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Wussten Sie, dass Bananen minimal radioaktiv sind? Der Verzehr ist riskant. Das nennt man Micromort. Noch riskanter ist wahrscheinlich nur, sich zu verlieben. Vilma Veierød, 35, hat sich auf ihre eigene, um nicht zu sagen skurrile Weise im Leben eingerichtet. Sie lebt allein in einem großen Haus in Oslo, gibt Klavierstunden und bemüht sich, radioaktive Bananen und andere lebenszeitverkürzende Genüsse weiträumig zu umgehen. Eines Morgens soll sich ihr Leben grundlegend ändern. Der Pfarrer überbringt Vilma ein Bündel Briefe von ihrem verstorbenen Vater, den sie nie gekannt hat. Und während Vilma gebannt in die Vergangenheit ihrer Eltern eintaucht, nähert sie sich selbst jenem Mysterium, das sie bislang gemieden hat: der Liebe.
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Gudrun Skretting
Vilma zählt die Liebe rückwärts
Roman
Deutsch von Ina Kronenberger und Stefan Pluschkat
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für meinen Vater, der immer da war –
und meine Familie, für alles, was ihr seid.
»But the launching of this bottle into
the cosmic ocean says something very hopeful
about life on this planet.«
Carl Sagan
Weltweit sterben jährlich etwa tausend Menschen an Bord eines Flugzeugs.
Vielleicht nicht sehr verwunderlich angesichts der schwindelerregenden Menschenmenge, die sich zu jeder Zeit in der Luft aufhält. Und doch bemerkenswert, möchte ich meinen.
Manche sterben in Reiseflughöhe über dem Pazifik, andere beim Landeanflug in Bardufoss. Die einen friedlich, die anderen ungläubig, in jedem Fall aber bereiten sie dem Kabinenpersonal in rein praktischer Hinsicht Kopfzerbrechen.
Auch gehen die Fluggesellschaften dieser Welt mit dem Tod unterschiedlich um. Singapore Airlines operiert mit einem eigenen Leichenschrank, während British Airways den Verstorbenen mit einem Upgrade in die erste Klasse, einer dunklen Sonnenbrille sowie der letzten Ausgabe der Daily Mail versieht.
Doch in Vilhelm M. Sandviks speziellem Fall ließ sich weder eine britische noch eine norwegische Printzeitung auftreiben. Daher wurde ihm eine Decke zugeteilt, bevor er anderthalb Stunden später mit leichtem Gelbstich auf dem Osloer Flughafen Gardermoen landete, außerdem trug er eine dunkle Sonnenbrille und – sonderbarerweise – einen künstlichen Schnauzer.
An dieser Stelle müsste man vielleicht ergänzen, dass der Schnauzer keineswegs dem Kabinenpersonal angelastet werden kann (das wäre sonst ein starkes Stück). Nein, der Schnauzer wurde erst entdeckt, als der Verstorbene auf dem Obduktionstisch lag, wo als Todesursache eine Hirnblutung festgestellt wurde und auch, dass Vilhelm M. Sandvik in jungen Jahren an einer Hasenscharte operiert worden war. Von einem nicht besonders versierten Chirurgen.
Da man zudem im Gepäckfach über Herrn Sandviks Sitz eine herrenlose Bratsche gefunden hatte, sprach wenig dafür, dass er als Agent eines fremden Landes unterwegs war.
Dennoch: Ein künstlicher Schnurrbart beflügelt ganz klar die Fantasie. Darum witzelte der Pathologe, es handele sich bei dem Toten wohl um den Weihnachtsmann, schließlich sei es Mitte November und der aufgeklebte Oberlippenbart ebenso weiß wie der lange Rauschebart des Verstorbenen.
Merkwürdigerweise enthielt diese Version durchaus ein Körnchen Wahrheit. Weihnachtsmänner haben nun mal die Eigenschaft, nicht mit leeren Händen zu kommen. Und obwohl das vorliegende Exemplar offenbar weder über lebende Verwandte noch über einen Arbeitsplatz verfügte, an dem es vermisst wurde, fand man in seinem Gepäck neben der Bratsche einen Stapel durchnummerierter Briefe und eine Adresse im norwegischen Asker. Die sich einer Frau namens Vilma Veierød zuordnen ließ.
Genauer gesagt: mir.
Das also war der Beginn dieser Geschichte.
Oder ihr Ende, je nachdem.
London – Oslo, den 13. November 2019
Flugmaschinen aller Art haben mich zu jeder Zeit an meine Wunschorte gebracht. Zu Metropolen, Konzertsälen, seelenlosen Hotelzimmern, rhythmischem Applaus.
Ich habe mich vor dem Sultan von Brunei verneigt, in der Carnegie Hall ist mir die A-Saite gerissen, und in Chicago bin ich für den berühmten Marcel Loue eingesprungen, nachdem seine Bratsche gestohlen und später von einem umherziehenden Straßenmusiker hellblau angestrichen worden war.
Kurzum: weg und wieder zurück – nach Hause.
Aber ans Ziel? Ich glaube nicht.
Und so merkwürdig es auch klingen mag: Deshalb bin ich auf dem Weg zu Dir. Mit einem komischen Gefühl, wenn ich ehrlich bin, vermutlich dadurch ausgelöst, dass ich allmählich alt und wirr werde.
Denn im Moment fühlt sich das Leben seltsam neu an. Als würde ich erst in diesem Augenblick, auf dem schrägen Weg nach oben durch das Regenwetter über London mit Blick auf die Stadt und ihr Treiben, das nahezu lächerlich Offensichtliche entdecken: wie anders sich alles aus der Entfernung ausnimmt.
Darum dieser Epilog, oder dieses Vorwort, was Dir eben lieber ist: Lass Dir Zeit, Vilma.
Lies nur einen Brief am Tag.
V.
Immer wieder habe ich zu hören bekommen, ich sei für meine Zeit zu alt. Oder wie es einer meiner Kollegen beschwipst und gutmütig formuliert hat, als ich darauf hinwies, dass Heiraten vor dem Zusammenleben eine praktische Sache sei: »Du bist doch keine siebzigjährige Jungfer.«
Er hatte recht. Ich bin fünfunddreißig.
Doch für meine Zeit zu alt? Ich breite mein Leben zwar nicht in sozialen Medien aus, aber ich lese durchaus Onlinezeitungen, und von Zeit zu Zeit vergnüge ich mich mit modernen Spielereien, die mir zeigen, wie ich mit Falten oder als Mann aussähe.
Die weitverbreitete Fehleinschätzung meines mentalen Alters ist sicherlich vor allem meinem ausgeprägten Ordnungsdrang geschuldet. Und meiner Vorhersagbarkeit. Warum dergleichen unverheirateten siebzigjährigen Frauen vorbehalten sein soll, will mir allerdings nicht so recht in den Kopf.
Nichtsdestoweniger: Das war das Stichwort für Sølvi.
»Vilma«, sagte Sølvi, »du kapierst immer noch nicht, wie ein modernes Leben funktioniert!«
Seit dreizehn Jahren verbringen Sølvi und ich bei der Arbeit unsere Kaffeepausen zusammen, und man muss ihr zugestehen, dass sie mich äußerst gründlich über das moderne Leben informiert hat. Ihr eigenes, wohlgemerkt. Und unter »modern« versteht sie chaotisch, tut mir leid, wenn ich das so deutlich sage.
»Karotten ersetzen nicht die Schokolade im Adventskalender«, seufzte sie lachend. »Was kommt als Nächstes? Bananen statt Marzipanschweinchen?!«
»Bananen sind radioaktiv«, informierte ich sie, ich bin nämlich von Natur aus hilfsbereit. Und da Sølvi zu denen gehört, die immer »das Positive im Leben sehen«, betrachte ich es als meine Aufgabe, ihr eine tägliche Dosis Realismus zu verabreichen. Denn wer weiß: Vielleicht war sie ja so etwas wie eine Freundin.
Natürlich habe ich sie nie danach gefragt. Man soll schließlich nicht aufdringlich sein. Oder verzweifelt wirken. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt: Dreizehn Jahre sind schon eine ziemlich lange Zeit.
»Ich weiß, du meinst es gut«, antwortet Sølvi dann gern.
Keine Frage, ich musste ihr von dem Artikel erzählen, auf den ich gestern gestoßen war. Über Sterblichkeit im Allgemeinen. Und über Bananen.
Leider kam Sølvi mir zuvor.
