Virginia - Alexandra Ripley - E-Book

Virginia E-Book

Alexandra Ripley

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Beschreibung

Eine bewegende Südstaatensaga über die große Liebe und das Abenteuer, sein Glück zu finden.

Die Plantagenerbin Chess Standish lebt nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges unverheiratet auf der Plantage ihrer Eltern. Um der Enge ihres Elternhauses zu entkommen, heiratet sie den Tabakbauernsohn Nate Richardson. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Sie ist eine Lady, er ein leidenschaftlicher und ehrgeiziger Emporkömmling. Mit der Zeit erkennt Chess, dass sie wirklich tiefe Gefühle für Nate entwickelt. Doch Nate sieht sie nur als Partnerin, um ihre gemeinsame Tabak-Dynastie zu begründen. Wird sie es trotz aller Unterschiede zwischen ihnen schaffen, sein Herz für sich zu gewinnen?

Große Gefühle bei beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.



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Inhalt

Cover

Weiterer Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

Weiterer Titel der Autorin

Scarlett

Über dieses Buch

Eine bewegende Südstaatensaga über die große Liebe und das Abenteuer, sein Glück zu finden.

Die Plantagenerbin Chess Standish lebt nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges unverheiratet auf der Plantage ihrer Eltern. Um der Enge ihres Elternhauses zu entkommen, heiratet sie den Tabakbauernsohn Nate Richardson. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Sie ist eine Lady, er ein leidenschaftlicher und ehrgeiziger Emporkömmling. Mit der Zeit erkennt Chess, dass sie wirklich tiefe Gefühle für Nate entwickelt. Doch Nate sieht sie nur als Partnerin, um ihre gemeinsame Tabak-Dynastie zu begründen. Wird sie es trotz aller Unterschiede zwischen ihnen schaffen, sein Herz für sich zu gewinnen?

Über die Autorin

Alexandra Ripley (geb. 8. Januar 1934 in Charleston, South Carolina; gest. 10. Januar 2004 in Richmond, Virginia) veröffentlichte ihren ersten Roman im Jahre 1972. Fortan schrieb sie zumeist Historienromane. Einer breiten Öffentlichkeit wurde sie mit ihrem Buch »Scarlett« bekannt, einer Fortsetzung des Romans »Vom Winde verweht« von Margaret Mitchell. Sie war dreimal verheiratet: mit Leonard Ripley, von ihm hatte sie zwei Töchter, mit Thomas Garlock und mit John Graham.

Alexandra Ripley

Virginia

Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike von Sobbe

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1994 Lafayette Hill, Inc.

Titel der amerikanischenOriginalausgabe: From Fields of Gold

Originalverlag: Warner Books, New York

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 1995 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © iStockphoto: Opla | StevenGaertner

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-6748-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1. Kapitel

24. August 1875

Das Holz des alten Farmerwagens war schon vor langer Zeit zu einem fleckigen Grau verwittert. Der Wagen hatte hohe Seiten, vorne einen Brettersitz und vier große Räder mit rostigen Eisenfelgen. An den Speichen waren noch kleine Spuren roter Farbe zu erkennen. Es war ein robuster und nützlicher Bauernwagen, der keinen Anspruch auf Schönheit erhob, nur die kleinen roten Stellen verrieten einen lang vergangenen Ausbruch von Fröhlichkeit oder Optimismus. Er sah aus wie die meisten anderen Bauernwagen in Piedmont, im Herzen von North Carolina.

Und genauso sah auch das stämmige, kurzbeinige Pferd aus, das ihn zog. Nicht schön, aber kräftig und unverwüstlich.

Der Junge, der die Zügel hielt, war vermutlich für die roten Speichen verantwortlich. Sein gebräuntes Sommersprossengesicht hatte einen eifrigen, energischen Ausdruck, seine Augen erinnerten an das strahlende Blau eines Sommerhimmels an einem sonnigen Tag. Sie schienen die Welt direkt anzusehen, und was sie erblickten, schien ihnen zu gefallen.

Er hieß Nathaniel Richardson. Die meisten nannten ihn Nate. Er war achtzehn Jahre alt und trotz seiner Jugend das anerkannte Oberhaupt der Familie im Wagen.

Seine Mutter saß neben ihm auf dem Brettersitz; sein Bruder hockte auf der anderen Seite von ihr.

Mary Richardson sah deutlich älter aus als vierundvierzig. Das ging den meisten Bauersfrauen so: Ihr Leben bestand aus früher Heirat, Kinderkriegen und nie endender Arbeit. Mary war von kleiner Statur; ihre gebeugten Schultern machten sie noch kleiner und schoben zugleich ihr runzliges Gesicht auf aggressive Weise nach vorn. Doch an diesem Spätsommertag sah sie eher erwartungsvoll aus. Sie trug ihr Sonntagskleid aus schwarzem Wollstoff mit einem weißen Spitzenkragen und einen glänzenden schwarzen Strohhut mit einem breiten Band, das vorn über der Krempe eine Schleife hatte, ebenso wie unter ihrem spitzen Kinn, wo es zusammengebunden war. Von Zeit zu Zeit tätschelte ihre grobknochige Hand das Knie des dunkel gekleideten Jungen an ihrer Seite. Ihr älterer Sohn Gideon war ihr ganzer Stolz.

Doch Gideon bemerkte ihre zärtlichen Klapse nicht. Er war tief in Gedanken. Selbst das aufgeregte Geschnatter der Kinder hinter ihm vermochte ihn nicht zu stören.

Im Hinteren des Wagens, zwischen Kisten und Kästen, saß der Rest der Richardson-Familie. Nates und Gideons Onkel Joshua war ein düsterer, dünner Mann mit einem langen, schwarzgrau melierten Bart und einem Holzbein. Seine Frau Alva war fünfundzwanzig und um genauso viele Jahre jünger als Josh. Ihre Kinder sorgten für das Gekicher und Gekreische. Micah war acht, Susan vier; beide hatten sie das flachsblonde Haar ihrer Mutter und die blassblauen Augen ihres Vaters.

Josh richtete seinen frostigen Blick auf seine Kinder, und ihr Lärmen erstarb.

Nate rief ihnen über die Schulter zu: »Nach dieser Anhöhe geht’s nur noch abwärts. Wir sind fast da.«

»Jag unseren armen, alten Gaul nur nicht den Hügel hinunter«, warnte seine Mutter. »Ich möchte nicht in einem Trümmerhaufen auf dieser Straße enden.«

Nate lachte. »Keine Bange, Ma. Natchez hat nichts von einem Rennpferd in sich. Ich hoffe nur, dass er nicht stehenbleibt und einschläft.« Er beugte sich vor und sah zu seinem Bruder hinüber. »Genau wie Gideon.«

Seine Mutter bat ihn, leiser zu sein. »Dein Bruder denkt über die Rede nach, die er halten soll.«

Nate biss sich auf die Lippe, um sein Grinsen zu verbergen. Er kannte sie inzwischen auswendig. Gideon hatte seine Rede die ganze Woche geübt, auf einem Baumstumpf neben dem Schuppen.

Auf der Kuppe des Hügels hielt Nate das Pferd an. Eine sanfte Brise erfrischte sie und wehte schwache Musikklänge herauf. Sein rechter Fuß begann zu wippen.

Dann ruckte er wieder mit den Zügeln. »Auf geht’s, Natchez. Die Richardson-Familie will zum Lagertreffen.«

Onkel Josh kümmerte sich um das Entladen des Wagens. Es gab viele freiwillige Helfer, und Nate war froh, ihnen alles zu überlassen. Im Lager würde er Freunde wiedertreffen, die er seit dem Vorjahr nicht mehr gesehen hatte.

Am Rande einer Gruppe von jungen Leuten, die vor der Musikertribrüne zusammenstanden, entdeckte er die drei Martin-Brüder.

»Hallo Billy ... Jim ... Matt«, rief er, »wie geht’s?«

Nur einer von ihnen warf ihm einen Blick zu. »Hallo, Nate.« Jim winkte und wandte sich wieder ab.

Was war denn da so spannend? fragte sich Nate. Er trat heran und drängte sich zwischen Jim und Matt.

Auf einer Bank neben der Tribüne saß das schönste Mädchen der Welt.

Nate war achtzehn, kräftig, gesund – und voller Leidenschaft. Sein Körper reagierte sofort auf den Anblick des Mädchens – und auf die Gedanken, die dieser in ihm auslöste; er musste sich abwenden und zu den nahestehenden Kiefern hinüberlaufen. Er hoffte nur, dass niemand die Ausbuchtung in seiner Hose gesehen hatte. Das war fast mehr, als ein Mann ertragen konnte, das heftige Eigenleben, das seine Geschlechtsorgane führten.

