der Neuen Straße 12 in Zehlendorf ein Mehrfamilienhaus gekauft; es bestehe die Möglichkeit, das Dachgeschoss auszubauen; die Treppe sei bereits bis oben hin vorbereitet. Wenn es mir gelinge, als Baustudent ohne Kosten für ihn Zeichnungen zu erstellen und die notwendigen Genehmigungen zu bekommen, dann könne er den Ausbau nach meinen Wünschen machen und die fertige Wohnung günstig an mich vermieten. Ich war begeistert.
Ich schaute mir das Dachgeschoss an, nahm das Aufmaß und machte mich mit Feuereifer an die Planung. Die Wohnung sollte 85 Quadratmeter groß werden und aus zwei Zimmern, einer Wohnküche und dem Bad bestehen. Dazu sollte eine 28 Quadratmeter große Dachterrasse auf einem angrenzenden Flachdach kommen. Ich füllte den Bauantrag entsprechend aus, und zu meiner großen Freude wurde der Ausbau dem Bauherrn genauso wie geplant genehmigt. Die Bauarbeiten begannen Ende Mai 1961; einziehen sollten wir zum 1. September.
Aus dem Album der stolzen Eltern – Vibeke Rohrbeck beim Füttern von Betina
Doch gut zwei Wochen vorher, am Sonntag, dem 13. August 1961, begann die DDR mit dem Bau der Mauer.1 Von heute auf morgen lebten die Menschen in West-Berlin wie auf einer Insel. Wer sich am 12. August nicht im Westen aufgehalten hatte, saß nun im Osten hinter der rapide ausgebauten Grenze fest. Das bis dahin übliche Berufspendeln von Ost- nach West-Berlin fand ein jähes Ende. Und genauso wäre es beinahe auch mit dem weiteren Ausbau unserer Wohnung geschehen. Denn Franz Schmidt, der zuständige Mitarbeiter von Meister Kurtze, gehörte zu den zehntausenden Pendlern, die bis zum 12. August täglich mit der S-Bahn aus dem Ostteil der Stadt in den Westteil zur Arbeit gefahren waren.2 Er spielte beim Ausbau der von mir entworfenen Dachgeschosswohnung eine tragende Rolle. Denn Schmidt war zwar gelernter Maurer, konnte aber einfach jede handwerkliche Tätigkeit verrichten. Als echter Allrounder war er von unschätzbarem Wert für uns.
Schärfere Gangart – Propagandaplakat gegen Grenzgänger von Anfang August 1961
Zum Glück hatte er irgendwie wohl gespürt, was die DDR-Regierung vorhatte, und war am Abend vor der Grenzsperrung mit seiner Frau Erika und dem gemeinsamen kleinen Sohn Harry gerade noch rechtzeitig in den Westen herübergekommen.3 Nun brauchte seine Familie ein Dach über dem Kopf. Selbstverständlich boten wir den drei Schmidts erst einmal in unserer künftigen Wohnung Unterschlupf. Abgesehen von wenigen Restarbeiten war sie schon nahezu bezugsfertig. Doch da Franz und Erika weder Möbel noch sonst irgendetwas aus der DDR hatten mitbringen können, mussten sie die erste Nacht auf dem Fußboden schlafen. Schon am nächsten Tag ließ ich unser neues Doppelbett aus Birkenholz einschließlich Matratzen und Keilkissen in die Wohnung bringen. Außerdem sammelte ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis diverse Sachspenden für die Schmidts, sodass sich nach und nach auch für sie wieder ein wenig Normalität einstellen konnte.
Tagsüber arbeitete Franz Schmidt weiter mit Hochdruck an der Wohnung. Doch auch wenn sie inzwischen bezugsfertig war, konnten Vibeke, Betina und ich sie noch nicht nutzen. Schmidt hatte zwar von Günther Kurtze eine andere Wohnung im selben Haus gemietet, die aber noch umgebaut und modernisiert werden musste. Natürlich wohnte Familie Schmidt bis dahin in »unserem« Dachgeschoss.
Mitte September war es dann endlich so weit: Wir konnten einziehen. Unsere Wohnung wirkte durch die Dachschrägen deutlich größer als 85 Quadratmeter; große sichtbare Holzstützen und Tragbalken im Wohnbereich machten die Räume urgemütlich. Die große Küche diente zugleich als Esszimmer, das Bad hatte sowohl Badewanne als auch Dusche. Auch das Schlafzimmer war sehr großzügig. Und auf der großen Dachterrasse gab es fließend kaltes und warmes Wasser – so konnten wir im Sommer sogar draußen duschen. Für die Zeit war es eine richtige Luxuswohnung. Entsprechend wohl fühlten wir uns. Und das Beste: Die Warmmiete betrug gerade einmal 180 DM; dazu kamen noch die Stromkosten. Alles in allem ein lächerlicher Betrag für so viel Komfort.
