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Die Nazis und ihre Partei: Sven Felix Kellerhoff bietet die erste umfassende Gesamtdarstellung der größten und einflussreichsten Partei, die es jemals in Deutschland gab. Souverän beschreibt er die Karriere jener Bewegung, ohne die Hitler niemals zum mächtigsten Mann Deutschlands geworden wäre. Die NSDAP war mit bis zu 8,5 Millionen Mitgliedern die größte Partei, die es in der deutschen Geschichte gab. Warum traten so viele Menschen dieser deutschen Bewegung bei? Was machte sie attraktiv? Wer finanzierte die Partei? Welche Rolle spielte sie beim Aufstieg Hitlers zur Macht? All das sind Fragen, auf die es trotz zahlloser Hitler-Biographien und Darstellungen des Dritten Reiches bislang keine Antworten gab. Gestützt auf umfangreiches Archivmaterial, erläutert Sven Felix Kellerhoff die Funktion der NSDAP auf dem Weg zur Macht und während des Dritten Reiches. Anhand von Zeugnissen ihrer Anhänger und Funktionäre zeichnet der Autor die Entwicklung der Hitlerbewegung nach: die erste umfassende Geschichte der NSDAP von ihren Anfängen über die Machtergreifung bis zu ihrem Ende 1945 und ihrem Nachleben in der frühen Bundesrepublik.
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Seitenzahl: 591
Sven Felix Kellerhoff
Die NSDAP
Eine Partei und ihre Mitglieder
Klett-Cotta
Die Rechtschreibung wurde den aktuell gültigen Regeln des Duden angepasst, auch in wörtlichen Zitaten.
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Klett-Cotta
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© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von ullstein bild
Motiv: Reichsparteitag NSDAP Nürnberg 1937, Adolf Hitler wird bei seiner Ankunft im Stadion von den Jugendlichen begrüßt (Fotomontage) – 11. 9. 1937
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98103-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10975-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort
Vor Hitler
Drexler und die DAP
Räteherrschaft in München
»Idealismus statt Materialismus«
Völkischer Antisemitismus
Der Reiz der Radikalität
Hitler
Erste Begegnung mit der DAP
Das vermeintlich »siebte Mitglied«
Erster Machtkampf
Ein völkisches Vorbild
Versammlung im Hofbräuhaus
Eine Bewegung
Ein neuer Name
Ausdehnung
Stuttgart
Schwäbische Provinz
»Fehlanzeige« im Ruhrgebiet
Holpriger Start in Berlin
Ostpreußen im Volkstumskampf
Konkurrenz aus Österreich
Machtkampf in München
SA und Völkischer Beobachter
An Wahlen teilnehmen?
Der DvSTB und die NSDAP
Putsch
Verzicht auf Abschiebung
Republikschutzgesetz
Durchbruch in Coburg
Gewalt als Geschenk
Tarnorganisationen in Berlin
Kompromisslos aggressiv
Umgang mit dem Verbot
Kritik am »Führer«
In der Sackgasse
Marsch auf Berlin
Scheitern
Spaltung
Comeback
Vorauseilender Gehorsam
Theatralischer Neuanfang
Probleme beim Comeback
Fraktionsbildung
Weltanschauung
Das »eherne« Fundament
Kampf den Juden
Dolchstoß und Marxismus
Nationaler Sozialismus
Propaganda
»Palaver« im Parlament
Die wichtigste Aufgabe
Unschwäbisch unbescheiden
Probleme selbst in München
Goebbels für Berlin
Halbherzige Sanktionen
Mitglieder
Eine junge Volkspartei
Hohe Fluktuation
Prominente Austritte
Rückkehr in die Partei
Ungenaue Statistik
Die SA als Mittel zum Zweck
Partei-Polizei SS
Parteigenossinnen
Alltag der Bewegung
Motive und Konsequenzen
Geld
Parteienfinanzierung
Die Kassen des Schatzmeisters
Mythos Großspenden
Hitlers private Finanzen
Klamme Gaue
Robert Bosch als Gegner
Selbstfinanzierung
Bürgerkriegsversicherung
»Einer der besten Witze der Demokratie«
Erfolg
Vorbeben
Willkommener Märtyrer
Durchbruch in Ostpreußen
Streit in Berlin
Triumph
Erklärungsversuche
Gewaltexzesse
Legalitätskurs und Übergriffe
Antisemiten im Zwiespalt
Rebellion der SA
Entscheidungsjahr 1932
Misslungener erster Anlauf
Wirkungsloses Verbot
Folgenlose Siege?
Vabanque
Abgewiesen
Reaktionen
Rückschlag
Spaltung?
Folgenreiches Gerücht
Am Ziel
Der Reiz der Macht
Märzgefallene
Falsche Erwartungen
»Braune Inflation«
Eine andere Partei
Mitgliedersperre
Alternativen
Korruption
Patronage für Parteigenossen
Verwaltung
Staatsbetriebe
Privatwirtschaft
Karrieren
Persönliche Bereicherung
Fremd- und Selbstwahrnehmung
Volksgemeinschaft
Eine neue Aufgabe
Ein enges Netz
Blockwarte und »Goldfasane«
Kreativer Hass
Rückschläge in Österreich
Kontrolle
Denunziationen
Organisierte Übergriffe
»Heim ins Reich«
Organisierter »Volkszorn«
Krieg
»Schubladengesetze«
Liebesgaben für die Front
Ehrendienst und uk-Stellung
»Für Führer, Volk und Vaterland«
Kinderlandverschickung
Nothilfe für Ausgebombte
»Totaler Krieg«
»Volksschädlinge«
»Fremdvölkische« Hilfe
Volkssturm
Endkampf
Nach Hitler
»Mit Stumpf und Stiel«?
»Automatic Arrest«
Entnazifizierung
Rückkehr ins öffentliche Leben
Zauberformel »Antifaschismus«
Von den »Alliierten aufgezwungen«
SRP und NPD
Anhang
Danksagung
Abkürzungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Bildteil
Als politischer Verband ist die NSDAP von der zeitgeschichtlichen Forschung lange vernachlässigt worden. […] In der Regel wurde sie als Derivat der politischen Biografie Hitlers betrachtet.
Hans Mommsen, Historiker 1
Kein Nazi, nirgendwo. Als im Frühling 1945 amerikanische Soldaten von Westen her in Deutschland einmarschierten, erlebten sie zwar viele harte, oft tödliche Gefechte – doch damit hatten sie gerechnet. Verwirrend hingegen war für die Männer der Fronteinheiten und die wenigen Frauen in ihrem Gefolge, dass Dutzende Städte und Hunderte Dörfer widerstandslos übergeben wurden. Alles Mögliche hatten sie erwartet, nicht aber weiße Fahnen. Noch erstaunlicher schien ihnen, was die Menschen oft erzählten, deren Land sie gerade besetzten. Der Chronist der 78. US-Division fasste die Erfahrungen seiner Kameraden zusammen: »Es gab keine Nazis, auch keine Ex-Nazis, und nicht einmal irgendeinen Nazi-Sympathisanten.«2 Die Armeezeitung Stars and Stripes schrieb am 15. April 1945: »Die Deutschen benehmen sich alle gleich, wenn man sie verhaften will. Sie sagen, sie hätten niemals ernsthaft an den Nationalsozialismus geglaubt.« Natürlich diente der Artikel auch der Vorbereitung der Soldaten auf Argumente, denen sie im Gespräch mit Deutschen begegnen würden: »Sie haben die unglaublichsten Entschuldigungen für ihr Verhalten. Es spielt gar keine Rolle, ob sie 1927 oder 1939 in die Partei eintraten. Alle sagen, sie seien aus geschäftlichen Gründen zum Eintritt gezwungen gewesen – selbst jene, die bereits 1927 eintraten.«3
Die Kriegsberichterstatterin Martha Gellhorn bündelte ihre Eindrücke in einer Reportage, die mit den Worten begann: »Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben, und es stimmt schon, diese Stadt da, 20 Kilometer entfernt, war eine regelrechte Brutstätte des Nationalsozialismus.« Noch mehr überraschte die Journalistin, wie freundlich viele Deutsche die feindlichen Truppen empfingen: »Wir haben schon lange auf die Amerikaner gewartet. Ihr seid gekommen und habt uns befreit.« Die Nazis seien Schweinehunde, die Wehrmacht wolle eigentlich aufgeben, wisse aber nicht wie. Das demonstrativ gute Gewissen vieler Deutscher machte Gellhorn ratlos; sie reagierte mit Zynismus: »Man müsste es vertonen. Dann könnten die Deutschen diesen Refrain singen, und er wäre noch besser. Sie reden alle so. Man fragt sich, wie die verabscheute Nazi-Regierung, der niemand Gefolgschaft leistete, es fertigbrachte, diesen Krieg fünfeinhalb Jahre durchzuhalten.« Ein Widerspruch, den die Reporterin folgendermaßen kommentierte: »Ein ganzes Volk, das sich vor der Verantwortung drückt, ist kein erbaulicher Anblick.«4
Genauso erging es ihrer Kollegin Margaret Bourke-White: »Ein amerikanischer Major gab unserer Verwirrung über das allgemeine Verleugnen jeder Verbindung mit dem Nazismus Ausdruck, als er meinte: ›Die Deutschen tun, als seien die Nazis eine fremde Rasse von Eskimos, die vom Nordpol gekommen und irgendwie in Deutschland eingedrungen sind.‹«5 Weniger überrascht denn wütend reagierte Lee Miller, die für das Modemagazin Vogue bei der Army akkreditiert war. »Erstaunlich fand ich die Dreistigkeit der Deutschen«, schrieb sie: »Wie wollen sie sich von allem, was war, distanzieren? Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?«6 Dieser Irrglaube hielt sich über die ersten Tage der Besatzung hinaus. Als der britische Schriftsteller Stephen Spender im Juli 1945 eine Erkundungsreise durch Deutschland unternahm, erzählte ihm in Bonn ein Student, dass er kurz vor Kriegsende an der Universität eine antinazistische Gruppe gegründet habe. Irritiert hielt der Poet fest: »Von den Nazis sprach er wie von einer mythischen Rasse, die völlig vom Antlitz der Erde verschwunden war.«7
Lee Millers Beobachtung traf es indes genau: Beim im Frühjahr 1945 allgegenwärtigen »Verschwinden« des Nationalsozialismus handelte es sich um Verdrängung. Die weitaus meisten Deutschen wollten instinktiv, dass die zwölf braunen Jahre wirkten, als seien sie aus der Zeit gefallen. Obwohl alle erwachsenen Deutschen der Nachkriegszeit das NS-Regime miterlebt und sehr viele daran aktiv mitgewirkt hatten, schien es schlagartig fern. Psychologisch war das nur zu erklärlich angesichts der Verbrechen, die in deutschem Namen und meistens von Deutschen verübt worden waren: Es handelte sich um einen Schutzmechanismus. Zugleich verdeckte diese Tabuisierung, dass der Nationalsozialismus eine sehr breite und aktive Volksbewegung gewesen war. Man richtete sich lieber ein in der Vorstellung, selbst ein Opfer Hitlers und seines Krieges zu sein.
