Virginia und der ehescheue Graf - Barbara Cartland - E-Book

Virginia und der ehescheue Graf E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Zum ersten Mal ist der gutaussehende, selbstsichere Earl von Helstone richtiggehend überrascht. Die junge Dame hatte im Park allem Anschein nach einen furchtbaren Sturz von ihrem Pferd erlitten und der Earl lief ihr zu Hilfe. Doch dann begriff er, dass sie es nur gespielt hatte. Sie stellt sich dem verdutzten Earl als Virginia vor und bittet ihn darum, den Gesellschaften ihrer Mutter fernzubleiben - denn Lady Chevington hatte beschlossen, dass es an der Zeit war ihre sture Tochter mit dem Earl zu verheiraten. Und sie hat einen gerissenen Plan. Doch der Earl ist nur vage amüsiert von Virginias Geschichte - bisher hat es noch keine von Londons Schönheiten geschafft, ihn vor den Altar zu schleppen. Aber vielleicht hat er es diesmal mit einer überlegenen Gegnerin zu tun...

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1838 ~ I

Die Spannung auf dem Newmarket Heath hatte den Siedepunkt erreicht.

Die Pferde bogen in die Zielgerade ein. Die Erde dröhnte unter den wirbelnden Hufen, und ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Reihen der Zuschauer.

Der Favorit, der die blauroten Farben Lord Arkries trug, lag in Führung.

Aber wenige Augenblicke später geschah etwas Sensationelles.

Die Gentlemen, die das Rennen von der Tribüne des Jockey-Clubs aus verfolgten, sahen durch ihre Gläser, wie sich an der Außenseite der Bahn langsam, aber stetig ein anderes Pferd nach vorne schob.

Es bewegte sich leicht und mit einer Sicherheit, die dem Rest des Feldes, der sich jetzt in dichtem Pulk an der Innenseite zusammendrängte, fehlte. Auch die Farben dieses Tieres, orange und schwarz, genossen in der Welt des Reitsports höchstes Ansehen.

Erst im letzten Augenblick erfaßten die Zuschauer, wie gefährlich die Situation für den Favoriten geworden war.

Ein Schrei der Bewunderung brandete auf.

Sekundenlang liefen die beiden Tiere Kopf an Kopf.

Dann streckte sich der Außenseiter und passierte mit einer Länge Vorsprung den Zielpfosten.

Tosender Beifall erscholl.

Lord Arkrie wandte sich verärgert an den Nebenmann: »Verdammt, Helstone! Ich glaube, Sie stehen mit dem Teufel im Bund. Das war mein Rennen!«

Lord Helstone ignorierte den Ausbruch des anderen. Ohne zu antworten, drehte er ihm den Rücken zu und verließ die Tribüne.

Auf dem Weg zum Sattelplatz nahm er die Glückwünsche seiner Freunde entgegen, von denen einige ihren Neid nur schlecht verbergen konnten.

»Mußt du eigentlich sämtliche Preise einstecken, Helstone?« rief ein grauhaariger Peer übel gelaunt.

»Nein, nur die besten!« erwiderte der Earl und ging weiter, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Der Earl erreichte den Sattelplatz, als Delos, das Siegerpferd, unter Hochrufen und dem Applaus der zusammenströmenden Menge auf den Sattelplatz geführt wurde.

Der Jockey schwang sich aus dem Sattel. Er war ein schmaler, hohlwangiger junger Mann, der nur selten lächelte.

»Gut gemacht, Marson«, lobte ihn der Earl. »Ihr Timing war ausgezeichnet.«

»Danke, Mylord. Ich hab mich genau an Ihre Anweisungen gehalten.«

»Mit bestem Erfolg«, versetzte der Earl knapp.

Er gab seinem Pferd einen Klaps auf die Hinterhand und verließ den Sattelplatz, ohne die Ergebnisse des Wiegens abzuwarten.

Als er zum Jockey-Club zurück schlenderte, gesellte sich Lord Yaxley zu ihm.

»Wieder mal 'ne verdammt hübsche Summe Guineas eingestrichen, Osric«, sagte er anerkennend. »Womit ich nicht behaupten will, daß du sie nötig hättest.«

»Du hast doch auch auf ihn gesetzt, oder?«

Sekundenlang zögerte Lord Yaxley mit der Antwort.

