Der Schattensammler - Carl Djerassi - E-Book

Der Schattensammler E-Book

Carl Djerassi

4,7

Beschreibung

DIE GROSSE AUTOBIOGRAFIE DER "MUTTER DER PILLE" CARL DJERASSI Carl Djerassis Autobiografie gibt einen tiefen Einblick in sein ereignisreiches Leben: Geboren und aufgewachsen in Wien, musste seine Familie, als er 15 war, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft zunächst nach Bulgarien und später in die USA flüchten. Als einer der größten Chemiker sowie bedeutendsten Kunstsammler und -mäzene hat Djerassi unsere Gesellschaft nachhaltig und grundlegend beeinflusst. Mit der Entwicklung der Pille hat er die Lebensentwürfe ganzer Generationen verändert, seine Ergebnisse zur Synthese von Cortison waren entscheidend für die weitere Forschung. Schonungslos offen lässt Carl Djerassi sein Leben Revue passieren. Faszinierend und sehr persönlich erzählt er von den wichtigsten Stationen seines beruflichen Werdegangs, seiner Leidenschaft für Kunst und Literatur sowie den prägenden Erfahrungen seines Lebens. Carl Djerassi - Miterfinder der Pille - einer der 30 wichtigsten Menschen des Milleniums (London Sunday Times) - vielfach ausgezeichnet und mit aktuell 30 Ehrendoktoraten gewürdigt - prägte das Genre Science-in-fiction **************************************************************************************************************** "Bilanz eines Mannes, der so schonungslos wie augenzwinkernd sein langes Leben im Detail reflektiert." Wiener Zeitung, Eva Stanzl "..Spannende Einblicke in ein bewegtes Leben eines Wissenschafters, Universitätsprofessors, Kunstliebhabers und -sammlers, Schriftstellers, dessen Erfolge, aber auch dessen persönliche Katastrophen." ORF.at "Kurzweilig, genial und eindrucksvoll: Die Lebensgeschichte einer namhaften Persönlichkeit aus Wissenschaft und Kultur." Leserstimme ****************************************************************************************************************

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HAYMONverlag

______________________________Carl Djerassi

Der Schattensammler

Die allerletzte Autobiografie

Aus dem Amerikanischen

von Ursula-Maria Mössner

© 2013

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7680-7

Umschlag- und Buchgestaltung, Satz:

hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Coverfoto: Karen Ostertag

Alle Fotos, so nicht anders angegeben, stammen aus dem Privatarchiv von Carl Djerassi. Die grau gedruckten Texte stellen Zitate aus bereits erschienenen Werken Carl Djerassis dar.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Die Vergangenheit geht nichtunverfälscht in die Gegenwart über.

Bruce Bawer

In memoriam

Pamela Djerassi (1950–1978) und

Diane Middlebrook (1939–2007)

Und, wie immer, für

Dale und Alexander Djerassi

und Leah Middlebrook

Inhalt

Caveat Lector

Freitod

Die bittersüße Pille

Heimat(losigkeit)

„Jude“

„Professor für Professionelle Deformation“

„Schriftsteller“

„Sammler“

Bonobos

Was wäre, wenn?

The Big Drop

Biografischer Abriss

Vom gleichen Autor

By the Same Author

Caveat Lector

„Der Leser möge sich hüten.“ Das ist ein riskanter und unkluger Auftakt, egal zu welchem Buch, insbesondere aber zu einer Autobiografie. Obwohl ich mir des Risikos vollkommen bewusst bin, muss ich dennoch mit diesen Worten beginnen: weil es mir die Offenheit gebietet.

Ich habe bereits eine umfangreiche Autobiografie verfasst; sie trägt den klangvollen Titel The Pill, Pygmy Chimps, and Degas’ Horse (deutsch: Die Mutter der Pille). Sie wurde 1992 veröffentlicht, als ich 69 Jahre war, also in einem Alter, das für Autobiografen als „angemessen“ betrachtet werden kann. Eine eingehendere Prüfung, der in dem gnadenlos zudringlichen Zeitalter von Google nichts verborgen bliebe, würde jedoch nicht weniger als drei Autobiografien zählen. Wenn das zutrifft, muss ich darauf gefasst sein, der Megalomanie bezichtigt zu werden, wenn ich anlässlich meines 90. Geburtstags eine vierte vorlege – also erneut durch die immer staubiger werdende Brille der Erinnerung zurückblicke. Oder zeigen sich bei mir nur die ersten Symptome der Vergesslichkeit, und zwar darin, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, was ich damals geschrieben habe, als ich mich Ende der 1980er Jahre vom Chemiker zum Schriftsteller wandelte? Darum möchte ich damit beginnen zu beschreiben, welcher besonderen Art diese „Autobiografien“ waren, und dann skizzieren, warum ich diesem autobiografischen Mount Everest noch eine weitere Schaufel Lebensgeschichte hinzufügen will.

Ende 1987 wurde ich um einen Beitrag zu einer Reihe naturwissenschaftlicher Autobiografien gebeten. Die von Jeff Seeman herausgegebene Sammlung sollte die Lebensgeschichten von 22 bedeutenden organischen Chemikern aus 13 Ländern enthalten. Nach kurzem Zögern willigte ich ein; der Band wurde 1990 von der American Chemical Society unter dem Titel Steroids Made It Possible1 veröffentlicht. Obwohl es sich eindeutig um eine Autobiografie handelte, behaupte ich, dass sie im gegenwärtigen Kontext fairerweise nicht mitgezählt werden sollte. Erklärter Zweck dieser Reihe, die den Titel Profiles, Pathways, and Dreams trug, war es, in den Worten des Herausgebers, „die Entwicklung der modernen organischen Chemie zu dokumentieren, indem einzelne Chemiker ihre jeweilige Rolle bei dieser Entwicklung darlegen“. Der Band, in dem es nur so von obskuren chemischen Symbolen wimmelte, wandte sich ausschließlich an Chemiker und war für das breite Publikum folglich so unverständlich wie hieroglyphische Höhlenzeichnungen, die die zweimal jährlich stattfindende Wanderbewegung des zottigen Mammuts darstellen.