Schlag sie dir bloß aus dem Kopf, sagte er zu sich. Die bringt einem nur Ärger. Aber er konnte die buttergelben Locken, die ihr über die Schultern fielen, nicht so einfach vergessen, und auch nicht ihre großen, kornblumenblauen Augen und ihre prallen, hohen Brüste unter der strengen, hochgeschlossenen Bluse. Sie hatte eine winzige Taille; er würde wetten, dass er sie mit seinen beiden Händen umfassen konnte – um sie dann langsam und sacht nach oben gleiten zu lassen ...

Nate stöhnte laut auf.

Die Freuden eines Frauenkörpers waren ihm durchaus vertraut. Tatsächlich hatte er schon viele Frauen gehabt, und alle hatten ihm versichert, dass sie es genauso genossen wie er. Warum also machte ihm dies Mädchen derart zu schaffen? Noch dazu lautete sein oberster Grundsatz: Hände weg von unverheirateten Mädchen. Die wollten nur unter die Haube kommen, und mindestens ebenso dringend wollten ihre Väter sie verheiratet sehen. Er wusste, dass sie unverheiratet war; sie hatte diesen erwartungsvollen und zugleich unwissenden Blick. Wie gern hätte er ihr einiges beigebracht! Oh nein! Das war ja gerade die Falle.

Nate versuchte, an die anderen Frauen zu denken, die er kannte. Da war Julie in dem Laden an der Haw River Bridge. Sie war doch mindestens genauso hübsch? Oder Millie in dem Café an der Kreuzung, in Mebane, oder die andere Millie an der Straße nach Burlington. Und all die anderen.

Wie die meisten Familien auf dem Lagertreffen waren auch die Richardsons Tabakbauern. Nate ging allerdings bereits einen Schritt weiter. Für ihn war es mit der Ernte nicht getan. Er verkaufte seine Blätter nicht wie die anderen Männer auf dem Markt. Weshalb sollte er sie einer Firma geben, wo sie geschnitten und abgepackt wurden und die für jedes Päckchen so viel verlangte, wie sie für zwanzig Pfund Blätter bezahlt hatte?

Nun zerstießen seine Mutter und Tante Alva die Blätter, sortierten den zuvor behandelten Tabak und packten ihn in Beutel, die Nate selbst verkaufte. Sie hatten ihr eigenes kleines Etikett, genau wie große Firmen: »Richardson’s Rich North Carolina Smoking Tobacco. Keiner ist ergiebiger.« Nate war sehr zufrieden, dass sich ihre Marke schon nach einer Saison so gut verkaufte.

Er war ziemlich nervös gewesen, als er sich im vergangenen Jahr erstmals auf den Weg gemacht hatte, die Satteltaschen voller kleiner Beutel. Aber dann war es gar nicht schwierig gewesen, den Ladenbesitzern ein paar – erst mal zur Probe – zu verkaufen. Alle führten ein Dutzend Sorten Rauchtabak, dazu Kautabak und Schnupftabak – warum sollten sie nicht eine Marke mehr verkaufen? Von einem netten jungen Mann, der sie selber herstellte und keiner von diesen feinen Pinkeln war, die für die großen Marken wie Bull Durham oder Liggett & Myers auf Verkaufstournee gingen. Oft hatten sie ihn eingeladen, eine Pause einzulegen, um mit ihnen zu essen oder zu trinken oder einen Priem zu nehmen. Nate hatte immer eingewilligt, obwohl er den Geschmack von Tabak nach den vielen Jahren auf den Feldern nicht mehr mochte und seine Ma sicher einen Anfall bekommen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass er Alkohol trank. Aber es war wichtig, neue Freundschaften zu schließen.

Das war leichter, als er gedacht hatte. Er hatte nicht lange gebraucht, um die Botschaften der Frauen mancher Ladenbesitzer zu begreifen. Sie waren meist deutlich jünger als ihre Männer. Die hatten erst mal ihren Weg machen, ein Haus bauen und ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, bevor sie ans Heiraten denken konnten, während ein Mädchen mit fünfzehn reif für Ehe und Mutterschaft war. Mit achtzehn oder neunzehn hatten die meisten dann auch schon ein paar Kinder – und sehnten sich nach etwas, das aufregender war als Putzen und Kochen und Babys und Hühner füttern. Eine halbe Stunde Spaß im Haus, während der Mann drüben im Laden war – das tat doch niemandem weh. Nate fand vielmehr, dass es das Leben aller lustiger machte. Welcher Ehemann hatte nicht lieber eine Frau, die lächelte und vor sich hinsummte, statt sich ständig über die eintönige Hausarbeit zu beklagen?

Was ihn anging, so lachte und sang er die ganze Zeit, wenn er unterwegs war. Egal ob unter sengender Sonne, bei Wind und Regen oder in eisiger Kälte, auf Straßen, wo sich einem der Mund mit Staub füllte oder man bis zum Stiefelrand im Schlamm watete – das alles gehörte für Nate zu dem Abenteuer dazu, denn eine Straße konnte ihn zu einem Ort führen, wo er noch nie gewesen war, wenn ihm der Sinn danach stand. Oder sie konnte ihn zu einem Ort bringen, von dem er wusste, dass er dort willkommen war.

Wohin der Weg ihn auch führte, er kam voran. Und genau das wollte er. Er würde kein Bauer bleiben. Er wollte etwas aus seinem Leben machen. Etwas Großes.

Und dabei würde er sich von keinem Mädchen ablenken lassen – selbst wenn es das schönste war, das ihm jemals begegnen sollte. Nate warf die Schultern zurück. Er hatte sich entschieden. Fortan würde er größere Versammlungen meiden. Dann würde er sie wahrscheinlich nie wiedersehen. Das Treffen hier dauerte drei Tage, und es gab genügend andere Dinge, mit denen er sich die Zeit vertreiben konnte. Dieses Jahr war zum Beispiel erstmals ein berühmter Prediger dabei. Dan Gaskins war angeblich in der Lage, seine Zuhörer die Flammen des Fegefeuers an ihren Absätzen spüren zu lassen. Vielleicht werde ich sogar fühlen, wie der Heilige Geist über mich kommt, dachte Nate. Vielleicht wird meine Seele errettet. Das würde Ma überglücklich machen. Und mich auch.

Aber selbst wenn es dieses Jahr wieder nicht klappen sollte, so schnell würde sie nicht aufgeben. Gideon würde auch predigen, und Nate wusste, dass sein Bruder gut sein würde.

Gideon war fünf Jahre fortgewesen und erst letzten Monat auf die Farm zurückgekehrt. Auf dem Trinity College war er einer der Besten, in der Kirchenklasse sogar Klassenerster gewesen. Danach hatte man ihn gebeten, in einer kleinen Kirche in Randolph County in der Nachbarschaft des College Gottesdienste abzuhalten. Er hatte auch schon ein paarmal gepredigt. Er sei ein aufgehender Stern in der Methodistenkirche, erzählte seine Mutter jedem, der es hören wollte. Er war berufen. Seit jeher hatte sie davon geträumt, und nun sollte es wahr werden, dank der Gnade Gottes. Nate war auf Gideon fast ebenso stolz wie seine Mutter. Er hatte seinen älteren Bruder immer bewundert, hatte sich gewünscht, genauso gut auszusehen und genauso sicher zu wissen, was er machen sollte.

Aber seitdem er »Richardson’s Rich« verkaufte, fühlte er, dass er auf dem richtigen Weg war. Er war zwar nicht so großartig wie der von Gideon, aber Christus rief eben nicht jeden. Und obendrein gefiel Nate, was er tat.

Und er sang gern. Warum also stand er noch hier unter den Bäumen herum, wenn er sich die Musik des Nachmittag-Gottesdienstes anhören konnte. Während er loslief, kamen ihm schon die ersten Töne über die Lippen:

Rock of Ages, cleft for me ...

Die Lieder, die er so gern hörte, sollten Nate ins Verderben führen. Am Abend lauschte er der besten Predigt, die er je gehört hatte.

Reverend Dan Gaskins war genauso, wie die Leute behauptet hatten. Einen Augenblick lang, als der Prediger mit blitzenden Augen und donnernder Stimme dastand, fühlte Nate, wie ihn die Last seiner Sünden niederdrückte und er auf die Stimme Gottes wartete, die ihn zur Rechenschaft und Erlösung rief. Doch nichts dergleichen geschah.

Plötzlich senkte der Reverend die Stimme, und in dem großen Zelt mit den Hunderten von Menschen wurde es ganz still. »Meine Brüder und Schwestern«, sagte Gaskins sanft, »ich möchte euch einen gesegneten Moment aus meinem Leben schildern, und ich weiß, dass ihr ihn euch in euren Herzen ausmalen werdet. Stellt euch also meine geliebte Ehefrau vor, wie sie unter Schmerzen – und die Mütter unter euch kennen diese glorreiche und entsetzliche Qual besser als ich – das wundersame Werk vollendet, eine neue Seele auf die Welt zu bringen. Nachdem sie unser Kind geboren hatte, rief sie mich zu sich, und ich erkannte, dass ihr zarter Körper zu schwach war, um zu überleben. Aber der Heilige Geist war in ihr, und ihr liebes Gesicht leuchtete vor Glückseligkeit, während ihr irdisches Dasein verlosch. Ich weinte und flehte sie an weiterzuleben, obwohl es Gottes Wille war, dass sie in ein besseres, ewiges Leben ohne Schmerzen einging.