»Ich habe übrigens was ganz Komisches geträumt«, fuhr sie mir dazwischen, »von dem Schulkonzert an Weihnachten. Alle Schüler haben Dudelsack gespielt!«
Typisch Sølvi. In null Komma nichts war das vielversprechende Bananenthema vom Tisch. Und jetzt nahm sie erst richtig Anlauf.
»Aber mitten im Konzert fiel mir auf, dass ich dort saß und den Vize der Musikschule stillte. Kannst du dir das vorstellen?«
Das konnte ich – leider. Die nächsten Minuten hatte ich größte Mühe, das äußerst verstörende Bild eines sechzigjährigen Mannes mit Fjällräven-Rucksack aus dem Kopf zu kriegen. Ich musste den Kopf sogar kräftig schütteln, bestimmt eine ganze Minute lang.
Man kann viel über Sølvi sagen, aber Rücksicht auf meine Vorstellungskraft nimmt sie nicht.
Andererseits darf man von seinen Mitmenschen auch nicht zu viel erwarten.
»Apropos Bananen«, wagte ich einen neuerlichen Versuch, doch leider warf sie in genau diesem Moment einen Blick auf die Uhr, sagte: »Ach, du liebes bisschen!«, und stürmte aus dem Raum.
(Ob Sie es glauben oder nicht, Sølvis Geigenschüler kommen ziemlich häufig vor der Zeit. Und dann lässt sie alles stehen und liegen.)
So blieb ich allein zurück und dachte über das Thema Sterblichkeit nach. Im Stillen. Ganz generell. Nein, ich glaube nicht an die Zukunft, damit das mal gesagt ist. Mit dem Planeten geht es ganz klar bergab, und zwar nicht erst seit gestern.
Ich habe aber auch ein eher angespanntes Verhältnis zur Vergangenheit.
Trotzdem mag ich den Tod nicht besonders und hege den Wunsch, ihm so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen. Genau das macht ja das eigentliche Leben aus.
Das muss man den Menschen doch sagen.
»Ich habe gestern etwas über den Tod gelesen«, sagte ich.
Die Kaffeepause war vorbei. Mein erster Klavierschüler, ein pickeliger Teenager, faltete auf dem Notenhalter eine zerknitterte Kopie von »Can You Feel the Love Tonight« auseinander und sah mich verwirrt an.
»Darum esse ich Chia-Samen statt Bananen.«
»Wie bitte?«
»Chia-Samen«, wiederholte ich. »Ja, ich dachte immer, Bananen hätten eine beruhigende Wirkung. Aber jetzt habe ich begriffen, dass sie tödlich sind. Radioaktiv. Mit jeder tausendsten Banane steigt das Risiko zu sterben.«
»Äh … okay?«
»Das nennt man Mikromort«, sagte ich und nickte. »Ein Sterberisiko von eins zu einer Million. Zum Beispiel, wenn man einen halben Liter Wein trinkt.«
Der Junge legte die Finger auf die Tasten. »Ich bin vierzehn«, sagte er.
»Aber du lebst nicht ewig«, sagte ich, bereute es allerdings sofort.
Und während Elton Johns abgedroschene Liebe häppchenweise in den Raum strömte, dachte ich, dass der Vize mich bestimmt bald wieder auffordern würde, »weniger direkt« zu sein.
Trotzdem ließen mich diese Gedanken nicht los, und auf dem Heimweg dachte ich weiterhin an den Tod. Und an Mikromorts, diese Maßeinheit, die das Sterberisiko in handliche Stücke aufteilt. Denn eins muss ich sagen: Ich liebe Systeme. Sie bieten einen gewissen Trost. Und in besagtem Artikel hatte ich von einem gewissen Ronald Howard von der Stanford University gelernt, dass mein Sterberisiko um je ein Millionstel zunimmt durch
den Verzehr von tausend Bananen
das Rauchen von 1,4 Zigaretten
zwei Tage in New York und
den Konsum eines halben Liters Wein.
Im Übrigen war eine Vaginalgeburt ebenso riskant wie fünfzehn Fallschirmsprünge.
Hatte mich das erschreckt? Keineswegs. Wenn überhaupt, dann eher aufgeheitert. Mit den meisten Punkten auf der Liste hatte ich nämlich noch nie Berührung gehabt. Zum Glück, denn ich war schon immer auf Problemvermeidung ausgerichtet gewesen. Darauf, mich nicht in etwas verwickeln zu lassen, keine Probleme zu verursachen und keinen Schaden anzurichten.
»Vilma«, pflegte meine Großtante zu sagen, »man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Leider wusste sie, wovon sie sprach.
Darum gab es nur einen Punkt auf der Mikromortsliste, bei dem ich ein Kreuzchen machen musste. Aber wie schwer konnte es sein, keine Bananen mehr zu essen?
Doch als ich zu Hause in die Notentasche griff, um die heutigen Notizen herauszuholen, wurde mir klar, dass die Frucht gewisse Vorteile bot: Bananen laufen in Notentaschen nicht aus.
In Orangensaft eingelegte Chia-Samen hingegen haben äußerst gute Fließeigenschaften. Denn als ich kurz darauf im Schock und angeekelt den Arm zurückzog, floss die fischrogenartige orangefarbene Masse wie ein Gebirgsbach im Frühling heraus und riss den »Wilden Reiter« von Robert Schumann gleich mit.
Ein komischer Anblick. Zwar hatte ich nie Goldfische gehabt, aber auf dem Fußboden in der Diele sah es jetzt aus, als hätte sich ein ganzer Fischschwarm zum Laichen verabredet. Auf Robert Schumann.
Natürlich klingelte es genau in diesem Moment an der Haustür.
Eins sei gesagt: Es stehen nicht sehr häufig Männer vor meiner Tür. Und wenn, dann sind es entweder Mormonen oder Typen, die in der Einfahrt Asphalt verlegen wollen. Ab und zu tauchen auch Taubstumme mit einer laminierten Gebrauchsanweisung auf, in der Regel jedoch nicht als Paar.
Aber jetzt standen zwei Exemplare des männlichen Geschlechts auf der Treppe, beide mit leicht gebeugter Haltung und fragenden Gesichtern.
Spendensammler, dachte ich. Garantiert.
»Sind Sie Vilma Veierød?«
Ich trat auf den Treppenabsatz, schloss gewissenhaft die Tür zum Laichplatz und registrierte, dass der Fragende eine weiße Halskrause trug.
»Das ist korrekt«, sagte ich und nickte.
Im selben Moment ergriff er meine Hand und legte den Kopf geradezu demonstrativ schief: »Wir haben eine traurige Nachricht für Sie.«
Ich muss dazusagen, dass ich in dieser Hinsicht über eine gewisse Erfahrung verfüge. Daher war mir klar, dass ein Pfarrer mit schlechten Nachrichten (und ohne Spendenbüchse) nur eins bedeuten konnte: den Tod, und zwar in der engsten Familie.
So was ist natürlich nie sehr angenehm.
Wobei hier etwas nicht stimmen konnte. In meiner engsten Familie gab es nämlich niemanden mehr.
Trotzdem holte der Pfarrer unbeirrt Luft. »Vieles deutet darauf hin, dass Ihr Vater tot aufgefunden wurde. In einem Flieger aus London.«
Ich war immer noch nicht sonderlich berührt und dachte: Für einen erfahrenen Todesboten drückte sich der Mann unnötig verschroben aus. Ich meine, vieles deutet darauf hin? Gab es Zweifel daran, ob die Person tot oder lebendig war? Oder daran, ob man überhaupt jemanden gefunden hatte? Die Krise des Gesundheitssystems würde in dem Fall eine ganz neue Wende nehmen.
Egal wie, die Aussage war nicht relevant. Nicht für mich.
»Ich habe keinen Vater«, sagte ich.
Ich erwartete eine gewisse Reaktion oder vielmehr: den unmittelbaren Rückzug. Schließlich standen die beiden ganz offensichtlich vor der falschen Tür, und irgendwo in der Nähe hatte jemand einen geliebten Menschen verloren. Der offensichtlich gefunden worden war. Und zwar tot. Das war natürlich bedauerlich, keine Frage.
Nichtsdestoweniger blieben beide stehen, und mir fiel auf, dass der Mann ohne Krause unnötig oft von einem Bein aufs andere trat.
