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Die RAF hatte dem Rechtsstaat den Kampf angesagt. Sie stürzte die Bundesrepublik in ihre bis dahin tiefste Krise. Welche Rolle spielten die Baader-Meinhof-Anwälte? Warum wurde an den Mythos der »Isolationshaft« geglaubt? Wie machte die RAF nach dem »Deutschen Herbst« 1977 weiter? Der Autor zieht pointiert Bilanz und enthüllt die konzise Gesamtgeschichte des Linksterrorismus in Deutschland, der schonungslos gegen die Demokratie ins Feld zog. Lange galt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor allem den Tätern, den Mitgliedern der RAF, aber kaum ihren Opfern. Dabei waren die weitaus meisten Toten und Verletzten dieses blutigen Irrwegs ganz normale Leute: Polizisten, Fahrer, Angestellte. Die RAF wollte einen »Volkskrieg« entfachen, aber sie führte vor allem einen Krieg gegen das Volk. 50 Jahre nach der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader aus der Haft am 14. Mai 1970 ist es Zeit, eine ehrliche Bilanz dieser Konfrontation zu ziehen – von den Motiven der Gruppe über die Rolle der Sympathisanten, besonders der RAF-Anwälte, und den Mythos der »Isolationsfolter« bis hin zu den Grenzen des Rechtsstaates, die der Kampf gegen den Terror offengelegt hat.
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Seitenzahl: 246
Sven Felix Kellerhoff
Eine kurze Geschichte der RAF
Klett-Cotta
Die Rechtschreibung wurde den aktuell gültigen Regeln des Duden angepasst, auch in wörtlichen Zitaten.
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Klett-Cotta
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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung des RAF-Logos
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98221-3
E-Book: ISBN 978-3-608-11598-7
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Sprung in den Untergrund
Befreiung
Bilanz der RAF
Schwächen des Rechtsstaates
Zu diesem Buch
Wege in den Terror
SDS und Kommune 1
Brandstiftungen
Neue Militanz
Baader und Ensslin
Vorbereitungen
Die erste Generation
Ideologie
Jordanien
Besuch in Ost-Berlin
Beschaffungskriminalität
Ein neuer Name
Sympathisanten
»Sechs gegen 60 Millionen«
Die Bewegung 2. Juni
Die »Mai-Offensive«
Operation »Wasserschlag«
Ein Kassiber
»Isolationsfolter«
Die Rolle der Anwälte
Festnahme der Nachfolger
Holger Meins’ Tod
Richtermord in West-Berlin
Sartre in Stammheim
Die Entführung von Peter Lorenz
Geiselnahme in Stockholm
»Stammheimer Landrecht«
Meinhofs Selbstmord
Die zweite Generation
Neuaufbau
Festnahme auf der A5
Treffen an der Nordsee
Die Rolle der Frauen
Waffen für die Stammheimer
Dreifachmord in Karlsruhe
Urteil in Stammheim
Schießerei in Singen
Mord an Jürgen Ponto
Eine »Art Stalinorgel«
Passendes Feindbild
Mörderische Entführung
Hartes Ringen
Schleyers Sicht
Entführung der »Landshut«
Selbstmorde in Stammheim
Mord an Schleyer
Blutiges Nachspiel
Selbstauflösung der Bewegung 2. Juni
Flucht in die DDR
Ende im Wald
Die dritte Generation
Zwischenspiel
Erneuter Neuaufbau
»Offensive 84/85«
Der Pimental-Mord
»Offensive 86«
Perfektion und Dilettantismus
Teure Deeskalation
Desaster in Bad Kleinen
Das Ende
Nachwirkungen
Relativ lebenslänglich
Verschwörungstheorien
Verharmlosungen
Der zweite Becker-Prozess
Amoklauf gegen den Rechtsstaat
ANHANG
Dank
Abkürzungsverzeichnis
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
An Warnungen hatte es nicht gefehlt.[1] Schon am 30. April 1970 erfuhr Direktor Wilhelm Glaubrecht, einer der Insassen seiner Strafanstalt Tegel solle »mit Hilfe der Apo« befreit werden.[2] Angeblich handele es sich um Andreas Baader, einen 27-jährigen linken Aktivisten, der als Beruf Journalist angab. Dem Leiter des größten Gefängnisses in West-Berlin erschien es eher unwahrscheinlich, dass wirklich Baader gemeint sei, würde er doch schon im Juli nach Verbüßen der Hälfte seiner Strafe die vorzeitige Entlassung auf Bewährung beantragen können. Außerdem gab es in Tegel einen Häftling mit ähnlichem Nachnamen, den verurteilten Mörder Paul Bader, der lebenslänglich bekommen hatte. »Bei diesem Bader wurde daraufhin eine verstärkte Bewachung angeordnet und, als sich nichts in Richtung einer Befreiung tat, der gesamte Vorgang ad acta gelegt«, registrierte das Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit fassungslos.[3]
Trotzdem blieb Glaubrecht, dem erst Ende Januar unbekannte Täter den Privatwagen in Brand gesetzt hatten, vorsichtig, als Anfang Mai 1970 Andreas Baader einen Antrag auf Ausgang stellte. Im Vorjahr waren 379-mal Strafgefangene des Gefängnisses Tegel ausgeführt worden, begleitet stets von zwei bewaffneten Justizbeamten – meist zu Arztbesuchen, in wenigen Ausnahmen zur »Unterstützung des beruflichen Fortkommens« als Teil ihrer angestrebten Resozialisierung. Genau das verlangte Baader; er wolle in der Bibliothek des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in der Miquelstraße 83 in Dahlem an einem Buch über die »Organisation randständiger Jugendlicher« arbeiten. Doch der Gefängnisleiter lehnte ab – die notwendige Literatur könne Baader sich in die Haftanstalt kommen lassen.