»Um ehrlich zu sein, ich war mir nicht sicher«, gestand er schließlich »Arkrie rechnete hundertprozentig mit einem Sieg.«

»Ja, wenigstens hat er wochenlang damit herumgeprahlt«, bemerkte der Graf.

»Und also hast du beschlossen, es ihm zu zeigen«, bemerkte Lord Yaxley lächelnd. »Nun, zweifelsohne hast du dein Ziel erreicht. Ich schätze, Arkrie hat an die dreitausend Guineas in das Rennen investiert. Du bist dir doch im Klaren, daß du ihn damit zu deinem Feind gemacht hast.«

»Das war er immer«, erwiderte der Earl gleichgültig.

Sie erreichten das Clubgelände und betraten die Bar.

»Darf ich dich zu einem Drink einladen?« fragte der Earl.

»Ich denke, das ist das wenigste, was du tun kannst, Osric«, antwortete Lord Yaxley. »Verdammt, Geld geht immer zu Geld. Oder, wie mein alter Herr zu sagen pflegte: Der Teufel macht immer auf den größten Haufen.«

»Du solltest mehr auf deine Freunde hören«, Lord Helstones Stimme klang kühl. »Ich habe dir doch gesagt, daß Delos ein gutes Pferd ist.«

»Das Dumme ist nur, daß du es nicht überzeugend genug gesagt hast«, erklärte Lord Yaxley vorwurfsvoll.

Lord Helstone schwieg und ergriff das Champagnerglas, das der Barkeeper ihm reichte.

Auch Lord Yaxley hob sein Glas.

»Auf dein Wohl, Osric«, sagte er. »Und daß dir auch weiterhin bei allem, was du tust, Erfolg beschieden ist.«

»Du schmeichelst mir«, bemerkte der Earl gelassen.

»Im Gegenteil«, widersprach Lord Yaxley. »Du bist ein Mensch, der auf eine geradezu aufreizende Art und Weise überall den ersten Platz belegt. Und das nicht nur auf der Pferderennbahn.«

Er streifte den Freund mit einem halb ärgerlichen, halb mißbilligenden Blick und sagte gereizt: »Verflucht Osric, du solltest etwas zufriedener dreinschauen! Schließlich hast du vor wenigen Minuten eins der wichtigsten Rennen in dieser Saison gewonnen und damit bewiesen, daß deine Vollblüter von keinem Stall zu übertreffen sind. Du müßtest eigentlich Luftsprünge machen vor Freude, alter Junge!«

»Alter Junge! Da hast du recht. Für diesen jugendlichen Überschwang bin ich wirklich zu alt«, entgegnete der Earl. »Es bereitet mir natürlich eine außerordentliche Genugtuung, den anderen zu beweisen, wie gut meine Pferde sind. Aber das ist für mich kein Grund, in einen Glückstaumel zu verfallen. Mein Trainer und mein Jockey hatten sehr genaue Anweisungen von mir erhalten, und ich wußte, daß sie sich strikt daran halten würden.«

Mit einer heftigen Bewegung stellte Lord Yaxley sein Glas auf die Platte der Bartheke zurück.

»Du treibst mich noch zur Weißglut, Osric«, sagte er. »Manchmal frage ich mich, wo eigentlich der Draufgänger geblieben ist, der du in früheren Zeiten einmal warst. Erinnerst du dich nicht mehr? Du warst der wildeste von uns und für jeden Spaß zu haben. Was eigentlich ist mit dir geschehen?«

»Wie ich eben schon sagte, man wird nicht jünger«, antwortete der Earl trocken.

»Ich glaube nicht, daß es das Alter ist«, widersprach Lord Yaxley. »Ich glaube, es ist etwas anderes: eine gewisse Sattheit, eine Art Überdruß. Es ist wie bei den Banketts im Carlton House, von denen mein alter Herr zu erzählen pflegte.«

Er nahm einen Schluck Champagner und fuhr fort: »Da muß es allein so viele Vorspeisen gegeben haben, daß man sie kaum zählen konnte. Und der Regent soll dabei derart zugelangt haben, daß er am Ende des Dinners nicht mehr imstande war, sich ohne fremde Hilfe aus seinem Stuhl zu erheben.«

»Ich mag viele Laster haben«, bekannte der Earl, »aber Völlerei gehört nicht dazu.«

»Das wollte ich damit auch nicht behaupten. Aber du übertreibst eben auf eine andere Weise.«

Ein Bekannter näherte sich den beiden Freunden und beglückwünschte den Earl zu seinem Sieg. Lord Yaxley fand keine Gelegenheit, die Unterhaltung fortzusetzen.