»Da keine Angehörigen ausfindig gemacht werden konnten, war man gezwungen, Briefe aus seinem Gepäck zu öffnen.« Jetzt sprach der Pfarrer langsamer. »Und die waren … an Sie adressiert. Nach der Lektüre sieht es so aus, dass … ich meine, haben Sie … gesicherte Anhaltspunkte dafür …?«
Es war schon sonderbar. Denn im selben Augenblick hatte ich Sehnsucht nach beruhigenden Bananen. Und spürte etwas Trockenes, das im Hals nach oben kletterte.
Deshalb fing ich an zu zählen. Langsam, ab zehn. Rückwärts.
Der Pfarrer hielt einen Augenblick die Luft an, bevor er mir teilnahmsvoll in die Augen schaute.
»Dürfen wir eintreten?«
Nein. Ich war bei fünf angekommen. Bei vier. Natürlich nicht. Das Arrangement auf dem Boden drinnen würde jeglichen natürlichen Dialog verhindern. Oder was immer das hier war. Eins und null, dann schüttelte ich sachte den Kopf. »Es passt gerade nicht.«
»Natürlich.«
Der Pfarrer nickte und ergriff erneut meine Hand. Dieses Mal erwiderte ich seinen Händedruck, bis er ein wenig hüstelte.
»Sie brauchen selbstverständlich Zeit, um die Nachricht zu verdauen«, sagte er dann. »Hier sind die Briefe, die bei dem Verstorbenen gefunden wurden.«
Er übergab mir einen großen braunen Briefumschlag mit Namen und Adresse. Dieser war geöffnet worden, und darin konnte ich mehrere kleinere Briefumschläge derselben Art erkennen.
»Ursprünglich waren sie zusammengebunden«, sagte der Pfarrer und räusperte sich. »Mit Paketschnur. Aber sie sind durchnummeriert. Und … nur die ersten drei wurden gelesen … Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Oder was von mir erwartet wurde.
Dann kam mir der Gedanke, dass Würde in diesem Zusammenhang das Schlüsselwort wäre. Darum legte ich in der Art des Pfarrers den Kopf schief und nickte langsam und so andächtig wie möglich.
Er gab seinerseits das Nicken weiter an den rastlosen Mann an seiner Seite.
»Robert Karlsen hier ist … Pathologe«, erklärte er. »Normalerweise ist er bei solchen Anlässen nicht dabei, aber er hatte denselben Weg, und … also, wir dachten, falls Sie es wünschen, Ihren … äh … potenziellen Vater zu sehen, dann … ja, denken Sie in Ruhe darüber nach.«
Der Pathologe räusperte sich und reichte mir einen rosa Post-it-Zettel, der der Situation nicht ganz angemessen war.
»Meine Telefonnummer«, sagte er.
Anschließend führte der Pfarrer ungefähr drei Minuten lang aus, dass er für seelsorgerische Maßnahmen zur Verfügung stehe – ich bräuchte bloß das Pfarrbüro zu kontaktieren, dann gingen die zwei Männer mehr oder weniger rückwärts die drei Treppenstufen hinunter und zogen sich zurück.
»Alles Gute«, sagte der Pfarrer und warf mir dabei einen langen, unergründlichen Blick zu.
Auch aus dem Mund des Pathologen kam etwas. Wie ein kurzer Aufschrei, der viel zu lange unterdrückt worden war.
Seltsam. Fast hätte ich schwören können, das Wort »Pimmel« vernommen zu haben.
In aller Eile stopfte ich eine Banane in mich hinein. Lief zweimal um den alten Mahagonitisch herum und benötigte für jede Runde exakt vierzehn Schritte. Anschließend las ich das Vorwort (wonach ich mich auf einen Brief am Tag beschränken sollte), zog den Brief mit der aufgemalten Eins aus dem dicken Umschlag, steckte ihn aber sogleich wieder zurück.
Eine weitere Runde um den Tisch.
Hatte ich einen Vater?
Niemand hatte ihn je auch nur mit einem Wort erwähnt. In meiner ganzen Kindheit und Jugend nicht. Kein Mensch hatte jemals genickt und gesagt, ich hätte die Nase oder den großen Zehennagel meines Vaters, seine Singstimme oder sein Pech beim Mau-Mau.
Ich hatte auch nie nach ihm gefragt. Vielleicht muss man Großtante Ruth gekannt haben, um zu verstehen, warum.
Nun denn. Ich lief weiter. Dreizehn Schritte, offensichtlich hatte ich die Schrittlänge vergrößert. Dann fünfzehn.
Ja, ich konnte mich erinnern, mir als Jugendliche eingeredet zu haben, mein Vater müsse ein russischer Spion gewesen sein. Ein Wladimir vielleicht oder ein Boris. Den die Amerikaner beseitigt hatten – einen Verräter, der niemals erwähnt werden durfte. Ich habe nämlich ziemlich hohe Wangenknochen.
Und jetzt sollte er nach all den Jahren plötzlich auf dem Weg zu mir gewesen sein? Einfach so? Und obendrein mausetot?
Nein, das konnte nicht sein.
Trotzdem nahm ich die siebte Umrundung des Tischs in Angriff. Gegen den Uhrzeigersinn, mit dem braunen Briefumschlag unter dem Arm.
Schließlich ging ich nach draußen auf die Terrasse. Dort stand ich im Dunkeln und sog die kalte Novemberluft ein, während die Gartenleuchte den Raureif in Großtante Ruths Kletterrosen glitzern ließ.
London, den 14. September 2019
Als Erstes muss ich Dir eine Frage stellen: Hast Du Dich jemals mit dem Sternenhimmel beschäftigt?
Wenn ja, hast Du bestimmt schon von Voyager 1 und 2 gehört, den Raumsonden, die seit 1977 auf dem Weg in die Unendlichkeit sind. Während ich dies schreibe, sind sie 21 bzw. 18 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Beide haben unser Sonnensystem verlassen und werden, grob geschätzt, erst in 40000 Jahren andere Planetensysteme erreichen.
Neben vielem anderen haben die Sonden zwei Datenplatten aus vergoldetem Kupfer an Bord: »The Golden Records«. Gemacht für die Ewigkeit, mit Bildern und Tonaufnahmen vom Leben auf der Erde, für den Fall, dass intelligente Außerirdische sich zu irgendeinem Zeitpunkt dafür interessieren sollten.
Man weiß ja nie.
Liebe Vilma: Die Liste mit den Tonaufnahmen findest Du auf den Internetseiten der NASA. Ich möchte Dich bitten, vor allem auf eine bestimmte Einspielung zu achten, und zwar die von Bachs Zweitem Brandenburgischen Konzert mit dem Münchener Bach-Orchester unter dem Dirigenten Karl Richter von 1967.
V.
Das Weltall? Was sollte ich jetzt davon halten?
Der einzige klare Gedanke, den ich fassen konnte, war der, dass Mama Bach gespielt hatte. Auf dem Klavier im Esszimmer. Das gehört zu den wenigen Dingen, an die ich mich erinnere.
Die Verandatür fiel hinter mir zu, und ohne es zu merken, musste ich an dem alten Instrument Platz genommen haben. Ich fror. Trotzdem legte ich die Finger auf die Tasten und suchte nach den ersten Akkorden eines frühen Bach-Präludiums.
Nein. Es half nichts.
Ein Vater?
Das kam schon sehr plötzlich. Und für plötzliche Dinge habe ich so meine Methoden. Sie stammen nicht von Großtante Ruth, obwohl sie zugegebenermaßen der Mensch war, den ich bis heute am besten gekannt habe. Auch nicht von meinem Vater (der sich bis vor wenigen Minuten in der Peripherie befunden hatte. Besser gesagt: vollkommen abwesend gewesen war).
Nein, wenn ich es wirklich brauche, stelle ich mir vor, dass ich mit Mama spreche. Dass sie die Finger von den Tasten nimmt, die Hände in den Schoß legt und Sachen sagt wie »Das wird schon wieder«. Oder »Es war nicht deine Schuld«. So was in der Art.
Und in der Regel frage ich sie: »Was würdest du denn tun?«, bevor wir dann eine Art Gespräch führen. Natürlich liegt es in der Natur der Sache, dass vor allem ich rede. Denn Mama ist seit mehr als dreißig Jahren tot.
Trotzdem ist sie immer sehr verständnisvoll, nickt ständig und scheint nie von mir genervt zu sein. Außerdem sagt sie oft »Na klar, na klar«, wenn sie der Meinung ist, Dinge kämen wieder ins Lot. Dass ich es hinkriege. In der Hinsicht ist sie toll.
Tja, immer mal wieder denke ich natürlich, es wäre schön, mich mit mehr lebenden Menschen zu umgeben. Um mal ein Schwätzchen zu halten, wie man so schön sagt.