Mit einer Handbewegung bat sie mich zu schweigen. Und obwohl mein leiderfülltes Herz protestierte, hielt ich inne. In der Stille vernahm ich ein Geräusch, so schwach, dass ich fast meinen Ohren nicht traute. Und dann hauchte mein geliebtes Weib seine letzten Worte. ›Ein Geschenk des Himmels‹, flüsterte sie.

Und dann sah ich das Wunder mit meinen eigenen Augen, das Wunder des Lebens inmitten des Todes, denn in eben diesem Augenblick rief meine kleine Tochter nach mir, deren Name Lily ist, weil sie am Ostersonntag geboren wurde, als die Schönheit der Lilien uns überall umgab.

Ich habe sie gebeten, euch heute zu begrüßen und Zeugnis abzulegen von der Liebe Gottes für euch alle. Hier ist sie und wartet darauf, euch dieses Geschenk zu machen. Ihr müsst nur eure Herzen für sie und ihn öffnen.«

Dan Gaskins trat beiseite – und aus dem Schatten hinter ihm löste sich eine Erscheinung voller Schönheit. Ein Seufzer der Bewunderung ging durch die Menge, und auf tränenüberströmten Gesichtern erschien plötzlich ein glückliches Lächeln.

Die kleine Gestalt war in ein einfaches weißes Faltenkleid mit langen Ärmeln gehüllt. Sie trug keinen Schmuck, doch Lilys lange blonde Locken betonten noch das Ebenmaß ihres Antlitzes. Ihre Haut war so klar wie Buttermilch, und ihre Augen strahlten wie Saphire.

»Sie sieht wie ein Engel aus«, flüsterte Gideon in Nates Ohr.

»Ja«, konnte der nur erwidern. Das Herz wurde ihm schwer, und eine seltsame Erregung ergriff ihn, der er sich nicht erwehren konnte. Er spürte, wie er den Verstand verlor, doch er konnte nicht fliehen. Er war ein Gefangener der Liebe geworden.

Lily breitete die Arme aus, als wolle sie die ganze Gemeinde umfassen. Dann begann sie zu singen, und ihr Sopran war so rein und schön wie ihr Gesicht:

I love to tell the storyOf unseen things aboveOf Jesus and his gloryOf Jesus and his love.I love to tell the storyBecause I know it’s true.It satisfies my longingsAs nothing else can do.

I love to tell the story;More wonderful it seemsThan all the golden fanciesOf all our golden dreams.I love to tell the story;It did so much for me.And that is just the reasonI tell it now to thee.

Nate sank auf der Bank in sich zusammen. Wie konnte er nur wagen, daran zu denken, jemals mit diesem Engel sprechen? Aber er musste sie kennenlernen, mit ihr reden, sie berühren, um festzustellen, ob es sie wirklich gab. Heute war Freitag; das Treffen dauerte noch zwei Tage. Es musste einen Weg geben.

Am Samstag drängte er sich unter die Dutzende junger Männer, die Lily folgten, wo immer sie auftauchte. Sie war zu allen gleich freundlich, schenkte jedem ihr Lächeln, und jedem, der ein paar Worte an sie richtete, lauschte sie voller Aufmerksamkeit, wobei sich ihre vollen roten Lippen leicht öffneten. Der Anblick ihrer kleinen weißen Zähne und ihrer rosa Zunge machten Nate fast verrückt.

Doch er würde sich nicht wie die anderen zum Narren machen, die für sie Limonade holen wollten oder sich als Begleitung zum nächsten Liedersingen oder zur nächsten Gebetsstunde oder wozu auch immer anboten.

Sie nahm zwar die Limonade an und ließ sich auch begleiten, aber die ganze Verehrerschar war stets dabei, wenn sie einem auch nur die Hand auf den Arm legte.

Nate musste mit ihr allein sein. Unbedingt. So hielt er sich abseits. Er war unfähig, ihr fernzubleiben, doch zu stolz, um sich wie die anderen aufzudrängen. Er hoffte nur, dass er nicht ein so bescheuertes Gesicht machte wie die anderen, die aussahen, als hätten sie mit der Schaufel eins zwischen die Augen gekriegt.

Aber er war sich durchaus nicht sicher.

Seine Mutter schalt ihn, als er sich am Samstagabend neben sie setzte. »Du kommst zu spät«, zürnte sie, »und das auch noch bei dem Gottesdienst mit deinem Bruder. Wo warst du denn? Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen, und dabei hättest du so viele Dinge erledigen können.«

»Tut mir leid, Ma«, murmelte er, ohne ihr in die zornigen Augen zu sehen. Er beobachtete die Bühne und fragte sich, ob Lily wohl noch einmal singen würde.

Er versuchte, Reverend Gaskins Predigt zu folgen, doch er bekam kein einziges Wort mit. Gestern Abend hatte sie unmittelbar danach gesungen.

Doch heute kam sie nicht. Stattdessen trat Gideon auf die Bühne, um eine Mahnrede zu halten. Das war eine alte Tradition in der Kirche. Nach der Predigt über einen Bibeltext folgte der Kommentar eines Laien, der die Botschaft der Predigt noch einmal aufnahm und im Sinne der Gemeinde interpretierte, um sie den Zuhörern auf eine Weise nahezubringen, die dem umherreisenden Prediger verwehrt war, weil er nicht zu ihnen gehörte.

Beim Anblick ihres großgewachsenen, gutaussehenden Sohnes da oben konnte Mary Richardson einen Seufzer der Zufriedenheit nicht unterdrücken. Da stand Gideon in seinem neuen schwarzen Anzug, mit dem makellos weißen Hemd und der perfekt gebundenen blauen Krawatte. Heute Morgen hatte sie ihm noch eigenhändig die dunklen Haare geschnitten und danach aufmerksam zugesehen, wie er sich den hübschen Bart stutzte. Er sah wunderbar aus, wie es einem Gelehrten und Mann Gottes geziemte. Sie setzte sich bequem zurecht. Jetzt kam die Krönung ihres Lebens.

Sie spürte Nate neben sich, doch sie sah ihn nicht an. Sie wusste, was sie erblicken würde, und das gefiel ihr nicht. Sein Haar war mausbraun und immer struppig. Selbst mit der Schere konnte sie es nicht bändigen. Sein Gesicht war so mit Sommersprossen gesprenkelt wie ein Vogelei, und er war zu störrisch, sich einen ordentlichen Bart wachsen zu lassen, um damit wenigstens einige zu verbergen. Nie würde er so groß, so gutaussehend und so begabt wie Gideon sein. Dass er sich nicht vor harter Arbeit drückte und sich immer sehr sauber hielt, war das Einzige, was in ihren Augen für ihn sprach. Er roch ständig nach Seife, und das zumindest war ja einigermaßen gottgefällig.

Gideon begann zu reden, und Panik erfasste sie. Man konnte ihn nicht verstehen.

Doch nach ein paar Sätzen wurde seine Stimme kräftiger, bis sie schließlich mächtig über die aufmerksamen Gesichter vor ihm dahinrollte. Seine Mutter atmete auf.

Nate hörte die Stimme seines Bruders und war verblüfft. Er hatte nicht gewusst, dass Gideon so sprechen konnte. Die Worte spielten keine Rolle; Nate kannte sie ohnehin auswendig. Sein Blick wanderte durch die Reihen der Gläubigen, bis sie vorne an Lily hängenblieben, die mit emporgewandtem Gesicht seinem Bruder zuhörte. Vielleicht wusste sie nicht, dass er sein Bruder war, vielleicht hätte es sie beeindruckt; aber da sie die Tochter eines Reverend war, interessierte sie sich vielleicht nur für Prediger und nicht für deren Brüder. Nate fühlte sich, als hätte ihn eine Faust in die Brust getroffen.

Aber nein, er hatte keinen Grund, auf seinen Bruder eifersüchtig zu sein. Gideon war alt – immerhin schon fünfundzwanzig – und ging ganz in seiner Kirchenarbeit auf. Aus Mädchen machte er sich nichts, bereits seit seiner Zeit auf dem College nicht. Und er war hier auch nie um Lily herumscharwenzelt. Nate konnte jeden einzelnen beim Namen nennen, der ihr hier gefolgt war, wusste, was jeder zu ihr gesagt und was sie geantwortet hatte ...

