Vier Juden auf dem Parnass - Carl Djerassi - E-Book

Vier Juden auf dem Parnass E-Book

Carl Djerassi

4,5

Beschreibung

Die Philosophen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, der Religionshistoriker Gershom Scholem, der Komponist Arnold Schönberg: vier große jüdische Denker des 20. Jahrhunderts, vier Wege jüdischen Selbstverständnisses und vier Lebensgeschichten durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts, in denen sich als fünfter Weg auch die Biografie von Carl Djerassi selbst spiegelt. Djerassi lässt diese vier Männer in Dialogen unmittelbar zu Wort kommen. So führt er die Leser ein in ihre Gedankengebäude und lotet aus, welche Bandbreite die Bedeutung des Wortes "Jude", in Hinblick auf Herkunft wie auf Religion oder Politik, abdecken kann. Zugleich erlaubt Djerassi auf der Basis fundierter Recherche aber auch völlig neue Einblicke in die privaten Lebensbereiche von Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg und lässt sie über Freundschaften und Frauenbeziehungen, über Sexualität und Pornographie erzählen. Ein wichtiges Thema ihrer Gespräche ist auch Paul Klee, der als Prototypus des "nicht-jüdischen Juden" und insbesondere über sein 1920 geschaffenes Werk "Angelus Novus", mit dem Adorno und Benjamin sich intensiv beschäftigten, präsent ist. Die Auseinandersetzung mit Paul Klee durchzieht auch die Fotokunstwerke, die Gabriele Seethaler für diesen Band geschaffen hat und die Djerassis in gedanklicher Schärfe funkelnden Text begleiten und ergänzen. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Gabriele Seethaler, geboren 1964 in Linz. Biochemikerin und Fotokünstlerin an den Übergängen zwischen Kunst und Wissenschaft. Ausstellungen u.a. in Rom, Paris, Mailand, Brüssel, New York, Berlin und Wien.

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Carl DjerassiVier Juden auf dem Parnass

Carl Djerassi

VIER JUDENAUF DEM PARNASS

Ein Gespräch

Benjamin – Adorno – Scholem – Schönberg

Mit Fotokunst von Gabriele Seethaler

Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner

© 2008HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at

© der Fotokunstwerke: Gabriele Seethaler

Der Text in diesem Buch darf zu Bühnenzwecken, Lesungen oder Vereinsaufführungen nur benutzt werden, wenn vorher das Aufführungsrecht vom Autor ([email protected], http://www.djerassi.com) erworben wurde.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7502-2

Layout & Satz: Haymon Verlag/Christine PetschauerUmschlaggestaltung: Stefan Rasberger

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

INHALT

Vorwort

1. Vier Männer

2. Vier Ehefrauen

3. Ein Engel (von Paul Klee)

4. Vier Juden

5. Benjamins Aktentasche

Anmerkungen

Danksagungen

Die Autoren

Abbildungsverzeichnis

Bibliografie

In MemoriamDiane Middlebrook1939–2007

VORWORT

Ich habe das Format der direkten Rede gewählt, um eine leicht verständliche und humanisierende Ansicht über vier außergewöhnliche Intellektuelle des 20. Jahrhunderts zu präsentieren: Walter Benjamin, Gershom Scholem, Theodor W. Adorno und Arnold Schönberg. Diese Männer waren offenbar schon in frühen Jahren davon überzeugt, für den Parnass bestimmt zu sein; so gut wie nichts von dem, was sie zu Papier brachten, wurde je weggeworfen, und wenn dies doch geschah, so wurde es von ihren Freunden eingesammelt und aufbewahrt. Infolgedessen ist die Literatur über sie – ob biografischer, kritischer, erläuternder oder revidierender Art – äußerst umfangreich. Und da sie in einer Zeit ohne Computer und Fax lebten, als man sich noch Briefe schrieb, ist ihre berufliche wie private Korrespondenz größtenteils erhalten und liegt sogar weitgehend in Buchform vor. Außerdem ist jeder von ihnen Gegenstand eines eigenen rührigen Archivs: Benjamin in Berlin, Adorno in Frankfurt, Scholem in Jerusalem und Schönberg in Wien. Besonders umfangreich ist das Schrifttum bezüglich ihrer persönlichen und geistigen Interaktion sowie der Art und Weise, wie Adorno und Scholem nach dem tragischen Selbstmord Benjamins diesen postum kanonisierten, was eine komplette Unterdisziplin der Benjaminologie entstehen ließ.