Dieses Buch behandelt die Funktion der NSDAP während des Aufstiegs des Nationalsozialismus sowie im Dritten Reich. Ohne seine Bewegung hätte Hitler weder die Macht errungen noch hätte sich seine Herrschaft bis in den April 1945 hinein aufrechterhalten lassen. Doch Organisationen führen kein Eigenleben, sondern sind die Summe ihrer Mitglieder. »Wer heute den Sieg des Nationalsozialismus in seinen tiefsten Gründen kennenlernen will«, schrieb 1934 der Trierer SS-Mann Theodor Schieben, »wird nicht umhinkommen, die Frage aufzuwerfen: ›Was sind das für Menschen, die jahrelang fast blindlings nur auf das Wort eines fast unbekannten Menschen hörend und vertrauend, mit verbissenem Eifer für eine Idee stritten, im festen Glauben auf einen endlichen Erfolg?«8 Was also brachte Deutsche dazu, Nationalsozialisten zu werden und bis weit in den Krieg zu bleiben?
Es gibt eine Reihe bekannter Erklärungen: die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Angst vor einem kommunistischen Umsturz und der demütigende Versailler Vertrag, die Verunsicherung durch die extreme Inflation der Jahre 1922/23 und der wirtschaftliche Absturz infolge der Weltwirtschaftskrise ab 1930, die Suche nach Schuldigen für die als verzweifelt wahrgenommene eigene Lage, für die meist Sozialdemokraten und natürlich Juden verantwortlich gemacht wurden. All das ist zutreffend und erklärt doch nicht, warum Hunderttausende, bald Millionen Menschen die Hasspredigten von Hitler und vielen anderen NSDAP-Rednern ernst nahmen, ja ihnen geradezu hörig wurden. »Es war für mich, als wenn ich das Evangelium hörte«, beschrieb der Berliner Fritz Junghanß seine erste Begegnung mit dem Redner Joseph Goebbels. Er fand, dass die Idee des Nationalsozialismus wie »das Licht in mein Leben« gekommen sei.9
In diesem Buch werden zum ersten Mal inhaltlich umfassend die subjektiven Berichte ausgewertet, in denen fast 550 Männer und 36 Frauen Auskunft über ihren Weg in Hitlers Partei gaben, vor allem solche, die schon vor ihrem Durchbruch bei den Reichstagswahlen 1930 mit der NSDAP sympathisierten. Der Soziologe Theodore Abel von der Columbia University New York hatte 1934 ein Preisausschreiben gestartet; prämiert werden sollte »die beste persönliche Lebensgeschichte eines Anhängers der Hitler-Bewegung«. Insgesamt 400 Reichsmark deponierte Abel für 18 Preise zwischen 125 und zehn Reichsmark bei der Deutschen Bank. Die Teilnehmer sollten ihre familiäre Situation, Ausbildung und Gefühlslage beschreiben und wie sie zur NSDAP gestoßen waren. Als Grund gab er an: »Der Zweck des Wettbewerbs ist die Sammlung von Material über die Geschichte des Nationalsozialismus, sodass das amerikanische Publikum sich aus realen, persönlichen Geschichten darüber informieren kann.«10
Damit stieß Abel, in Lodz geboren und 1923 in die USA ausgewandert, auf offene Ohren, denn viele Nationalsozialisten waren sehr mitteilsam, sobald es um ihre Leistungen in der »Kampfzeit« bis Ende 1932 ging. Verschiedene staatliche und NSDAP-Dienststellen unterstützten das Vorhaben, manche warben sogar in Rundschreiben für das Projekt.11 Besonders stark setzten sich offenbar, gemessen an den eingereichten Beiträgen, Parteifunktionäre in der Reichshauptstadt, in Ostpreußen und der Pfalz für Abels Vorhaben ein.12 Ausdrücklich lobte der Berliner Otto Hinz die Initiative: Die Deutschen wünschten sich »nichts sehnlicher«, als dass im Ausland die Vorurteile über den Nationalsozialismus fallen gelassen würden. Daher begrüße er »aus vollem Herzen« den Plan, frühen Anhängern »Gelegenheit zu geben, die Gründe, die sie zum Eintritt in die NSDAP bewegten, zu schildern und ihre Eindrücke der Bewegung zu beschreiben«.13
In der gesetzten Frist von drei Monaten trafen 683 Berichte ein – weniger als Abel erhofft hatte, was aber eine Folge seiner begrenzten Ressourcen war. Gestützt auf dieses Material veröffentlichte er 1938 zwar ein Buch mit dem Titel Why Hitler Came into Power, doch systematisch wertete er das Material nie aus. Sein Nachlass in der Hoover Institution in Stanford enthält noch 584 Berichte mit mehr als 3700 Seiten, rund 100 sind verschollen. Ihre Länge ist sehr unterschiedlich, von einer guten halben bis zu mehreren Dutzend Seiten.14 Noch größer ist die inhaltliche Differenz: Die Mehrheit ist erkennbar stilisiert, wirkt manchmal formelhaft. Doch es gibt auch selbstkritische Berichte.15 Ein zweiter Anlauf von Abel, auf dieselbe Weise zu einer auch statistisch relevanten Zahl aussagekräftiger Berichte zu kommen, erbrachte 1939 rund 3000 Beiträge, die aber verschollen sind.
Der deutsch-amerikanische Sozialwissenschaftler Peter H. Merkl stützte Anfang der 1970er-Jahre seine Studie Political Violence Under the Swastika auf Abels praktisch vergessene Sammlung. Einem Trend der Zeit folgend nutzte er komplizierte statistische Verfahren, um verallgemeinerbare Schlüsse zu ziehen.16 Repräsentativ jedoch konnten seine Ergebnisse nicht sein, denn die Datengrundlage war einerseits zu schmal, andererseits zwar zufällig, aber eben auch willkürlich; es gab und gibt keine Möglichkeit, daraus gewonnene Werte seriös auf die Gesamtmitgliedschaft der NSDAP hochzurechnen.17
Erst in den vergangenen Jahren griffen Historiker vereinzelt auf die Sammlung zurück, um Einzelaspekte der NS-Geschichte zu beleuchten. Thomas Rohkrämer etwa interessierte, »was die Aktivisten an der Bewegung faszinierte und welche Schlüsselerlebnisse zu ihrem Engagement für den Nationalsozialismus führten«; Arndt Weinrich untersuchte das Kriegserlebnis der jungen Generation; Katja Kosubek edierte die 36 Berichte von »alten Kämpferinnen« der NSDAP.18 Doch abseits weniger Spezialstudien harrte der umfangreichste und schon deshalb wichtige Bestand von Selbstdarstellungen überzeugter Nationalsozialisten bis jetzt einer Auswertung. Immerhin hat die Hoover Institution im Januar 2017 alle Berichte online gestellt.19
Zusammen mit anderen, verstreut überlieferten Schilderungen von »kleinen« Parteimitgliedern, teilweise aus Entnazifizierungsverfahren, bildet die Abel-Sammlung eine Säule dieses Buches. Man muss diese Selbstdarstellungen freilich quellenkritisch betrachten. Verfasst wurden sie im Sommer 1934; die Texte reflektieren die Propaganda der »Kampfzeit«. Deutlich wird das an der Schilderung der politischen Gewalt: Schuld an Ausschreitungen trugen angeblich meistens die Kommunisten, oft aber auch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, eine SPD-nahe Organisation, deren Mitglieder von Nationalsozialisten bis hinauf zu Joseph Goebbels gern als »Reichsbananen« oder »Bananenjünglinge« geschmäht wurden.20 Natürlich schilderten sich die Nationalsozialisten selbst als unschuldig: »Es gab wüste Schlägereien und Saalschlachten, in denen immer wir die Angegriffenen waren.«21 Unbedachte Formulierungen lassen die realen Verhältnisse erkennen, die sich durch Polizeiakten der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, die zweite Säule dieses Buches, rekonstruieren lassen: In sehr vielen Fällen provozierten die Hitler-Anhänger. Der Berliner Armin Franz berichtete freimütig, dass seine Kameraden und er 1927/28 bei informellen Treffen auf dem Potsdamer Platz gern den »Boshaften und Überschlauen«, die Hitler und Goebbels zu kritisieren wagten, »eins aufs Maul« gaben.22 Der Ulmer Parteikassierer Wilhelm Protz schrieb: »Der Gegner wurde gezwungen, sich zu stellen.«23 Der Ostpreuße Wilhelm Bischof rühmte sich, dass seine Freunde und er Veranstaltungen der SPD »sprengten«.24 Emil Setny schilderte, wie man allabendlich »geschmückt mit dem Hakenkreuz« am Berliner Bahnhof Zoo saß, um »uns mit den dort bummelnden Juden und Judenknechten zu reiben«. Dabei benutzten sie »die vor uns stehende, schnell geleerte Bouillontasse, die unheimlich dick und stabil gebaut war und, richtig angefasst, im Meinungskampf gute Dienste« leistete.25
Eine dritte Säule sind erhaltene Akten der NSDAP sowie darauf beruhende Lokalstudien. Da trotz der Bombardements deutscher Städte und Vernichtungsaktionen in den letzten Kriegswochen 1945 unüberschaubar viel Originalmaterial erhalten ist, konzentriert sich dieses Buch exemplarisch auf sechs regionale Schwerpunkte: München als Geburtsort der NSDAP und Berlin als wichtigstes Schlachtfeld; das Ruhrgebiet, speziell die gut dokumentierte Doppelstadt Gelsenkirchen-Buer, als industriell geprägte Region; Stuttgart und sein württembergisches Umland als zugleich entwickeltes wie ländliches Gebiet; sowie Ostpreußen als Provinz. Hinzu kommt Wien, denn hier entwickelte sich eine spezifische Form des Nationalsozialismus teilweise in Verbindung mit, teilweise in deutlicher Abgrenzung von der Person Hitler.