Wobei, ich habe ja Sølvi und meine Klavierschüler. Und im Laufe einer Kaffeepause kann man schon ziemlich lange Schwätzchen halten. Aber trotzdem.
Der Vorteil von Mama ist: Sie hat rund um die Uhr geöffnet, an Werktagen wie am Wochenende.
In der aktuellen Situation fand ich es aber schwierig, ausgerechnet mit ihr zu sprechen. Ich saß auf dem Klavierhocker und dachte: Falls der Mann, der mir geschrieben hatte, wirklich mein Vater war, wäre Mama in dieser Sache … hm, befangen. Vorsichtig ausgedrückt.
Ich sollte einfach mit Sølvi sprechen.
Und ich will auch gar nicht leugnen, dass es sich anfangs wie etwas Verbotenes angefühlt hat. Mir eine Kollegin herbeizudichten, die eigentlich quicklebendig war und mir ihre Ansicht auch persönlich hätte kundtun können.
Allerdings wusste ich genau, wie das Gespräch beginnen würde. Nämlich damit, dass Sølvi sagte: »Bloß ein Brief pro Tag? Das erträgt doch kein Mensch.«
Ich würde nicken, aber dann antworten: »Ich mag Regeln.« Was ja auch stimmt.
Sølvi würde mich mustern und möglicherweise unter der Dunstabzugshaube im Lehrerzimmer an einer Zigarette ziehen.
»Wie kannst du dir sicher sein, dass er dein Vater ist? Und nicht … irgendein Irrer? Ein durchgeknallter Stalker, der mit Fernglas in deinem Garten herumkrabbelt?«
Völlig abwegig klang das nicht.
»Er ist doch nicht mit einem Fernglas herumgekrabbelt«, würde ich ihr entgegenhalten. »Er saß tot in einem Flugzeug.«
In dem Punkt müsste sie mir selbstverständlich beipflichten.
»Aber«, könnte ich sagen, »vielleicht war er ja vor seinem Tod ein Stalker.«
Nein. Ich stellte mir vor, wie sie den Kopf schütteln würde. »Ein Typ, der dich plötzlich von London aus stalken soll? Sorry, Vilma – du bist ja nicht mal bei Facebook.«
Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich meine, bisher hatte sich überhaupt gar keiner für mich interessiert. Da wäre es doch ziemlich schade, wenn gleich der Erste ein Gestörter aus dem Internet wäre.
»Und diese Geschichte mit Bach?«, würde Sølvi fragen und an ihrer Zigarette ziehen.
Sie meinte natürlich die Aufnahme, das Brandenburgische Konzert, das V. mir ans Herz gelegt hatte.
Ich war unsicher. Tatsache ist, dass ich nicht mehr sehr viel Musik höre. Nicht daheim, zwischen Großtante Ruths Möbeln und den Bildern an der Wand. Es kommt mir fast so vor, als verlangte das alte Haus nach Stille.
Ich klappte den Klavierdeckel zu.
Schon war Sølvi zurück.
»Du solltest dir die Aufnahme anhören«, sagte sie.
»Du solltest mit Rauchen aufhören«, sagte ich und öffnete den zweiten Briefumschlag.
London, den 15. September 2019
Liebe Vilma,
die Tatsache, dass Du in diesem Augenblick das Gekritzel des Unterzeichners in Deiner Hand hältst, bedeutet letztlich, dass es mir nicht gelungen ist, Dich zu treffen. Und auf diese Möglichkeit habe ich mich, wie Du siehst, vorbereitet. Viele Monate habe ich nachgedacht, geschrieben, Sätze verworfen und wieder von vorn angefangen. Darum setze ich erneut auf die Musik, wenn ich jetzt erzähle. Und ich glaube fest daran, dass sie auch Dich auf die eine oder andere Weise berühren wird.
Denn ich hoffe, Du hast die Zeit gefunden, der Einspielung zu lauschen?
Ich erlaube mir, davon auszugehen, dass Du klassische Musik magst. Und aus vielerlei Gründen habe ich beschlossen, den guten Johann Sebastian die Stimmung vorgeben zu lassen, er bringt Licht in so vieles, der alte Meister.
Es mag berechnend wirken, dass ich die richtige Atmosphäre erzeugen will, bevor ich beginne, aber Du sollst wissen, dass ich es angesichts der Umstände in bester Absicht tue.
Auch sollst Du wissen, dass ich Dir gern meine ganze Geschichte erzählt hätte, wie ich an diesem Punkt angelangt bin.
Stattdessen hoffe ich nun, dass Dir die Musik eine Art Resonanzraum für das bietet, was ich Dir mitteilen muss. Denn mir ist klar – ich kann nicht länger warten.
Wie Deine Mutter zu sagen pflegte: Na klar, na klar.
Jetzt heißt es, Augen zu und durch.
Liebe Vilma, ich bin Dein Vater.
Diese Worte zu Papier zu bringen erfüllt mich mit unendlicher Rührung.
Ich trat wieder durch die Verandatür ins Freie. Stand in dünnen Hausschuhen auf den kalten Planken und betrachtete den Sternenhimmel. Das Sonnensystem. Den Polarstern.
Ich fand den Großen Wagen direkt über dem Haus.
Und zählte. Drei Sterne im Gürtel des Orion.
»Er behauptet, Sie hätten kein Klavier zu Hause«, wiederholte ich am Hörer.
Am anderen Ende antwortete die Frau mit dem fremdländischen Namen: »Ah, ja – aber wir warten. Kommt bald.«
»Wer kommt?«, fragte ich.
»Klavier kommt«, lachte sie.
Leider wiederholte sich so etwas in regelmäßigen Abständen: Kinder, die an der Musikschule anfingen, ohne daheim ein Instrument zu haben. In diesem Fall hieß das Kind Amdi, war neun Jahre alt und starrte mich jedes Mal verständnislos an, wenn ich auf eine Note zeigte und es bat, die entsprechende Taste auf dem Klavier zu suchen.
Deshalb sah ich mich gezwungen, mit den Eltern zu sprechen. Obwohl Samstagvormittag war. (Ich muss allerdings zugeben, dass es guttat, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes als tote Väter zu lenken.)
»Aber er hat schon drei Klavierstunden gehabt«, fuhr ich fort, »er braucht das Instrument jetzt. Er macht keine Fortschritte, wenn er zwischen den Stunden nicht üben kann. Vielleicht kennen Sie jemanden, der …«
An dieser Stelle wurde ich von einem wütenden Wortschwall unterbrochen, der aber offensichtlich nicht an mich gerichtet war, da er in einer anderen Sprache abgefeuert wurde. Ja, nach und nach mischten sich weitere Personen ein, und ich fühlte mich, offen gestanden, ein bisschen übersehen – oder vielmehr überhört –, wie ich mit dem Handy in der Hand dort stand.
Dann wandte sich die Frau wieder an mich: »Wo wohnen?«, wollte sie wissen.
Aus reinem Reflex nannte ich ihr meine Adresse. »Es wäre aber schön, wenn …«
»Du zu Hause?«
»Ja«, sagte ich, »aber die Sache ist die, dass …«
»Er kommt.«
Und er kam. Die Frau hatte aufgelegt, bevor ich mich wieder gefasst hatte, und fünf Minuten später klingelte es an der Tür. Gezwungenermaßen machte ich auf.
Draußen stand ein Junge, schwang eine blaue Notentasche hin und her und strahlte mich mit Schnee in den Haaren an.
»Ich bin so weit«, sagte Amdi und schob sich an mir vorbei in die Diele. »Wo ist das Klavier?«
Ich seufzte innerlich. Der Tag verhieß wahrlich nichts Gutes. Aber offen gestanden hatte ich auch keine größeren Erwartungen gehabt. Es gibt Grenzen dafür, wie gut ein Tag werden kann, wenn man schon mit der Gewissheit aufwacht, sich dem eigenen Vater widersetzt zu haben.
Ich seufzte noch einmal. »Die Schuhe bleiben hier in der Diele«, sagte ich dann und nickte, als das Kind abbremste und sie fein säuberlich nebeneinander abstellte.
Eine widerspenstige Tochter also. Streng genommen war ich mir nicht sicher, ob ich jemals eine gute gewesen war. Egal wie, so war es.
Und mein Tempo war durchaus beeindruckend: Kaum hatte ich für ein halbes Stündchen einen Vater, setzte ich mich auch schon über seinen letzten Wunsch hinweg.