Erst Stunden später, als die beiden Männer in Lord Helstones elegantem Haus in einem der Außenbezirke der Stadt zusammensaßen, unternahm Lord Yaxley einen neuen Vorstoß.

»Warum hast du heute Abend das Dinner so früh verlassen, das man dir zu Ehren gab, Osric? Du bist dir doch hoffentlich darüber im Klaren, daß du mit solch einem Verhalten viele deiner Freunde vor den Kopf stößt.«

»Ich glaube nicht, daß überhaupt jemand unser frühes Weggehen zur Kenntnis genommen hat«, erwiderte der Earl. »Die meisten waren schon derart beschwipst, daß sie sich für meine Anwesenheit kaum noch interessiert haben dürften.«

»Und du warst natürlich wieder einmal stocknüchtern, nicht wahr?« fragte Lord Yaxley.

Er ließ sich in einen der bequemen Ledersessel fallen.

»Wenn es etwas gibt, das ich wirklich verabscheue«, sagte der Earl, »dann ist es diese sinnlose Trinkerei, die mich am nächsten Morgen daran hindert, mir das Morgentraining anzuschauen.«

»Ja, ich weiß. Du bist ein unverbesserlicher Asket und ein Muster an Tugendhaftigkeit!«

»Vorhin wolltest du mir noch einreden, ich sei ein Schlemmer und Genießer, hast mir Übersättigung und Übertreibung vorgeworfen«, entgegnete der Earl und verzog spöttisch die Lippen.

»Nicht was Essen und Trinken angeht. Wohl aber in anderer Beziehung«, gab Lord Yaxley zurück.

»Gut, wenn es also nicht der Wein ist, müssen es Weib und Gesang sein«, sagte der Earl. »Raus mit der Sprache, alter Junge. Mach aus deinem Herzen keine Mördergrube! Ich bin gespannt, was du mir zu sagen hast, obwohl ich mich gleichzeitig frage, warum ausgerechnet du mir eine Lektion erteilen willst!«

»Ganz einfach, Osric, weil ich dich mag«, antwortete Lord Yaxley. »Und weil wir alte Freunde sind. Ich kann es einfach nicht mehr länger mit ansehen, wie du von Jahr zu Jahr gelangweilter und gleichgültiger wirst.«

»Wer behauptet, ich sei gelangweilt?« fragte der Earl.

»Das muß niemand behaupten, denn es ist ganz offenkundig«, entgegnete Lord Yaxley. »Ich habe heute auf dem Rennplatz dein Gesicht beobachtet. Nicht einmal die leiseste Spur von Genugtuung war in deinen Augen zu erkennen, als Delos Arkries Pferd auf den zweiten Platz verwies. Das ist doch unnatürlich, Osric, wie du zugeben  mußt.«

Der Earl antwortete nicht. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte sinnend in die Kaminflammen.

»Was ist los mit dir?« fragte Lord Yaxley mit veränderter Stimme. »Hat es etwas mit Genevieve zu tun?«

»Vielleicht.«

»Denkst du daran, sie zu heiraten?«

»Warum sollte ich!«

»Sie erinnert mich ein wenig an Arkrie und sein Gerede. Überall und zu jedermann spricht sie darüber, wie verliebt sie in dich ist.«

»Ich kann sie nicht daran hindern, sich selbst lächerlich zu machen«, erklärte der Earl, »aber ich kann dir versichern, daß von meiner Seite aus nichts geschehen ist, was sie zu irgendwelchen Hoffnungen in Bezug auf meine Person ermutigen könnte.«

»Sie würde keine schlechte Figur am Familientisch der Helstones abgeben. Und mit dem berühmten Helstone-Schmuck müßte sie einfach hinreißend aussehen.«

Der Earl schaute still vor sich hin, dann sagte er: »Ich habe nicht den Wunsch, Genevieve zu heiraten.«

Lord Yaxley stieß einen Seufzer aus, der irgendwie erleichtert klang.