Die vierte Säule des Buches bilden schließlich jene Quellen, die auch bisher schon vielen Studien über den Nationalsozialismus zugrunde liegen: Hitlers Reden und sonstige Äußerungen, die Tagebücher des Propagandachefs und Berliner Gauleiters Joseph Goebbels, der Völkische Beobachter und bis 1933 die unabhängigen Zeitungen, dazu Depeschen und Erinnerungen ausländischer Diplomaten und Journalisten, die Deutschland-Berichte der Exil-SPD aus der Zeit 1934 bis 1940 und für den Zweiten Weltkrieg die Meldungen aus dem Reich des SS-Inlandsnachrichtendienstes SD.
Eine allgemeine Geschichte der Hitler-Partei gibt es bisher nicht – obwohl kein Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte intensiver erforscht worden ist als die zwölf braunen Jahre. Natürlich kommt die NSDAP in allen der fast hundert seriösen Hitler-Biografien vor, die seit den 1930er-Jahren veröffentlicht wurden, aber nirgends wird ihre Bedeutung angemessen behandelt. Verschiedentlich interessante Einsichten finden sich in vielen Darstellungen zur Geschichte des Dritten Reiches, zuletzt in Michael Grüttners nützlichem Band Das Dritte Reich im Rahmen des Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte oder in Richard Evans 3000-Seiten-Werk Das Dritte Reich. Doch nicht einmal Bücher, die ausdrücklich das Wort »Nationalsozialismus« im Titel tragen, behandeln überwiegend die Partei, sondern stets die Geschichte Deutschlands zwischen 1933 und 1945, wenn auch mit einem Prolog zum Aufstieg der Hitler-Bewegung – zum Beispiel Hans-Ulrich Wehlers letztes großes Werk Der Nationalsozialismus, Michael Burleighs Gesamtdarstellung Die Zeit des Nationalsozialismus und Michael Wildts kurze Geschichte des Nationalsozialismus.
In deutscher Sprache hat bisher nur ein einziges Buch versucht, die NSDAP als zentrale Organisation der Zeitgeschichte zu beschreiben, verfasst von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker. Die beiden DDR-Historiker folgten orthodox-marxistischen Geschichtsbildern; ihr Werk ist, wiewohl nach dem ersten Erscheinen 1981 gleichzeitig in Ost-Berlin und Köln fünfmal und teilweise deutlich erweitert wiederaufgelegt, deshalb praktisch nutzlos. Fündig wird hier nur, wer sich über die SED-Sicht auf den unscharf »Faschismus« genannten Nationalsozialismus informieren will. Vor allem das ideologisch begründete Missverständnis der Autoren, die NSDAP als »wählerstärkste Partei des Kapitals« zu sehen, verhindert Erkenntnisse.26 Denn wer die Hitler-Bewegung nicht von deren Mitgliedern her betrachtet, kann ihre Rolle nicht verstehen.
Viel besser ist die Lage auch in der Weltwissenschaftssprache Englisch nicht. 1969 und 1973 erschien eine zweibändige History of the Nazi Party von Dietrich Orlow, einem US-Historiker mit Wurzeln in Hamburg; sie wurde jedoch niemals übersetzt und erlebte keine Nachauflagen. Auch die stark sozialhistorisch angelegte Arbeit The Nazi Party von Michael Kater, erstmals erschienen 1983, fand in Deutschland kaum Beachtung.
Natürlich gibt es eine schier unübersehbare Fülle von Spezialstudien zur NSDAP. Darunter sind zahlreiche Qualifikationsarbeiten, häufig regional oder sogar lokal beschränkt. Sie arbeiten, genauso wie Ausstellungskataloge und Sammelbände zu Jahrestagen, Einzelaspekte oft gut auf, quellengesättigt und analytisch. Pars pro toto kann man Carl-Wilhelm Reibels Dissertation Das Fundament der Diktatur über die NSDAP-Ortsgruppen nennen oder Christian Rohrers Arbeit über die Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen. Jedoch eröffnet keine dieser Studien die Chance, einen Gesamteindruck über das Phänomen NSDAP zu gewinnen.
Drei deutsche Historiker haben sich trotzdem hochverdient gemacht um die Untersuchung der Hitler-Partei – Peter Longerich, Jürgen W. Falter und Armin Nolzen. Longerich hat wesentlich mitgewirkt am Großprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München, das aus verstreut in zahlreichen Archiven erhaltenen Kopien den Aktenbestand der Parteikanzlei der NSDAP rekonstruierte. Dazu verfasste er eine Arbeit über den Apparat unter Leitung erst von Rudolf Heß, ab 1941 von Martin Bormann – allerdings ist auch dies keine Gesamtgeschichte der NSDAP. Der Wahlforscher Falter, von Hause aus Politologe, hat mit hochkomplexen sozialwissenschaftlichen Methoden schon in den 1980er-Jahren den Mythos von der »Mittelstandspartei NSDAP« widerlegt und treibt seit seiner Emeritierung 2012 ein großes Unterfangen voran, bei dem erstmals die gewaltigen erhaltenen Bestände der Parteiregistratur im Bundesarchiv umfassend ausgewertet werden. Zudem eröffnet der 2016 von ihm herausgegebene Sammelband Junge Kämpfer, alte Opportunisten neue Perspektiven. Armin Nolzen schließlich, sicher der beste Kenner der NSDAP in der jüngeren Forscher-Generation, veröffentlicht einen bemerkenswerten Spezialaufsatz nach dem anderen, aber bisher keine Zusammenfassung seiner Ergebnisse.
Diese Lücke versucht das vorliegende Buch zu schließen. Wie schon bei meinen Bänden Hitlers Berlin. Geschichte einer Hassliebe (2005), Berlin im Krieg. Eine Generation erinnert sich (2011) und »Mein Kampf«. Die Karriere eines deutschen Buches (2015) beruht auch Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder ganz auf den Quellen; theoretische Analysen und Forschungsdiskussionen spielen bewusst keine Rolle. Wichtige Erkenntnisse, beispielsweise aus Falters Projekt, sind gleichwohl eingeflossen und werden in Anmerkungen nachgewiesen.
Zwei Drittel dieses Buches behandeln die Zeit bis Januar 1933, also den Aufbau und den Aufstieg der NSDAP; nur ein Drittel beschäftigt sich mit den zwölf Jahren des Dritten Reiches. Das hat drei Gründe: Erstens stammen die Berichte der Abel-Sammlung aus dem Sommer 1934 und legen ihren Schwerpunkt ausdrücklich auf die »Kampfzeit«, wie die NSDAP die Jahre von 1919/20 bis zur Machtübernahme nannte. Zweitens ist für die Zeit ab 1933 keine saubere Trennung zwischen Partei- und Staatsapparat mehr möglich, war doch die NSDAP in Person von Rudolf Heß als Reichsminister ohne Geschäftsbereich auf Weisung Hitlers bei allen Gesetzesvorlagen zu beteiligen. Drittens schließlich konzentrierte sich die NSDAP ab 1933 bis weit in den Krieg hinein zunehmend auf die Durchdringung der Volksgemeinschaft und deren Überwachung; erst infolge der Luftangriffe auf deutsche Städte bekam sie mit der Kinderlandverschickung und bald darauf mit der Nothilfe für Ausgebombte wieder zusätzliche Aufgaben, die ausführlich dargestellt werden.
Dieses Buch kann gewiss nicht alle Fragen über die NSDAP beantworten. Wenn es jedoch ein besseres Verständnis für die Funktionsweisen einer populistischen, radikalen Bewegung fördert und verdeutlicht, dass vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme immer in die Irre führen, mitunter sogar in eine Katastrophe, dann erfüllt es seinen Zweck.
Berlin, Pfingsten 2017
Sven Felix Kellerhoff
In Wirklichkeit kann der Zuschnitt der neuen Partei […] gar nicht bescheiden und kleineleutemäßig genug gedacht werden.
Joachim Fest, Hitler-Biograf 1
Wer an einem Vorhaben festhält, das wiederholt gescheitert ist, darf als hartnäckig gelten; dahinter kann gleichermaßen Standhaftigkeit stehen wie Starrsinn. Die rund zwei Dutzend Männer, die sich am 5. Januar 1919 in einem Münchner Wirtshaus versammelten, waren dem beharrlichen Wunsch eines Kollegen gefolgt. Anton Drexler litt seit August 1914 darunter, dass er wegen seiner kränklichen Konstitution als Kriegsfreiwilliger abgelehnt worden war. Statt an der Front zu kämpfen, arbeitete er als Werkzeugschlosser des örtlichen Bahnausbesserungswerkes – ohne Zweifel wichtig, doch seiner Meinung nach nicht so ehrenvoll wie der Dienst im Heer. Seine Enttäuschung kompensierte Drexler durch politischen Ehrgeiz: Er wollte eine nationale Alternative zur internationalistischen proletarischen Bewegung zustande bringen, den Klassenkampf überwinden und die Arbeiterschaft mit dem Bürgertum versöhnen. Dazu gründete er Anfang 1919 eine eigene Partei; ihren Kern sollten seine Bekannten aus dem Bahnwerk bilden. Es war bereits sein dritter Anlauf, politisch tätig zu werden.
Den ersten hatte Drexler knapp ein Jahr zuvor gestartet, am 7. März 1918. Beflügelt von der Hoffnung auf eine Offensive an der Westfront hatte er den Freien Arbeiterausschuss für einen guten Frieden gebildet, als oberbayerischen Ableger einer ähnlichen Gruppe in Bremen. Sein Ziel war, den »Siegeswillen der Bayern, besonders der Arbeiterschaft, zu stärken, die Zuversicht zum Endsieg durch Vorträge und Versammlungen zu heben und die Hemmungen des Durchhaltens wie Kriegswucher […] zu bekämpfen«.2 Neben der Forderung nach einem »guten«, also die Lasten des Krieges lohnenden Frieden gehörte von Anfang an Judenhass zu Drexlers Botschaft. Denn »Wucher« empfand er als »typisch mosaisch«, auch wenn die Kriegsgewinnler in München weit häufiger christlich waren als jüdisch.