Als er Gideon nach dem Gottesdienst beglückwünschte, tat er dies aus ganzem Herzen. Danach machte er sich davon, so dass die Mutter am Arm seines Bruders umherstolzieren und die Bewunderung aller entgegennehmen konnte.

Nate sah sich nach Lily um, aber sie war nirgends zu sehen. Er ging ins Bett. Seine alten Freunde zu treffen ergab keinen Sinn, jetzt, da sie alle seine Feinde, seine Rivalen waren. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen.

Am Sonntagmorgen war er so aufgeregt, dass er sich beim Rasieren schnitt.

Seine Tante Alva lachte leise, als sie ihn zum Frühstückszelt aufbrechen sah. »Komm her und lass dir das Kinn abwischen, du blutest ja immer noch. Armer Nate. So ein Häufchen Elend hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Warum hast du dir nicht gleich die Kehle durchgeschnitten und es hinter dich gebracht?«

»Sieht man es so deutlich, Alva?«

»Ich fürchte ja, mein Lieber.« Ihre Stimme klang sanft, als sie ihn mit einer leichten Berührung säuberte. Nate hätte sie am liebsten geküsst, weil sie so nett war. Alva war der mitfühlendste Mensch, den er kannte, und er liebte sie. Sie war es gewesen, die ihn in die Geheimnisse zwischen Männern und Frauen eingeführt hatte, die ihm beigebracht hatte, wie man eine Frau und zugleich sich selbst glücklich macht. Sie war seine erste Liebe, als er gerade dreizehn war und noch nicht wusste, was er mit seinem Körper anfangen konnte.

Sie hatte ihn sogar gelehrt, dass die heftige Liebe, die er für sie empfand, nicht das war, wofür er es hielt. »Dafür bringe ich Onkel Josh um«, hatte er damals geschworen, als er die blauen Flecken in ihrem Gesicht entdeckt hatte. »Dann kannst du mich heiraten, und wir werden für immer zusammenbleiben und glücklich sein.«

Das würden sie nicht, hatte sie erwidert und ihm auch erklärt, weshalb. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, er war noch ein Junge, und es war besser, wenn er noch eine Weile wartete und sich erst einmal umsah in der Welt, ehe er sich an eine Frau band. Außerdem würde er bald herausfinden, dass körperliche Liebe nicht alles im Leben war. Der Reiz des Neuen würde bald verblassen. »Dann kann es immer noch sehr angenehm sein, und ich werde dich immer gern in meinem Bett empfangen, weil ich dir schließlich beigebracht habe, wie ich es gerne mag – aber angenehm ist nicht gut genug. Es gibt noch viel mehr. Und du solltest dich nur mit dem Besten zufriedengeben. Du bist ein Mann, und die Welt hält für einen Mann Möglichkeiten bereit, die eine Frau niemals bekommt.«

Nate stritt mit ihr, versprach, dass er nie an eine andere denken, geschweige denn eine andere ansehen werde.

Aber natürlich behielt Alva Recht. Mit ihren neunzehn war sie nur sechs Jahre älter als er, doch schon damals besaß sie weibliche Klugheit, wie Nate im Laufe der Zeit erkannte.

Wenige Tage nach jenem Gespräch mit Alva hatte Nates Vater das Haus verlassen. Kaum war Gideon am Trinity College angenommen worden, eröffnete Ezekiel Richardson seiner Familie, dass er fortgehen werde. »Ich brauche noch etwas Freiheit, bevor ich sterbe«, sagte er. »Du bist jetzt das Familienoberhaupt, Nate. Gideon könnte das nie sein, aber du kannst es.«

Danach gab es für Nate viel zu viel zu tun, um Zeit für Alva zu finden. Er hatte nicht einmal Zeit für sich selbst. Sein Onkel arbeitete zwar auch, aber mit seinem Holzbein und seiner Launenhaftigkeit konnte er kaum die Farm leiten. Zudem hatte die Hälfte des Landes Nates Vater gehört, und das war jetzt seines. Und es war nicht seine Art, Dinge, die ihm gehörten, anderen zu überlassen. Joshua fügte sich; auf Verantwortung war er nicht erpicht.

Die folgenden fünf Jahre waren wie im Fluge vergangen. Nate konnte sich bald kaum mehr an die Zeit erinnern, als er noch nicht Familienoberhaupt gewesen war. Er war jetzt ein erwachsener Mann. Zumindest glaubte er das – bis ihm Lily Gaskins das Gefühl gab, wieder ein tapsiger, dummer Junge zu sein.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll, Alva. Heute ist der letzte Tag des Treffens, und ich werde verrückt, wenn wir morgen abreisen, und ich habe nicht mit Lily gesprochen und sie meinen Namen sagen hören.«

Alva hielt sein Kinn fest und sah ihm in die Augen. »Sie ist nicht irgendeine einsame Ehefrau. Das weißt du, Nate.«

Er erstarrte. Die Anspielung auf andere Frauen ärgerte ihn. »Ich weiß, was sie ist, Alva, und ich würde ihr nicht ein Härchen krümmen. Ich möchte, dass sie meine Frau wird.«

Alva wollte etwas erwidern, doch dann sah sie den Blick in seinen Augen und ließ es. Stattdessen küsste sie ihn auf die Wange und gab sein Kinn frei. »Komm mit mir, Nate. Die jungen Mädchen kümmern sich um die Kleinen, während sich die Mütter zum Frühstück mit anschließender Gebetsstunde treffen. Zufällig hat Lily meine Susan bekommen. Ich nehme sie ihr wieder ab, und du kannst mit Lily einen Spaziergang machen.«

»Oh, Alva, ich ...«

»Sei still, und komm jetzt. Wenn du zu viel nachdenkst, bringst du gleich kein Wort heraus.«

Doch genauso kam es. Alva scheuchte die beiden so rasch davon, dass Nate kaum hallo sagen konnte, als er Lily vorgestellt wurde. Und als er neben ihr ging, wusste er erst recht nicht, was er sagen sollte. Ihre Nähe lähmte ihn. Sie kam ihm jetzt noch schöner vor, und sie duftete wie alle Blumen dieser Welt.

Er ging auf den Kiefernwald zu, wo man sie nicht sehen konnte.

Lily ging neben ihm, ohne ein Wort zu sagen.

Plötzlich legte sie ihm eine Hand auf den Arm. Nate stockte der Atem. »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie. »Nathaniel Richardson.«

»Wirklich?« Ihm schwanden die Sinne.

Sie neigte den Kopf und sah ihn durch ihre Wimpern an. »Sie sind der Bursche, der mich am Freitag angestarrt hat und dann auf der Stelle davongelaufen ist. Also, das macht ein Mädchen nicht gerade glücklich. Bin ich denn wirklich ein so scheußlicher Anblick? Und jetzt rennen Sie schon wieder so schnell, dass ich kaum mitkomme.«

»Oh, nein«, rief er. »Nein«, fügte er leiser hinzu, »Miss Gaskins, Sie sind das schönste Mädchen der Welt. Ich weiß es, seit ich Sie das erste Mal gesehen habe.«

Sie lächelte. »Das ist schon besser. Nun lassen Sie uns unter die Bäume gehen, wo wir etwas Schatten bekommen.« Sie fasste ihn beim Ellbogen. Ihr Kopf reichte ihm gerade bis zur Schulter. Nate war bereit, sie vor der ganzen Welt zu beschützen. Er fragte sich, ob er ihr das erzählen sollte und ob sie vielleicht darüber lachen würde. Er würde sich umbringen, wenn sie es tat.

»Sie geben mir so ein Gefühl der Geborgenheit, Nathaniel – ich darf Sie doch so nennen, oder? ›Mr. Richardson‹ klingt so nach einem alten Mann. Sie müssen mich natürlich ›Lily‹ nennen, wenn ich ›Nathaniel‹ zu Ihnen sagen darf. Allerdings nicht vor anderen Leuten. Mein Vater würde Sie für unverschämt halten und Ihnen die Seele aus dem Leib prügeln.« Sie umfasste seinen Arm. »Oh, ich liebe es, gegen Regeln zu verstoßen. Sie auch?« Als sie zu ihm emporsah, lag ihr Gesicht an seinem Arm.

Ihre geöffneten Lippen waren feucht und einladend, ihre Nähe betäubte ihn. Nate hatte völlig den Kopf verloren. Er griff in ihr volles Haar und barg ihren Hinterkopf in seiner Hand. Ein Parfümnebel stieg auf, und er atmete ihn tief ein. So fühlte man sich wohl, wenn man berauscht war. Alles war unwichtig – außer diesem schwindelerregenden Zauber. Er konnte nicht sagen, was er empfand, aber er konnte es ihr zeigen. Er zog sie an sich und küsste sie. Ihre Lippen waren weich, ihr Atem war süß, ihre Brüste pressten sich warm und fest an seinen Körper.