»Ganz offen, Osric, mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob du Feuer gefangen hattest oder nicht. Aber Genevieve würde dir gewiß schon nach kurzer Zeit nichts mehr bedeuten. Sie würde dich anöden wie alle ihre hübschen Vorgängerinnen, die du, eine nach der anderen, abgeschoben hast.«

Er lachte und fügte hinzu: »Ist dir schon aufgefallen, daß sie sich immer so setzt, daß man ihr Profil bewundern, muß? Sie verriet mir, jemand - ich habe vergessen, wer es war - habe ihr gesagt, wenn Frances Stewart nicht für die Britannia Modell gestanden hätte, würde man sie dazu ausgewählt haben.«

»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte der Earl mit einem Beiklang von Sarkasmus in der Stimme, »war Frances Stewart diejenige, die Charles II. zurückwies, weil er sie nicht mehr liebte, als ihr Gesicht zeitweilig von Blattern entstellt wurde.«

Lord Yaxley lachte kurz auf, dann fuhr er fort: »So weit ich mich erinnere, hat dich eigentlich nie eine Frau zurückgewiesen, Osric. Und ich frage mich langsam, ob es nicht die Tatsache ist, die deine Gleichgültigkeit bewirkt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nun, jetzt, wo ich mir das Ganze so richtig durch den Kopf gehen lasse, wird es mir klar: Es muß auf die Dauer äußerst langweilig für einen Mann werden, wenn er weiß, daß er immer die besten Karten zieht, immer den Vogel abschießt und in allem der Erste ist. Das kann ja nur zu Überdruß führen.«

»Noch mehr Schmeicheleien?«

»Das kannst du nehmen, wie du willst. Jedenfalls spreche ich die Wahrheit«, sagte Lord Yaxley. »Du kannst mir sagen, was du willst, Osric. Die Langeweile tötet dich.«

»Und was rätst du mir?« fragte der Earl.

»Ich wünschte, ich könnte dir darauf eine Antwort geben. Es müßte irgendwo einen Preis geben, den du noch nicht errungen, einen Gipfel, den du noch nicht bestiegen, eine Schlacht, die du noch nicht gewonnen hast.«

»Vielleicht wäre ein Krieg die Lösung«, bemerkte der Earl. »Dann wäre man wenigstens auf sehr einfache Weise damit beschäftigt, am Leben zu bleiben.«

»Manchmal glaube ich, das Beste für dich wäre es, zu heiraten«, sagte Lord Yaxley gedankenverloren. »Aber ich bin mir da nicht sicher. Jedenfalls könnte eine Ehe erreichen, daß du ein wenig sesshafter würdest und mehr Zeit in England verbrächtest. Kein Wunder, daß es dich immer wieder in fremde Länder treibt, wenn man bedenkt, daß du mutterseelenallein in diesem riesigen Haus lebst. Deine Vorfahren mögen ehrenwerte und wohl achtbare Menschen gewesen sein, aber die Aussicht, ständig nur in der Gesellschaft ihrer Konterfeis zu leben, ist nicht besonders erheiternd, würde ich sagen.«

»Du bist also tatsächlich der Überzeugung, eine Heirat würde die Lösung bringen?«

»Ja, vielleicht. Aber nicht mit Genevieve. Im Grunde taugt sie nicht für die Ehe. Auch dann nicht, wenn du genug für sie empfinden würdest, um ein ganzes Leben mit ihr zu verbringen.« Lord Yaxley schwieg, dann schlug er mit der Rechten auf die Lehne des Sessels. »Aber, zum Teufel noch mal, irgendwo müßte es doch eine Frau geben, die dir das Wasser reichen kann, oder die wenigstens so interessant ist, daß sie dich nicht zu Tode langweilt!« sagte er heftig.

»Davon gibt es eine ganze Menge, mein Lieber.«

»Das weiß ich auch, du Idiot«, rief Lord Yaxley verärgert.

»Aber ich denke jetzt nicht an die Sorte von Frauen, mit denen du irgendwelche längeren oder kürzeren Liebesabenteuer hattest. Ich rede von der Ehe mit einer hübschen, achtbaren, jungen Lady, die dir einige Kinder schenkt. Vor allem einen Sohn und Stammhalter. Jedenfalls wäre das etwas, das du bisher noch nicht ausprobiert hast. Unter Umständen kämst du sogar auf den Geschmack und fändest Spaß an deiner Rolle als Ehemann und Vater.«

»Einen Sohn zu haben, wäre nicht übel. Aber welchen Tribut müßte ich dafür zahlen! Ich müßte mir unablässig das einfältige, banale Geschwätz dieses achtbaren, jungen Mädchens anhören«, gab der Earl zu bedenken. »Ich versichere dir, Yaxley, allein der Gedanke daran ist mir unerträglich. Wenn ich schon gezwungen bin, mich mit einer Frau zu unterhalten, ziehe ich die Unterhaltung mit Genevieve der mit jeder anderen vor.«