Der Erfolg seiner ersten Gründung war überschaubar: Der »Freie Arbeiterausschuss« brachte es »in München zunächst auf kaum 40 Mann«. Für Drexler konnte das nur einen Grund haben: »Wieder ein Beweis des Misstrauens und der vergiftenden Wirkung der Parteiliteratur und damit des unpolitischen Sinnes der Münchner Arbeiterschaft.«3 Seine Feindbilder pflegte er schon rund anderthalb Jahrzehnte – seit er als Berufsanfänger angeblich »durch marxistisch-gewerkschaftlichen Terror brotlos« geworden war, dann von einem »jüdischen Viehhändler« ausgenutzt wurde und sich deshalb für einige Zeit seinen Lebensunterhalt durch nächtliches Zitherspiel in Cafés verdienen musste: »Durch meine Erlebnisse war ich radikaler Antisemit und Marxistengegner geworden.«4
Angesichts der geringen Resonanz dauerte es sieben Monate, bis Drexlers Neugründung öffentlich tätig wurde. Im Wagnersaal, einem Bierausschank in der Münchner Altstadt, fand am 2. Oktober 1918 die erste Veranstaltung des Arbeiterausschusses statt. Drexler hatte den Vorsitzenden des Bremer Vorbildes als Gastredner gewonnen, mühte sich zuvor aber, in seiner Begrüßung möglichst viele der Besucher anzusprechen: »Aus den politisch Obdachlosen, die zu Hunderttausenden unter den Beamten, Kleinbürgern und Arbeitern aus Unzufriedenheit mit ihren alten Parteien entstanden sind, soll ein neuer nationaler Bürgerbund (oder wie man es sonst nennen will) entstehen.«5 Doch Drexler drang nicht durch, was sicher auch an seinen begrenzten rhetorischen Fähigkeiten lag. Statt zu begeisterter Zustimmung kam es zu heftigen Tumulten im Publikum; auch die Resonanz in der Münchner Presse war durchwachsen. Anton Drexlers erster Versuch, eine politische Organisation zu gründen, war gescheitert.
Nach der Veranstaltung sprach ihn ein kriegsbeschädigter Mann von knapp 30 Jahren an, der Sportjournalist Karl Harrer. Er gehörte zu einem Bund extrem nationalistischer Münchner Bürger, der sich selbst Thule-Gesellschaft nannte. Harrers Aufgabe war es, »einen Arbeiter-Ring zu bilden«.6 Er hatte die Versammlung im Wagnersaal verfolgt und war »ganz meiner politischen Anschauung«, erinnerte sich Drexler: »Ich solle mich mit meinen Leuten des Arbeiterausschusses zur Bildung eines Politischen Arbeiterzirkels zusammensetzen, der die Aufgabe hat, Ursachen und Wirkungen des Weltkrieges, der Revolution in Russland und Deutschland zu untersuchen und Wege zu suchen, die aus diesem furchtbaren Zusammenbruch herausführen.«7 Harrer und Drexler wurden sich schnell einig, denn zu Juden wie zum »Marxismus« hatten sie ähnliche Auffassungen. So gründeten die beiden im November 1918 eine Gruppe, zu der man nur auf persönliche Einladung stoßen konnte – Drexlers zweiter Anlauf, eine politische Organisation zu schaffen.
Nach dem Vorbild der Thule-Gesellschaft sollte dieser Zirkel hinter verschlossenen Türen tagen; Vorsitzender wurde Harrer, der das notwendige Geld beschaffte, Drexler sein Stellvertreter. Ab Anfang Dezember 1918 gab es wöchentlich einen Vortrag des Vorsitzenden, stets in Hinterzimmern einfacher Gasthäuser. Das Publikum war äußerst begrenzt: Mehr als drei bis sechs Zuhörer fanden sich den Protokollen zufolge nie ein. Themen waren unter anderem die »Zeitung als Mittel der Politik« oder »Wer ist der Schuldige am Weltkrieg?« sowie »Deutschlands größter Feind – der Jude«.8 Doch Harrer war rhetorisch noch weniger talentiert als Drexler und las seine Ausführungen meist ab.9 Auch der zweite politische Vorstoß des ehrgeizigen Werkzeugschlossers stand vor dem Scheitern.
»Eine Woche vor dem Weihnachtsfest 1918 erklärte ich bei einer Zirkelsitzung, dass es keinen Wert mehr hätte, in solch einem kleinen Kreis über die Rettung Deutschlands Beratungen anzustellen«, erinnerte sich Drexler. »Wir bräuchten eine neue Partei, und zwar eine Deutsche Sozialistische Arbeiterpartei, die judenrein ist.«10 Für ihn klang der Begriff »Sozialismus« positiv; an der Heimatfront hatte er die Überzeugung gewonnen: »Die einen sollen nicht im Überfluss schwelgen, während die anderen darben.«11 Doch damit konnte er Harrer und dessen Hintermänner von der Thule-Gesellschaft nicht gewinnen. Deren fast ausnahmslos bürgerliche, teilweise ausgesprochen reiche Mitglieder lehnten jede Form von »Sozialismus« vehement ab – hielten sie doch ihre Treffen im eleganten Hotel Vier Jahreszeiten an Münchens Maximilianstraße ab. Harrer wandte sich gegen den von Drexler vorgeschlagenen Namen und bestand darauf, dass die neue Gruppe Deutsche Arbeiterpartei heißen sollte. Da nur von der Thule-Gesellschaft die nötigen Mittel kommen konnten, hatte Drexler keine Wahl.
Immerhin konnte er, der sich gleich zum Chef der einzigen Ortsgruppe bestimmen ließ, beim ersten Treffen handschriftlich verfasste »Richtlinien der Deutschen Arbeiterpartei« durchsetzen, denen zufolge ein Hauptziel der Gruppe war, »gelernte und ansässige Arbeiter« aus dem Proletariat zu befreien und auf eine Ebene mit Bürgern zu stellen. Zugleich attackierte er das »Großkapital« und forderte eine »Sozialisierung«.12 Angesichts solcher Formulierungen war es wenig erstaunlich, dass diese »Richtlinien« niemals gedruckt wurden – denn dafür hätte Drexler Geld von der Thule-Gesellschaft gebraucht. Vermutlich auch kein Zufall war, dass wenige Tage später eine Zusammenkunft im Hotel Vier Jahreszeiten folgte, bei der aus rechtlichen Gründen ein Deutscher Arbeiterverein als formaler Träger der DAP gegründet wurde. Erster Vorsitzender wurde auch hier Harrer, sein Stellvertreter Drexler. Diese Zurücksetzung störte den Bahnschlosser nicht, denn er hatte am 5. Januar 1919 beschließen lassen: »Der Ausschuss der Ortsgruppe München hat bis zu anderer Regelung durch einen Parteitag außer der Führung der Geschäfte der Ortsgruppe München auch die Führung der Gesamtpartei.«13
An der konkreten Tätigkeit Drexlers änderte sich wenig nach dem dritten, auf bescheidenem Niveau gelungenen Versuch, eine eigene Organisation zu bilden. Er arbeitete weiterhin bei der Zentralwerkstatt der Bahn in der Werkzeugausgabe; die Funktion als DAP-Ortsgruppenchef kostete ihn nur wenig Zeit, denn in den ersten Monaten des Jahres 1919 gab es keine öffentlichen Veranstaltungen und nur wenige Mitgliedertreffen. Parallel bestand der zuvor begründete Arbeiterzirkel weiter; auf den Teilnehmerlisten tauchte nur ungefähr ein Dutzend verschiedener Namen auf, wobei nie mehr als sechs Personen gleichzeitig anwesend waren. Angesichts dessen war das Selbstbewusstsein der winzigen Gruppe bemerkenswert, das sich in der ersten und einzigen Satzung vom 24. März 1919 ausdrückte: »Der politische Arbeiterzirkel ist eine Vereinigung ausgewählter Persönlichkeiten zwecks Besprechung und Studium politischer Angelegenheiten.«14
Zwei Wochen später begann die kurze Herrschaft der kommunistischen Räterepublik über München. Sie unterbrach die Aktivität der DAP und des Arbeiterzirkels. Auf einmal ähnelte das Straßenbild den bewegten Wochen der Revolution zwischen November 1918 und Januar 1919. Bewaffnete Milizen fahndeten nach vermeintlichen oder echten Gegnern. Gehamsterte Lebensmittel wurden beschlagnahmt; sie sollten an Bedürftige verteilt werden, doch meist bedienten sich die selbst ernannten Rotarmisten. Streiks gegen alles Mögliche brachten die Wirtschaft und das öffentliche Leben zum Erliegen. Zeitungen wurden zensiert oder verboten, Milizionäre öffneten gewaltsam Banksafes.15 Der Universitätsdozent Victor Klemperer, nebenbei freier Journalist, beschrieb es sarkastisch: »Eines muss man der neuen Regierung bewundernd zugestehen – sie gibt der Stadt ein überaus kriegerisches Gepräge. Sie versteht es, die Bevölkerung zu beeindrucken.«16
Die kaum 2000 aktiven Anhänger der Räterepublik konnten den Alltag der mehr als eine halbe Million Münchner zwar lahmlegen, die Stadt aber nie wirklich unter Kontrolle bringen. Bald tauchten in ärmeren Vierteln Plakate auf, denen zufolge die Bewohner leerstehende Wohnungen in besseren Stadtteilen besetzen und Nahrung bei »Reichen« requirieren sollten, doch die wohlhabenderen Bürger verbarrikadierten sich – zu ausgedehnten Plünderungen kam es nicht. Bayerns nach Bamberg geflüchteter Ministerpräsident Johannes Hoffmann übertrieb, als er per Proklamation zur Befreiung der Hauptstadt aufrief: »Bayern! Landsleute! In München rast der russische Terror, entfesselt von landfremden Elementen. Diese Schmach Bayerns darf kein Tag, keine Stunde weiterbestehen. Hierzu müssen alle Bayern helfen, ohne Unterschied der Partei!«17 In Wirklichkeit hatte von den Revolutionsgarden nicht allzu viel zu befürchten, wer nicht auffiel: »München nimmt sein tragikomisches Schicksal passiv hin, auch das scheinbar herrschende Proletariat ist ganz passiv«, fand Klemperer und fügte hinzu: »Das eigentliche München sieht dem Revolutionsspiel fremder närrischer Gesellen zu.«18
Von Berlin aus betrachtet handelte es sich jedoch um einen »Karneval des Wahnsinns«, wie der für das Militär zuständige SPD-Minister Gustav Noske bemerkte.19 Er ließ Truppen anrücken, um in München Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Zuerst kamen württembergische Regimenter in Oberbayern an, die den kürzesten Weg hatten, dann preußische Soldaten. Reguläre bayerische Einheiten waren kaum beteiligt, wohl aber einheimische Freikorps, bestehend überwiegend aus demobilisierten Heeresangehörigen. Ende April 1919 errichteten einige Hundert kommunistische Milizionäre Barrikaden in der Innenstadt. Sie hatten keine Chance – in Schwabing, dem vormaligen Hauptquartier der Räterepublik, begrüßte die Bevölkerung die anrückenden Württemberger und Preußen sogar mit Geschenken und Blumen. Am 1. und 2. Mai kam es zu Straßenkämpfen, denen mehr als zweihundert Revolutionäre sowie mindestens ebenso viele Zivilisten zum Opfer fielen. Noch mehr starben in den folgenden Tagen, als die Sieger Rache übten, besonders die Männer der Freikorps. Nach dem Ende der Kämpfe sorgten bayerische Offiziere für Ordnung in München, denn es hatte sich eine unerwartete Konfrontation ergeben: »Wegen des Einschreitens preußischer Truppen macht sich schon wieder eine ganz bedenkliche Preußenhetze bemerkbar«, berichtete der württembergische Gesandte in München, Carl Moser von Filseck, nach Stuttgart.20
Der Grund dafür war die Scham vieler Münchner, die Herrschaft der Rätekommunisten nicht selbst abgeschüttelt zu haben. Schlimmer noch: Die von der SPD dominierte Regierung in Berlin hatte die Truppen in Marsch gesetzt. Also Politiker, die für die Novemberrevolution verantwortlich waren, die in München als »jüdisch« galt – auch wenn ihre wesentlichen Akteure Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Gustav Noske oder Matthias Erzberger gerade keine Juden waren. Das verstärkte einerseits bei vielen Bürgern, aber auch konservativ gesinnten Arbeitern und Handwerkern in München die ohnehin vorhandene Abneigung gegen Preußen. Andererseits erwuchs daraus das Gefühl, selbst für das nationale Deutschland zu stehen, im Gegensatz zum angeblichen »Internationalismus« der vermeintlich »jüdischen Marxisten«.