Vielleicht spielte es eine Rolle, dass schon ein halbes Jahr lang eine Serie von Anschlägen mit linksextremem Hintergrund West-Berlin in Atem hielt. Zuletzt hatte es Attacken auf das Arbeitsamt im Märkischen Viertel und auf das Amerika-Haus in Charlottenburg gegeben; eine Bankfiliale und das Arbeitszimmer des höchsten Richters der geteilten Stadt, Günter von Drenkmann, waren mit Molotowcocktails in Brand gesetzt worden. In Drenkmanns Büro im Kammergericht hatten die Täter Fotos von Baader und dem wegen anderer Anschläge inhaftierten Michael »Bommi« Baumann zurückgelassen. Die radikale Szene in der Stadt stand unter Hochspannung.
Am Dienstag, dem 12. Mai 1970, erfuhr Direktor Glaubrecht, dass der linke West-Berliner Verleger Klaus Wagenbach für das Projekt mit dem Arbeitstitel »Zur Organisation randständiger Jugendlicher« Andreas Baader einen Buchvertrag angeboten habe. Das Vorhaben schien also doch ernst gemeint. Glaubrecht zögerte weiter, denn er war Baader schon weit entgegengekommen. Zum Beispiel hatte er dem Strafgefangenen Besuche der bekannten Journalistin Ulrike Meinhof sowie einer Frau genehmigt, die sich als Lektorin des Wagenbach-Verlages vorgestellt hatte – und zwar dreimal in nur einer Woche. Insgesamt war Baader seit seiner Festnahme fünf Wochen zuvor bereits 25-mal besucht worden: deutlich öfter als üblich und nach der Strafvollzugsordnung zulässig. Als Baaders Anwalt Horst Mahler von Glaubrechts Ablehnung hörte, bestand er auf einem Gespräch mit dem Direktor. Ausschließlich Baader sei in der Lage, im Dahlemer Institut die benötigte Literatur auszuwählen, argumentierte der Verteidiger. Daraufhin gab Glaubrecht nach und genehmigte für den übernächsten Tag die Ausführung: einmalig und maximal drei Stunden lang. Für eine Wiederholung fehle das notwendige Personal.
Am 14. Mai 1970, einem Donnerstag, traf der Strafgefangene Andreas Baader gegen 9:45 Uhr in Begleitung zweier bewaffneter Justizbeamter in der Miquelstraße ein und setzte sich in den Lesesaal neben Ulrike Meinhof; ein Institutsmitarbeiter bot an, Kaffee zu kochen. Eine Dreiviertelstunde später erschienen zwei junge Frauen, die ebenfalls im Lesesaal zu arbeiten begehrten. Doch das wurde ihnen verweigert, weil dort bereits Meinhof, Baader und die beiden Wachen saßen. Also nahmen die beiden in der Diele des Instituts Platz. Gegen 11 Uhr öffneten sie die Tür der Villa und ließen einen maskierten Mann hinein sowie eine Frau mit roter Perücke – die angebliche Wagenbach-Lektorin, in Wirklichkeit Baaders Gefährtin Gudrun Ensslin. Beide hielten Waffen in den Händen. Georg Linke, ein 62-jähriger Mitarbeiter des Instituts, versuchte zu flüchten und wurde durch einen Bauchschuss lebensgefährlich verletzt. Nun rissen die beiden jungen Frauen Pistolen aus ihren Taschen, stürmten in den Lesesaal und schrien: »Hände hoch, oder wir schießen!«[4] Ohne die Reaktion der Justizbeamten abzuwarten, feuerten sie Tränengaspatronen ab. Beide Wachen wurden verwundet. Im Handgemenge fielen weitere, ungezielte Schüsse. Während der maskierte Mann und die drei Frauen die Justizbeamten beschäftigten, sprang Andreas Baader aus dem Hochparterrefenster des Instituts in den Garten. Ulrike Meinhof folgte ihm, dann kam das Befreiungskommando. Baader, Meinhof und die anderen rannten zu zwei mit Fahrerinnen und laufenden Motoren bereitstehenden Wagen, einem zweitürigen Alfa-Romeo und einem viertürigen BMW. Baader und Meinhof stiegen in den BMW, ihnen folgte Ensslin. Die anderen, der maskierte Mann und die beiden jungen Frauen, quetschten sich in den Alfa. Dann brausten beide Autos mit quietschenden Reifen davon. Die Fahrt war kurz, vielleicht zwei Kilometer. Dann ließ die Fahrerin des BMW Baader, Ensslin und Meinhof aussteigen und entsorgte die gestohlenen Nummernschilder, die mit Klebeband auf den echten befestigt gewesen waren.