Dieser erste Versuch, mein Leben als Naturwissenschaftler zu beschreiben, so trocken und fern des gefühlsbetonten Pulsschlags einer breiten Leserschaft er letztendlich auch war, versetzte mich jedoch geradewegs in eine „autobiografische Stimmung“. Tatsächlich wurde ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens mit Fragen zu meiner Vergangenheit geradezu bombardiert. Kurz zuvor hatte ich geheiratet, und meine Frau, Diane Middlebrook, war von der lebhaften Neugier gepackt, die jeder neuen Ehe innewohnt (vor allem dann, wenn es für beide Seiten die dritte ist). Als hoch angesehene Biografin und Professorin für englische Literatur an der Stanford University wollte sie natürlich etwas über die ersten fünfzig Lebensjahre ihres neuen Gatten erfahren; ich musste nicht lange überredet werden, um ihre Neugier zu befriedigen. Überzeugend war auch ihre Feststellung, dass ich eine außergewöhnliche Zeitspanne europäischer Geschichte miterlebt hatte, die es in hohem Maße verdiente, anhand persönlicher Lebensbilder dokumentiert zu werden. Demografisch betrachtet umspannt mein Leben eine in der Weltgeschichte einmalige Periode: Seit meiner Geburt im Jahre 1923 hat sich die Weltbevölkerung fast vervierfacht, ein Vorgang, der sich auf unserem gefährdeten Planeten Erde nie mehr wiederholen wird. Meine beruflichen Tätigkeiten, sei es meine Beteiligung an der ersten Synthese eines oralen Kontrazeptivums (der Pille) im Alter von 28 Jahren, sei es das Buch mit dem Titel Sex in an Age of Technological Reproduction2 (deutsch: Sex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit), das ich mit 85 schrieb, waren auf die eine oder andere Weise von dieser monumentalen Tatsache geprägt. Meine andauernde Beschäftigung mit ihren schrecklichen Folgen wird zweifellos bis zu meinem Tod anhalten.

Statt den Wünschen meiner Frau nachzukommen und eine „richtige“ Autobiografie in chronologischer Abfolge zu schreiben, entschied ich mich, sie in eigenständigen Kapiteln zu verfassen, basierend auf unterschiedlichen Ereignissen meines Lebens, ob bedeutend wie die Synthese der Pille, amüsant wie meine Erlebnisse als in die USA eingewanderter Teenager, der im Mittleren Westen Vorträge in Kirchen hielt, oder tragisch wie der Freitod meiner Tochter. Die einzelnen Kapitel waren im Wesentlichen in sich abgeschlossen und konnten daher in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Das Buch, das daraus wurde, The Pill, Pygmy Chimps, and Degas’ Horse3, erwies sich als so lesenswert, dass es in sieben Sprachen übersetzt wurde. Bis auf die chinesische und die ungarische Fassung sind heute alle Ausgaben schon vergriffen.

Zehn Jahre später begab ich mich auf den schlüpfrigen Boden der Memoiren, bei denen es sich fast immer um verhinderte Autobiografien handelt. Meine Betrachtungen zum 50. Geburtstag der Pille4 enthielten so viele persönliche Gedanken und Kommentare, dass sie gerechterweise als autobiografisch gelten müssen.

Egal wie man zählt, die Frage, warum ich mich nun auf eine weitere Autobiografie einlasse, ist noch immer nicht beantwortet. Eigennützige Motive zu leugnen wäre müßig: Niemand würde einem mehrfachen Autobiografen glauben, und sollte er sie noch so vehement abstreiten. Lassen Sie mich daher den Spieß umdrehen: Falls man schon einmal eine Autobiografie veröffentlicht hat, dann lohnt es sich vielleicht, noch dazu im Abstand von zwei Jahrzehnten, sie wieder aufzugreifen und einige ihrer tieferen Bedeutungen neu zu interpretieren, wenn sich das Leben ihres Autors rapide seinem Ende nähert und damit die Erkenntnis einhergeht, welch große Rolle das Unbehagen darin gespielt hat. Das ist nicht gerade originell, wenn man bedenkt, was Flaubert einmal sagte: „Eine Autobiografie? Bevor man über ein schmerzliches Erlebnis schreibt, sollte man 20 Jahre warten.“ Was ich in diesem Buch zum Thema Unbehagen – ein schmerzliches Synonym für die besonders dunklen Schatten im Leben – zu sagen habe, wird voraussichtlich das letzte Wort dazu sein, nun, da ich auf die 90 zugehe. Außerdem ist in den vergangenen 20 Jahren sehr viel passiert – was in meinem Fall dazu geführt hat, dass ich in mehrfacher Hinsicht ein völlig neues Leben lebe: als Schriftsteller und Bühnenautor statt als Naturwissenschaftler. Es lohnt sich, die Gründe für diese Verwandlung zu schildern, als nützliches Beispiel, um zu beweisen, dass es nie zu spät ist, sich zu verändern und zu wachsen, aber auch als Warnung, weil es viele Dinge gibt, die ich heute nicht mehr tun würde, wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte.