Unmittelbar nach dem Ende des linksradikalen Zwischenspiels hielt Anton Drexler am 3. Mai 1919 wieder eine geschlossene Versammlung der DAP ab. Doch über den äußerst überschaubaren Kreis ihrer Anhänger hinaus erzielte sie auch jetzt, nach der Erfahrung des Bürgerkriegs, keine nennenswerte Wirkung. Auch der Politische Arbeiterzirkel kam erneut zusammen. Ungefähr zu dieser Zeit formulierte Drexler »Grundsätze« für seine Partei, die jedoch vage ausfielen: »Die DAP erstrebt eine ideale Weltordnung, Idealismus statt Materialismus. Dazu genügt nicht nur ein Personenwechsel unter den Machthabern. Die Voraussetzung ist vielmehr das möglichst ausnahmslose Vorhandensein von ideal gesinnten und ideal tätigen Staatsangehörigen.« Daher sei es die Aufgabe der neuen Partei, ihre Mitglieder »in idealem Sinne zu erziehen und sie zu einer höheren Weltauffassung emporzuheben«.21
Konkreter wurde es in Drexlers Broschüre Mein politisches Erwachen. Sie erschien im Sommer 1919 im Deutschen Volksverlag, der eigens für die Herausgabe vornehmlich antisemitischer Schriften gegründet worden war. Vorgeblich eine Zusammenstellung von »Tagebuchblättern«, handelte es sich bei dem 40-seitigen Heft um eine Montage von Auszügen aus Drexlers wenigen Reden, Artikeln und öffentlichen Telegrammen in einem autobiografischen Rahmen. Sich selbst stellte der Autor als leidenden Vorkämpfer einer neuen Politik dar: »Nur unter schweren inneren Kämpfen bin ich meinem National-Sozialismus treu geblieben, wofür ich jetzt dem Schicksal dankbar bin. Die Stürme zu schildern, die mich auf meiner einsamen Insel im Arbeitermeer umbrandeten, die Erfahrungen, die ich in politischen Dingen machen konnte, der Arbeiterschaft und jedem Schaffenden zu übermitteln, ist der Zweck dieser Schrift.« Nachdem sich durch den Versailler Vertrag im Juni 1919 sämtliche Hoffnungen auf einen »guten Frieden« zerschlagen hatten, trat Drexler umso stärker für seine beiden anderen Ziele ein: »Nur durch vollständige Entjudung der sozialistischen wie auch der anderen Parteien, nur dadurch, dass Bürger und Arbeiter zueinander und miteinander gehen, wird es möglich sein, sich des zersetzenden jüdischen Einflusses […] zu erwehren.«22
Seine Schrift nutzte Drexler, um bei völkisch-antisemitisch gesinnten Honoratioren in München zu antichambrieren. So lernte er auch im Sommer 1919 den deutschbaltischen Emigranten Alfred Rosenberg und den Schriftsteller Dietrich Eckart kennen, die beide der Thule-Gesellschaft nahestanden. Anderthalb Jahrzehnte später erinnerte sich Rosenberg: »Um diese Zeit kam ein uns bis dahin gänzlich unbekannter Mann zu uns, der sich als Anton Drexler vorstellte. Er brachte eine kleine Broschüre mit, die er geschrieben hatte, betitelt Mein politisches Erwachen, und erzählte uns, dass in einem anderen Stadtteil von München sich ebenfalls eine antisemitische Gruppe gebildet hätte, die sich Deutsche Arbeiterpartei nannte.«23 Eckart, der eine Wochenzeitschrift mit dem Titel Auf gut deutsch herausgab, zeigte sich angetan: Drexlers »Ideen leuchteten mir ohne Weiteres ein«, sagte er später aus, »und ich beschloss, der jungen Bewegung nach Kräften zu dienen«.24 Das war ein wichtiger Erfolg; Drexler zeigte sich freudig erregt, den in völkischen Kreisen Münchens bekannten Publizisten gewonnen zu haben: »Die DAP gedeiht zu unserer Freude und kann Ihnen mitteilen, dass heute für die Partei ein großer Tag ist. Dietrich Eckart, der inzwischen Mitglied geworden ist, hält einen Vortrag.«25 Es erschienen am 14. August 1919 immerhin 38 Zuhörer, doppelt so viele wie zu den meisten Treffen bisher. Doch ein Durchbruch war auch das nicht.
Damit stand die DAP nicht allein. Drexlers Gründung war nur eine von mehreren Dutzend Grüppchen im nationalistisch-völkischen Spektrum, die seit Kriegsende in München entstanden waren. Manche gaben sich betont seriöse Namen, etwa Dietrich Eckarts Deutsche Bürgervereinigung, deren Devise lautete: »Wie jeder nur Bürger sein kann, der arbeitet, so ist jeder Arbeiter ein Bürger.«26 Andere Gruppen wählten aggressive Selbstbezeichnungen, so die Eiserne Faust um den Hauptmann Ernst Röhm. Auch dieser informelle Offiziersbund wollte die Arbeiterschaft vom »internationalistischen Marxismus« lösen und wieder der »deutschen Volksgemeinschaft« zuführen.27
In vielen der kleinen Organisationen hatten dieselben Köpfe das Sagen, die Themen ihrer Veranstaltungen ließen sich kaum unterscheiden: Oft ging es um die »Schmach von Versailles«, genauso wichtig waren zwei Feindbilder, die miteinander verschmolzen: der »Marxismus«, oft auch in Anlehnung an die Kommunisten in Russland »Bolschewismus« genannt, und »die Juden«. In Versammlungen, Flugblättern und Broschüren wurden sie gleichzeitig verantwortlich gemacht für die Niederlage Deutschlands, weil sie die Siegermächte lenkten, wie für die innere Schwäche des Kaiserreichs, weil sie einerseits als »Kapitalisten« und »Kriegsgewinnler« die Wirtschaft ausgebeutet, andererseits die deutschen Arbeiter mittels »marxistischer« Parteien in die Irre geführt hätten. So verbreitete sich in den Monaten nach der Niederschlagung der Räteherrschaft die Vorstellung, »der Jude« sei der ultimative Gegner jedes »nationalen Deutschen«.
Antisemitismus, in Bayern wie in ganz Deutschland seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stets präsent, wurde nun massentauglich. Besonders effizient nutzte dieses Thema der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, eine im Frühjahr 1919 ausdrücklich als antisemitischer Massenverband gegründete Tochterorganisation des bürgerlichen Alldeutschen Verbandes. Mit Anzeigen in konservativen Blättern warb die Reichsgeschäftsstelle um Anhänger in Oberbayern. So lag dem Münchner Beobachter, einem völkischen Wochenblatt, Ende Juni 1919 das Flugblatt »Wir glauben und bekennen!« des DvSTB bei, das unmissverständlich feststellte: »Wir haben alle nur einen Feind – Juda.«28 Seine Ziele formulierte der Bund in einem weiteren Flugblatt, das ungefähr zur selben Zeit in Zehntausenden Exemplaren verbreitet wurde: »Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund macht es sich zur Aufgabe, über Wesen und Umfang der jüdischen Gefahr aufzuklären und sie unter Benützung aller politischen, staatsbürgerlichen und wirtschaftlichen Mittel zu bekämpfen.«29
In einer ebenfalls Mitte 1919 verteilten Flugschrift bekannten führende Mitglieder des Bundes scheinheilig: »Wir wollen keine Judenhetze!«, um dann fortzufahren: »Aber wir wollen wissen, warum alles in Deutschland kritisch besprochen werden darf, nur nicht das Judentum, warum eine Schicht von Staatsbürgern weit mehr Einfluss besitzen soll, als ihrer Kopfzahl, ihren Leistungen und Fähigkeiten entspricht. Und wir wollen wissen, welchen Anteil die Juden am Niedergang des Deutschtums haben.«30 Zeitgleich ließ der DvSTB ein hetzerisches Flugblatt mit dem Titel »Die Hintermänner« kursieren: »22 Fürsten sind vertrieben, dafür haben wir tausend jüdische Tyrannen erhalten, die ungezählte Scharen ihrer Rasse- und Blutsgenossen aus Russland in unser Reich haben einströmen lassen, Horden neuer Wucherer, Blutsauger und Blutsäufer; und die mit diesen Verbrechern zusammen nur auf den Augenblick warten, um sich ganz als das zu zeigen, was sie sind: als die rücksichtslosesten, gemeinsten, gierigsten Ausbeuter deutschen Landes, deutscher Männer, deutscher Frauen und Kinder.«31
Der Schutz- und Trutzbund versuchte, ein Massenpublikum anzusprechen. Ausdrücklich an SPD-Anhänger richtete sich das Flugblatt »Arbeiter! Schüttelt das Judenjoch ab!«. Unter schaffenden Menschen finde man keine Juden, behauptete der nicht genannte Autor: »Oder doch? Ja. Man findet sie an leitender Stelle Deiner Partei, nicht, um für Dein Bestes, Dein und Deiner Familie Wohl zu sorgen, sondern um Dich aufzuhetzen gegen Deine eigenen Brüder.« Daher müssten »die Juden« aus der SPD ausgestoßen werden. In vermutlich bewusster Umformulierung klassenkämpferischer Argumente hieß es: »Wenn der Jude Dich nicht mehr bedrückt, wenn der Jude Dich nicht mehr belügt, wenn der Jude aus Deiner Arbeit nicht mehr Geld machen, von Deinem Schweiß sich nicht mehr mästen kann – dann, aber auch nur dann wirst Du ein freier Arbeiter!« Abschließend setzte das Flugblatt noch eins drauf: »Dem Juden bist und bleibst Du Ausbeutungsobjekt. Wenn Du Dich von ihm nicht lossagst, bist und bleibst Du Sklave. Ein Sklave in goldenen Fesseln: Dir gehören die Fesseln, ihnen das Gold. Arbeiter, deutscher Arbeiter – wache auf!«32
Zwar blieb die Resonanz bei Münchner Sozialdemokraten überschaubar, doch in anderen Schichten gelangen dem DvSTB bemerkenswerte Erfolge. Zuerst bei den fast ausnahmslos bürgerlichen Studenten: Noch im Sommersemester 1919 bildete sich eine Ortsgruppe an der Universität, die sich in den Räumen der Thule-Gesellschaft traf. Binnen weniger Monate gehörten ihr mehr als 900 angehende Akademiker an – jeder neunte an der Ludwig-Maximilians-Universität immatrikulierte Student. Ab Anfang August 1919 lud der Bund dann zu öffentlichen Veranstaltungen in München ein; Hauptredner auf der ersten Versammlung war Dietrich Eckart.