»Nein«, sagte Lily, und ihre Lippen sandten Feuerstürme durch seinen Leib. Doch das Wort schnitt wie ein Schwert durch die Flammen. Er war ein Schurke, wie konnte er ihr so etwas antun? Er riss sich los.

»Verzeihen Sie mir«, stammelte er. »Nein, das ist zu viel verlangt. Ich bin der Niedrigste der Niedrigen. Sie müssen mich verachten.« Er warf sich auf die Knie und beugte den Kopf. »Ich bin nicht wert, den Boden unter Ihren Füßen zu küssen. Aber ich liebe Sie so sehr. Das ist die einzige Entschuldigung, die ich habe. Ich liebe Sie so sehr, dass ich verrückt werde.«

Lily stieß ihn mit ihrem Schuh an. »Oh, stehen Sie auf, Nathaniel, Sie machen sich ganz schmutzig. Und obendrein machen Sie uns beide zu Narren.«

Er hob den Kopf und sah sie voller Scham mit Tränen in den Augen an. »Heißt das, Sie vergeben mir?«

»Nur, wenn Sie aufstehen.«

Nates Herz klopfte vor Freude; ihm klangen die Ohren. Er nahm den Saum ihres Kleides und küsste ihn. Lächelnd sah er wieder zu ihr auf. »Ich habe gehört, dass ein Mann das tut, wenn er eine Frau um die Ehe bittet«, sagte er. »Wann kann ich mit deinem Vater über die Heirat reden?«

Lily reichte ihm ihre Hand. »Steh auf, Nathaniel. Ich werde dich nicht heiraten, und das weißt du genau.«

Er übersah ihre Hand, als er auf die Füße kam. »Aber du musst«, platzte er heraus. »Ich liebe dich, ich werde dich lieben, solange ich lebe.«

Ganz langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich bin geschmeichelt, Nathaniel, wirklich, und ich danke dir. Aber wenn ich jeden Mann heiraten würde, der mir seine Liebe erklärt, dann würde das Zelt für die Hochzeiten nicht ausreichen. Außerdem werde ich deinen Bruder heiraten.«

»Gideon? Du bist Gideon versprochen? Davon hat er nie etwas erzählt.«

»Er weiß es noch nicht. Aber mein Vater meint, er sei genau der Richtige. Gideon hat eine große Zukunft vor sich. Die Kirchenoberen beobachten ihn schon seit einiger Zeit.«

Nate stolperte einen Schritt zurück. Er konnte nicht glauben, was er da hörte.

»Sieh mich nicht so an«, sagte Lily scharf. »Du führst dich plötzlich wie ein kleiner Junge auf. Sei vernünftig. Ich bin sechzehn, Nathaniel, und mein ganzes Leben mit meinem Daddy herumgereist. Eine Kirche nach der anderen, ein Lagertreffen nach dem anderen. Es wird höchste Zeit, dass ich heirate. Ich bin es sterbensleid, immer wieder bei anderen Leuten wohnen und mich hinterher auch noch dafür bedanken zu müssen. Und ich will nie wieder ein Zelt von innen sehen. Ich möchte ein Heim und einen Garten voller Blumen und einen Platz, wo ich meine Kleider aufhängen kann.«

»Ich kann dir ein Heim geben.«

»Was für ein Heim? Ein Bauernhaus, von dem die Farbe abgeblättert ist? Meilenweit niemand, mit dem man sich unterhalten kann, und der Höhepunkt des Jahres ist das Lagertreffen? Nein, danke. Ich will ein Pfarrhaus in einer netten Stadt mit richtigen Geschäften und Leuten, die besonders aufmerksam zu mir sind, weil ich die Frau des Pfarrers bin. Ich möchte mit einem hübschen Sonnenschirm spazieren gehen und nach rechts und links grüßen und alle Leute mit Namen kennen.«

Darauf wusste er nichts zu antworten. »Aber ... Gideon ist nicht interessiert an einer Heirat«, sagte er schließlich verzweifelt.

Lilys Lippen verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln. »Ich werde sein Interesse schon wecken«, sagte sie. Sie trat einen Schritt auf Nate zu. »Jetzt darfst du mich noch einmal zum Abschied küssen. Und wenn du Gideon auch nur ein Wort erzählst, werde ich sagen, dass du lügst. Um die Wahrheit zu sagen, du gefällst mir deutlich besser als dein Bruder. Ich wünschte mir, du wärst der Richtige. Ich bin sicher, er küsst nicht halb so gut wie du. Es hat mir gefallen, als du mich geküsst hast, Nathaniel. Tu’s noch einmal, dann müssen wir gehen.«

»Nein. Geh nicht.« Nates Hände umschlossen ihre Taille, wie er es sich erträumt hatte, und er hob sie hoch, um sie lang und heftig zu küssen. Er spürte, wie sie zitterte.

Als der Kuss vorüber war, hielt er sie weiter fest. »Heirate mich, Lily. Ich verspreche dir, eines Tages bin ich ein reicher Mann. Ich werde es zu was bringen.«

Er setzte sie auf die Erde. »Heirate mich«, bat er. Ihr Kuss hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Er legte seine großen Hände um ihre Brüste. »Ich liebe dich«, stöhnte er. Seine Hände und sein übriger Körper schienen zu brennen. Lily stieß einen kleinen Schrei aus.

»Lass mich gehen. Du bist schrecklich.« Sie begann zu weinen.

Nate wich zurück. Scham und Schuld erfüllte ihn. Seine Hände führten offensichtlich ein Eigenleben. Sie hatten den Engel befleckt, und sie wollten mehr. Nate ballte sie zu Fäusten und drosch damit, so fest er konnte, auf den nächsten Baum ein. Wieder und wieder. Er spürte, dass Lily ihn am Arm zog, doch er beachtete sie nicht. Erst als er merkte, dass Blut über seine Hände rann, hielt er inne. Die Hände brauchte er zum Arbeiten. Er hörte, wie Lily davonlief.

Seiner Familie erzählte er, dass ein Hund ihn angefallen habe. Alva verband ihn.

Später am Tag eilte Gideon zu seiner Mutter und eröffnete ihr, dass Reverend Dan Gaskins mit ihm sprechen wolle: Ob Gideon Lust habe, eine Probezeit als Wanderprediger bei ihm zu beginnen. »Ich werde mit ihm überall hingehen, Ma, und ich werde von ihm lernen. Er wird mich führen, wo ich Hilfe brauche, Ma. Ich fühle mich so geehrt, dass ich kaum weiß, was ich tun soll.«

Nate schloss die Augen. Er wünschte, er wäre tot.

2. Kapitel

Fünf Jahre später: 24. August 1880

Chess sah in der Ferne einen Mann die staubige Straße entlang auf sie zukommen. Kein Zweifel, er war ein Fremder. Hier auf dem Lande kannte jeder jeden. Aber dies hier schien obendrein noch ein unangenehmer Fremder zu sein, der in der brütenden Hitze einen schwarzen Anzug und einen dunklen Stadthut trug. Sie neigte den Kopf, so dass die breite Krempe ihres Strohhutes die blendenden Strahlen der tiefstehenden Sonne abhielt. Sie fühlte sich besser, wenn sie jemanden sah, der noch mehr schwitzte als sie. Schweißperlen rannen ihren Nacken hinab.

Blinzelnd hob sie wieder den Kopf. Wer war bloß dieser Mann? Fremde kamen selten hierher, schon gar nicht zu Fuß. Selbst der ärmste Pächter hatte einen Karren und ein Maultier. Der Mann war jetzt schon ziemlich nahe. Sie konnte die Form seines Koffers erkennen, aber es war gar kein Koffer, sondern eine Arzttasche. Hatte der alte Dr. Murchison jemanden geholt, der ihm helfen sollte? Das wäre ein Segen. Er war so alt, dass Chess auf ihrer Plantage inzwischen fast alle allein verarztete. Eine Schnittwunde konnte sie so gut nähen wie er, wenn nicht gar besser, weil sie wenigstens sah, was sie tat, während Dr. Murchisons Augen wegen seines hohen Alters schon ganz milchig waren. Sie betete oft, dass er wenigstens wusste, was er in die Arzneien für die Kinder rührte.

Chess gab sich einen Ruck. Was trödelte sie hier eigentlich herum? Der Fremde ging sie nichts an, und außerdem war es schon spät. Die Reinigung der Quelle hatte länger gedauert als erwartet, obwohl sie die ganze Zeit im Schlamm gestanden und die Arbeiter angewiesen hatte, was sie tun sollten. Chess betrachtete ihren schmutzigen Overall und ihre Stiefel. Sie brauchte jetzt ein kühles Bad und eine Haarwäsche. Sie hatte ihre Locken zwar unter den Hut gesteckt, aber sie war sicher, dass sie auch ein paar Schlammspritzer abbekommen hatten.