Aber es gibt neben all dem auch andere Gründe, warum ich noch immer über mich selbst schreibe. Zum einen will ich möglichst schnörkellos von meiner Methode erzählen, mit Kummer und Schicksalsschlägen fertig zu werden, aus der möglicherweise etwas Nützliches zu lernen ist. Dazu gehört auch darzulegen, wie es mir gelingt, mit einem überwältigenden Gefühl der Einsamkeit weiterzuleben. Im Alter von 90 Jahren ist das eine unheilbare Krankheit, die ich jedoch zu tolerieren gelernt habe, nämlich dank einer Therapieform, die bei echten Psychoanalytikern vermutlich nicht anerkannt ist: mit Hilfe der Autopsychoanalyse. Die Art Romane und Theaterstücke, die ich in den letzten zwei Jahrzehnten geschrieben habe, haben mich etwas erreichen lassen, das bei einer herkömmlichen Autobiografie schlicht unmöglich ist: den eigenen psychischen Filter zu umgehen und somit Analytiker und Analysand gleichzeitig zu sein.

Ich sage dies, weil Autobiografien per definitionem Lücken aufweisen – ob aus Versehen oder mit Absicht –, sowohl aus Gründen der Diskretion als auch aus Scham, Verlegenheit oder auch nur als Folge eines schlechten Gedächtnisses. Außerdem weisen faktisch alle Autobiografien automythologische Züge auf, da sie den psychologischen Filter des Autors durchlaufen müssen, in dem die eigene Person bewusst oder unbewusst „gereinigt“ wird. Doch die Romane und Theaterstücke, die ich im Laufe der letzten 25 Jahre veröffentlicht habe, ermöglichten es mir, dem Naturwissenschaftler, dem es an Selbstreflexion mangelte, mich unter dem Deckmantel der freien Erfindung mit den unauslöschlichen Spuren zu beschäftigen, die die Kultur der naturwissenschaftlichen Zunft, der ich über ein halbes Jahrhundert lang angehörte, bei mir hinterlassen haben. Leser, die sich bei Google, Facebook oder auch Wikipedia über die Person Carl Djerassi informieren sollten, werden die wirklich entscheidenden Aspekte dort nicht entdecken. Diese sind versteckt in den zahlreichen Charakteren, männlichen wie weiblichen, meiner Kurzgeschichten, meiner fünf Romane und meiner neun Theaterstücke zu finden, die insgesamt in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Ich werde keinen Stein von Rosette zu den persönlichen Geheimnissen liefern, die ich dort enthüllt habe, einfach deshalb, weil ich sie selbst noch nicht vollständig entschlüsselt habe. Aber ich bin inzwischen überzeugt, dass die zentralen Themen meiner literarischen Arbeit allesamt unbewusst einem inneren Verlangen entsprungen sind, diese in meinem eigenen Leben so wichtigen Themen unter dem Deckmantel der Fiktion unter die Lupe zu nehmen.

Als ich meine erste Autobiografie schrieb, war ich noch Naturwissenschaftler, für den alles frei Erfundene von Berufs wegen tabu war, bevor er das Territorium des Schriftstellers betrat. Im Laufe dieser Verwandlung wurde mir klar, dass sich die Wahrheit nur in der Fiktion – genau gesagt unter dem Deckmantel der Fiktion – mitteilen lässt. Falls Autobiografie also per definitionem eine Art freie Erfindung ist, da sie innerhalb des engen Rahmens eines inneren Filters verfasst wird, dann sind die Romane und Dramen, die ich geschrieben habe, das genaue Gegenteil, nämlich auf Tatsachen beruhende, ungeschminkte Biografie. Manche Romanautoren sind verkappte Autobiografen, und ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass ich zu dieser Untergruppe gehöre.

Wer sich an dieser Stelle fragt: „Na und? Wen interessiert das schon?“, der sollte erst gar nicht weiterlesen. Denn ob es uns gefällt oder nicht, Autobiografien sind nun einmal mit einem Hauch Exhibitionismus behaftet, und Leser von Autobiografien sind zumindest teilweise auch Voyeure, die sich, selbst wenn sie es nicht zugeben, für die skandalösen oder unerwarteten Aspekte im Leben des Autobiografen interessieren. Da ich mehrere Autobiografien geschrieben habe, bin ich mir dieses Problems zumindest bewusst und ehrlich genug, das zu sagen. Diese „allerletzte“ Autobiografie wird sicherlich auch persönliche Dinge enthalten, die die voyeuristischen Vorlieben der Leser bedienen, aber sie wird auch viele Probleme und Themen behandeln, die mich seit Jahrzehnten beschäftigen. Einige davon seien hier genannt: die wachsende Kluft zwischen den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften, den Sozialwissenschaften und der Massenkultur; der Abstand zwischen den Ländern der Ersten Welt und den Entwicklungsländern, die ich inzwischen als geriatrische beziehungsweise pädiatrische Länder bezeichne; die Probleme der Bevölkerungsexplosion, wobei sich das Hauptaugenmerk in den geriatrischen Gesellschaften jetzt auf die Empfängnis richtet und in den pädiatrischen auf die Empfängnisverhütung; die Rolle des Theaters als „Edutainment“; die Bedeutung des Freitods und vieles mehr. Sie alle besitzen eine didaktische Komponente, manchmal absichtlich, manchmal ungewollt. Gewiss ist das der Grund, weshalb mir von neueren Freunden, insbesondere von Frauen, gelegentlich vorgeworfen wird: „Du hältst mal wieder Vorträge.“ Dazu kann ich nur sagen: nolo contendere. Mittlerweile ist mir diese Schwäche schon zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, um mich noch ändern zu können.