Die Gründung einer allgemeinen Ortsgruppe war dann nur noch eine Formsache; sie folgte im September und nutzte als Symbol ein Hakenkreuz.33 Bis Ende des Jahres zählte der Schutz- und Trutzbund in München schon mehr als anderthalbtausend Mitglieder. Sie waren aber nur ein Teil des Publikums, das im Herbst und Winter 1919 in völkische Veranstaltungen strömte. Neben kostenlos verteilten Flugblättern waren diese Versammlungen die wesentliche Methode, antisemitisch zu hetzen. Finanziert von großzügigen Gönnern, fanden die Treffen meist in Bierhallen statt. Eintritt wurde nur in Ausnahmefällen verlangt, die Redner stellte und honorierte der DvSTB. An deren Vorträge schloss sich üblicherweise eine »Aussprache« an, bei der Beiträge aus dem Publikum erwünscht waren. Immer wieder gab es auch Kritik an den Behauptungen der Redner, die manchmal diskutiert, öfter aber niedergebrüllt wurde.
Für die meisten Teilnehmer, fast ausschließlich Männer, handelte es sich um eine willkommene Gelegenheit, sich ihre nach der gesetzlichen Einführung des Achtstundentages Ende 1918 deutlich größere Freizeit zu vertreiben. Mangels anderer kostengünstiger Angebote war es attraktiv, sich bei einigen Bieren im Kreise von Gleichgesinnten die eigenen Vorurteile zu bestätigen. Aus welchen sozialen Schichten die Besucher der Münchner Veranstaltungen stammten, wurde nie ermittelt, doch wahrscheinlich dürfte es sich ähnlich verhalten haben wie bei fünf Ortsgruppen des DvSTB, über deren Mitglieder sich Angaben erhalten haben. Demnach stellten Beamte und Angestellte den größten Anteil mit zusammen gut der Hälfte, gefolgt von Kaufleuten und ihren Mitarbeitern, die man Handlungsgehilfen nannte, sowie Soldaten, die ein Zehntel ausmachten. Arbeiter waren die Ausnahme, ebenso Bauern, was aber an der Herkunft der Angaben aus Mittelstädten lag. Eine Universität gab es in keiner der fünf Gemeinden, deren Zahlen verfügbar sind – daher tauchten Studenten praktisch gar nicht auf, während sie in München einen bedeutenden Anteil ausmachten. Das Durchschnittsalter der Trutzbund-Mitglieder lag bei knapp über 30 Jahren und damit niedriger als bei der SPD. Die meisten Anhänger der antisemitischen Organisation hatten zudem an der Front gekämpft.34
Schon bevor Adolf Hitler politische Ambitionen entwickelte, waren völkisch-antisemitische Themen in München also allgegenwärtig: entschiedene Gegnerschaft zum »internationalen Marxismus« und das Bemühen um Teile der Arbeiterschaft als Massenbasis; die Ablehnung der gerade erst eingeführten Demokratie, die mit dem Feindbild der Reichsregierung in Berlin identifiziert wurde; und natürlich der alles überwölbende Antisemitismus. Das reaktionäre und nationalistische Spektrum reichte von arbeitslosen ehemaligen Soldaten oder armen Handwerkern bis ins Großbürgertum und bildete neben dem konservativ-katholischen sowie dem sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Milieu den dritten wichtigen Teil in Münchens politischer Landschaft. Innerhalb dieses Flügels aber spielte die Deutsche Arbeiterpartei keine nennenswerte Rolle; sie war nur eine von zahlreichen ähnlichen Gruppierungen.
Ohne Hitler wäre der Nationalsozialismus aller Wahrscheinlichkeit nach eine ordinäre autoritär-nationalistische Partei mit diffusen Zielen geblieben, wie es sie vielerorts gab.
Hans-Ulrich Wehler, Historiker 1
Gelegenheiten machen Geschichte, jedenfalls manchmal. Zum Beispiel am 12. September 1919. An diesem Freitag besuchte der 30-jährige Gefreite Adolf Hitler, Mitarbeiter der Propagandaabteilung des Gruppenkommandos der Reichswehr in Bayern, das Sterneckerbräu in der Münchner Innenstadt. Er sollte in Erfahrung bringen, »was es für eine Bewandtnis mit einem anscheinend politischen Verein habe, der unter dem Namen Deutsche Arbeiterpartei in den nächsten Tagen eine Versammlung abzuhalten beabsichtige«, schrieb Hitler fünf Jahre später in Mein Kampf: »Ich müsste hingehen und mir den Verband einmal ansehen und dann Bericht erstatten.« In einem hinteren Gastraum, dem »Leiberzimmer«, traf er »20 bis 25 Anwesende, hauptsächlich aus den unteren Schichten der Bevölkerung«.2
Als Redner trat der Bauingenieur Gottfried Feder auf, eine Größe in Münchens völkischen Kreisen. Wie üblich sprach er über sein Lieblingsthema, den »Mammonismus« und über das »Radikalmittel« zur »Beseitigung all der furchtbaren Schädigungen der werktätigen Arbeit«, die »Brechung der Zinsknechtschaft«.3 Hitler kannte Feders Ansichten aus einem Ausbildungskurs im Sommer 1919, »sodass ich mich mehr der Betrachtung des Vereines selber widmen konnte«. Sein Eindruck »war weder gut noch schlecht; eine Neugründung, wie eben so viele andere auch«. Mitte 1919 habe sich jeder »berufen« gefühlt, eine eigene Partei zu gründen; entsprechend zahlreich schossen alle möglichen politischen Vereine aus dem Boden, »um nach einiger Zeit sang- und klanglos wieder zu verschwinden«. Ein Schicksal, das Hitler seiner Darstellung zufolge auch für die DAP erwartete.