Besser gesagt: die letzten zwei. Zum einen hatte ich mir die Einspielung nicht angehört, zum anderen hatte ich zwei Briefe an einem Tag gelesen.
Zur Krönung des Ganzen war der restliche Vormittag unverdrossen in der gleichen Richtung weitergegangen.
Ich hatte tatsächlich eine Banane gegessen.
Außerdem hatte ich herausgefunden, dass ein großes Stück Gewürzgurke den Abfluss in der Küche verstopfte.
Und jetzt noch ein Klavierschüler – in meinem eigenen Wohnzimmer?
Um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie Besuch von Kindern gehabt. Na ja, von welchen, die Lose verkauften oder Spenden sammelten, natürlich, aber die ließ ich nicht über die Schwelle. Es könnten ja Kleptomanen sein, moralisch unreif, wie sie waren.
Außerdem weiß man doch, dass Kinder sich selten die Hände waschen.
»Das Bad ist links«, rief ich Amdi hinterher, der mit Volldampf auf dem Weg ins Wohnzimmer war.
Er blieb stehen und sah mich fragend an.
Ich räusperte mich. »In diesem Haus waschen wir uns beim Hereinkommen die Hände.«
Um mich sogleich zu fragen, wer dieses »wir« eigentlich war, und während sich der Junge an dem sauberen Handtuch die Hände abtrocknete, ging mir plötzlich auf, dass ich wie Großtante Ruth klang.
Daraufhin hielt ich eine Weile den Mund.
Amdi folgte mir ins Wohnzimmer, voller Begeisterung rief er: »Du hast ja Gold am Klavier!«
Ich musste ihn enttäuschen, dass die Kerzenleuchter an dem alten Instrument bloß aus Messing waren, das schien er sich aber nicht sonderlich zu Herzen zu nehmen. Der Junge stellte das aufgeschlagene Notenheft auf den Halter und sah mich erwartungsvoll an.
»Fang einfach an mit Üben.« Ich nickte ihm zu und dachte bei mir, dass es eine absolute Ausnahme bleiben würde. Ein Kind, das mir in meinen eigenen vier Wänden aufgezwungen worden war. Unfassbar.
Ich ging in die Küche, um mir eine Tasse Tee zu kochen.
»Aber du musst mir zeigen, wie es geht!«
Amdi war mir gefolgt. »Ich kapier einfach nicht, was die schwarzen Punkte sollen«, sagte er.
Das war mal wieder typisch. Da hatte man ein ganzes Hochschulstudium in Musik absolviert, mit der Pedaltechnik nach Skrjabin und der Aufführungspraxis vom Barock bis zur Romantik, und dann war das hier die Realität. Man war Klavierlehrerin für Kinder, die sich über schwarze Punkte wunderten.
»Die heißen Noten«, seufzte ich, kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte mich auf den Klavierhocker. »Die schwarze mit dem Strich durch ist ein C. Findest du sie auf dem Klavier?«
Ich unterdrückte ein Gähnen und spürte, wie sehr ich diesen Satz verabscheute. Fast genauso wie Ausruhnoten. Oder »In Paris, in Paris, tanzt ein Schwein auf dem Kies«von Carl-Bertil Agnestig.
Amdi starrte auf die Tasten und schüttelte den Kopf.
»Kannst du mir nicht lieber was vorspielen?«
»Es ist wichtig, dass du zuerst die Noten lernst«, sagte ich.
»Bitte, bitte!«
Eigentlich bin ich ein Mensch mit Prinzipien. Erst die Noten, dann die Musik. Ganz zu schweigen vom Metronom, dieser genialen kleinen Erfindung, die vor sich hin tickt und den Takt hält wie eine Uhr.
Aber heute? Keine Ahnung, woran es lag, denn zu meiner großen Überraschung seufzte ich ein drittes Mal und sagte: »Okay. Aber schau dabei ins Notenheft.« Ich zeigte auf das Lied und jagte zum sicherlich tausendsten Mal in meinem Leben durch Agnestigs vermaledeites Schweinchenlied.
Amdi schaute auf meine Finger und klatschte freudig in die Hände, als ich fertig war.
»So ist es gut«, sagte er. »Wenn ich nur die schwarzen Punkte sehe, kapiere ich gar nichts. Aber wenn du spielst, Vilma …«
Ich überließ ihm den Klavierhocker. »Das hier ist das C«, sagte ich. »Damit kannst du anfangen.«
Amdi legte den Daumen auf die Taste, die ich ihm gezeigt hatte.
Dann spielte er »In Paris« an einem Stück durch. Fehlerfrei.
»Aah«, sagte ich, zweimal sogar. Alle Achtung, der Junge schien ein gutes Gehör zu haben.
Ich blätterte ein paar Seiten weiter bis zu einem deutlich schwierigeren Weihnachtslied (Carl-Bertil Agnestig wird häufig die steile Progression vorgeworfen).
»Versuch trotzdem, auf die Noten zu schauen, während ich spiele«, sagte ich mit strenger Stimme.
Aber nein. Amdi schaute wieder auf meine Finger. Und anschließend spielte er. Das ganze Stück, vom ersten bis zum letzten Ton. Carl-Bertil hätte ihm die Füße geküsst.
Ich suchte ein neues Heft heraus und spielte ein kurzes Stück von Schubert. Zugegebenermaßen etwas vereinfacht, aber trotzdem: Amdi wiederholte es, ohne auch nur ein einziges Mal danebenzugreifen.
»Weiter!«, war das Einzige, was er sagte.
Ich spielte ein kurzes Präludium von Bach.
Und wieder: »Weiter!«
Nachdem er einen Walzer von Grieg nachgespielt hatte, hielt ich inne. (Hätte ich eine Brille aufgehabt, hätte ich sie an dieser Stelle abgesetzt, um ihn mir genauer anzuschauen.)
»Bist du ein Genie?«, fragte ich ganz ernst. »Oder vielleicht Autist?«
»Nein«, antwortete Amdi, »ich bin Norweger.«
Egal. Die Tasse Tee hatte ich längst vergessen, und während das Kind die Stücke wiederholte, die ich ihm vorgespielt hatte, ertappte ich mich dabei, wie ich in dem alten Rokokostuhl saß und mir alles Mögliche durch den Kopf schwirrte. Chopins Walzer, zum Beispiel. Großtante Ruth auf dem Sofa mit Butterkeksen und ihrem Strickzeug, ich selbst am Klavier.
»Ich hab Hunger.«
Es war eine knappe halbe Stunde vergangen. Aber egal, Amdi war offensichtlich fertig. Und obwohl manche behaupten, ich sei leicht begriffsstutzig, begriff ich jetzt, dass in seinem Satz eine Aufforderung lag. Zumal kurz darauf ein »Hast du Nesquik?« folgte.
Einen winzigen Augenblick lang lag es mir auf der Zunge zu sagen »Wie heißt das Zauberwort?«, aber ich beherrschte mich. Es lag wohl an Amdis Lächeln. Und an seinem absoluten Gehör.
»Ich habe Chia-Samen«, sagte ich deshalb, »und Knäckebrot.«
Er wirkte enttäuscht. »Keine Kekse?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich versuche, auf meine Gesundheit zu achten, aber ich habe Bananen. Bestimmt zwanzig Stück.«
Wir aßen, er Bananen, ich Chia-Kaviar, und Amdi fragte: »Gibt es viel Musik?«
Ich nickte. »Sehr viel«, sagte ich. »Alte und neue.«
Er lächelte zufrieden, biss in seine Banane und ließ die Beine baumeln.
Schon drifteten meine Gedanken wieder ab. Denn genau so hatte ich auch mal dagesessen, mit Beinen, die nicht bis zum Boden reichten. Während Großtante Ruth Fischklöße briet oder Haferschleim mit Kleie kochte, und man durfte nicht eher vom Tisch aufstehen, bis der Teller leer war.
»Hast du schon von Johann Sebastian Bach gehört?«, fragte ich rasch.
Diesmal schüttelte Amdi den Kopf.
»Das sollten wir ändern«, sagte ich.
So kam es, dass ich an einem Tag im November zusammen mit einem schwarzhaarigen Lockenschopf in Großtante Ruths alter Küche saß und Bachs Zweites Brandenburgisches Konzert hörte.
Zwar nicht von der Homepage der NASA und auch nicht mit Karl Richter, sondern mit dem Orchestra Mozart unter Claudio Abbado. Über Spotify, das ich mir endlich auf meinen Computer geladen hatte.
Es war schön, etwas anderes kann ich nicht sagen.