Warum suchte ich mir gerade dieses Quartett aus? Weil alle vier der eigentümlichen Untergruppe deutscher und österreichischer Juden der Generation vor dem Zweiten Weltkrieg angehörten, die oft berlinerischer oder wienerischer waren als ihre nichtjüdischen Landsleute. Keiner war tief religiös; einige von ihnen waren mehr oder weniger säkular. Dieser Generation und dieser Untergruppe gehöre auch ich an, und meine persönlichen Erfahrungen mit den unauslöschlichen Folgen, in den 30er-Jahren in Wien als säkularer Jude aufzuwachsen, weckten in mir den Wunsch, die ganze Bandbreite der Bedeutung des Wortes „Jude“ anhand von vier Personen zu untersuchen, die auf dieses Etikett völlig unterschiedlich reagierten. In jener Zeit des virulenten Antisemitismus gerieten gelegentlich selbst Nichtjuden wie Paul Klee – eine wichtige, aber stumme Figur in meinem Buch – unter Verdacht und wurden gebrandmarkt: Es genügte, dass ihr Beruf oder ihr künstlerisches Schaffen dem ihrer säkularen jüdischen Pendants ähnelte.

Bis vor nicht allzu langer Zeit beschränkten sich meine eigenen biografischen Schriften auf Autobiografie, geradezu eine Explosion von Autobiografischem. 1990 schrieb ich eine Autobiografie1, die sich an meine Chemiker-Kollegen richtete und stark auf chemische Darstellungen zurückgriff, die für das breite Publikum kaum verständlich waren. Da ich Geschmack an der Selbstenthüllung gefunden hatte, veröffentlichte ich zwei Jahre später eine Autobiografie2, die für eine breite Leserschaft bestimmt war, aber etwas unkonventionell in Form von 20 nicht chronologisch geordneten, in sich abgeschlossenen Kapiteln präsentiert wurde. Diese Autobiografie kennzeichnete meine literarische Entwicklung über die übliche naturwissenschaftliche, mit Informationen vollgestopfte Prosa hinaus und wurde ein Jahrzehnt später durch einen schmalen Memoirenband3 ergänzt, der meine endgültige Metamorphose vom Naturwissenschaftler zum spätberufenen Romancier und dann zum Bühnenautor schilderte. In ihrem Verlauf lernte ich eine wichtige Lektion: Autobiografie enthält ein hohes Maß an Automythologie, da die zu Papier gebrachten Worte den persönlichen psychischen Filter des Exhibitionisten durchlaufen müssen, was jeder Autobiograf nun einmal ist. Nur ein absoluter Masochist ist dazu fähig, sich vor dem voyeuristischen Leser komplett zu entblößen und jeden Makel, jede Schwäche oder Missetat zur Schau zu stellen. Anders verhält es sich bei der Biografie, wo sich der Autor mit einer anderen Person beschäftigt, häufig einem Verstorbenen, den er gar nicht persönlich kannte, und wo das meiste Material auf schriftlichen oder fotografischen Dokumenten basiert.