Er wollte schon gehen, blieb dann aber noch zur üblichen Aussprache. »Allein auch hier schien alles bedeutungslos zu verlaufen, bis plötzlich ein ›Professor‹ zu Worte kam, der erst an der Richtigkeit der Federschen Gründe zweifelte, sich dann aber – nach einer sehr guten Erwiderung Feders – plötzlich auf den ›Boden der Tatsachen‹ stellte, nicht aber ohne der jungen Partei auf das Angelegentlichste zu empfehlen, als besonders wichtigen Programmpunkt den Kampf um die ›Lostrennung‹ Bayerns von Preußen aufzunehmen.« Laut Mein Kampf fühlte sich Hitler herausgefordert: »Da konnte ich denn nicht anders, als mich ebenfalls zum Wort zu melden und dem gelahrten Herrn meine Meinung über diesen Punkt zu sagen – mit dem Erfolge, dass der Herr Vorredner, noch ehe ich fertig war, wie ein begossener Pudel das Lokal verließ. Als ich sprach, hatte man mit erstaunten Gesichtern zugehört, und erst als ich mich anschickte, der Versammlung gute Nacht zu sagen und mich zu entfernen, kam mir noch ein Mann nachgesprungen, stellte sich vor (ich hatte den Namen gar nicht richtig verstanden) und drückte mir ein kleines Heftchen, ersichtlich eine politische Broschüre, in die Hand, mit der dringenden Bitte, diese doch ja zu lesen.«4
In dieser Form ging die Geschichte von Hitlers erstem Besuch bei der Deutschen Arbeiterpartei in die offizielle NS-Geschichtsschreibung ein.5 Sogar erklärte Gegner folgten dieser Darstellung, zum Beispiel die Publizisten Rudolf Olden und Konrad Heiden.6 Auch nach 1945 orientierten sich der größere Teil der zeithistorischen Forschung und die meisten Hitler-Biografen daran.7 Doch mit der Wirklichkeit hatte die Schilderung, wie die meisten vermeintlich autobiografischen Passagen in Mein Kampf, wenig gemein.8
Vielleicht ging Hitler tatsächlich auf Weisung von Hauptmann Karl Mayr, seinem Vorgesetzten, zu der Versammlung im Sterneckerbräu – aber wenn, dann keinesfalls, um sich »diesen Verband einmal anzusehen und Bericht zu erstatten«. Denn der Hauptmann, bestens vernetzt in der völkischen Szene Münchens, verfügte über bessere Möglichkeiten, Informationen zur DAP einzuholen: Er hatte spätestens seit April 1919 Kontakte zur Thule-Gesellschaft und kannte sowohl Dietrich Eckart wie Gottfried Feder. Vor allem aber war Mayr persönlich eingeladen zur Versammlung am 12. September und hatte offenbar zugesagt, erschien aber nicht. Jedenfalls standen sein und noch weitere Namen auf der Rückseite der Anwesenheitsliste, mit dem Vermerk »fehlten«.9 Es gab auch keinen Bericht von Hitler. Außerdem nahmen insgesamt acht Soldaten teil, die alle zum Aufklärungskommando gehörten. Das spricht gegen einen Ausspähungsauftrag: Wer würde einen Spitzel schon zusammen mit sieben Kameraden schicken? Insgesamt waren es auch nicht 20 bis 25 Zuhörer, sondern 38, die eigenhändig auf der Anwesenheitsliste unterschrieben hatten, und weitere drei, die Anton Drexler nachtrug.10
Den Verlauf der Veranstaltung schilderte Hitler ebenfalls falsch. Zwar gab es nach Feders Vortrag eine Aussprache – doch der Völkische Beobachter, wie der Münchner Beobachter seine kleine überregionale Ausgabe nannte, berichtete, dass es »kaum einen Misston« gegeben habe.11 Eine verbale Konfrontation zwischen Hitler und einem »Professor« fand jedenfalls bei dieser DAP-Versammlung nicht statt, denn am 12. September 1919 nahm nur ein einziger Akademiker teil: ein Arzt, der auch später zu weiteren Versammlungen kam und daher kaum »wie ein begossener Pudel« vorzeitig das Veranstaltungslokal verlassen haben konnte. Dagegen trug sich bei einer Veranstaltung der DAP am 16. Oktober 1919 ein Lehrer einer Oberrealschule namens Adalbert Baumann mit der Berufsbezeichnung »Professor« in die Anwesenheitsliste ein – vermutlich war er es, den Hitler angriff und vertrieb.12 Vielleicht fiel dem DAP-Gründer Drexler das rhetorische Talent des Gefreiten aber schon bei der Veranstaltung im September auf; Drexler wird es wohl auch gewesen sein, der ihm seine Broschüre Mein politisches Erwachen in die Hand drückte.13
Wie genau es zum Parteieintritt Hitlers kam, ist unklar. Ein Aufnahmegesuch in seiner Handschrift, das knapp 60 Jahre später auftauchte, erwies sich als Fälschung.14 Wenig glaubhaft klingt auch die Schilderung in Mein Kampf, der zufolge Hitler »noch keine Woche später zu meinem Erstaunen eine Postkarte erhielt«, dass er »in die Deutsche Arbeiterpartei aufgenommen wäre«. Er möge sich »dazu äußern und deshalb am nächsten Mittwoch zu einer Ausschusssitzung dieser Partei kommen«. Über diese Art, Mitglieder zu gewinnen, war er angeblich »mehr als erstaunt und wusste nicht, ob ich mich darüber ärgern oder ob ich dazu lachen sollte. Ich dachte ja gar nicht daran, zu einer fertigen Partei zu gehen, sondern wollte meine eigene gründen«. Dennoch brachte seine Neugierde ihn dazu, »am festgelegten Tage zu erscheinen, um meine Gründe mündlich auseinanderzusetzen«.15 Wahrscheinlicher ist, dass Hitler eingeladen wurde, dem Politischen Arbeiterzirkel von Harrer und Drexler beizutreten. Offenbar fand am Mittwoch, dem 17. September 1919, eine Sitzung dieses Zirkels und nicht des Ausschusses der DAP statt; allerdings waren beide weitgehend identisch.16
Jedenfalls trat Hitler in der zweiten Septemberhälfte der Partei bei, die noch keine Listen führte. Später behauptete er stets, er sei das »siebte Mitglied« der DAP gewesen.17 In Wirklichkeit hatte die Partei zu dieser Zeit wohl zwischen 50 und 60 Unterstützer.18 Erst Monate später, nämlich Anfang 1920, begann die Partei eine Mitgliederkartei zu führen – alphabetisch und beginnend mit der Nummer 501, um die Partei größer erscheinen zu lassen. Hitler bekam den Ausweis mit der 555.19 Tatsächlich das siebte Mitglied wurde er im DAP-Ausschuss, als »Werbeobmann« – eine Funktion, die in der Satzung nicht vorgesehen war. Deutschem Vereinsrecht entsprechend bestand der Vorstand aus Harrer als erstem und Drexler als zweitem Vorsitzenden sowie aus einem Schriftführer und einem Kassenwart mit je einem Stellvertreter.
Von der Arbeit dieses Gremiums hielt Hitler nicht viel: »Unser kleiner Ausschuss, der in Wirklichkeit mit seinen sieben Köpfen die ganze Partei repräsentierte, war nichts anderes als die Vorstandschaft eines kleinen Skatklubs«, karikierte er zehn Jahre später seine ersten Erfahrungen. »Die Tätigkeit des Ausschusses bestand darin, Briefe, die eingegangen waren, vorzulesen, die Antwort zu beraten und die Briefe, die vom Vorsitzenden entsprechend dieser Beratung abgeschickt wurden, wieder zur Kenntnis zu nehmen, also ebenfalls vorzulesen.« Unter dem Gelächter seiner Zuhörer fügte er hinzu: »Ich habe seit jener Zeit gegen Briefschreiben und Briefschreiber einen geradezu infernalischen Hass in mir aufgestapelt.«20
Trotzdem fühlte er sich dem Ausschuss verpflichtet; am 16. Oktober 1919 trat er erstmals offiziell auf, wie der Münchner Beobachter berichtete: »Herr Hitler von der DAP behandelte mit zündenden Worten die Notwendigkeit des Zusammenschlusses gegen den gemeinsamen Völkerfeind und begründete insbesondere die Unterstützung einer deutschen Presse, damit das Volk erfahre, was die Judenblätter verschweigen.«21 Rasch erwies er sich als unterhaltsamster Redner der Drexler-Gruppe. In Polizeiberichten und Artikeln wurde seine Wortwahl als »drastisch« oder »krass« charakterisiert, die Besucher reagierten mit »tosendem« Beifall.22 Ganz gleich, worüber Hitler sprach: Stets zeigte er sich ungebremst aggressiv.23
Fast jede Woche fanden Versammlungen der DAP statt, vor einer wachsenden Zahl von Zuhörern, die sich von Hitlers Kompromisslosigkeit angezogen fühlten.24 Ende Oktober waren es rund 50, zwei Wochen später bereits sechsmal so viel. Der große Saal des Eberlbräukellers war »bis auf den letzten Platz« gefüllt, wie ein Informant des Münchner Polizeipräsidiums festhielt – obwohl ein Eintritt von 50 Pfennig zu bezahlen war, für einen Arbeiter ungefähr ein Stundenlohn. Die 300 Interessierten, überwiegend Studenten, Offiziere, Kaufleute und Soldaten, aber nur 20 bis 30 Arbeiter, fühlten sich anscheinend gut unterhalten. In »meisterhafter Weise« habe der Redner sich seinem Thema gewidmet und dafür »brausenden Beifall« erhalten, berichtete der Informant, der auch wusste, dass Hitler eine Karriere als »berufsmäßiger Werberedner« anstrebte.25Mein Kampf zufolge führte sein »Appell an die Opferwilligkeit der Anwesenden zur Spende von dreihundert Mark« – viel Geld für eine Partei, deren Kassenbestand damals selten über zehn Mark lag.26
Offenbar gönnte der DAP-Vorsitzende Karl Harrer dem Neumitglied diese Erfolge nicht. Zur nächsten Veranstaltung am 26. November 1919 waren vier Redner eingeladen, unter ihnen Gottfried Feder – nicht aber Hitler; er ergriff erst in der Aussprache »in seiner lebhaften Weise« das Wort. Harrers Beitrag beschränkte sich auf einen kurzen Bericht zu »Parteiangelegenheiten«, darunter die Mitteilung, dass Termin und Ort der Weihnachtsfeier noch nicht feststünden »wegen der Heizsperre der Säle«, und auf die Verlesung von vier Entschließungen.27 Der erste Machtkampf in der DAP stand bevor.
Denn der Vorsitzende versuchte, einen Partner zu finden. Die Deutschnationale Volkspartei, gleichfalls völkisch und antisemitisch, aber weitgehend in Preußen und dort im Bürgertum verankert, versuchte sich als landesweite Sammlungsbewegung der radikalen Rechten zu etablieren. Sie verfügte in Bayern noch nicht über eine Organisation, also bot Harrer bei einem Besuch des DNVP-Geschäftsführers in München am 7. Dezember 1919 an, bei den nächsten Wahlen zum bayerischen Landtag auf eigene Kandidaten zu verzichten, wenn die DNVP dafür ein Mitglied der DAP auf ihre Wahlliste nehmen würde; es werde sich um einen Angestellten handeln.28 Eine klassische Hinterzimmerabsprache, wie Hitler sie in seinen Reden stets harsch geißelte.
Ob er von Harrers Kontakt zur DNVP erfuhr, ist unklar; vielleicht hatte er auch schon unabhängig davon entschieden, den Vorsitzenden der DAP zu stürzen. Jedenfalls arbeitete er mit Drexler eine Geschäftsordnung für den Ausschuss der Münchner Ortsgruppe aus, die »jede Form einer Bevormundung einer Über- oder Nebenregierung, sei es als Zirkel, sei es als Loge, ein für alle Mal« ausschloss. Gemeint waren damit Harrers Politischer Arbeiterzirkel und die im Geheimen, also »logenartig« tätige Thule-Gesellschaft. Hitler brachte diese Geschäftsordnung im Dezember 1919 bei einer Sitzung der Münchner Ortsgruppe der DAP ein, wo sie mit Unterstützung Drexlers beschlossen wurde. Da aber der einzigen Ortsgruppe zugleich »die Führung der Gesamtpartei« oblag, war Harrer damit faktisch kaltgestellt.29
Wann genau dieser Machtkampf stattfand, ist nicht gesichert. Am 10. Dezember 1919 leitete Harrer noch eine Versammlung der DAP mit Hitler als Hauptredner vor 300 Zuhörern.30 Zwölf Tage später schon fehlte Harrers Unterschrift auf dem Mietvertrag für das erste Parteibüro im Hinterzimmer des Sterneckerbräus.31 Sein formaler Rücktritt als Vorsitzender folgte auf den Tag genau ein Jahr nach der Gründung der DAP. Nach gut drei Monaten Mitgliedschaft bildete Hitler mit Drexler die Doppelspitze der DAP.