»Du hast ja recht, Osric«, gab Lord Yaxley widerwillig zu. »In der vergangenen Woche bin ich auf dem diesjährigen Debütantinnenball gewesen. Ich mußte mich da sehen lassen, weil eine meiner Nichten daran teilnahm. Noch nie im Leben habe ich etwas so Trauriges gesehen.«

»Na schön, damit hast du auch die Antwort auf deinen Vorschlag.«

»Eine Debütantin wäre ohnehin zu jung für dich«, meinte Lord Yaxley. »Wir werden beide im nächsten Jahr dreißig.«

»Und was ist die Alternative nach deiner Meinung?« fragte der Earl.

»Die Alternative? Ich denke da an eine charmante, attraktive und zugleich intelligente junge Witwe«, erklärte Lord Yaxley.

»Aha! Und damit wären wir dann wieder bei Genevieve angelangt.«

Zwischen den beiden Männern breitete sich ein längeres Schweigen aus. Jeder von ihnen dachte an die verführerische, temperamentvolle und manchmal recht strapaziöse Lady Genevieve Rodney.

Vor zwei Jahren war sie Witwe geworden. Kaum war die Trauerzeit verstrichen, hatte sie die feine Gesellschaft Londons durch ihre unbekümmerte Art, sich über die herrschenden Konventionen hinwegzusetzen, regelrecht vor den Kopf gestoßen.

Die Gentlemen allerdings sahen das anders. Sie waren samt und sonders von der reizvollen, lebenshungrigen Witwe hingerissen. Und Genevieves kleines Haus in Mayfair wurde Tag und Nacht von zahllosen Verehrern belagert.

Daß sie ein Auge auf den Earl of Helstone geworfen hatte und fest entschlossen war, sich ihn zu angeln, überraschte niemanden.

Der Earl war nicht nur einer der reichsten, sondern nach Ansicht vieler Frauen auch der bestaussehende Mann in ganz England.

Dennoch hieß er bei seinen Freunden und Bekannten der ehescheue Graf. Und dieses Prädikat trug er nicht zu Unrecht.

Seit Beendigung seiner Studien war er sowohl von ehrgeizigen Müttern als auch deren heiratsfähigen Töchtern regelrecht verfolgt worden. Es gab überhaupt erstaunlich viele Frauen, die von seinem markanten, männlich-schönen Gesicht genauso magisch angezogen wurden wie von seiner stets prall gefüllten Brieftasche.

Aber alle Bemühungen, ihn in das Netz der Ehe zu locken, waren bisher an seinem hartnäckigen Widerstand gescheitert.

Allerdings hatte seine Skepsis gegenüber einer Ehe ihn nicht davon abgehalten, Lady Genevieve - die schönste Frau bei Hof - ihren Verehrern und Liebhabern vor der Nase wegzuschnappen. Das bereitete ihm Vergnügen.

Lady Genevieve hatte kein Geheimnis daraus gemacht, daß er nicht der erste Mann war, der ihr Herz eroberte. Und er war auch nicht der erste Liebhaber, dem sie nach dem Tode des Gatten ihre Gunst schenkte.

Doch während der Monate, die sie miteinander verbrachten, gab sie ihm sehr deutlich zu verstehen, daß sie nichts dagegen hätte, wenn er der Letzte wäre.

Lady Genevieves Herz war ein rätselhaftes Ding, und der Earl hatte zumindest starke Zweifel, ob ihre Liebesbekundungen wirklich einer tiefen inneren Empfindung entsprangen. Jedenfalls gab es genügend Anzeichen dafür, daß Genevieve echte Zuneigung mit dem Bedürfnis nach größtmöglicher materieller Sicherheit und nach einer gesellschaftlichen Stellung verwechselte, die außerhalb des Königshauses ihresgleichen suchte.

Die Helstones hatten tatsächlich königliches Blut in den Adern.

Und es war bekannt, daß ihr Stammbaum mit seinen unzähligen Verästelungen selbst den Experten der Wappenkunde Kopfzerbrechen bereitete.