Mit dieser Szene wie aus einem schlechten Film begann vor einem halben Jahrhundert die Geschichte der Roten Armee Fraktion, der größten linksterroristischen Gruppe in der Bundesrepublik. Von 1970 bis 1993 fielen ihrem Krieg gegen den Rechtsstaat 34 Unschuldige zum Opfer – elf deutsche und niederländische Polizeibeamte, neun Zufallsopfer, sieben US-Soldaten und »nur« sieben Männer, die den westdeutschen Staat oder seine Wirtschaft repräsentierten, also die eigentlichen Feindbilder der Angreifer darstellten.[5] Weitere mindestens 230 Menschen wurden bei Anschlägen der RAF teilweise schwer verletzt; der erste von ihnen war Georg Linke, der Mitarbeiter des Zentralinstituts für soziale Fragen, der durch einen Lebersteckschuss zum Pflegefall wurde und seinen Lebensabend in Krankenhäusern verbrachte.[6]
Die Polizei tötete im Zuge der Fahndung fünf Angehörige der Terrorgruppe; weitere sechs nahmen sich das Leben, je zwei starben bei misslungenen Anschlägen und bei Unfällen, einer an den Folgen eines Hungerstreiks.[7] Hunderte Bundesbürger wurden wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung der terroristischen Vereinigung RAF rechtskräftig verurteilt.[8] Gut zwei Dutzend Mal verhängten Gerichte die Höchststrafe lebenslänglich, die freilich zu sehr unterschiedlichen Haftzeiten führte: Die wegen Polizistenmordes verurteilte Angelika Speitel kam schon nach knapp zwölf Jahren Haft durch Begnadigung frei; Verena Becker saß sechs Monate länger wegen zweier versuchter Polizistenmorde. Die anderen zu lebenslänglich verurteilten RAF-Terroristen mussten 14 bis 25 Jahre hinter Gittern verbringen. Die längste einzelne Haftstrafe verbüßte Christian Klar, der ursprünglich zu fünfmal lebenslänglich plus 15 Jahren verurteilt worden war: Er wurde Ende 2008 nach 26 Jahren entlassen. Seit Juni 2011 sitzt kein früheres RAF-Mitglied mehr in Haft.
Auf das Konto der Terroristen gingen rund 40 Banküberfälle mit insgesamt etwa sieben Millionen Mark Beute, mindestens 180 Autodiebstähle sowie unzählige weitere Straftaten, von Dokumentenfälschungen bis hin zu Totschlag und Mord. Die direkten Sachschäden beliefen sich wohl auf eine halbe Milliarde Mark; ein Vielfaches davon wurde im Laufe der Zeit in Polizei und Strafverfolgungsbehörden investiert.[9] Weit schwerer wogen jene Schäden des Linksterrorismus, die man nicht quantifizieren kann: die Schmerzen der Verletzten, das Leid der Hinterbliebenen und die Ängste, die Tausende Menschen auszustehen hatten, weil Terroristen sie möglicherweise im Fadenkreuz hatten.
Die RAF ging zurück auf radikale Splitter der zerfallenden Studentenbewegung rund um den charismatischen Kleinkriminellen Andreas Baader und die Intellektuelle Gudrun Ensslin. Mit Angehörigen des linksradikalen Establishments wie der Journalistin Ulrike Meinhof und dem Anwalt Horst Mahler bildeten sie im Frühjahr 1970 eine illegale Gruppe, die rasch Sympathien in linken Kreisen der bundesdeutschen Gesellschaft fand. Zwar veröffentlichte die RAF hunderte Seiten vermeintlich politische Pamphlete, doch irgendeine konsistente Vorstellung, wie das Zusammenleben anders organisiert werden solle als in der Realität der Bundesrepublik, ließ sich nie erkennen.
Die erste Generation der Gruppe, die mit Baaders Befreiung 1970 entstanden war und zwei Jahre später zerschlagen wurde, entwickelte ihre eigentliche Wirksamkeit erst in der Haft. Die Behörden hatten gehofft, die Gewaltexzesse würden nach sieben ermordeten und Dutzenden verletzten Menschen beendet sein. Doch Hungerstreiks und Vorwürfe wie »Isolationsfolter« oder »Vernichtungshaft« verschafften den inhaftierten RAF-Mitgliedern in großen Teilen der deutschen und westeuropäischen Linken eine Bedeutung, die sie während ihrer Zeit im Untergrund nie gehabt hatten. Wesentlich daran beteiligt waren ihre Wahlverteidiger – sie durften ihre Mandanten zwar fast jederzeit besuchen und bauten ein illegales Rundbriefsystem auf, beklagten gleichwohl deren vermeintliche »Isolation«. Ohne die Unterstützung dieser Juristen wäre die RAF wohl eine zwar blutige, aber kurze Episode geblieben. Erst ihre Kampagne ließ eine aktive Sympathisanten-Szene wachsen, die Hunderte junge Leute umfasste.