Ein letzter Grund, mich abermals auf autobiografisches Terrain zu begeben, ist die sich verändernde Leserschaft, an die ich mich wende. Der Schattensammler, mit der im Untertitel implizierten Garantie, meine allerletzte Autobiografie zu sein, wird zuerst in deutscher Übersetzung erscheinen, der Sprache meiner frühen Jahre bis zu der erzwungenen Emigration aus Österreich (aber nicht die Sprache, in der ich heute schreibe oder träume) – eine Sprache, die vorrangig in einigen der geriatrischsten Ländern der Welt gesprochen wird. Obwohl ich mich noch immer für geistig hellwach und für jünger halte, als ich eigentlich bin, ist mir bewusst, dass ich als ein Mensch schreibe, der binnen eines Jahrzehnts tot sein wird, nach Ablauf dessen fast ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands und Österreichs über 65 sein wird. Folglich wird das, was ich in diesem Buch zu sagen habe, eher ein älteres Segment der Bevölkerung ansprechen, das im Übrigen vermutlich mehr liest als seine jüngeren Gegenstücke. Dies wiederum hat mich veranlasst, diese letzte Autobiografie rückwärts zu erzählen, beginnend in der Zukunft und endend mit früheren Abschnitten meines Lebens, die ich bereits in meinen früheren Autobiografien geschildert habe, die ich nun aber noch einmal aufgreife, um bewusst die Schatten in den Fokus zu rücken. Ich werde daher ausführlich aus diesen inzwischen zumeist vergriffenen Autobiografien zitieren, ohne mich, wie ich hoffe, des Selbstplagiats schuldig zu machen; außerdem werde ich bestimmte Passagen (die sich durch einen anderen Schriftsatz abheben) aus meinen Romanen, Kurzgeschichten und Theaterstücken zitieren, um mir in Erinnerung zu rufen und dem Leser zu demonstrieren, wie viel von meinem persönlichen Leben nur dort enthüllt wurde, und das oft unbewusst. Dennoch wird nicht alles düster sein, weil ich immer daran denken muss, was Cynthia Ozick einmal so großartig ausgedrückt hat: „Heutzutage lebt ein heißer Sud aus Erinnerung und Fantasie in der Ader meiner Freude.“ In Anbetracht meines Alters besteht kein Zweifel, dass dieses Buch für mich zur „Pflichtarbeit” wurde, auch wenn ich realistisch genug bin einzusehen, dass es dadurch nicht zur Pflichtlektüre wird. Was die Lektüre betrifft, so habe ich bewusst von einer chronologischen Verbindung zwischen den einzelnen Kapiteln abgesehen, die jeweils Themen behandeln, die mich in den letzten zwei Jahrzehnten stark beschäftigt haben – und mit denen ich mich für den absehbaren Rest meines Lebens befassen werde. Ich möchte den Leser ermuntern, das eine oder andere Kapitel ganz nach Belieben zu lesen, zu überfliegen oder sogar zu überspringen. Unverblümt gesagt, habe ich mich an Goethes Empfehlung in der Einleitung des „Faust” gehalten:

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;

Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.

Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!

Solch ein Ragout, es muß euch glücken;

Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht.

Was hilft’s, wenn ihr ein Ganzes dargebracht?

Das Publikum wird es euch doch zerpflücken.

Und was ist mit Danksagungen? Faktisch jeder wissenschaftliche Artikel enthält Danksagungen an institutionelle Geldgeber und an Kollegen, die zu der jeweiligen Arbeit beitrugen. Ich selbst konnte mir ausgefallene, aber sachlich korrekte Danksagungen gelegentlich nicht verkneifen. In einem Aufsatz über die chemischen Eigenschaften brasilianischer Seegurken, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Tetrahedron, dankte ich der Rockefeller-Stiftung für die finanzielle Unterstützung und der brasilianischen Luftwaffe dafür, dass man mir einen B-27-Bomber leihweise überlassen hatte. Ich bin ein großer Fan literarischer Danksagungen und sehe in jedem Buch als Erstes nach, wie der Autor seiner Dankbarkeit Ausdruck verleiht und ob es sich um mehr handelt als die routinemäßige Verneigung vor dem Literaturagenten (ich habe keinen), vor dem Lektor, vor der Sekretärin (ich habe eine wunderbare Sekretärin, der ich aber nicht mehr zur Last falle, da ich mit einer Computertastatur gut umgehen kann) oder vor seiner Frau, die die häufige Abwesenheit des Autors klaglos ertragen hat (ich bin Witwer).

Aber es gibt Danksagungen, die zu lesen und zu bedenken sich lohnt. Eines meiner liebsten Beispiele ist der schlichte Satz: „Mein Dank gilt Prof. J. W. McBain von der Stanford University, der mir seinen Füller lieh, um dieses Buch zu schreiben.“ Er stammt aus einer 1947 erschienenen Monografie über die Chemie der Muskelkontraktion von Albert Szent Györgyi, der für die Entdeckung des Vitamins C den Nobelpreis erhielt. Für mich schwingen in diesen knappen Worten so viele Interpretationsmöglichkeiten mit, dass sie ohne weiteres den ersten Satz eines Romans abgeben könnten. Kein Wunder, dass es mir peinlich ist, meine Danksagung in Vier Juden auf dem Parnass (das ich ohne jedes Schamgefühl für das beste Buch halte, das ich je geschrieben habe), die volle sechs eng bedruckte Seiten umfasst, damit zu vergleichen. Für diese Wortfülle gibt es eine einfache Erklärung: Vier Juden auf dem Parnass ist eine Biografie – wenn auch keine gewöhnliche, da sie in Dialogform geschrieben ist –, die umfangreiche archivalische Recherchen und Interviews erforderte, die alle erwähnt zu werden verdienten. Kein Wunder, dass Biografien im Allgemeinen die längsten Danksagungen aufweisen. Aber da mein Schattensammler nicht nur eine Autobiografie ist, sondern auch eine Autopsychoanalyse, kann ich mich nur bei mir selbst bedanken und keinem anderen die Verantwortung zuschieben. Dennoch möchte ich dem tapferen Leser danken, der bereit ist, trotz der ausdrücklichen Warnung, die ich dem Buch vorangestellt habe, die Lektüre dieser egozentrischen Selbstbeschreibung von Carl Djerassi fortzusetzen. Ich kann nur hoffen, dass er aus Neugier und Interesse weiterliest und nicht aufgrund eines wie auch immer gearteten literarischen Masochismus oder womöglich gar, um besser einschlafen zu können.