Es war noch früh. Und Montag. Verwirrt starrte ich auf den Wecker, der zehn zeigte, Punkt zehn. Witzig. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so lange geschlafen zu haben. War ich krank?
Nach einem schnellen Körperscan lautete die Antwort: nein. Mein Hals fühlte sich klar und gut geölt an, einen Brummschädel hatte ich auch nicht. Ich setzte mich auf die Bettkante und schloss aus dem Licht im Zimmer, dass es im Laufe der Nacht geschneit haben musste.
Mit dem ersten Schnee ging eine ganz eigene Stille einher, das hatte ich immer schon gefunden. Ich zog den Vorhang zur Seite und sah, wie sich die Schneeflocken sanft und still auf dem Rasen und dem Fliederbusch niederließen. Aber war das ein Grund zu verschlafen?
Nein. Wahrscheinlich hatte mein Gehirn für die nächtliche Bearbeitung der Ereignisse extra viel Zeit benötigt. Irgendwo hatte ich gelesen, das Denkorgan betreibe in der Nacht so eine Art Selbstrenovierung.
Nicht, dass ich meinem überstimulierten Oberstübchen einen Vorwurf machen könnte. Es passierte ja nicht jede Woche, dass man einen Vater bekam und verlor (eigentlich in umgekehrter Reihenfolge), ein Wunderkind entdeckte und (fast) den Verzehr von Bananen einstellte.
Kurzum, alles war anders als sonst. Und da mein Gehirn nun einmal ein Teil von mir war, ging ich davon aus, dass ihm Veränderungen genauso wenig behagten wie dem Rest von mir.
Trotzdem trottete ich hinunter ins Wohnzimmer, als wäre es ein ganz normaler Tag, und erst dort wurde ich an das Projekt erinnert, das ich mir gestern Abend ausgedacht und auf der Stelle umgesetzt hatte. Mit einer gewissen Freude sogar.
Nicht dass Sie denken, dies wäre mein erster Adventskalender, o nein. Ich bin daran gewöhnt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, und weiß, was ich tue.
Zwar hatte ich mich längst von der Apfelsine mit den vierundzwanzig Gewürznelken verabschiedet, nachdem mir klargeworden war, dass sie im Kinderfernsehen geschummelt haben mussten. Schuster Andersen konnte unmöglich pro Tag eine Nelke in dieselbe Apfelsine gesteckt haben. Da waren garantiert mehrere Orangen im Spiel gewesen. Denn während der Schuster im Fernsehen am Tag vor Heiligabend immer noch ein appetitliches Exemplar vor sich liegen hatte, war meine Orange schon am zehnten Dezember schimmelig und verschrumpelt.
In den letzten Jahren hatte ich mich deshalb für einen hübschen, aber schlichten Schokoladenkalender aus dem Supermarkt entschieden. Schon komisch, ich liebte immer noch diese tägliche Spannung in der Adventszeit. Das vierzehnte Türchen, zum Beispiel, wo hatte es sich versteckt? Und war das vierundzwanzigste Türchen größer als die anderen?
Aber gestern Abend hatte ich eine Entscheidung getroffen: Jetzt herrschten andere Zeiten. Dieses Jahr würde der Adventskalender aus den Briefen meines Vaters bestehen. Zwar hatten wir noch nicht Dezember, und beim Nachzählen stellte sich heraus, dass es nur achtzehn Briefe waren. Aber so kleinlich durfte man nicht sein. Außerdem wollte ich nicht täglich einen Brief lesen, wie mein Vater es angemahnt hatte, sondern nur an jedem zweiten Tag. Das war in meinen Augen die beste Lösung.
Ja, Vilma Veierød war wieder zurück auf dem rechten Pfad. Daher hatte ich das Häufchen Briefe in ein rotes Spankörbchen gelegt, dieses auf dem Sekretär platziert und ihm zwei Keramikengel vom Kunstgewerbemarkt zur Seite gestellt.
Bei dem Anblick konnte man fast gläubig werden.
Trotzdem fiel es mir schwer. Obwohl seit der Lektüre der ersten Briefe fast sechzig Stunden verstrichen waren, zögerte ich, den nächsten in Angriff zu nehmen. Denn war ich nicht weiterhin eine rebellische Tochter?
Wahrscheinlich. Ehrenhafter wäre es wohl, noch ein bisschen länger Reue zu zeigen, nachdem ich schon so ungehorsam gewesen war.
Ja, obwohl ich das Gefühl verabscheue, war ich darin schon immer gut gewesen. Im Bereuen, meine ich, wenn es angebracht war.
Deshalb tue ich nur selten Dinge, die man bereuen könnte. Deshalb tue ich überhaupt sehr wenig – das scheint mir das Sicherste zu sein.
Das habe ich wohl von Großtante Ruth, fürchte ich. Sie konnte von Reue nie genug bekommen.
Egal. Wahrscheinlich waren es diese Assoziationen rund um Buße und Beichte, die mich plötzlich an den Pfarrer denken ließen. Diesen Gottesmann, der kürzlich auf meiner Treppe gestanden und mir versichert hatte, dass ich ihn jederzeit im Pfarrbüro anrufen könnte.
Normalerweise rief ich nicht bei anderen Leuten an.
Und andere Leute auch nicht bei mir.
Trotzdem ging mir das großzügige Angebot nicht aus dem Kopf: Könnte Seelsorge etwas für mich sein?
Ich setzte mich an den Küchentisch. Bestrich ein Knäckebrot mit Schinkenkäse aus der Tube und ging die Sache in Gedanken durch. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie religiöse Erlebnisse gehabt, kein einziges bisher. Und ob Männer Halskrause oder Krawatte trugen, war mir im Grunde völlig egal.
Aber eins hatte mir wirklich gefallen: die warme Hand des Pfarrers. Dieser Händedruck, dieses Schütteln und Festhalten. Es hatte doch deutlich länger gedauert als ein einfaches »Angenehm, Hansen« oder »Nilsen, ganz meinerseits« es erfordert hätten, oder?
Obwohl ich mich bemühte, konnte ich mich nicht erinnern, dass mir so etwas schon einmal widerfahren war (wenn man von dem einen Mal absieht, als der Klassenclown mich mit Sekundenkleber auf der Handfläche begrüßt hatte. Und davon sehe ich nur allzu gern ab.)
Aber sollte das Schütteln und Festhalten der rechten Hand ein Bedürfnis nach geistlichem Beistand auslösen? Das wäre auf lange Sicht ziemlich unpraktisch.
Plötzlich schoss es mir durch den Kopf: Um Gottes willen – ich hatte mich doch nicht etwa verliebt?
Mir war auf einmal ganz blümerant zumute, schnell zählte ich daher von dreißig rückwärts und nahm den Laptop von der Küchenzeile, als eine Art Ablenkungsmanöver.
Als ich ihn aufklappte, hätte ich am liebsten Bingo! geschrien. Auf dem Bildschirm ploppte nämlich die gestrige Google-Suche auf und machte alles gleich viel klarer.
»Sterberisiko«, stand dort.
Von wegen verliebt. Weit gefehlt. Fast musste ich lachen. Das genaue Gegenteil war der Fall. Wie bei so vielem anderen in meinem Leben ging es auch jetzt wieder um den Tod. Und um meine Zukunftsaussichten.
Wenn man mal ehrlich war, hatten meine Verwandten nicht gerade mit einem langen Leben geglänzt. Nein, sie waren alle tot, Mama und auch Großtante Ruth. Und zur Krönung des Ganzen war nun auch noch ein toter Vater aufgetaucht.
Kein Wunder, dass man sich um sein eigenes Leben sorgte!
Jetzt erinnerte ich mich wieder. Auf der Suche nach meinen Überlebenschancen hatte ich gestern Abend weitergegoogelt. Und dabei auf einer anderen Webseite über den Sterbefaktor Einsamkeit gelesen.
Ein zwiespältiges Vergnügen, wie es so schön heißt.
Schließlich lebe ich allein, im alten Haus meiner Großtante. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr. Nicht, dass ich mich deswegen in einem Glücksrausch befände – in dem Punkt gibt es noch reichlich Luft nach oben. Andererseits fällt mir der Umgang mit Menschen im Großen und Ganzen nicht sehr leicht. Sie sind alle so anders als Großtante Ruth und ich. Und ich habe nie so recht begriffen, wie man zu ihnen spricht.
Oder mit ihnen.