Aus diesem Milieu bildeten sich zunächst zwei Zwischengenerationen. Die eine wurde schon nach wenigen Monaten in der Illegalität Anfang 1974 zerschlagen, die andere organisierte im Jahr darauf einen Überfall, der zu zwei ermordeten Geiseln und zwei toten Terroristen führte. Bei der eigentlichen zweiten Generation, manchmal »Baader-Meinhofs Kinder«[10] genannt, handelte es sich dann ab Ende 1976 um eine reine »Befreit-die-Guerilla-Guerilla«.[11] Ihre Ziele waren die Freipressung der ersten Generation aus der Haft und außerdem die Rache an der Bundesanwaltschaft, die sie als wesentlichen Gegner wahrnahmen. Nach dem Scheitern ihrer »Offensive 77« verlor die zweite Generation die Orientierung; dennoch mordete die Gruppe weiter.
Auch die dritte Generation rekrutierte sich aus Unterstützern der Inhaftierten; sie suchte im Schulterschluss mit linksextremen Gruppen aus Italien, Belgien und Frankreich eine neue Selbstrechtfertigung. Doch zu einer »Internationale des Terrorismus« kam es nur ansatzweise. Obwohl die dritte Generation seit 1993 keinen Anschlag mehr verübt hat und ihre verbliebenen Mitglieder 1998 die RAF offiziell auflösten, kann das Kapitel des linksextremen Terrorismus in der Geschichte der Bundesrepublik ein halbes Jahrhundert nach der Befreiung Andreas Baaders nicht als abgeschlossen gelten. Denn noch immer sind viele Verbrechen nicht aufgeklärt.
Es ist kaum damit zu rechnen, dass sich daran etwas ändern wird, obwohl noch genügend im Laufe der Zeit am Linksterrorismus in Westdeutschland Beteiligte leben sowie indirekt Informierte, um praktisch alle offenen Fragen zu klären. Aus der ersten Generation dürften zumindest Irmgard Möller und Brigitte Mohnhaupt unbekannte Details über die wesentlichen Verbrechen der Jahre 1970 bis 1972 kennen. Aus der zweiten Generation gibt es sogar noch mehr Mitwisser. Randfiguren des harten Kerns der RAF wie Susanne Albrecht und Silke Maier-Witt sagten zwar aus, doch Mohnhaupt, Christian Klar, Stefan Wisniewski und andere haben stets beharrlich geschwiegen. Das einzige ehemals führende Gruppenmitglied, das sich immer wieder zu Wort meldete, Peter-Jürgen Boock, verdiente sich durch die notorische Unzuverlässigkeit seiner Aussagen den Spitznamen »Karl May der RAF«. Von den Attentaten der dritten RAF-Generation konnte kein einziges im kriminalistischen Sinne aufgeklärt werden. Zwar nimmt die Bundesanwaltschaft an, ungefähr die Hälfte ihrer rund 20 Mitglieder zu kennen, doch das ist nur eine Vermutung. So gut wie nichts weiß man über die inneren Verhältnisse der Gruppe in den Jahren 1984 bis 1998.
Ein wesentlicher Grund für dieses Unwissen sind prinzipbedingte Schwächen des Rechtsstaates. Natürlich darf niemand gezwungen werden, sich selbst zu belasten. Das nutzten die Terroristen von Anfang an: Stets galt die Devise, den Ermittlern keinen Millimeter entgegenzukommen. Bis auf einige Aussteiger machten angeklagte RAF-Mitglieder keine relevanten Aussagen bei der Polizei oder vor Gericht. Im Gegenteil genossen sie offenbar ihr Wissen über die Hintergründe der Morde, Entführungen und Bombenanschläge. Besonders deutlich zeigte sich das im mutmaßlich letzten RAF-Prozess, der 2010 bis 2012 gegen Verena Becker geführt wurde.
Andere Prinzipien, die den Terroristen in die Hände spielten, sind das Recht auf freie Wahl eines Verteidigers und der besondere Schutz, den dessen Verhältnis zum Mandanten genießt. Viele RAF-Anwälte waren eher Sympathisanten der Angeklagten als Organe der Rechtspflege, die sie eigentlich sein sollten.[12] Ihre Verhandlungsführung war, wie selbst ein sehr nachsichtiger Beobachter festhielt, »in Teilen rechtsmissbräuchlich«.[13] Doch konnte der Rechtsstaat nur begrenzt dagegen vorgehen. Zwar wurden einige Verteidiger im Laufe der Zeit von den Verfahren ausgeschlossen, doch ihre Nachfolger benahmen sich geschickter. Nur acht der mehr als hundert Wahlverteidiger wurden wegen Unterstützung der RAF rechtskräftig verurteilt.
Drittens darf ein Rechtsstaat niemals die eigenen Grundsätze verletzen, nicht einmal gegenüber erklärten Feinden. »Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was im Rechtsstaat erlaubt ist«, hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt 1975 festgestellt.[14] An die Grenzen, aber eben nicht darüber hinaus. Nicht einmal auf dem Höhepunkt der Konfrontation zwischen demokratischer Gesellschaft und Linksterrorismus im Herbst 1977 stand ernsthaft zur Debatte, das zu ändern. Grob rechtsstaatswidrige Maßnahmen gegen die RAF zu ergreifen kam nicht in Frage.[15] Selbst die durchaus fragwürdige Kontaktsperre nach der Schleyer-Entführung beschloss der Bundestag formal korrekt; die obersten Gerichte der Bundesrepublik hielten die nun tatsächlich durchgeführte Isolierung der RAF-Gefangenen für verhältnismäßig.