__________

1 Carl Djerassi: Steroids Made it Possible. American Chemical Society Books, Washington D.C. 1990

2 Carl Djerassi: Sex in an Age of Technological Reproduction: ICSI and Taboos (mit Begleit-DVD). University of Wisconsin Press, Madison 2008

3 Carl Djerassi: The Pill, Pygmy Chimps, and Degas’ Horse: An Autobiography. Basic Books, New York 1992

Carl Djerassi: Die Mutter der Pille: Eine Autobiografie. Haffmans Verlag, Zürich 1992

4 Carl Djerassi: This Man’s Pill – Reflections on the 50th Birthday of the Pill. Oxford University Press, London, New York 2001

Carl Djerassi: This Man’s Pill. Sex, die Kunst und Unsterblichkeit. Haymon Verlag, Innsbruck 2001

Freitod

Associated Press, 30. Oktober 2023: MITERFINDER DER PILLE UND AUTOR CARL DJERASSI VERMISST. VERMUTLICH SELBSTMORD.

Carl Djerassi, Miterfinder steroidaler oraler Kontrazeptiva und bisweilen einer der Väter oder die Mutter der Pille genannt, ist einen Tag vor seinem 100. Geburtstag unter mysteriösen Umständen verschwunden. Djerassi war ein halbes Jahrhundert lang ein renommierter Naturwissenschaftler – nur einer von zwei amerikanischen Chemikern, dem sowohl die National Medal of Science als auch die National Medal of Technology verliehen wurde – und viele Jahre Professor für Chemie an der Stanford University, bevor er in seinen Sechzigern ein neues Leben als produktiver Verfasser von Romanen, Theaterstücken und Autobiografien begann, in denen er in „didaktischer Absicht“, wie er selbstbewusst erklärte, Naturwissenschaft und Literatur nahtlos miteinander verband.

Laut Aussage seines Sohnes, Dale Djerassi, verließ sein Vater am 28. Oktober das Haus, um wie jeden Morgen ein Fitnessstudio in San Francisco aufzusuchen, wo er bei weitem der älteste Kunde war. Er traf dort nie ein, sondern fuhr offenbar auf der Küstenstraße nach Süden zu einem Strand im San Mateo County, den Djerassi als langjähriger Besitzer der nahegelegenen SMIP-Ranch gut kannte, auf der auch das Djerassi Resident Artist Program angesiedelt ist, eine der bekanntesten Künstlerkolonien Amerikas. Am Vormittag des 29. Oktober, seinem 100. Geburtstag, wurde sein Wagen – ein seltenes rotes 1998er-Volvo-Cabrio – verlassen am Strand von San Gregorio entdeckt. Ein Jogger hatte im Sand nahe am Wasser einen Schuh mit fehlendem Schnürsenkel sowie einen Spazierstock gefunden, der später wegen seines ungewöhnlichen Ebenholzgriffs als der von Djerassi identifiziert wurde. Eine Suchaktion der Küstenwache brachte keine Hinweise.

Reuters, 4. November 2023. CHEMIKER UND AUTOR CARL DJERASSI VERMUTLICH TOT.

Nach einem heftigen Sturm am Pazifik, der an den Stränden des San Mateo County schwere Schäden verursachte und etwaige weitere Spuren an der Stelle vernichtete, wo Djerassis Wagen, sein Schuh, sein Spazierstock und eine silberne Pillendose mit den Initialen CD gefunden wurden, ist davon auszugehen, dass der Naturwissenschaftler und Schriftsteller am Vorabend seines 100. Geburtstags Selbstmord durch Ertrinken beging. (Die Analyse des Doseninhalts ergab, dass es sich um Saccharin handelte.) An der privaten Trauerfeier, einem symbolischen Ausstreuen der Asche im San Gregorio Creek, der durch die SMIP (Sic manebimus in pacem) genannte Ranch der Familie fließt, nahmen nur die engsten Angehörigen teil: sein Sohn Dale, ein preisgekrönter Dokumentarfilmer, der auf der SMIP-Ranch lebt; sein Enkel Alexander, der renommierte Samuel-Dvir-Professor für Völkerrecht an der Georgetown University und regelmäßiger Radio-Kommentator; sowie Pamela Djerassi, das einzige Urenkelkind, genannt nach Djerassis Tochter Pamela, die 1978 Selbstmord beging und zu deren Andenken das Djerassi Resident Artist Program gegründet wurde. Ebenfalls anwesend war Djerassis Stieftochter Leah Middlebrook, Dekanin des College of Arts and Sciences der Universität Oregon und Tochter von Djerassis dritter Frau, Diane Middlebrook. Zum Andenken an Carl Djerassi bittet die Familie um Spenden für das American College in Sofia, Bulgarien, die Schule, an der Djerassi nach seiner Flucht aus Österreich im Jahre 1938 Englisch lernte, bevor er in die USA emigrierte.