Dass ich weder einen Partner noch enge Freunde hatte, war nichts Neues für mich. Überraschend war hingegen der Inhalt dieses Onlineartikels. Darin stand nämlich, Einsamkeit sei ebenso riskant wie Rauchen! Und zwar weit mehr als die 1,4 Zigaretten pro Tag, die die Sterbewahrscheinlichkeit um ein Millionstel erhöhen sollen.
Die Rede war sogar von 10 bis 15 Zigaretten.
Ohne Filter.
Was für ein Schock! Sollte etwa alle Achtsamkeit vergeblich gewesen sein? In körperlicher und materieller Hinsicht hatte ich nämlich schon lange Vorkehrungen getroffen. Im Keller hatte ich sechsunddreißig Liter Wasser in Flaschen, siebzehn Dosen Ravioli in Tomatensoße und auch sonst alles, was das Amt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe empfahl. In vierfacher Ausführung (ich konnte mir nämlich durchaus vorstellen, noch etwas länger zu überleben als die drei Tage, mit denen der norwegische Staat kalkulierte). Nach jedem Arbeitstag reinigte ich die Klaviertastatur mit Spiritus und ließ alle drei Jahre die Zellen in meinem Unterleib untersuchen.
Mit anderen Worten: Für das Körperliche war gesorgt, zumal ich jetzt keine Bananen mehr aß.
Da saß ich nun mit meinem Knäckebrot am Küchentisch und begriff in diesem Moment, wie sehr ich mich doch vernachlässigt hatte. Denn was war mit der Seele?, dachte ich. Aber ich dachte es nicht nur – ich glaube sogar, ich sagte es laut vor mich hin.
Und in dem Moment fiel die Entscheidung: Es war ganz klar an der Zeit, auch das seelische Risiko zu minimieren, ich konnte ja schlecht damit leben, mit siebzehn Raviolidosen im Keller vor lauter Einsamkeit zu sterben. Das wäre schlicht zu ärgerlich.
Daher nahm ich rasch den rosa Post-it-Zettel mit der Telefonnummer heraus. Und wartete, während es fünf Mal klingelte.
Erst, als am anderen Ende jemand abnahm, fiel mir ein, dass die Nummer gar nicht dem Pfarrer gehörte.
»Sektionsassistent«, sagte jemand.
Kein »Hallo« und auch kein Nachname gefolgt von einem »am Apparat«, wie meine Großtante es mir beigebracht hatte.
Ich erwog aufzulegen, wollte dem Tod ja ausweichen und ihn nicht aktiv aufsuchen.
»Wie bitte?«, hüstelte ich trotzdem.
»Genau das bin ich nämlich. Nicht Pathologe, wie der Pfarrer gesagt hat.«
Woher dieser Pathologe, nunmehr Sektionsassistent, wusste, dass ich am Apparat war, versuchte ich gar nicht erst herauszubekommen. Seine Stimme war freundlich und zuvorkommend, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er Dinge wie »Skalpell, bitte!« oder »Hier ist die Niere des Toten« sagte. Dinge, die Menschen in diesem Beruf bei der Arbeit eben so von sich geben.
»Fotze.«
Ich musste mich verhört haben. »Wie bitte?«
Er hustete. »Ach, nichts. Sie wollen sicher vorbeischauen?«
Ich wollte auf keinen Fall vorbeischauen. Ich wollte eine warme Hand schütteln, und zwar lange. Und vor allem wollte ich auflegen.
Trotzdem musste ich wohl antworten. Nach einem kurzen Moment stotterte ich: »Eigentlich könnte ich mir eher Fotos vorstellen.«
»Fotos?«
»Ja. Wenn Sie ein paar knipsen könnten? Und … ihm vielleicht einen schönen Filter verpassen? Mit dem Smartphone kann man doch heutzutage so vieles machen«, schob ich hinterher.
Es folgte eine kurze Pause.
»Sie möchten, dass ich Ihrem … Vater einen Filter verpasse?«
»Ja. Es wäre schön, wenn er nicht so … tot aussähe.«
Jetzt räusperte sich der Sektionsassistent vorsichtig. Wenn ich mich recht erinnerte, hieß er Karlsen.
»Er wird tot aussehen«, sagte er. »So oder so.«
Ich dachte einen Augenblick nach.
»Ich mag den Tod nicht sonderlich«, sagte ich schließlich.
»Verstehe«, sagte Robert Karlsen, doch nach einer kurzen Pause fügte er in einem anderen Tonfall hinzu: »Den meisten, die hierherkommen, tut es gut.«
Das konnte ich mir kaum vorstellen. Zumal meine Erfahrung mir etwas völlig anderes sagte.
»Kommt der Pfarrer auch dazu?«, fragte ich trotzdem.
»Das lässt sich sicher einrichten.«
Na also. Ich holte tief Luft und dachte an meine scheinbar vernachlässigte Seele. Dass ich unter Leute kommen musste, um mein Sterberisiko zu minimieren. Notfalls auch in einem Leichenhaus.
Robert Karlsen räusperte sich. »Wollen wir dann Donnerstag um zwei anpeilen?«
An dieser Stelle vergaß ich mich und nickte einfach nur in den Hörer, ehe ich ein überdeutliches »Ja« hervorbrachte.
Anschließend war es einen Moment still.
»Eine Sache noch«, sagte Robert Karlsen. »Wollen Sie ihn … mit oder ohne Schnauzer?«
London, den 17. September 2019
Als Deine Mutter zum ersten Mal die Narbe auf meiner Oberlippe sah, strich sie einfach mit dem Finger darüber und sagte: »So what?«
Merkwürdig, wie alltäglich sich die zwei kleinen Wörter jetzt auf dem Papier ausnehmen. Wie »einfacher oder doppelter Espresso« beim Barista an der Ecke, »Ketchup oder Senf« am Wurststand.
Zugleich bedeuteten sie so viel. Und als sie damals ausgesprochen wurden, fühlte es sich an, als kulminierte alles, wonach ich mich immer gesehnt hatte, in diesem Augenblick: Ich wurde von einer Frau geliebt. Zum ersten Mal in meinem Leben.
Ohne Schnauzer.
Das klingt natürlich etwas hochtrabend. Ich will jedoch versuchen, mich zu erklären.
Ich wurde nämlich mit einer Hasenscharte geboren. Oder »mit einem Zeichen Gottes«, wie mein Vater es nannte. Er war davon überzeugt, dass der Herr ihn auf die Probe stellen wollte und dass selbiger, wenn mein Vater nur stark genug an ihn glaubte, die Sache beheben würde, ohne dass das norwegische Gesundheitswesen eingeschaltet werden müsste.
Man kann getrost sagen, dass der liebe Gott sich Zeit ließ.
Und erst, als die Geduld meiner Mutter mit dem himmlischen und dem irdischen Vater zu Ende war, wurde ich geflickt. Recht notdürftig, sollte ich hinzufügen – denn dem Chirurgen zufolge war es nach so vielen Jahren schwierig, ein gutes Resultat zu erzielen.
Leider sollte es sich als genauso schwierig erweisen, meinen Spitznamen »Kaninchen« loszuwerden. Oder im Winter nicht mehr ständig »eingeseift« zu werden.
Nun ja. Wenig hilfreich war auch, dass mein Taufname Vilhelm Mozart Sandvik lautet (kein Scherz). Ohne je auch nur einen Gedanken an die Wirkung des Namens verschwendet zu haben, hatte mein musikliebender Großvater seinen Sohn, meinen Vater, in den Zwanzigerjahren Mozart Sandvik getauft. In bester Absicht natürlich – aber auch nicht ohne Übermut, wenn man bedenkt, dass er in einem kleinen Dorf auf dem Land lebte.
(Wie Du Dir vielleicht denken kannst, stand klassische Musik dort nicht gerade hoch im Kurs, dafür alles, was aus Amerika kam. Und zwar in einem solchen Maße, dass mein Nachbar Georg Washington Brøttum mit seinem Namen ein sorgloses, überdurchschnittlich langes Leben führen konnte.)
Ob Wolfgang Amadeus schuld daran war, dass mein armer Vater Trost in der Orgel fand und mit der Zeit auch in Gott, weiß ich nicht. Doch der Name wie auch die Musik hielten sich in der Familie, und in meinem Fall mündete alles in eine Bratsche.
Nichts hat mich je so sehr getröstet wie die Musik. Weder heute noch damals.
Und so blieb ich das »Kaninchen«, bis ich als Achtzehnjähriger nach München zog. Aber ich wurde (ohne mich selbst loben zu wollen) auch einer der besten Bratschisten Norwegens.