Meine Schwiegereltern in Dänemark sahen das alles freilich ganz anders: Sie waren sehr beunruhigt, dass die Familie ihrer Tochter in West-Berlin lebte. Sie fanden das einfach nur gefährlich angesichts der Horrornachrichten, die ihnen das dänische Fernsehen präsentierte. Sie riefen fast jeden Tag an und baten uns inständig, dauerhaft nach Dänemark zu ziehen. Doch dafür sahen wir keinen Anlass: Wir wohnten ja weit ab von der Mauer, hatten unseren Alltag und absolut keine Bedenken zu bleiben. Außerdem steckte ich noch mitten im Architekturstudium. Und überhaupt fühlten wir drei uns in West-Berlin pudelwohl.
1Vgl. Arnold / Kellerhoff: Unterirdisch in die Freiheit, S. 9–23 sowie https://www.welt.de/kultur/history/article13528790/Berlin-Pullach-Air-Force-One-Das-Mauerprotokoll.html u. https://www.welt.de/geschichte/geschichten/article180948244/Aus-dem-Bundesarchiv-Minute-fuer-Minute-So-entstand-die-Berliner-Mauer.html.
2Anfang August 1961 arbeiteten schätzungsweise 60.000 Ost-Berliner und Bewohner des unmittelbaren Umlandes West-Berlins in den drei westlichen Sektoren der Stadt; umgekehrt hatten nur etwa 13.000 West-Berliner ihren Arbeitsplatz im Osten, davon jeder zweite bei der Reichsbahn, die alle ehemals nationalen Bahnanlagen einschließlich der S-Bahn in den westlichen Bezirken betrieb, nicht jedoch die U-Bahn, die zum städtischen Eigenbetrieb BVG gehörte. Diese sogenannten Grenzgänger standen seit 1952 unter ständiger Kritik der DDR-Behörden und mussten Schikanen hinnehmen. Auf diese Weise sollten sie gedrängt werden, ihre Arbeitsplätze in West-Berlin »freiwillig« aufzugeben. Im Sommer 1961 verschärfte sich die Gangart gegen die Grenzgänger noch einmal erheblich. SED-Zeitungen beschimpften sie als »Verräter« und »Spekulanten«. Wer im Ostteil der Stadt lebte und im Westen arbeitete, was den ostdeutschen Behörden bei ordnungsgemäßer Anmeldung bekannt war, durfte fortan bestimmte Waren in der DDR nicht mehr kaufen. Außerdem mussten Betroffene und ihre Familien ab dem 1. August 1961 die Miete und alle öffentlichen Gebühren in DM West bezahlen. Das erhöhte den Druck auf Grenzgänger, in den Westen zu flüchten, im Sommer 1961 erheblich. Hatten sich im Juni 1961 noch 19.198 DDR-Bürger im West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde gemeldet, so waren es im Juli bereits 30.444 und allein bis zum Abend des 12. August 1961 erneut etwa 13.500. Vgl. Der Tagesspiegel v. 2. August 1961 u. Roggenbuch: Das Grenzgänger-Problem, S. 298–315 u. S. 336–384.
3Zwei Tage vor dem Mauerbau hatte die Berliner Morgenpost weitsichtig getitelt: »SED will Fluchtwege versperren. Vor dem Höhepunkt des Terrors?« Obwohl diese Schlagzeile hunderttausendfach gelesen wurde, kam der Vollzug für praktisch alle Deutschen überraschend; man hatte sich so eine Maßnahme einfach nicht vorstellen können. Vgl. Berliner Morgenpost v. 11. August 1961 u. https://www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/articlel05063860/Der-BND-gibt-Akten-zum-Mauerbau-1961-frei.html.
Bekenntnis zu West-Berlin – WELT-Artikel über die Grüne Woche von Anfang Februar 1962
Im Frühjahr 1962 fand die erste »Grüne Woche« nach dem Mauerbau statt. Sie erhielt erstmals den Namen »Internationale Grüne Woche Berlin« und stand unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Heinrich Lübke. Insgesamt etwa fünfzig ausländische Aussteller aus sieben Ländern Westeuropas sowie den USA, Kanada, Israel, Marokko und Libanon waren dabei.4 Über 438.000 Besucher tranken 100.000 Schoppen Wein, aßen 300.000 »Groschenäpfel« und stärkten sich an 65.000 Portionen Joghurt.5 Die Messe war ein voller Erfolg. Zum Marketing der »Grünen Woche« gehörten die »Karolinemädchen«: In der dänischen Milch-, Butter- und Käsewerbung gab es Kühe, die in weiß-rot-karierten Schürzen auf einer Weide unterwegs waren. Genauso waren die Kellnerinnen am dänischen Stand ausstaffiert, während sie die Berliner auf der Ausstellung bewirteten.