Die biografischen Skizzen in meinen Vier Juden auf dem Parnass entsprangen einer Mischung aus autobiografischen und biografischen Anregungen. Ich wollte über vier europäische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts schreiben – das für mich mein Jahrhundert ist, da ich 1923 geboren bin. Dies war auch ein ungeheuer wichtiges Jahr für die Protagonisten, die ich mir aussuchte: Adorno und Benjamin lernten sich 1923 kennen, dem Jahr, in dem Adorno auch seine spätere Frau Gretel kennenlernte, in dem Scholem nach Palästina emigrierte und heiratete, während Schönberg ebenfalls 1923 Witwer wurde und erstmals seine Komposition mit 12 Tönen veröffentlichte. Aber meine Wahl dieser vier europäischen Juden hatte noch andere Gründe: Ich stieß in ihrem Leben auf Themen, mit denen ich mich auch in meinem eigenen auseinandersetzen wollte, da ich mich seinem Ende nähere. Genau wie in meiner Autobiografie beschloss ich, meine vier Protagonisten anhand ausgewählter Skizzen darzustellen, die nicht unbedingt chronologisch miteinander verbunden sind. In diesem Fall fiel meine Wahl auf Themen, die meiner Meinung nach in dem ansonsten überreich dokumentierten biografischen Material bisher entweder nicht eingehend genug oder sogar falsch dargestellt wurden. Und, was noch wichtiger ist, ich entschied mich, zur Charakterisierung meiner Personen Dialoge für sie zu schreiben. Man könnte die fünf Episoden daher als Szenen eines Prosa-Dokudramas einordnen, weil (bis auf zwei genannte Ausnahmen) jedes kleinste biografische Detail, das ich enthülle, auf historischen Dokumenten beruht, teilweise sogar auf direkten Zitaten, die aus der Bibliografie oder den persönlichen Interviews stammen, die am Ende des Buches angeführt sind.

Ich entschloss mich, dieses biografische Material ausschließlich in Dialogform zu präsentieren, abgesehen von den einleitenden Bemerkungen zu jeder Szene. Das liegt zum einen an meiner eigenen Biografie. In meiner früheren Inkarnation als Naturwissenschaftler war es mir ein halbes Jahrhundert lang nicht gestattet, noch erlaubte ich mir, in meinen schriftlichen Abhandlungen die direkte Rede zu benutzen. Bis auf ganz seltene Ausnahmen haben sich Naturwissenschaftler völlig vom schriftlichen Dialog abgewandt, und zwar seit der Renaissance, als insbesondere in Italien einige der wichtigsten literarischen Schriften in dialogischer Form verfasst wurden – von erläuternden oder sogar didaktischen Texten bis hin zu unterhaltenden oder satirischen –, was für Leser wie Autoren gleichermaßen reizvoll war. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Galileo. Und nicht nur in Italien war dies der Fall. Nehmen wir Erasmus von Rotterdam: Seine Colloquia sind ein großartiges Beispiel dafür, wie es einem der größten Geister der Renaissance gelang, Themen wie Kriegshandwerk (Militaria) oder Sport (De Lusu), Der Freier und das Mädchen (Proci et puellae) oder Der Jüngling und das Freudenmädchen (Adolescentis et scorti) ausschließlich in Dialogform zu behandeln. Die explosionsartige Zunahme dialogischer Schriften regte sogar zu literarischen theoretischen Studien an. Seit dem 16. Jahrhundert versuchen Kritiker, dieses literarische Genre zu verherrlichen, zu verteidigen, zu reglementieren oder – leider – abzuschaffen.

Einer dieser Kritiker war der Earl of Shaftesbury, der 1710 in seinen Charakteristicks schreibt, der „Dialog ist am Ende, da jegliche Liaison und aller zärtliche Verkehr zwischen Autor und Leser“ aus dialogischen Abhandlungen verschwunden sei. Da es mir um eine humanisierende Schilderung meiner vier Protagonisten geht, nicht um einen theoretischen Einblick in ihr Werk, glaube ich, dass dies durch einen „zärtlichen Verkehr“ in Dialogform nachdrücklicher zu erreichen ist als durch die leidenschaftslosere Stimme eines Unbeteiligten. Ich kann nur hoffen, dass die Intimität meiner Zärtlichkeiten den Leser davon überzeugen wird, dass ich – zumindest in Vier Juden auf dem Parnass – den Rat des Earl of Shaftesbury mit Fug und Recht missachtet habe.