Sie schlug mit den Zügeln auf das Hinterteil des Maultiers. Du bist genauso faul und nichtsnutzig wie alle anderen Viecher an diesem gottverlassenen Ort, dachte sie. Aber bring mich jetzt wenigstens nach Hause. Ich habe noch so viel zu erledigen. Das Maultier machte ein paar schnellere Schritte, dann fiel es wieder in seinen alten Trott. Chess beugte sich vor und verpasste seinem Rücken einen ordentlichen Hieb mit einer einstmals eleganten, aber inzwischen abgewetzten Reitpeitsche. Der Wagen schwankte und holperte, als das erschreckte Tier plötzlich zu laufen anfing. Chess hob das Kinn, um die Luft auf ihrem erhitzten Gesicht zu spüren.

Jetzt sah sie, dass der fremde Doktor barfuß war. Er hatte die Schuhbänder zusammengeknotet und sich die Stiefel um den Hals gehängt. »Das muss ja ein feiner Arzt sein«, dachte Chess verächtlich, »wenn er sich nicht mal neue Sohlen leisten kann. Dann passt er ja prima zu dem alten Murchison.« Sie zog an den Zügeln, damit das Maultier vor dem offenen, rostigen Tor langsamer wurde.

Als sie in die Einfahrt einbog, fing der Fremde an zu rennen. »He, Mister!«, rief er. »Warten Sie bitte.«

Chess hielt an. Sie wandte sich auf dem Sitz um und blickte dem Fremden entgegen. Die Stiefel schlugen im Rhythmus seiner Schritte gegen seinen Oberkörper. Zu den Staubwölkchen, die bei jedem Aufschlag der Stiefel aufstiegen, passten die kleinen Staubfontänen, die seine Füße aufwirbelten. Wie viel Energie er hatte. Er stammte ganz entschieden nicht aus diesem trostlosen Teil der Welt.

Als er den Wagen erreichte, war er nicht einmal außer Atem. »Sie sind die erste Menschenseele, die mir seit fast einer Stunde begegnet«, sagte er lächelnd. »Wo finde ich denn die Farm der Standishs? Bin ich schon dran vorbei?«

»Das hier ist Harefields«, erwiderte Chess und machte eine Geste mit der Peitsche. Zwei steinerne Hasen kauerten auf den Ziegelpfosten, die zu beiden Seiten der Einfahrt standen.

Während der Fremde die Pfosten betrachtete, nahm Chess den Neuankömmling in Augenschein. Er war glattrasiert und unterschied sich damit von den meisten Männern, die sie kannte und die stolz auf ihre Bärte waren. Es gab ihm das Aussehen eines Jungen. Aber er war durchaus kein Junge. Er hatte breite Schultern, und seine muskulösen Arme sprengten fast die Nähte seiner staubigen Jacke. Staub bedeckte auch sein sonnengebräuntes Gesicht und klebte in seinen dunklen Augenbrauen. Sein Hemd hatte keinen Kragen, und der obere Knopf stand offen. Chess konnte seinen kräftigen, schmutzigen Hals sehen und die feuchte, staubfreie Stelle, die der Schweiß an seiner Kehle gebildet hatte.

Mit einem Grinsen wandte er sich ihr zu. »Ja, man hat mir gesagt, ich solle auf zwei Hasen achten. Wie weit ist’s bis zum Haus? Kann ich mit Ihnen fahren?« Ohne eine Antwort abzuwarten, warf er seine Tasche auf den Wagen neben die schlammbedeckten Schaufeln, trat auf eine Speiche, um den Sitz zu erreichen und hockte sich neben Chess.

Sie war so verblüfft über seine lässige, unbekümmerte Art, dass es ihr für einen Augenblick die Sprache verschlug.

Ganz anders der Fremde. »Ein langer Weg von Richmond hierher bei diesem heißen und trockenen Wetter«, bemerkte er. Ächzend reckte er sich, und dann verschwand sein Lächeln. »Jesses«, flüsterte er, »Sie sind ja gar kein Mister.« Das Grinsen kehrte zurück. »Tut mir leid, Ma’am. Aus der Entfernung ...« Höflich zog er den Hut, und dann setzte er ihn wieder auf, wobei er ihn weiter zurückschob. Chess starrte auf den roten Rand, den das Hutband auf seiner Stirn hinterlassen hatte. Geschah ihm recht. »Mister« – also wirklich!

»Wie heißen Sie, und was wollen Sie?«, fragte sie.

»Mein Name ist Nate. Nathaniel Richardson. Und ich bin den ganzen Weg von Alamance County in North Carolina gekommen, um Mr. Augustus Standish zu treffen.« Seine Ankündigung klang so, als erwarte er dafür ihren Beifall, dachte Chess, oder als nehme er an, sie wüsste nicht, dass North Carolina der südliche Nachbarstaat von Virginia war, wo sie lebte. Für wie dumm hielt er sie eigentlich? Und warum zeigte er ihr bei seinem breiten Grinsen so aufdringlich seine großen weißen Zähne?

»Ich vermute, Sie halten mich für den dümmsten Kerl auf Erden, Ma’am«, fuhr Nate fort, »dass ich Sie mit einem Mann verwechselt habe.« Er schüttelte langsam den Kopf und machte ein reuiges Gesicht. »Meine Ma sagt, ich springe immer los, ohne zu wissen, wo ich lande.«

Aber in diesem Overall sah sie wirklich wie ein Mann aus, dachte er bei sich. Selbst aus der Nähe noch, mit der flachen Brust und dem harten Kinn, das nur ein wenig zu klein war. Wenn da nicht die lange helle Haarflechte gewesen wäre, die unter ihrem Hut herausfiel, hätte er sie immer noch für einen hageren, kränklichen Mann gehalten, mit diesen hohlen Wangen und der langen, messerscharfen Nase. Sie sah wirklich sehr blass aus.

Offensichtlich war sie sauer, aber nur sie konnte ihm ein paar Auskünfte geben. Also musste er zusehen, wie er sich aus dem Schlamassel wieder herausredete.

Er schlug sich vor die Brust. »Bin so froh, dass Sie’s mir nicht übelnehmen. Und Sie werden sehen, ich kann auch durchaus höflich sein.« Er lächelte wieder, um ihr ebenfalls ein Lächeln zu entlocken.

Aber Chess stand der Sinn schon lange nicht mehr nach Fröhlichkeit. »Bis zum Haus sind’s drei Meilen«, sagte sie, »und außerdem sind Sie ja schon aufgestiegen.« Sie schnalzte und zog an den Zügeln. Nates Lächeln verging. Steif wie ein Brett saß sie neben ihm und sah starr geradeaus. Er blickte von einer Seite zur anderen und überlegte, wie er weitermachen sollte. Das Land war gut bestellt, die Felder brauchten allerdings bald Regen. In einiger Entfernung standen hier und da ein paar verwitterte Hütten. Er entdeckte spielende Kinder und eine Frau, die Wäsche von der Leine nahm. Aber wo waren die Männer?

Er fragte seine Begleiterin.

»Sind alle bei der Quelle gewesen und haben das Bachbett freigelegt«, antwortete Chess. »Jetzt wird’s genug Wasser geben, um die Maisernte zu retten, selbst wenn es nicht regnen sollte.« Nate warf einen Blick auf ihre schmutzigen Stiefel. Nun wurde ihm manches klar. Sie musste die Männerarbeit erledigen, weil sie keinen Ehemann hatte. Eigentlich hätte sie wenigstens einen Bruder haben sollen, aber im Krieg gegen die Yankees waren so viele Männer gefallen, dass jetzt die Frauen die ganze Arbeit machen mussten. Armes Ding. Kein Wunder, dass sie so mürrisch war.

Er streckte die Beine aus. Es war gut, nicht mehr laufen zu müssen und dem Ziel so nahe zu sein. Endlich. Erwartungsvoll beugte er sich vor.

Er ahnte nicht, welche Wirkung er auf seine Nachbarin hatte. Chess fühlte sich beengt. Doch es war nicht so sehr sein Körper, der sie bedrängte – er war schließlich nicht sehr groß. Es war vielmehr die Vitalität, die von ihm ausging; diese Energie, die er ausstrahlte, diese Hitze. Diese Mischung aus Schweiß, Staub und Kampfer, die er bei jeder kleinen Bewegung verströmte, mit der er den Wagen voranzutreiben schien. Seine Stimme klang voller, sein Lächeln war breiter, seine blauen Augen strahlten heller, als sie es von anderen Männern kannte. Er irritierte sie.

Die Welt, in der sie lebte, war durchaus nicht so leer und trostlos, wie Chess dachte; Land und Leute waren nur müde. Dabei war Tidewater Virginia immer ein hübscher, beschaulicher Fleck Erde an den weiten Wassern des James River gewesen. Eine großzügige Region voller Reichtum und Schönheit, in der man die Gastfreundschaft hochhielt und wo gefeiert, getanzt und gejagt wurde, wo man sich duellierte und Sklaven auf leisen Sohlen einem jeden Wunsch erfüllten.