Auch unsere kleine Familie kam in jenem Frühjahr 1962 zu ganz besonderen Ehren. Irgendwie hatte ein Reporter erfahren, dass in Zehlendorf eine Dänin mit Kleinkind und ihrem deutschen Mann lebte. Das war für die Redaktion interessant genug, einen Artikel mit Foto zu bringen, der das junge Familienglück in der Großstadt aus der Sicht einer dänischen Mutter schilderte. Wenige Tage nach Erscheinen dieses Artikels klingelten zwei Herren an unserer Wohnungstür und wollten mich sprechen. Einer von ihnen war Amerikaner, wie man an seinem breiten Akzent leicht erkennen konnte. Der andere stellte sich als »Herr Mertens« vor, war Deutscher und – wie ich später erfahren sollte – Mitarbeiter beim Landesamt für Verfassungsschutz.6 Sie regten an, ob wir nicht in ein Restaurant in der Potsdamer Chaussee gehen könnten – sie müssten unter sechs Augen mit mir reden. Meine Frau hörte das, bot an, Kaffee zu kochen und dann mit Betina spazieren zu gehen, damit wir ungestört seien. Die beiden Herren nahmen Vibekes Angebot gern an.
Als wir unter uns waren, erfuhr ich den Grund für den Besuch der beiden Herren: die Weltjugendspiele in Helsinki.7 »Mertens« hatte erfahren, dass einige Teilnehmer aus der DDR, die bei dem Treffen vom 29. Juli bis 6. August 1962 mit dabei sein durften, die Gelegenheit zur Flucht nutzen wollten. Nun brauchte man einen Vertrauensmann vor Ort, der die ostdeutschen Jugendgruppen diskret beobachtete und der, falls es zu Zwischenfällen mit Aufpassern oder Bonzen von der SED käme, zum Schutz der jungen Leute resolut einschreiten könne. Dazu hatten sie mich auserkoren.
Politisches Spektakel – Sondermarken der DDR-Post anlässlich der Weltjugendfestspiele 1962
In Helsinki sollte ich mit einem Team des NDR unterwegs sein. Unsere Aufgabe: die Musik der verschiedenen Folkloregruppen aufnehmen. Anschließend sollten wir noch einen Abstecher nach Lahti machen, die achtgrößte Stadt Finnlands, rund hundert Kilometer nördlich von Helsinki. Dort würden wir die Folklore-Musik der Samen aufnehmen, auch bekannt als Lappen. Zu Beginn unserer Reise würde ich einige Tage im Hotel Kinski wohnen, um mich mit der Stadt vertraut zu machen. Anschließend sollte ich privat bei einem Radioreporter unterkommen.
Ein wenig verblüffte mich, dass ich für diesen Job ausgewählt worden war. Die Begründung lautete, ich spräche ja skandinavische Sprachen. Allerdings beherrschte ich außer Deutsch nur ein bisschen Englisch und durch Vibeke konnte ich ein paar Brocken Dänisch. Mit Finnisch jedoch, das zu einer völlig anderen Sprachfamilie gehört, hatte ich noch nie Berührung gehabt. Doch egal – der Auftrag hörte sich spannend an, die Kosten übernahmen die Auftraggeber, und zusätzlich sollte ich zwei volle Monate Lohn erhalten. Und das Allerbeste: Die Rückreise würde über Stockholm führen, und ich dürfte dort eine Woche die Stadt erkunden. Auch das sollte bezahlt werden, einschließlich der Hotelkosten. Für mich könnten das höchst aufregende Semesterferien werden, die mich nicht eine müde Mark kosten sollten.
Als meine Frau mit Betina zurückkam, wollte ich ihr gleich von dem Anliegen der beiden Besucher erzählen. Wir zogen uns für einen Moment ins Schlafzimmer zurück, und ich berichtete Vibeke flüsternd von dem Angebot der Besucher. Es brauchte keine Überredungskunst, um sie von dem Vorhaben zu überzeugen. Zwar hätte sie die anstehenden Semesterferien lieber mit mir verbracht, doch das Geld, das ich bei dem unverhofften Auftrag verdienen sollte, konnten wir gut gebrauchen. Sie würde dann eben mit Betina zu ihren Eltern nach Dänemark fahren. Und natürlich verstand Vibeke, dass mich die überraschend angebotene Reise nach Finnland und Schweden reizte.