An Literatur über den westdeutschen Linksterrorismus und die RAF herrscht kein Mangel. Der Journalist Stefan Aust zum Beispiel hat der ersten und zweiten Generation den Bestseller »Der Baader-Meinhof-Komplex« gewidmet, der seit 2017 in vierter, stark erweiterter Fassung vorliegt. Aust ist gleichermaßen Insider wie Beobachter. Sein nun fast tausend Seiten starkes Buch endet im Herbst 1977; die weiteren 21 Jahre kommen in einem elf Seiten langen »Nachspiel« vor. Gleich drei lesenswerte Bücher über einzelne Phasen des westdeutschen Linksterrorismus hat der Anwalt und Publizist Butz Peters verfasst, außerdem eine wiederholt aufgelegte Gesamtgeschichte der RAF, die 863 Seiten umfasst. Eine Fülle einschlägiger Aufsätze und Bücher hat der Historiker Wolfgang Kraushaar vorgelegt, darunter einen Sammelband über »Die blinden Flecken der RAF« (2017). Trotzdem gibt es keine gut lesbaren sowie zugleich nicht zu umfangreichen Gesamtdarstellungen. Der Band von Petra Terhoeven (2017) ist mit 117 Textseiten zu stark verkürzt und folgt zudem mit der These, bei der RAF habe es sich um eine »gescheiterte (deutsche) Selbstbefreiung« gehandelt, zu weit der Selbstdarstellung der Terroristen.[16]
Fast unübersehbar ist die Fülle von Spezialveröffentlichungen, darunter Erinnerungen von Zeitzeugen und Beobachtern wie Qualifikationsarbeiten von Historikern und Politikwissenschaftlern. Eine Reihe dieser Publikationen haben wichtige Aspekte offengelegt, etwa die 2016 erschienene Dissertation von Sabine Bergstermann über die Haftanstalt Stammheim, die Bühne des finalen Kampfes zwischen Baader-Meinhof-Ensslin und dem Rechtsstaat, oder die Habilitation von Gisela Diewald-Kerkmann über »Frauen, Terrorismus und Justiz« (2009).
Lange galt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor allem den Tätern der RAF, kaum ihren Opfern. Zwar äußerten sich Terrorgeschädigte mitunter, doch größere Resonanz fand erst das wichtige Interviewbuch von Anne Ameri- Siemens »Für die RAF war er das System, für mich der Vater« (2007). Dieselbe Autorin ließ 2017 unter dem Titel »Ein Tag im Herbst« einen ähnlichen Band über die Schleyer-Entführung folgen. Sehr persönlich schilderten Corinna Ponto, die Tochter eines RAF-Opfers, und Julia Albrecht, die Schwester einer Terroristin, in ihrem Buch »Patentöchter« (2011) die Verheerung, die diese Gewalt in Familien anrichtete.
Auf ganz andere Art Opfer war Bettina Röhl. Denn ihre Mutter Ulrike Meinhof verließ ihre Zwillingsschwester und sie am 14. Mai 1970, um in die Illegalität abzutauchen. 2018 veröffentlichte Röhl die wütende Abrechnung »Die RAF hat euch lieb« über die Jahre 1968 bis 1972. Das Buch enthält viel bisher absolut unzugängliches Material aus den Akten von Meinhofs Verteidigern, auf die Röhl als Erbin Zugriff bekam. Leider ist nicht zu erwarten, dass ähnliche Unterlagen zu anderen Terroristen je ausgewertet werden können.
All das zusammen ließ es sinnvoll erscheinen, zum 50. Jahrestag der Entstehung der RAF ihre Geschichte in einer gut lesbaren, nicht zu umfangreichen Gesamtdarstellung neu zu beleuchten. Sowohl zum 30. Jahrestag des »Deutschen Herbstes« 2007 wie zehn Jahre später habe ich auf WELTGeschichte, dem Online-Geschichtskanal der WELT-Gruppe, vielteilige Serien zu dieser die Bundesrepublik prägenden Herausforderung betreut und zahlreiche Artikel selbst geschrieben. Das Interesse beim Publikum war erfreulich groß. Eine Lehre aus diesen Serien war, nicht nur die bekannten, in Dokumentationen und Spielfilmen oft thematisierten Anschläge wie den Buback-Mord und die Schleyer-Entführung zu beleuchten, sondern ebenso wenigstens einige andere der vielen Verbrechen, die Linksterroristen 1970 bis 1993 begingen. Das ist möglich, denn zahlreiche Anklageschriften und Urteile gegen RAF-Mitglieder sind zugänglich und geben Einblick in die Ermittlungen der Polizei, selbst wenn diese nicht in jeder Einzelheit immer zutrafen. Deshalb habe ich Anklagen und Urteile mit anderen Quellen verglichen: mit der jeweiligen Berichterstattung der relevanten Medien sowie den Erinnerungen von Überlebenden, Beteiligten und Augenzeugen, den in Stasiakten zugänglichen Informationen und Dokumenten der RAF selbst.