Doch abgesehen davon hatte der Earl sich aufgrund eigener Verdienste eine so wichtige Position im Oberhaus erworben, daß er als eine der einflußreichsten Persönlichkeiten in England galt, als ein Mann, mit dem man rechnen mußte und dessen Meinung sogar der Premier nicht unbeachtet ließ.

Außerdem gab es niemanden im ganzen Land, der es wagen konnte, die führende Rolle des Earl im Reitsport zu bestreiten.

Er verfügte über die größte Vollblutzucht der Insel. Und um das eigene Gestüt mit frischem Blut zu versehen, hatte er wie die alten Züchter echte Araberhengste importiert.

So war Delos, der Gewinner des Rennens von Newmarket Heath, ein direkter Abkömmling des berühmten Eclipse, des Vaters vieler bekannter Rennpferde, von dessen legendären Erfolgen man in Reitsportkreisen nur mit angehaltenem Atem sprach.

Eclipse - oder Sonnenfinsternis - erhielt seinen Namen von der großen Sonnenfinsternis, die 1764, dem Jahr seiner Geburt, die Menschen in Aufregung versetzte. Sein Züchter war William, Duke von Cumberland, der im Jahr danach das Zeitliche segnete.

Nach dem Tode des Duke wurde das Tier für fünfundsiebzig Guineas an Mr. William Wildeman verkauft.

Seinen ersten Auftritt auf dem Rennplatz hatte Eclipse im Jahr 1769 beim Noblemen and Gentlemen's Plate in Epsom. Er gab dort eine atemberaubende Vorstellung, und von diesem Augenblick an war es jedem Kenner klar: Hier hatte man es mit einem Tier zu tun, dessen phänomenale Vorzüge in der Geschichte des Rennsports einmalig waren.

Wenn der Earl von Helstone an Delos oder die anderen Pferde aus seinem Gestüt dachte, hatte er das Gefühl, wenigstens eines davon würde es seinem weltberühmten Urahn einmal gleichtun.

Wirklich sicher konnte man allerdings erst sein, wenn das Tier bei einer Anzahl großer Rennen einen Sieg nach dem anderen geholt hätte.

»Vielleicht gibt es für einen Mann kein höheres Ziel und keine größere Genugtuung im Leben, als ein Pferd wie Eclipse oder eins, das ihm ähnlich ist, zu besitzen«, sagte Lord Helstone jetzt mit halblauter Stimme.

Er blickte zu dem Gemälde über dem Kamin auf. Es war ein Bild von Eclipse, das der berühmte Pferdeporträtist George Stubbs gemalt hatte.

Das Fell des Hengstes war von einem dunklen Kastanienbraun. Auf der Stirn hatte er eine Blesse, und auch die Strümpfe der beiden Hinterhände waren leuchtend weiß. Gemessen am Standard seiner Zeit war es ein ungewöhnlich stattliches Tier, dessen Schulterhöhe 10 Handbreit und 3 Inches betrug.

Der Abstand von der Hüfte zum Sprunggelenk war auffallend groß, die Vorhand gedrungen und kraftvoll, der Widerrist vollendet ausgebildet.

Diesen Eigenschaften verdankte er die gewaltige Schnellkraft, die ihm, gepaart mit einem wilden, aggressiven Temperament, seinen ruhmvollen Platz in den Annalen des Pferderennsports eintrugen.

Lord Yaxley folgte dem Blick seines Freundes. »Ich muß zugeben«, sagte er, »Delos hat heute einen sensationellen Endspurt hingelegt. Glaubst du, er kann das Derby gewinnen?«

»Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn überhaupt daran teilnehmen lasse«, erwiderte der Earl.

«Es wird dir gar nichts anderes übrig bleiben«, sagte Lord Yaxley.

»Du kannst sicher sein, daß ich in dieser Frage einzig und allein meinem eigenen Urteil folgen werde«, antwortete der Earl. »Bisher hat es noch nie jemand fertig gebracht, meine Entscheidungen zu beeinflussen. Und das wird auch in Zukunft so bleiben.«

Lord Yaxley blickte den Freund an. Er wußte besser als jeder andere, wie hart und unnachgiebig der Earl sein konnte, wenn er einmal einen Entschluß gefaßt hatte.

Die beiden ungleichen Männer waren Freunde seit ihrer Kindheit. Ihre gemeinsamen Erinnerungen reichten bis in die Zeit zurück, da sie noch im Kinderwagen gefahren wurden.

Sie hatten dieselbe Schule besucht, im selben Regiment gedient, und eigenartigerweise hatten sie auch im selben Jahr ihre Titel geerbt.