Natürlich enthielt Mein Kampf auch hierüber eine unzutreffende Schilderung. Angeblich sei es über den Termin einer ersten echten Massenversammlung der DAP zum Streit gekommen: »Der damalige erste Vorsitzende der Partei, Herr Harrer, glaubte meinen Ansichten in Bezug auf den gewählten Zeitpunkt nicht beipflichten zu können und trat in der Folge als ehrlicher, aufrechter Mann von der Führung der Bewegung zurück. An seine Stelle rückte Herr Anton Drexler vor. Ich selber hatte mir die Organisation der Propaganda vorbehalten.«32
Anfang Januar 1920 war Hitler noch nicht mehr als der beste Redner einer winzigen Gruppierung mit knapp 200 zahlenden Mitgliedern.33 Das Potenzial für eine aggressive Rechtspartei in München war hingegen weit größer. Das zeigte sich am 7. Januar 1920: Der DvSTB hatte in den Kindlkeller geladen, den größten Bierausschank Münchens. Thema des Abends sollte »Die Judenfrage« sein, als Redner war ein wenig bekannter Funktionär des Schutz- und Trutzbundes aus Nürnberg namens Kurt Kerlen angekündigt. Dennoch strömten fast 7000 Besucher in den überfüllten Saal, und weitere Tausende versuchten erfolglos, ebenfalls eingelassen zu werden.34 Ungeachtet dessen behauptete Hitler später: »Die größten ›bürgerlichen‹ Versammlungen zählten im Jahre 1919 und 1920 nur wenige Hundert Zuhörer.«35
Kerlen pfefferte seine Rede mit Begriffen wie »Stinkbande«, schimpfte auf die »Vaterlandsverräter« und forderte, den »jüdischen Saustall« aufzuräumen. Das Publikum reagierte mit frenetischem Beifall und Zwischenrufen wie »Am Marienplatz gehören sie alle aufgehängt!«. Als die Aussprache begann, meldeten sich neben Antisemiten wie Gottfried Feder und einem Redakteur des Völkischen Beobachters auch Kritiker, so der USPD-Stadtrat Georg Thierauf: »Behauptet, gewiss kein Gegner der antisemitischen Bewegung zu sein«, hielt der Polizeibericht seine ersten Worte fest. Mehr kam beim Publikum nicht an: »Runter! Da gibt’s kein ›aber‹! Raus mit dem Judenkerl!«, scholl es aus Tausenden Kehlen – Gegenreden mochte man nicht hören. Thierauf sprach dennoch weiter und wandte sich »scharf gegen den Kapitalismus«, doch er war kaum mehr zu verstehen. Nachdem sich die Stimmung im Kindlkeller wieder beruhigt hatte, ergriff Hitler das Wort, laut Polizeibericht als Vertreter der DAP. Mühelos steigerte er die Hasstiraden seiner Vorredner: »Der größte Schuft ist nicht der Jude, sondern der, der sich den Juden zur Verfügung stellt.« Der Polizeibericht vermerkte dazu: »Beifall«. Dann ging Hitler auf die letzten Sätze des niedergebrüllten Thieraufs ein: »Wir bekämpfen den Juden, weil er den Kampf gegen den Kapitalismus verhindert.«36
Offene Aufrufe zur Gewalt wie in der Versammlung im Kindlkeller konnte die Polizeidirektion München nicht hinnehmen – für die folgenden vier Wochen wurden kurzerhand alle öffentlichen Veranstaltungen untersagt. Ausgenommen davon blieben geschlossene Mitgliederversammlungen. Deshalb deklarierte der Schutz- und Trutzbund weitere geplante Vorträge als Treffen von Vereinsmitgliedern; kontrollieren konnte das ohnehin niemand. Auch die DAP nutzte diesen Trick. Außerdem hielt Hitler Anfang 1920 sechs Reden in »staatsbürgerlichen Fortbildungskursen« des Münchner Reichswehrkommandos; je dreimal über den Frieden von Versailles und über »Die politischen Parteien und ihre Bedeutung«.37 Doch eigentlich wollte er, nach der Erfahrung der Massenkundgebung am 7. Januar 1920, eine eigene Großveranstaltung mit mehreren Tausend Zuhörern.
Vermutlich ahnte Hitler, dass sein Name noch nicht zugkräftig genug sein würde, um einen der riesigen Bierausschänke Münchens zu füllen – und was wäre peinlicher als ein nur zur Hälfte gefüllter Saal? Deshalb suchte Drexler am 20. Februar 1920 einen in Bayern bekannten Redner auf, den Mediziner Johannes Dingfelder.38 Er erklärte sich bereit, einen bereits fünfmal gehaltenen Vortrag zu wiederholen. Mit dem beim völkischen Publikum angesehenen Dingfelder als Hauptredner wagte es die DAP am Samstag, dem 21. Februar, für den folgenden Dienstag den großen Saal des Hofbräuhauses zu buchen – er fasste vollbesetzt 2000 Personen. Am selben Tag kündigte der Völkische Beobachter die Versammlung an; außerdem gingen Plakate in den Druck, auf deren leuchtend rotem Papier aufgerufen wurde, am 24. Februar 1920 zum Vortrag mit dem Titel »Was uns not tut!« zu erscheinen: »Zur Deckung der Unkosten werden 50 Pfennig Eintritt erhoben.«39 Von Hitler war auf dem Plakat keine Rede.
Doch der »Werbeobmann« der DAP plante einen Coup: Er wollte im Hofbräusaal mit einem Programm an die Öffentlichkeit treten. Seit Wochen arbeiteten Mitglieder an Entwürfen; Gottfried Feder schrieb am 15. Dezember 1919 in sein Tagebuch: »Programm der DAP, den ganzen Tag«.40 Anfang Februar 1920 stand der Text im Wesentlichen, den Hitler und Drexler dann zwei Tage vor der Versammlung redigierten, ins Reine schrieben und in den Druck gaben. Er umfasste 25 Punkte; eine Mischung aus nationalistischen, antikapitalistischen und antisemitischen Forderungen.41
Hitler, der den Vorsitz der Versammlung übernommen hatte, hielt sich an die Ankündigung und erteilte nach der Begrüßung sofort dem Gastredner das Wort. Der Saal war überfüllt. Unter den Zuhörern waren auch viele Anhänger linker Parteien, die aber während Dingfelders Vortrag nicht größer störten. Das lag sicher mit daran, dass er moderat auftrat, wie ein Berichterstatter der Münchner Polizei festhielt: »Die Ausführungen des Referenten waren durchaus sachlich und oft von tiefem religiösen Geist getragen. Als der Redner sagte, dass nur Gott allein unser bester Bundesgenosse ist, erntete er reichen Beifall. Das Wort ›Jude‹ nahm er nie in den Mund.« Ganz anders ein Teil des Publikums: Ein halbes Dutzend Mal vermerkte der Polizeibericht Zwischenrufe wie: »Juden! Juden! Hinaus mit den Juden!«. Dingfelder ging darauf nicht ein, sondern schloss mit der Ankündigung: »Unser Volk wird einst erwachen! Dann wird es wieder genesen und dann wird es wieder wahr werden, dass am deutschen Wesen einst wird die Welt genesen!«42
Eine ideale Vorlage für Hitler. Er dankte Dingfelder sowie den anwesenden politischen Gegnern »für ihr ruhiges Verhalten« und versprach, dass »wir Ihnen dann auch nicht in den Rücken fallen werden«.43 Doch damit war sein Vorrat an Sachlichkeit aufgebraucht; nun steigerte er sich in die für ihn typische Aneinanderreihung von Vorwürfen, nacheinander gegen die Regierung und ihre Beamten, gegen – natürlich angeblich jüdische – Kriegsgewinnler, Schieber und Wucherer sowie gegen Zeitungen. Seine Anhänger reagierten begeistert; der Polizeibericht vermerkte »lebhaften Beifall«, aber auch immer öfter Zwischenrufe wie »Nieder mit der Judenpresse! Hinaus damit!« oder »Prügelstrafe! Aufhängen!«. Inzwischen war die Stimmung aufgeheizt: »Große Unruhe im Saal!«. Hitler begann, die 25 Punkte vorzulesen: »1. Wir fordern den Zusammenschluss aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Groß-Deutschland. 2. Wir fordern die Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenüber den anderen Nationen, Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und St. Germain. 3. Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses.« So ging es in einem fort – prägnant formulierte, aber unflexible Maximalforderungen. Wenn die 25 Punkte umgesetzt seien, werde es kein weiteres Programm geben: »Die Führer lehnen es ab, nach Erreichung der im Programm aufgestellten Ziele neue aufzustellen, nur zu dem Zweck, um durch künstlich gesteigerte Unzufriedenheit der Massen das Fortbestehen der Partei zu ermöglichen.«44 Hitler schwebte offensichtlich keine klassische Parteiorganisation vor.
»Während der Verlesung des Programms kam es von der Gegenseite oft zu Zwischenrufen, denen ›Hinaus‹-Rufe folgten. Es herrschte oftmals ein großer Tumult, sodass ich glaubte, jeden Augenblick kommt es zu Schlägereien«, vermerkte der Polizeiinformant.45 Der Berichterstatter des Völkischen Beobachters empfand es ähnlich: »Herr Hitler entwickelte einige treffende politische Bilder, die stürmischen Beifall fanden, aber auch die zahlreich anwesenden ›vorgefassten‹ Gegner zum Widerspruch veranlassten.« Weniger bemerkenswert erschienen ihm die 25 Punkte selbst, die »in den Grundzügen dem Programm der deutschsozialistischen Partei« nahekämen.46 Vergleichbar erging es den Journalisten anderer Blätter: Die Münchner Zeitung, die Bayerische Staatszeitung und die München-Augsburger Abendzeitung gingen nur mit wenigen Worten darauf ein, die Münchner Neuesten Nachrichten beließen es sogar bei dem Hinweis, es sei ein Programm entwickelt worden. Die USPD-Zeitung Der Kampf warf Hitler und Drexler gar ein Plagiat vor. Ihre Ziele habe die DAP »der Einfachheit halber aus dem sozialistischen Programm« abgeschrieben. Entsprechend lautete die Überschrift des Artikels: »Ein gestohlenes ›Programm‹!«.47 Darauf konnte nur kommen, wer radikalen Antisemitismus für völlig normal hielt.
In der anschließenden Aussprache argumentierten einige Zuhörer gegen Hitlers 25 Punkte. So kritisierte einer den angeblich mangelnden Antisemitismus; ihm waren die Forderungen der DAP zu moderat – offenbar fand er Punkt 4 selbstverständlich: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.«48 Ein anderer Diskussionsredner kündigte an, man werde einer »Diktatur von rechts […] eine Diktatur von links entgegensetzen«. Diese Drohung führte zu Tumulten, Zwischenrufen und viel Beifall.49 Hitler beendete die Aussprache gegen 22 Uhr, doch seine Worte gingen im Lärm unter.
Obwohl die Präsentation des Parteiprogramms durchaus unbefriedigend verlaufen war, bauschte Hitler den 24. Februar 1920 zum Gründungsakt der NSDAP auf. In Mein Kampf