Dieses Buch ist nicht von Sympathie für die Täter geprägt. Hier wird der Irrweg von Baader, Meinhof und Ensslin nicht als »große deutsche Passionsgeschichte« verklärt oder der Terror gegen die demokratische Gesellschaft mit der zweideutigen Kalenderweisheit »Gewalt gebiert Gewalt« verharmlost.[17] Empathie verdienen allein die Opfer des Terrorismus, die zufälligen ebenso wie die gezielt angegriffenen Menschen. Deshalb werden in diesem Buch alle Mordopfer der RAF mit Namen genannt, ebenso viele Schwerverletzte.[18]
Es bedarf keiner Begründung, dass die Attacken der RAF gegen Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik durch nichts gerechtfertigt waren – insbesondere nicht durch die tatsächlich unbefriedigende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Der ideologische Fanatismus der Linksterroristen, einschließlich ihr als Antizionismus kaschierter Antisemitismus, hatte schon 1977 die britische Journalistin Jillian Becker dazu gebracht, die Mitglieder der ersten Generation »Hitlers Kinder« zu nennen und ein Jahr später festzustellen: »Die inzwischen toten Anführer der RAF wussten vielleicht niemals, wie nahe viele ihrer Ideen den Nazi-Ideen waren, zu denen sie in Opposition zu sein glaubten.«[19] Eine interessante Beobachtung. Sie wird nicht nur durch den regen Austausch mit palästinensischen Israel-Feinden belegt, sondern ebenso durch die vielfältig belegte Erkenntnis, dass die RAF selbst antisemitische Wurzeln hatte.[20] Diese Einsicht missfällt jenen, die den Linksterrorismus in mildem Licht sehen.[21]
Am 14. Mai 1970 begann mit der Befreiung von Andreas Baader ein Amoklauf gegen den Rechtsstaat, der die Bundesrepublik so sehr herausforderte wie kein anderes Ereignis ihrer Geschichte bis dahin. Ein halbes Jahrhundert später ist es Zeit, das Wissen über diesen Irrweg konkret und präzise, dabei prononciert zusammenzufassen. Das ist die Aufgabe dieses Buches.
Am Anfang des deutschen Linksterrorismus stand ein tödlicher Schuss. Am Abend des 2. Juni 1967 gegen 20:30 Uhr feuerte der Kriminalpolizist Karl-Heinz Kurras bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in West-Berlin auf den Studenten Benno Ohnesorg; die Kugel traf den 26-Jährigen in den Hinterkopf. Warum Kurras abdrückte, konnte nie aufgeklärt werden. Da er ein Waffen-Narr war, schied ein Versehen aus. Von einer Notwehrsituation konnte nicht die Rede sein, doch im Prozess musste eine entsprechende Falschaussage zugunsten des Angeklagten gewertet werden, weil sie nicht zu widerlegen war. Das führte zum Freispruch.[1] Vielleicht hing Kurras’ Tat damit zusammen, dass er seit 1955 fleißig für die DDR-Staatssicherheit spitzelte; einen konkreten Beleg gibt es nicht.
Erst wenige Stunden lag dieser tödliche Schuss zurück, als eine junge Frau im Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes am Kurfürstendamm einen eindeutigen Schluss zog: »Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren.«[2] Ob Gudrun Ensslin diese Sätze hemmungslos weinend schrie oder mit beklemmender Ruhe hervorstieß, erinnerten Augenzeugen unterschiedlich; manche wollten die dramatische Ankündigung gar nicht mitbekommen haben. Doch an Ensslins Überzeugung, der 2. Juni sei das Signal zum bewaffneten Kampf gewesen, konnte kein Zweifel bestehen: »Schah – Kurras – Ohnesorg. Das ist jedenfalls die kürzeste Erklärung, die ich geben kann«, begründete sie in einem Brief an ihre Schwester ihren Weg in den Terrorismus.[3]
Die Stimmung in West-Berlin war ohnehin angespannt. Etwa fünf Jahre nach dem Schock des Mauerbaus 1961 hatte sich ein Klimawechsel eingestellt. In einer kleinen Szene aus Studenten vor allem der Geistes- und Sozialwissenschaften kursierten kommunistische Parolen. Ganz selbstverständlich diskutierte man über den vermeintlich absterbenden Kapitalismus und die Segnungen des »echten« Sozialismus. Der SDS, ehemals SPD-nah, inzwischen weit nach links abgedriftet, lehnte die freiheitlich-demokratische Ordnung des Grundgesetzes mehrheitlich ab. Diese radikale Fraktion war klein; sie zählte 1967 nach eigenen Angaben rund 300 Mitglieder in West-Berlin und konnte höchstens ein paar tausend Sympathisanten mobilisieren; an den meisten SDS-Aktionen nahmen nur einige Dutzend bis 2000 Menschen teil.[4] Gleichzeitig zählte das zu Protesten bereite linke Milieu bundesweit bis zu 300 000 Menschen, wie die Ostermärsche zeigten.