Doch im Krieg war dieses Leben abrupt und blutig zu Ende gegangen. Fünfzehn Jahre waren seither vergangen, aber die Wunden waren noch nicht geheilt. Nichts war an die Stelle der alten, eleganten Welt getreten, an die sich alle noch so gut erinnerten. Trauer lag über dem Land, und Hoffnungslosigkeit lähmte die Schritte der Überlebenden. Es war eine Welt der Vergeblichkeit und der Vergangenheit, aber keine Welt der Gegenwart.

Doch dieser barfüßige Doktor war sehr wohl ein Mann der Gegenwart. Er stammte nicht von hier; das bewies schon sein schlechtsitzender, schäbiger Anzug. Jemand aus ihrer Gegend hätte sich auch nie so dreist benommen und sich längst von ihren knappen Antworten und ihrem Schweigen einschüchtern lassen. Sie war noch nie einem Mann wie ihm begegnet. Er war ungehobelt, ein einfacher Bursche, aber es war ihm egal. Er war mit sich im Reinen. Inmitten dieser erstorbenen Gegend verströmte er Wärme und Vitalität. Das verunsicherte sie. Und es rührte etwas in ihr auf, das verkümmert war, aber dennoch leben wollte.

»Ja, Ma’am«, sagte er nun, »es gibt nichts Besseres als Regen, um einen Menschen wieder aufzurichten. In Amalance County waren wir letzten Monat alle ziemlich verzweifelt. Dann fing es schließlich an zu regnen, und die Welt war plötzlich wie neu.« Nate wartete auf eine Antwort, doch es kam keine.

»Der Mais hier sieht sehr ordentlich aus«, fuhr er fort, »ein bisschen Wasser, und es gibt eine gute Ernte. War sicher richtig, den Wasserlauf der Quelle wieder in Ordnung zu bringen.«

Chess nickte schweigend.

Nate blickte nach vorn. Die staubigen, trockenen Wagenspuren schienen endlos, aber ihm war klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Er wandte sich ihr wieder zu. »Hören Sie«, sagte er mit einem gezwungenen Lachen. »Es tut mir leid, wenn ich Sie erzürnt habe. Das meine ich ernst. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie’s vergessen könnten und mir helfen würden. Ich habe diesen Mr. Standish noch nie gesehen, nur ein paar Gerüchte über ihn gehört. Sie könnten mir sagen, welche stimmen und welche falsch sind. Ich möchte bei ihm nicht gleich wieder ins Fettnäpfchen treten.«

Chess wandte sich ihm zu. Nate sah, dass ihr Gesicht noch blasser als vorher war. Selbst ihre Augen waren blass. Die dunklen Ringe, die sie umgaben, ließen ihr Grau noch heller erscheinen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals graue Augen gesehen zu haben. Sie waren so klar, dass er wie durch Wasser durch sie hindurchblicken konnte. Doch er konnte nicht erkennen, was dahinter lag. Er hatte keine Ahnung, was im Kopf dieser stillen, blassen Frau vorging.

»Was wollen Sie wissen?« fragte sie.

Immerhin sprach sie jetzt mit ihm. Nate neigte den Kopf vertraulich zu ihr hinüber. »Ist der alte Standish wirklich so schlau, wie man sagt? Ich habe gehört, dass er aus einem Haufen Drähte und Räder eine Winde bauen kann, die einen Eimer fast wie von selbst aus einem Brunnen holt. Oder dass er daraus eine Uhr zusammensetzt, die man nur einmal im Jahr aufziehen muss. Oder einen Apparat baut, der Erbsen pflanzt, Erbsen pflückt, Erbsen schält und sie sogar kocht.« Vor lauter Aufregung war seine Stimme immer lauter geworden, seine Wangen glühten.

Er schlug die großen Hände zusammen. Chess erschrak, doch er bemerkte es nicht. »Einige Leute haben mir erzählt, dass dieser alte Mann jedes Problem lösen kann. Dass er alle möglichen Dinge erfindet, dass er eine Art Zauberer ist. Stimmt das?« Sein Gesicht glänzte erwartungsvoll, die Hände hatte er zusammengepresst.

Chess konnte die Energie spüren, die in ihm pulsierte, und die Kraft, mit der er sie ihm Zaum hielt. Sie sah auf seine Hände, dann blickte sie rasch weg.

»Er ist ein Erfinder, das stimmt schon«, erwiderte sie, »aber kein Zauberer. Er hat zwei Jahre damit zugebracht, eine Regenmaschine zu bauen, und Sie sehen ja, was daraus geworden ist.« Damit wollte sie ihn eigentlich ein wenig beruhigen.

Nate schüttelte heftig den Kopf. »Verstehen Sie denn nicht«, schrie er fast. »Bei niemandem klappt es gleich beim ersten Mal oder jedes Mal. Aber wenn es zwei- oder dreimal hinhaut – oder auch nur ein einziges Mal –, das reicht schon für das Leben eines Mannes. Etwas zu machen, was keiner vorher geschafft hat, sich ein Ding auszudenken, das es nie zuvor gegeben hat ...« Er brach ab, unfähig, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben.

Chess vergaß ihre Beklemmung. »Was wollen Sie erfinden, Mr. Richardson?« Ihre Neugier war stärker.

»Das liegt mir nicht«, erwiderte er. »Ich bin ein Macher, kein Denker. Aber ich würde gerne ... ach, nichts. Ich muss mit dem alten Standish über eine Maschine sprechen, von der ich gehört habe. Meinen Sie, er wird mitmachen? Ich weiß, dass er ein verrücktes Huhn ist. Die ganze Familie ist verrückt, aber das wissen Sie besser als ich. Sie kennen sie vermutlich alle ziemlich gut.«

Chess nickte. »Halten Sie sich fest«, sagte sie. »Wir sind gleich da, und das Maultier fängt immer an zu rennen, wenn es seinen Stall riecht.«

Nate bekam noch gerade rechtzeitig eine Seite des Wagens zu fassen.

»Danke für die Warnung«, lachte er, als er im Hof wieder festen Boden unter den Füßen hatte. »Kann ich mich unter der Pumpe waschen, bevor ich nach dem alten Mann sehe? Ich habe Seife dabei.«

»Da drüben«, wies ihm Chess die Richtung.

Während sie das Maultier ausschirrte und es striegelte, warf sie verstohlene Blicke zum Brunnen hinüber. Ihr stockte der Atem, als Nate sein Hemd auszog, es auf den Boden warf und kräftig die Pumpe bewegte. Er beugte sich vor und hielt Kopf und Schultern unter den Wasserstrahl. Sein Oberkörper war erschreckend weiß im Vergleich zu dem sonnengebräunten Gesicht und den Armen. Seine Haut schimmerte unter dem Wasser wie nasse Seide; der Anblick des Seifenschaums ließ Chess aufseufzen. Heftig riss sie sich die Handschuhe von den Fingern. Was war bloß los mit ihr? Sie wollte diesen breiten Rücken berühren, die Muskeln unter ihren Handflächen spüren. Sie wollte noch einmal den Geruch dieses Mannes einsaugen, ehe er ihn ganz weggewaschen hatte, und dann wollte sie den Geschmack der Seife auf seiner Haut mit ihren Lippen aufnehmen. Aber das durfte nicht sein; sie war schockiert. »Du solltest dich schämen«, wies sie sich zurecht. »Sieh ihn nicht an, und denk nicht an solche Dinge.«

Doch sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Chess hatte noch nie den nackten Rücken eines Mannes gesehen, war noch nie in die Versuchung geraten, ihre geheimen Phantasien mit einem realen Wesen zu verbinden. Sie war jetzt dreißig Jahre alt und noch nie umarmt, noch nie geküsst worden, und ihr ganzes Wissen über das, was zwischen Männern und Frauen passieren konnte, stammte aus Büchern. Sie war unvorbereitet auf die Begierden, die sie jetzt plötzlich verwirrten und bestürzten. Bei Alexandre Dumas oder Sir Walter Scott war davon nie die Rede gewesen.

Schwäche überkam sie, als Nate sich umdrehte und sie die dichten feuchtglänzenden Haare auf seiner Brust sah. Sie musste sich abwenden.

Als er sich wenig später die Schuhe zuband, wirkte sie zumindest äußerlich wieder ruhig. Sie führte ihn zu dem »Erfinder-Schuppen«, wobei sie sah, wie sein langer Schatten ihre Schultern streifte und sich dann über den Pfad vor ihr legte. Sie konnte seine Seife und die Stärke in dem Hemd riechen, das er aus seiner Arzttasche genommen hatte.