Ich glaube, an dieser Stelle können wir meine Kindheit und Jugend hinter uns lassen. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich zum Glück am meisten an die Musik.
Ich könnte natürlich noch mehr über die Folgejahre in München und mit dem Münchener Bach-Orchester schreiben. Aber es gibt Dinge, die mir weit mehr am Herzen liegen.
Darum will ich hier einen Sprung machen: ins Jahr 1983 und damit zu meinem deutschnorwegischen Freund Hans Bauer, der so freundlich war, mir an einem Tag im April einen künstlichen Schnurrbart zu beschaffen.
»Frankenstein?«, hatte er gesagt, als wir vom Münchner Hauptbahnhof kommend durch die Straßen liefen. Dann lachte er: »Nein, Vilhelm, eher der Glöckner von Notre-Dame.«
Im nächsten Moment duckte er sich lachend unter meiner Faust weg. Natürlich hatte ich ihn nicht ernsthaft treffen wollen – er war ja keineswegs der Einzige, der mich damit aufzog, dass ich einmal bei einem Konzert den Kleiderbügel in meinem Jackett vergessen hatte.
Sofort versuchte er, es wiedergutzumachen. »Scherz beiseite: Du bist doch ein toller Typ. Es gibt haufenweise Mädels, die ganz verrückt nach Narben sind.«
»Wie schön«, sagte ich. »Schick sie zu mir.«
Lächelnd schüttelte Hans den Kopf, bevor er mit mir die verrauchte Kneipe betrat, die es uns aus irgendeinem Grund angetan hatte.
»Monica Schiller findet übrigens, du hättest schöne Augen.«
Ich blieb an einem freien Tisch stehen. »Monica Schiller ist sechzig«, antwortete ich. »Und kurzsichtig.«
Der klapprige Stuhl kippte fast um, als ich meine Jacke darüberhängte. »Aber vielleicht sollte ich mein Glück bei den Blinden und Sehbehinderten versuchen?«
»Hör auf«, sagte Hans und setzte sich neben mich. »Frauen sind nicht so oberflächlich, wie du glaubst.«
Der arme Hans. Den Ausspruch sollte er sich künftig verkneifen. Das Timing hätte nämlich nicht besser sein können: Während ich Platz nahm, kam eine blonde Bedienung und brachte uns zwei Speisekarten.
Ich knuffte Hans diskret in die Seite.
»Nur ein Bier«, sagte ich auf Deutsch, langsam und überdeutlich, und versuchte gleichzeitig, den Blick der jungen Frau einzufangen.
Natürlich ohne Erfolg. Ihr Blick heftete sich, wie zu erwarten, auf meine Oberlippe. Aber nur kurz, schließlich war sie nicht unhöflich. Schnell und schuldbewusst wanderten ihre Augen zu Hans, der sich nach kurzem Zögern für ein Getränk entschied – ein Weißbier.
Ich war überrascht. Nicht über die Bierwahl, sondern über meine eigene Reaktion. Obwohl ich solche Situationen schon so oft erlebt hatte, tat es mit Hans als Zuschauer doppelt weh.
»Siehst du«, sagte ich.
Es klang allerdings nicht so lässig wie geplant.
Also setzte ich noch eins drauf. »Aber jetzt gehe ich sowieso wieder nach Norwegen«, grinste ich. »Aufgepasst, geliebte Heimat, das Kaninchen kehrt zurück!«
Hans’ Lachen klang auch nicht sehr überzeugend.
Nach Norwegen wollten wir beide, das stand fest. Für ein Probespiel. Ich für die Stelle als Solobratschist im Philharmonischen Orchester Oslo, er für eine Stelle als Gruppenleiter im Rundfunkorchester. Darum hatten wir beide eine Zugfahrkarte nach Kiel für die nächste Woche in der Tasche und nun auch ein Bier vor der Nase, serviert von der jungen Blonden, die uns kurz zunickte.
»Hast du schon einmal über einen Schnauzer nachgedacht?«, fragte Hans plötzlich.
»Einen Schnauzer?« Ich musste lachen, wischte mir etwas Bierschaum weg und zeigte auf meine Lippe. »Da wächst nichts. Narbengewebe ist scheinbar nicht der beste … Mutterboden.«
»Ich meine einen künstlichen.«
Ich sah ihn an. Zog die Augenbrauen hoch. »Einen künstlichen Schnauzer?«
Hans nickte. »Mein Onkel ist Perückenmacher.«
Allein schon das Wort »Perücke« ließ mich zusammenzucken. Darin lag so etwas Hilfloses, es klang nach Prothese oder Gebiss – etwas, an das sich alte Menschen klammerten und worüber junge Menschen hinter ihrem Rücken lachten.
Nein, dachte ich, auf keinen Fall. Ich schüttelte energisch den Kopf, während ich mir diesen künstlichen Schnauzer vorstellte. Wie mich das Haarbüschel ständig in Verlegenheit bringen würde, wenn es in Tomatensuppen oder Soufflés fiel. Oder schlimmer noch: mir beim Husten oder Niesen davonflog.
»Nur über meine Leiche«, sagte ich mit Nachdruck.
Und meistens halte ich Wort.
Doch als mein Freund mir ein paar Tage später auf der Fähre von Kiel nach Oslo eine braune Pappschachtel in die Hand drückte, konnte ich nicht umhin, dem haarigen Teil (dunkelbraun und in Seidenpapier eingeschlagen) eine Chance zu geben.
»Ich habe versucht, deine Haarfarbe zu treffen«, erklärte Hans, als wir in der engen Kabine standen. Ich meine mich an sein Lächeln zu erinnern, das für seine Verhältnisse fast ein bisschen verlegen daherkam.
Darüber hinaus erinnere ich mich nur an den Spiegel. An den jungen Mann hinter der glatten Fläche, der nicht aus dem Staunen herauskam, ein neuer fremder Mensch mit braunen Augen – und einem Schnauzer, der farblich perfekt zu seinen Haaren passte. Bei Gott, fast konnte man ihn gutaussehend nennen.
»Hab ich’s dir nicht gesagt?«
Jetzt tauchte auch Hans’ Gesicht im Spiegel auf. »Du siehst aus wie James Bond.«
Ich musste lachen. Und damit erwachte auch mein Zwilling im Spiegel zum Leben, er lachte und lachte, drehte den Kopf in alle Richtungen, prüfte Winkel und Lichtverhältnisse, von unten und von oben.
»Der sieht ja richtig echt aus.«
Hans nickte.
Es wurde still. Der Mann mit dem Schnauzer bekam für einen kurzen Moment feuchte Augen.
»Dann zeig mal, wie du flirten kannst«, sagte Hans.
So kam es, dass Dein Vater auf der Fähre nach Oslo flirtete. Wenn auch recht unschuldig. Aber ich sagte tatsächlich zu einer Barkeeperin »Wo warst du bloß mein ganzes Leben?«, blinzelte zwei Freundinnen im Duty free zu, hielt einer Frau mit Pudel die Tür auf und bedachte sie zudem mit einem Kompliment für ihre Ohrringe.
Nun ja, ein wenig übermütig pfiff ich auch einer Dame im Paillettenkleid hinterher – noch am selben Abend sah ich sie auf der Bühne wieder, als Dragqueen (Hans wäre vor Lachen fast gestorben).
Kurzum: Es schien sicherlich durch, dass es mir an Flirterfahrung mangelte.
Und natürlich entwickelte sich auch nicht mehr daraus. Aber die jungen Frauen sahen mich an. Sie schauten mir in die Augen, bevor sie den Blick über mein Gesicht gleiten ließen, als wäre ich ein x-beliebiger Mann.
So verließ ich in Oslo die Fähre mit einem braunen Schnauzer und leichtem Schritt (und mit dröhnendem Schädel).
Und nicht zuletzt: mit einem erwartungsvollen Pochen in der Brust.
»Heirate bloß keinen Mann mit Neurodermitis.«
Das war Sølvi, ohne jede Einleitung, wie immer. Sie ließ sich auf das Sofa im Lehrerzimmer plumpsen. »Jedes Mal, wenn ich ihn bitte, etwas im Haushalt zu machen, hat er sich just die Hände mit Feuchtigkeitscreme eingerieben.«
Ich schluckte einen Bissen Knäckebrot hinunter und folgerte aus dem Gesagten, dass es sich bei dem Eingeriebenen um Sølvis Mann handelte, der den jahrelangen, ausführlichen Beschreibungen zufolge ganz und gar lebensunfähig zu sein schien.