Wortführer des SDS in West-Berlin war seit 1966 Rudi Dutschke. Kurz vor dem Mauerbau hatte er die DDR verlassen und in West-Berlin zu studieren begonnen. Unter seinem Einfluss wandte sich die linke Studentenorganisation von Hochschulthemen ab und allgemeinpolitischen Fragen zu. Dutschke lehnte die parlamentarische Demokratie radikal ab und forderte, den politischen Willen einer marxistischen Avantgarde ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerungsmehrheit umzusetzen. Aus West-Berlin sollte eine »Räterepublik« werden.[5] Thomas Schmid, selbst ein Aktivist der 68er-Bewegung, nannte sie rückblickend »irritierend in ihrer Hybris, in ihrer Selbstgewissheit, Alleinbesitzer der Wahrheit zu sein« und ergänzte: »Die 68er glaubten in Karl Marx den Denker gefunden zu haben, der gegen alle Laumeier der Welt das Bewegungsgesetz der industriellen Moderne gefunden zu haben schien.«[6]
Diese Selbstgewissheit ließ vielen Gewalt als zulässiges Mittel erscheinen. Dutschke selbst, später als »zutiefst jesuanischer Mensch« verklärt, referierte über die Methoden einer »städtischen Guerilla« und sah in Universitäten eine »Sicherheitszone«, von der aus »der Kampf gegen die Institutionen geführt« werden müsse.[7] Anlässlich des Vietnam-Kongresses in West-Berlin im Februar 1968 transportierte er sogar Dynamitstangen durch Berlin – im Kinderwagen seines Sohnes, während der erst wenige Wochen alte Junge darauf schlief.[8] Dazu passte, dass er im März 1968 vor laufender Kamera bekannte: »Natürlich bin ich bereit, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen.«[9] Bevor der SDS-Anführer seine Ankündigung wahr machen konnte, wurde er von einem rechtsradikalen Hilfsarbeiter niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Daraufhin griffen SDS-Aktivisten in Berlin und andernorts Gebäude des Springer-Verlages an, dem sie vorwarfen, gegen die Studenten gehetzt zu haben. Tatsächlich hatten die Blätter des größten deutschen Verlages linksradikale Studenten oft scharf angegriffen – nachdem der SDS sich die von der DDR gesteuerte Kampagne »Enteignet Springer« zu eigen gemacht hatte.
Wie Dutschke hatte das radikal antibürgerliche Wohnprojekt Kommune 1, das nur im weiteren Sinne zur Studentenbewegung zählte, ein unklares Verhältnis zur Gewalt. Mit manchmal komischen, oft bewusst provokativen Aktionen machten die Bewohner auf sich aufmerksam. So riefen die Kommunarden in Flugblättern indirekt zu Anschlägen auf: »Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht.«[10] Trotz solcher Stimmen war die weit überwiegende Mehrheit der West-Berliner Studentenbewegung nicht bereit, über Straßenschlachten hinauszugehen. Massen bewegen konnte die gewaltbereite Minderheit der 1968er nie, und selbst im radikalen Flügel gab es deutliche Unterschiede: So lehnten die meisten Bewohner der Kommune 1 den anarchistischen Aktivismus ihres zeitweiligen Gastes Andreas Baader ab, der den Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sprengen und Brandsätze im Kaufhaus KaDeWe zünden wollte. Das verhinderten die Kommunarden.
Zur allgemeinen Überraschung bewertete das Berliner Landgericht am 22. März 1968 die Flugblätter der Kommune 1 als Satire; die angeklagten Kommunarden Fritz Teufel und Rainer Langhans wurden freigesprochen. Dieses Urteil empfand Andreas Baader offenbar als Ansporn, Ernst zu machen. Er fuhr mit seiner Freundin Gudrun Ensslin nach Frankfurt am Main und legte mit zwei Bekannten am späten Nachmittag des 2. April in zwei Kaufhäusern an der Zeil Brandsätze mit Zeitzündern. Kurz vor Mitternacht hörten die Anwohner der Einkaufsstraße Detonationen; die Flammen zerstörten mehrere Etagen der Kaufhäuser, darunter eine Spielwaren- und eine Möbelabteilung. Der Sachschaden betrug mehr als zwei Millionen Mark. Während die Feuerwehr noch löschte, klingelte gegen 0:25 Uhr das Telefon bei der Frankfurter Niederlassung einer Nachrichtenagentur. »Gleich brennt’s bei Schneider und im Kaufhof«, sagte eine Frau: »Es ist ein politischer Racheakt.«[11]
Schon wenige Stunden später nahm die Polizei Baader und Ensslin sowie die Mittäter fest. Noch während der Löscharbeiten hatte das Pärchen aus West-Berlin in einem nahe der Tatorte gelegenen Szenelokal gefeiert und Andeutungen fallen lassen, die auf sie als Täter deuteten. Sie kamen in Untersuchungshaft; im Oktober 1968 begann ihr Prozess. Alle vier Angeklagten störten das Verfahren und provozierten das Gericht nach Kräften. Sie verfolgten ein Ziel, das Gudrun Ensslin festgelegt hatte: Öffentliches Aufsehen sollte die ihrer Meinung nach unterdrückten Massen Westdeutschlands bewegen, es den vier Brandstiftern gleichzutun und sich gegen den Staat zu erheben. Doch nichts geschah, denn es gab die angeblich massenhaft Unterdrückten nicht. Nur einige Dutzend Anhänger bejubelten die Auftritte der Brandstifter. Doch weil sie auf jede Zurückhaltung verzichteten, gelang es ihnen, das Verfahren bundesweit bekannt zu machen. Dabei halfen ihnen bekannte linke Anwälte, darunter Horst Mahler und Otto Schily.