Leserbrief in der New York Times vom 6. November 2023.

Lange Nachrufe in der New York Times und wichtigen europäischen Zeitungen meldeten, dass der renommierte Chemiker und Schriftsteller Carl Djerassi am 28. Oktober 2023, einen Tag vor seinem 100. Geburtstag, Selbstmord durch Ertrinken beging, obwohl seine Leiche nicht gefunden wurde. In Ihrem Nachruf führen Sie seine bekanntesten Leistungen an – 1951 die erste Synthese eines oralen Kontrazeptivums und im selben Jahr die erste Synthese von Cortison auf pflanzlicher Basis –, Leistungen, die ihm zahlreiche Auszeichnungen eintrugen, darunter 31 Ehrendoktorate. Außerdem erwähnt der Nachruf seine 11 Dramen und seine Roman-Tetralogie im Genre „Science-in-Fiction“, beginnend mit „Cantors Dilemma“, das derzeit die 41. Auflage erlebt.

Ich finde es erstaunlich, dass Ihr ansonsten so ausführlicher Nachruf keinen Hinweis auf Djerassis Roman „Marx, verschieden“ enthält, der 1995 erschien und schon lange vergriffen ist. Dieser Roman handelt von der Obsession eines berühmten Schriftstellers, seine eigenen Nachrufe zu lesen, was ihn dazu bringt, seinen eigenen Tod bei einem Segelunfall im Long Island Sound zu inszenieren und sich incognito nach San Francisco zu begeben, um dort unter einem Pseudonym ein neues literarisches Leben zu führen. Djerassis Theaterstück „EGO“ (später umbenannt in „Drei auf der Couch“), das knapp zehn Jahre nach dem Roman entstand, wurde in London und New York uraufgeführt, gefolgt von einer Deutschland-Tournee durch 68 Theater. Bemerkenswerterweise geht es auch in „EGO“ um einen inszenierten Selbstmord. Als Autorin einer literarischen Monografie über Djerassi (Der intellektuelle Polygamist: Carl Djerassis Grenzgänge in Autobiografie, Roman und Drama. Berlin 2008) drängte sich mir die folgende Frage auf: Woher wissen Sie eigentlich, dass Djerassi tatsächlich tot ist? Vielleicht sitzt der Hundertjährige ja irgendwo und lacht sich ins Fäustchen.

Ingrid Gehrke

Professorin für Interkulturelle Kommunikation Fachhochschule Joanneum

Graz, Österreich

Was veranlasst mich, mit der Meldung von meinem fiktiven Selbstmord zu beginnen? Ich bin nicht suizidgefährdet, bin es nie gewesen, obwohl ich schon in meiner Kindheit mit dem Thema Freitod in Berührung gekommen bin. Meine Tante Grete – eine echte Schönheit und Europameisterin im Fechten, die in Wien mit uns zusammen im Haus meiner Großmutter wohnte – nahm sich mit Mitte 30 das Leben, angeblich als Reaktion auf den Tod ihres Geliebten Alexander Moissi im Jahre 1935, dem damals wohl bekanntesten Schauspieler des deutschsprachigen Theaters. Nach unserer Einwanderung in die Vereinigten Staaten drohte meine Mutter bei zahlreichen Anlässen damit, Selbstmord zu begehen – eine Form der emotionalen Erpressung, die es mir schließlich unmöglich machte, noch länger darauf zu reagieren, und die schließlich zu unserer Entfremdung führte. Dennoch wurde sie 91 Jahre alt, sie starb an Demenz. Doch dann folgte die größte Tragödie meines Lebens: der Freitod meiner Tochter, auf den ich in diesem Buch an anderer Stelle näher eingehen werde.

Mutter Alice Friedmann um 1916 und Tante Grete Friedmann um 1933

Obwohl ich keine Selbstmordabsichten hege, habe ich im Hinblick auf eine besondere Situation gelegentlich schon an Selbstmord gedacht. Obwohl ich inzwischen allein lebe und anderen somit nicht zur Last fiele, würde mich die Vorstellung, Alzheimer oder eine ähnliche den Verstand beeinträchtigende Krankheit zu bekommen, zweifellos veranlassen, mich umzubringen. Tatsächlich habe ich, als ich in den 1990er Jahren mein Labor schloss, eine Flasche mitgenommen, die ich bei mir zu Hause versteckte, wobei ich nur meinem Sohn verriet, wo sie sich befindet. Es handelt sich um eine Flasche Kaliumcyanid, die ausreichen würde, ein ganzes Löwenrudel zu töten. Ich bat meinen Sohn, sich das Versteck gut einzuprägen und es mir zu zeigen, falls ich den entsprechenden Zustand geistiger Verwirrtheit erreichen sollte. Das Problem ist nur, dass ich in diesem Stadium nicht nur vergessen hätte, wo sich die Flasche befindet, sondern vermutlich auch vergessen würde, meinen Sohn danach zu fragen.

Tochter Pamela mit 25

Da mich die tiefere Bedeutung eines „Freitods im Notfall“ nicht mehr losließ, hielt ich es für angebracht, mich mit ihr auf der einzigen Ebene auseinanderzusetzen, auf der ich mich imstande fühle, so persönliche Themen offen zu erörtern, nämlich in meinen Büchern. Und so beginnt mein zweiter Roman, Das Bourbaki Gambit, mit den folgenden Sätzen:

„Wie würden Sie Selbstmord begehen?“

Das ist der erste Satz aus ihrem Mund, an den ich mich erinnere. Jedenfalls behaupte ich das heute, obgleich wir beide wissen, dass das nicht ganz stimmt.