1. VIER MÄNNER

Parnass der, griech. Parnassos, Kalkgebirge in Mittelgriechenland nördlich des Golfs von Korinth (bis 2 457 m ü.M.). Am Südfuß liegt Delphi. Der Parnass galt in der Antike als der Sitz des Apoll und der Musen; daher in übertragener Bedeutung auch „Reich der Dichtkunst“.

Der Parnass ist eine allgemein akzeptierte Metapher für die höchste Anerkennung literarischer, musikalischer oder intellektueller Leistungen. Die Ankunft auf diesem erhabenen Gipfel beweist, dass der Prozess der Kanonisierung abgeschlossen ist. Das eigentliche Thema des folgenden Quintetts von Gesprächen ist im Grunde eine eingehende Untersuchung des Verlangens nach Kanonisierung sowie des Prozesses, wodurch diese erreicht wird. Von meinen vier Protagonisten gelangte nur Walter Benjamin – der heute als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Philosophen und gesellschaftskritischen Literaten des 20. Jahrhunderts gilt – postum auf den Parnass. Die anderen drei hatten ihn schon vor ihrem Tod erreicht. Zur Zeit seines Selbstmords im Jahre 1940 attestierte nur ein kleiner Kreis vorwiegend deutscher Intellektueller – darunter Theodor Adorno, Hannah Arendt, Bertolt Brecht und Gershom Scholem – Benjamin das Format für den Parnass. Inhalt und Stil seiner Schriften waren so komplex, ja sogar verschlungen, der Umfang seiner Interessen so breit gefächert und seine Veröffentlichungen so fragmentarisch, dass nur wenige Zeitgenossen und insbesondere Adressaten seiner Briefe und Nachdrucke in der Lage waren, die außerordentliche geistige Tiefe und Spannweite dieses großen Denkers zu erfassen und zu würdigen. Um Hannah Arendt zu paraphrasieren: Um Berühmtheit zu erlangen, genügt nicht die Meinung einiger weniger. Erst als seine Schriften ab den 50er-Jahren von Adorno, dessen Frau Gretel und Scholem gesammelt und herausgegeben wurden, fand Benjamin in Europa Anerkennung. Das entscheidende Ereignis in Amerika war 1968 die Veröffentlichung der englischen Übersetzung der berühmtesten Essays von Benjamin, die Hannah Arendt unter dem Titel Illuminations zusammengestellt hatte, zu einer Zeit, als Benjamin bereits auf dem Parnass etabliert war. Aber wie Arendt in der Einleitung zu Illuminations schreibt: „Postume Berühmtheit ist etwas zu Sonderbares, um die Blindheit der Welt oder die Korruption eines literarischen Milieus dafür verantwortlich zu machen.“ Aber es muss auch der richtige Zeitpunkt sein, und das postnazistische, von der marxistischen Dialektik beherrschte Klima der 60er-Jahre, das 1968 in der Studentenbewegung kulminierte, war ideal.

Ich habe gewisse Regeln und Bedingungen für den Parnass erfunden, auf dem meine vier Protagonisten schließlich noch einmal zusammenkommen. Benjamin hatte seine Freunde Adorno und Scholem um ein Treffen gebeten, um Aufklärung über einige ihm fehlende Fakten zu erhalten, da auf meinem postmodernen Parnass alles, was zu Lebzeiten einer Person und seit ihrer Ankunft auf dem Parnass geschah, bekannt ist. Es besteht sogar Internetzugang und die Möglichkeit, ähnlich wie bei Amazon, neu erschienene Bücher zu bestellen, aber es gibt weder E-Mail-Verbindung mit der Außenwelt noch kann man neue Werke hervorbringen. Worin liegt dann Benjamins Problem? Da er als einziger postum auf den Parnass kam, weist sein autobiografisches Wissen eine Lücke auf zwischen seinem Selbstmord im September 1940 und seiner Ankunft auf dem Parnass zwei Jahrzehnte später. Können die beiden ihm helfen, diese Lücke zu schließen?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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