Die Angeklagten beschimpften die Justiz als »entartet« und riefen dazu auf, das Gericht zu attackieren: »Steckt diese Landfriedensbruchbude in Flammen!«[12] Das Urteil lautete am 31. Oktober 1968 dennoch nur auf je drei Jahre Haft für die Angeklagten; das war »milde«, räumte einer der Mittäter Jahrzehnte später ein: »Es hätte das Doppelte geben können.«[13] Den Angeklagten sei lediglich die Brandstiftung in einem der beiden Kaufhäuser zweifelsfrei nachzuweisen, begründete der Richter das Strafmaß. Trotzdem kam es während der Verkündung zu Tumulten. Rauchbomben gingen vor dem Gebäude hoch, im Saal griffen Zuschauer Justizbeamte an und im Handgemenge versuchten Baader und Ensslin zu flüchten. Erfolglos.
Zu den Prozessbeobachtern gehörte die Journalistin Ulrike Meinhof. Die ehemalige Chefredakteurin der lange von der DDR finanzierten linken Illustrierten Konkret stellte sich nach dem Urteil in ihrer Kolumne in dem Blatt auf die Seite der Täter, selbst wenn sie sich scheinbar distanzierte: »Gegen Brandstiftung im Allgemeinen spricht, dass dabei Menschen gefährdet sein könnten, die nicht gefährdet werden sollen.« Nicht die Gefährdung von Menschen an sich störte Meinhof, sondern nur das Risiko für jene, die nicht gemeint seien. Im folgenden Satz ging sie weiter: »Gegen Warenhausbrandstiftung im Besonderen spricht, dass dieser Angriff auf die kapitalistische Konsumwelt (und als solchen wollten ihn wohl die im Frankfurter Warenhausbrandprozess Angeklagten verstanden wissen) eben diese Konsumwelt nicht aus den Angeln hebt, sie nicht einmal verletzt.« Die Brandstiftung in den Kaufhäusern war für Meinhof vor allem deshalb falsch, weil sie ungeeignet sei, das angestrebte Ziel zu erreichen – die »Konsumwelt aus den Angeln zu heben«. Ohnehin müsse der Zweck ein anderer sein: »Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch.« Gewalt verstand die Kolumnistin als »progressiv«. Nach Ausführungen über die Schattenseiten des Eigentums und des Konsums schloss sie: »So bleibt, dass das, worum in Frankfurt prozessiert wird, eine Sache ist, für die Nachahmung (abgesehen noch von der ungeheuren Gefährdung für die Täter, wegen der Drohung schwerer Strafen) nicht empfohlen werden kann. Es bleibt aber auch, was Fritz Teufel auf der Delegiertenkonferenz des SDS gesagt hat: ›Es ist immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben.‹« Indirekt bekannte sich Meinhof zur Gewalt: »Fritz Teufel kann manchmal wirklich sehr gut formulieren.«[14]
Die vier verurteilten Brandstifter blieben in Haft; damit waren Andreas Baader und Gudrun Ensslin zunächst von weiterer öffentlicher Aufmerksamkeit abgeschnitten. Ein Gespräch, das Ulrike Meinhof im Gefängnis mit Ensslin geführt hatte, erschien nicht wie geplant in Konkret. Ob Meinhof darauf aus Sorge vor Konkurrenz um ihre Stellung als prominenteste Frau der linksradikalen Szene verzichtete oder weil sie befürchtete, die geständige Brandstifterin habe sich allzu offen zur Gewalt bekannt, ist unklar.[15]
Während das Pärchen Baader und Ensslin hinter Gittern saß, steigerten Teile der linken Szene sich zu einer neuen Militanz: Anfang 1969 warfen in West-Berlin, Hamburg, Frankfurt und anderen Städten unbekannte Täter die Schaufenster von Büros der US-Fluggesellschaft PanAm und von mehreren Amerikahäusern ein, attackierten Kaufhäuser und Niederlassungen spanischer, griechischer sowie portugiesischer Einrichtungen – weil in diesen Staaten Militärregimes diktatorisch herrschten. Bei Demonstrationen kam es wieder zu Ausschreitungen; die Pause nach dem Schock über die Schlacht am Berliner Tegeler Weg am 4. November 1968 mit 130 teilweise schwer verletzten Polizisten war vorüber. Das anarchistische Untergrundblatt »Radikalinski« rief zur Selbstbewaffnung auf: »Haut die Bullen kaputt, wenn sie mitmischen wollen. Vergesst aber nie, einem Bullenschwein die Knarre abzunehmen, wenn ihr ihm die Fresse zertreten habt.«[16] Auf einem SDS