Und einige Seiten weiter fahre ich fort:

Es kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich es womöglich mit einer Verrückten zu tun hatte, einer potentiellen Selbstmörderin – oder Schlimmerem. Ich beschloss, ganz ruhig zu bleiben und so zu antworten, als würde mir diese Frage jeden Tag gestellt. „Mit Cyanid“, sagte ich bedächtig.

„Hm“, nickte sie, „vermutlich schon. Aber wo würde ich Cyanid bekommen?“

„Sie haben mich gefragt, wie ich Selbstmord begehen würde. Ich habe in meinem Labor jede Menge Cyanid.“

„Würden Sie mir etwas davon abgeben?“, fragte sie. Sie hätte mich ebensogut bitten können, ihr das Salz zu reichen.

„Natürlich nicht“, sagte ich lachend. „Das würde mich ja zum Komplizen machen.“ Ich kniff die Augen zusammen, um sie besser in den Brennpunkt zu rücken. „Es ist Ihnen doch nicht ernst damit?“

„Dass ich Cyanid haben möchte? Todernst. Aber nicht mit dem Selbstmord. Ich möchte lediglich welches haben – nur für alle Fälle.“

Ich runzelte die Stirn und wartete darauf, dass sie das „nur für alle Fälle“ näher erläuterte, doch da stand sie auf.

Gemäß Anton Tschechows berühmtem Diktum, dass man kein geladenes Gewehr auf die Bühne legen sollte, sofern man es nicht abzufeuern gedenke, fuhr ich mit dem Cyanid-Szenario fort, feuerte die sprichwörtliche Waffe jedoch erst im letzten Kapitel ab. Neugierige Leser werden dort Carl Djerassis eigene „Nur-füralle-Fälle“-Alternative finden.

Eine ganz andere und viel hässlichere Selbstmord-Variante, nämlich nicht zu wissen, ob der angekündigte Freitod tatsächlich ausgeführt wurde, verfolgt mich so sehr, dass sie ebenfalls Eingang in eines meiner Werke fand – in diesem Fall in das Drama EGO.

STEPHEN: Morgen ist mein 50. Geburtstag. Ich weiß, wie ich ihn feiern werde … indem ich dich … die sich nach Gewissheit sehnt … ins Purgatorium der ewigen Ungewissheit stoße. Da … schau her. (Zieht ein Zellophantütchen, in dem sich ein weißes Pulver befindet, aus der Tasche und legt es auf den Tisch.) Das habe ich mitgebracht zum Beweis, dass ich nicht bluffe.

MIRIAM: Wie kannst du es wagen, mir so zu drohen!

STEPHEN: Wenn du mir nicht glaubst, dann gib es doch deiner heißgeliebten Katze. Was mich angeht, wirst du nie erfahren, was aus mir geworden ist.

Der Grund, mich mit diesem „Was wäre, wenn“ zu beschäftigen, hängt nicht vorrangig mit den Selbstmorddrohungen meiner Mutter zusammen, sondern mit dem Entsetzen und der absoluten Verzweiflung, die ich empfand, als mein Schwiegersohn mir den Abschiedsbrief meiner Tochter vorlas und wir tagelang nicht wussten, was tatsächlich passiert war, da wir ihren Leichnam noch nicht gefunden hatten.

Bevor ich dieses Thema abschließe, sollte ich wohl die einzigen anderen Bedingungen nennen, die mich im hohen Alter unter Umständen veranlassen könnten, einen Freitod in Betracht zu ziehen: wenn ich nicht mehr in der Lage wäre, zu schreiben und zu lesen – ein unerträglicher Verlust geistiger Unabhängigkeit, den ich als wesentlich schlimmer empfinden würde, als bettlägerig oder anderweitig bewegungsunfähig zu sein. Aber da ich bis heute nur selten eine Brille brauche und noch jeden Tag wie besessen schreibe, wollen wir das traurige Thema der ungewissen Zukunft lieber fallen lassen und in der angekündigten Richtung fortfahren. Vermutlich werde ich dann Antworten auf die Frage finden, die Paul Klee, mein Lieblingskünstler, der in späteren Kapiteln dieses Buches mehrmals auftreten wird, in einem seiner letzten Aquarelle stellte, das er kurz vor seinem Tod im Jahre 1940 vollendete: woher? wo? wohin?

Nachdem ich das erste Kapitel mit drei fiktiven Zeitungsausschnitten begonnen habe, möchte ich es mit einer vor Anglizismen strotzenden echten Annonce aus der Rubrik Kennenlernen beenden, auf die ich in einer Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT gestoßen bin, in der an anderer Stelle ein Artikel über mich stand.

Complicated Mission – High Reward. Wir helfen uns beide! Ich suche eine herrliche junge Dame, Musik, Theater, Humor (viel), good English, intelligent, unkompliziert, natürlich, slim, NR. Ich, ein sehr alter Mann, Jewish, German/US/UK background, leichte Gehbeschwerden, Entrepreneur, very clever, möchte viel reisen und auch im Ausland leben. Ready to travel? Bildzuschriften: ZA55024 DIE ZEIT, 20079 Hamburg.

Kleinanzeigen in der ZEIT, vom Stil her ähnlich denen in anspruchsvolleren amerikanischen Blättern wie der New York Review of Books, richten sich bei der Suche nach Bekanntschaften gezielt an Akademiker und Selbstständige. Sie sind so abgefasst, dass fast nie sexuelle Beiklänge mitschwingen. Aber wird mir in Anbetracht dessen, wie ich dieses Kapitel begonnen habe, irgendjemand glauben, dass ich nicht der Verfasser dieser Annonce bin?