Sie klopfte kurz an der Schuppentür und öffnete sie. »Caesar, ich bin’s, Chess. Hier ist jemand, der dich sprechen will.«

Der Mann, der zur Tür kam, hatte spärliches weißes Haar und einen krummen Rücken. Aber sein faltiges Gesicht strahlte von jugendlichem Glanz. »Ich bin ganz nahe dran«, sagte er, »ich weiß, dass ich’s fast geschafft habe. Noch ein paar Änderungen ... das Schwungrad muss komplett neugemacht werden, aber das spielt keine Rolle ...« Er blickte über ihre Schulter. »Wer ist das?«

»Ich bin Nathaniel Richardson, Sir, aus North Carolina.« Chess wandte sich zu Nate um. Er wirkte merkwürdig steif, wie eine Wachsfigur. Sie lächelte ihm kurz zu. »Das ›verrückte alte Huhn‹ ist mein Großvater, Mr. Richardson. Augustus Standish.«

Nate wich einen Schritt zurück. Dann kam er wieder zu sich. Aus seiner Kehle löste sich ein tiefes polterndes Lachen. Er legte seine Hände auf Chess’ Schultern und schob sie beiseite. »Mr. Standish, Sir, es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen. Ich bin gekommen, um mit Ihnen über James Bonsack zu reden.«

»Jimmy? Feiner Junge. Gute Familie, ich habe seinen Vater und Großvater gekannt. Treten Sie näher, junger Mann, und erzählen Sie, was Sie auf dem Herzen haben.«

Nate schloss die Tür hinter sich.

Chess war sich fast sicher, dass er ihr zugezwinkert hatte. Und auf ihren Schultern spürte sie noch den Druck seiner Hände. Sie rannte zurück ins Haus.

3. Kapitel

Die Farm lag bereits im sommerlichen Zwielicht, als Mr. Standish und Nate aus der Werkstatt kamen. Nate warf mit dem erfahrenen Auge des Bauern einen Blick auf den Himmel und schätzte, dass es kurz vor sieben war. Er würde sich jetzt bald ein Ruheplätzchen unter den Bäumen an der Straße suchen und sich dann beim Morgengrauen auf den Rückweg nach Richmond machen. Vielleicht gab es ja ein paar Wagen, und einer nahm ihn mit in die Stadt, so dass er nicht wie heute die ganze Strecke laufen musste.

»Sieht so aus, als seien Sie nicht ganz bei Trost«, erwiderte der alte Mann jedoch, als Nate sich von ihm verabschieden wollte. »Sie kriegen was zu essen und ein Bett hier bei uns.«

»Danke, Sir«, erwiderte Nate. Sein leerer Magen hatte sich schon seit Stunden immer wieder gemeldet, aber bis dahin hatte er nicht weiter darauf geachtet. Mr. Standishs Entwürfe und die Unterhaltung mit ihm waren einfach zu faszinierend gewesen. Selbst seine bittere Enttäuschung hatte er für eine Weile vergessen können. Aber nun hatte er wieder einen herben Geschmack im Mund und spürte den Hunger. Doch er musste den Anschein von Fröhlichkeit erwecken. Dabei hätte er sich lieber irgendwo verkrochen und den Mond angeheult.

Beinahe hätte es geklappt – und nun hatte er doch verloren. Es war schlimmer, als er es sich je vorgestellt hatte. Die Maschine, die James Bonsack erfunden hatte, schien wirklich eine Revolution für die Tabakproduktion zu bedeuten; Nate hatte seit Monaten davon gehört. Auch von den Problemen, dass sie vielleicht doch nicht funktionieren würde. Aber noch aufregender waren die Gerüchte über einen verrückten alten Mann in der Nähe von Richmond gewesen, der eine noch bessere Maschine ersonnen habe. Und das, bevor Bonsack ein Patent angemeldet hatte. Niemand wusste etwas Genaues; es hörte sich alles sehr vage an. Aber wenn die Gerüchte stimmten und er den alten Mann finden und an dessen Patent herankommen konnte, dann hatte er endlich die große Chance, nach der er die vergangenen fünf Jahre gesucht hatte.

Mach dir keine Hoffnungen, hatte er sich immer wieder gesagt. Wahrscheinlich gibt es gar keine Maschine, jedenfalls keine, die besser als Bonsacks ist. Vielleicht gab es nicht einmal einen verrückten alten Kerl namens Standish in der Nähe von Richmond. Wenn etwas zu schön klingt, um wahr zu sein, dann ist es meist auch nicht wahr.

Aber seine Träume ließen ihn nicht los. Noch als er sich von Richmond aus auf den stundenlangen Weg gemacht hatte, überlegte er unentwegt, wie er die Maschine des alten Mannes am besten nutzen und wie er ihm das Patent abschwatzen konnte.

Mr. Standish hatte ihn ein ums andere Mal verblüfft. Das erste Mal, als er ihn so herzlich begrüßt hatte. Ein Mann von einer kleinen Farm mitten in North Carolina konnte nicht damit rechnen, so von einem alten Herrn behandelt zu werden, dessen Ländereien so groß waren, dass die Einfahrt drei Meilen vom Haus entfernt lag.

Dann hatte sich der Alte auch noch für Nates Ideen und seine Geschichte und seine Zukunftspläne interessiert. Nate hatte mit Mr. Standish geredet, wie er es noch nie zuvor mit einem Menschen getan hatte. Er hatte ihm Dinge anvertraut, für die er sich früher lieber hätte die Zunge abschneiden lassen.

»Ich glaube, ich kenne Sie jetzt«, hatte Standish anschließend gesagt, »und Sie gefallen mir, Nate Richardson. Ich freue mich, Ihnen zu zeigen, weswegen Sie gekommen sind.«

Dann hatte er aus einem Regal vorsichtig einen Kasten genommen und ein kunstvolles, etwa sechzig Zentimeter breites und ebenso hohes Holzmodell herausgeholt. Das glattpolierte Kiefernholz schimmerte wie altes Gold. Winzige Zahnräder griffen ineinander, über zierliche Rollen liefen schmale Ketten, kleine Gummiriemen und Stoffringe schnurrten lautlos, als er ein Rad in Gang setzte. Es war ein richtiges Kunstwerk.

Es war mehr, als Nate erwartet hatte.

»Jimmy Bonsack?«, sagte Mr. Standish mit einem breiten Lächeln. »Oh ja, ich habe mich oft mit Jimmy unterhalten. Ich kenne ihn, seit er noch ein Lätzchen trug. Ein aufgeweckter Bursche, schon damals. Hatte immer gute Ideen, und das habe ich ihm auch gesagt. Aber ich habe ihm nicht alles gesagt, was ich weiß.« Der alte Mann zwinkerte. »Wie die Köchin, die wir mal hatten. Die gab auch ihre Rezepte gern weiter, aber ein oder zwei Sachen ließ sie immer weg, eine Prise Pfeffer oder so was. Und genau das machte den Unterschied bei einer Soße aus.«

»Hat er das Modell gesehen?«, fragte Nate. Er wäre gern der Einzige gewesen.

»Natürlich. Ich bin ein eitler alter Mann; ich mache gern Eindruck. Gott sei Dank sitzt mein Rheuma in den Knien und nicht in den Fingern. Ich halte mich für den besten Schnitzer seit Grinling Gibbons.«

Der Name sagte Nate nichts, aber er konnte Standishs Stolz verstehen. »Das sind Sie ganz bestimmt«, sagte er aufrichtig. »Darf ich’s mal anfassen?«

»Tut mir leid, mein Sohn, aber das muss ich ablehnen. Es ist zwar ziemlich robust, aber die Ketten und das ganze Zeugs – eine Heidenarbeit, das alles wieder hinzukriegen. Und sie könnten verrutschen, wenn man sie berührt.«

Nate war enttäuscht. Zu gerne hätte er über das glatte Holz gestrichen, an den winzigen Rädern gedreht. Aber schließlich war er nicht zum Spielen hergekommen. Er atmete tief ein. »Ich verstehe nichts von Patenten; aber ich glaube, Sie müssten das Modell an eine Behörde schicken.«

»Oh nein, die sind froh, wenn man’s nicht tut. Dann müssten sie nämlich ihr Gehirn benutzen und überprüfen, wie’s funktioniert. Thomas Jefferson hätte das in einer Minute geschafft, und eine Minute später hätte er’s noch verbessert. Der Mann war der geborene Erfinder, zu schade, dass er seine Zeit damit vergeudet hat, Präsident zu sein ... Also das Patentamt. Die wollen lieber Zeichnungen haben, die Idioten. Nicht dass sie die besser verstünden, aber die können sie besser wegpacken. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich mich mit denen nicht mehr abgebe. Sie haben mir gesagt, meine Modelle nähmen zu viel Platz weg, ich solle ihnen nur die Papierunterlagen schicken.«

Nate schnappte drei Worte aus Mr. Standishs Philippika auf. »Dass Sie sich mit denen nicht mehr abgeben, sagten Sie. Heißt das, dass Sie nie ein Patent bekommen haben?«

»Nein, verdammt noch mal!«