Doch während der Earl geradezu sagenhaft reich war und in der gesellschaftlichen Rangskala eine unvergleichlich höhere Stellung einnahm als Lord Yaxley, lebte der letztere dennoch in durchaus angenehmen und sorglosen Verhältnissen. Und es gab nur wenige angesehene Familien in England, die ihn nicht mit offenen Armen als Schwiegersohn begrüßt hätten.

»Es müßte doch ein Triumph für dich sein, den Sieger für das bevorstehende Derby zu stellen«, sagte Lord Yaxley. »Und nach dem, was ich heute von Delos gesehen habe, bin ich sicher, daß neben ihm kein anderes Pferd auch nur die kleinste Chance haben wird.«

»Da stimme ich dir zu«, versetzte der Earl. »Aber wenn ich Delos nicht mitlaufen lasse, gibt es immer noch Zeus oder Perikles.«

»Das Schlimme ist, daß du stets zu viele Rosinen im Pudding hast, mein Lieber.«

Lord Yaxley lächelte,

»Hast du mich immer noch auf dem Korn, Willoughby?«

Der Earl erhob sich aus dem Sessel und begann in dem kostbar möblierten Raum auf und ab zu wandern.

»Und nach dem Derby wird mir vermutlich der Gold Cup von Ascot und nach Ascot der von St. Leger in der Nase stecken, wie?«

»Warum nicht?« meinte Lord Yaxley.

»Es ist immer derselbe Teufelskreis, in dem ich mich befinde, und aus dem ich nicht herauskomme.« Die Worte des Earl klangen nachdenklich. »Du hast wirklich recht, Willoughby. Ich fange an, mich tödlich zu langweilen. Ich glaube, ich werde mal wieder auf Reisen gehen.«

»Auf Reisen?« rief Lord Yaxley überrascht und richtete sich in seinem Sessel kerzengerade auf. »Weshalb, um alles in der Welt? Und weshalb ausgerechnet während der Rennsaison?«

»Ich fürchte fast, es ist gerade die Rennsaison, die ich so fade finde«, gab der Earl zur Antwort. »Diese endlose Kette von Bällen und Partys. Die unablässigen Einladungen. All der Klatsch und Tratsch, die Skandälchen, die man sich erzählt, die Lügen und Prahlereien. Wie oft habe ich das jetzt schon mitgemacht! Mein Gott, es ist immer wieder die reinste Folter für mich!«

»Du mußt verrückt sein, Osric. Regelrecht verrückt!« rief Lord Yaxley aus. »Du lieber Himmel, im ganzen Land gibt es keinen einzigen Mann, der nicht bereit wäre, seinen rechten Arm dafür zu geben, könnte er mit dir tauschen!«

«Ich wünschte, ich könnte mir etwas vorstellen, das es wert wäre, den rechten Arm dafür zu opfern!« erwiderte der Earl.

Einen Moment lang schwieg Lord Yaxley. Seine Augen ruhten nachdenklich auf dem Gesicht des Freundes.

 Dann sagte er ruhig: »Irgendetwas ist dir doch über die Leber gekrochen, Osric!« Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung.

Der Earl schwieg. Reglos saß er in seinem Sessel vor der Feuerstelle und starrte in die Flammen.

»Es hat etwas mit Genevieve zu tun, nicht wahr?« sagte Lord Yaxley nach einer Weile.

»Zum Teil«, räumte der Earl zögernd ein.

»Und was genau ist es?«

»Na gut, du willst also die Wahrheit hören«, antwortete der Earl. »Sollst du, mein Freund. Genevieve teilte mir mit, daß sie ein Kind erwartet.«

Verblüfft schaute Lord Yaxley den Earl an. Dann sagte er mit scharfer Stimme: »Das kann nicht stimmen!«

Der Earl wandte den Blick von den tanzenden Flammen und sah dem Freund in die Augen.