Abgesehen von zwei kleineren Berichtigungen – ich habe nicht kleinere, sondern größere Gehbeschwerden, da mein linkes Knie nach einem Skiunfall versteift werden musste, und ich bin österreichischer, nicht deutscher Abstammung – trifft diese Wunschliste in jedem Punkt auch auf mich zu; nur dass ich der Selbstbeschreibung noch meine heftige Abneigung gegen Jeans und Mobiltelefone hinzugefügt hätte. Gibt es in Hamburg etwa einen deutschen Doppelgänger von Carl Djerassi? Allerdings wäre mir nicht im Traum eingefallen, eine solche Anzeige aufzugeben, weder in einer Zeitung noch im Internet. Wenn ein „sehr alter Mann“ eine „herrliche junge Dame“ sucht – selbst wenn man einmal außer Acht lässt, dass das von 31 bis 57 alles heißen kann, je nachdem, wo man „sehr alt“ zwischen 69 und 95 Jahren ansiedelt –, dann kann das nur bedeuten, dass er bereit ist, sich entweder dem Gespött der Öffentlichkeit auszusetzen oder aber die Rolle des Sugardaddy zu übernehmen. Beides widerstrebt mir, ganz einfach deshalb, weil ich zwar nach Jahren sehr alt bin, mich aber weder meinem Alter entsprechend fühle noch verhalte, und auch nicht gewillt bin, ausschließlich kraft meiner Vermögensverhältnisse zu einer Partnerin zu kommen. Die Alternative heißt, mit Würde die Schatten der Einsamkeit zu akzeptieren, auf die ich in späteren Kapiteln näher eingehen werde.

Die bittersüße Pille

Wie gesagt, diese allerletzte Autobiografie ist in umgekehrter Richtung geschrieben, da sie am Ende beginnt, genau gesagt mit meinem vermeintlichen Freitod im Jahre 2023. Aber warum folgt darauf jetzt die Pille? Freilich ist die Pille durchaus eine wichtige wissenschaftliche Entdeckung mit gewaltigen gesellschaftlichen Konsequenzen, aber meine Mitwirkung daran begann vor über 60 Jahren und wurde von mir bereits mehrfach dokumentiert, unter anderem in nicht weniger als drei Kapiteln meiner früheren Autobiografie (Die Geburt der Pille, Die Pille mit zwanzig, Die Pille mit vierzig: Was nun?). Abgesehen von einigen ausgewählten Passagen werde ich das dort Gesagte hier nicht wiederholen, sondern den interessierten Leser an die genannte Quelle verweisen. Also, warum mit der Pille fortsetzen?

Die Antwort lautet schlicht: weil ich an dieser Stelle die Schatten in meinem Leben in den Fokus rücken möchte, also auch die Schatten meiner eigenen Leistungen. Was meine persönliche Beziehung zur Pille betrifft, so haben mich in jüngster Zeit drei Dinge mehr beunruhigt, als ich erwartet hatte. Seit 2008 kam es immer wieder zu Vorfällen, die ich als Verleumdung einstufen würde, nämlich seit der Ära von Google und Wikipedia, wo jedes Nachrichtentröpfchen, und sei es noch so absurd, in Sekundenschnelle aufgesaugt und für alle Zeiten konserviert wird. Hätten sich diese Zwischenfälle zwei Jahrzehnte früher ereignet, als Google noch nicht existierte und Internet, selbst E-Mail längst nicht so verbreitet waren wie jetzt, so hätte ich sie höchstwahrscheinlich ignoriert. Heute dagegen lässt sich kein Fehler, ob aus Versehen oder mit Absicht, keine Beleidigung, und sei sie noch so primitiv und manipulativ, keine Behauptung, ob wahr oder falsch, löschen oder korrigieren. Alles ist schlicht im Cyberspace fixiert und wird von schludrigen Journalisten und einem großen Teil der surfenden Öffentlichkeit aufgepickt, die den ganzen Cybermüll für die in Stein gemeißelte Wahrheit halten oder zumindest für Wasser auf journalistische Mühlen. Ich beginne mit zwei Beispielen, weil das erste die Schlamperei vieler Massenmedien illustriert, während das zweite den unauslöschlichen Charakter einer vorsätzlich falschen Darstellung demonstriert.

Anfang 2009 wurde ich in San Francisco plötzlich von amerikanischen Reportern und Rundfunksendern mit Anfragen zu meiner angeblichen Verdammung der Pille bombardiert. Zunächst hielt ich das Ganze für eine Art Jux, doch eine Schnellsuche im Internet förderte eine Flut von Einträgen zutage (die noch heute existieren), zum Beispiel auf Sites wie „Christian and American“, mit der Überschrift: „Carl Djerassi, Erfinder der Antibabypille, verdammt diese“, um dann zu verkünden: „Der 85-jährige Carl Djerassi, der an der Erfindung der empfängnisverhütenden Pille beteiligte österreichische Chemiker, sagt heute, dass seine Mitentdeckung zu einer ‚demografischen Katastrophe‘ geführt hat. Die Attacke begann mit einem persönlichen Kommentar von Carl Djerassi in der österreichischen Tageszeitung Der Standard, wo er das ‚Horrorszenario‘ um-riss, zu dem es aufgrund der veränderten Bevölkerungspyramide gekommen ist, für das seine Erfindung mitverantwortlich ist.“

Ich fand schnell heraus, dass nicht nur am rechten Rand angesiedelte Publikationen wie „Christian and American“, sondern auch etablierte Zeitungen wie der englische ähnliche Artikel auf ihren Websites hatten. Das veranlasste mich am 18. Januar 2009, einen Widerruf zu verlangen:

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