»Was meinst du damit?«

»Ich meine damit genau das, was ich sagte«, erwiderte Lord Yaxley. »Es ist nicht wahr. Genevieve lügt. Vor langer Zeit hat sie meiner jüngsten Schwester einmal erzählt, daß sie keine Kinder haben könne. Dies jedenfalls ist das Urteil mehrerer Ärzte, die Genevieve konsultiert hat. Der Grund ihrer Unfruchtbarkeit ist auf einen Sturz vom Pferd zurückzuführen, den sie als Kind erlitt.«

Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Dies ist auch einer der Gründe, weshalb ich solche Befürchtungen hatte, du könntest sie heiraten. Die Sache geht mich nichts an, ich weiß. Und es liegt mir nichts ferner, als dich in irgendeiner Weise zu beeinflussen oder mich in deine Angelegenheiten einzumischen. Aber über diesen Punkt würde ich mit dir gesprochen haben, bevor es zwischen euch zu einer festen Bindung gekommen wäre.«

Der Earl ließ sich in seinen Sessel zurücksinken.

»Bist du ganz sicher, Willoughby?«

»Todsicher«, erklärte Lord Yaxley. »Meine Schwester ging mit Genevieve auf dieselbe Schule. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie sie damals von dem Unfall erzählte. Als Genevieve dann heiratete, war es Rodneys größter Wunsch, daß sie ihm so bald wie möglich einen Sohn schenkte. Wie meine Schwester mir erzählte, haben die beiden einen Arzt nach dem anderen bemüht. Aber niemand konnte ihnen helfen.«

Sekundenlang herrschte Schweigen, dann fuhr Lord Yaxley langsam fort: »Wenn du mich fragst, ist Genevieve fest entschlossen, dich unter allen Umständen einzufangen. Die ganze Geschichte ist eine einzige Lüge. Erfunden in der Hoffnung, daß du dich wie ein Gentleman verhältst und sie zu deiner Frau machst.«

Der Earl erhob sich.

»Danke, Willoughby. Du hast mir in der Tat eine Last von der Seele genommen! Und nun sollten wir uns auf unsere Zimmer zurückziehen. Wenn wir uns morgen früh den Trainingslauf ansehen wollen, müssen wir spätestens um sechs Uhr das Haus verlassen.«

»Nun, da kann ich nur sagen: Ein Glück, daß ich heute Abend nicht zu tief ins Glas geschaut habe«, meinte Lord Yaxley lächelnd und folgte seinem Freund auf den Korridor hinaus.

Er wußte, daß der Earl zum Thema Genevieve nun kein einziges Wort mehr zu verlieren wünschte.

Aber im Grunde war das auch nicht mehr notwendig. Das Entscheidende war ausgesprochen worden.

Lord Yaxley war froh, daß der Earl von sich aus die Sprache auf diesen Gegenstand gebracht hatte. Somit konnte er, Yaxley, dem Freund die Information, die ihm schon so lange auf der Seele lag, weitergeben, ohne daß es wie eine Bevormundung oder Einmischung gewirkt hätte.

So nahe sich die beiden Männer auch standen, Lord Yaxley war sich der Tatsache sehr wohl bewußt, daß der Earl von äußerster Zurückhaltung war, wenn es sich um seine Liebesaffären handelte. Außerdem wußte Lord Yaxley, daß es schon außergewöhnlicher Umstände bedurfte, damit der Earl sich ihm so wie es in dieser Nacht geschehen war anvertraute und offen von seinen Problemen sprach.

»Zum Teufel mit Genevieve«, murmelte Lord Yaxley, nachdem sie sich auf dem Treppenabsatz getrennt hatten und ihre Schlafzimmer aufsuchten.

Er war sicher: Der Gedanke an die Heirat, die ihm aufgezwungen werden sollte, hatte den Earl so bedrückt. Das mußte der Grund dafür gewesen sein, daß er an diesem Tag so geistesabwesend und schwierig war. Und deshalb hatte selbst der Sieg seines Pferdes ihn nur so wenig erfreuen können!

Es war Lord Yaxley allerdings schon vor einiger Zeit aufgefallen, daß der Earl sich zu seinem Nachteil verändert hatte. Und Genevieve allein konnte eigentlich daran nicht die Schuld tragen.

Irgendetwas bedrückte den Freund. Auch sein hoher gesellschaftlicher Rang und sein sprichwörtliches Glück bei allem, was er anpackte, vermochten ihm nicht das innere Gleichgewicht wiederzugeben.

»Osric ist in Ordnung«, sagte Lord Yaxley halblaut vor sich hin und schloß die Tür des Zimmers hinter sich. »Er langweilt sich. Ihm fehlt die wirkliche Herausforderung. Er braucht einen echten Ansporn, ein Ziel!«

Der Freund besaß ein sagenhaftes Vermögen. Lag hier vielleicht die Wurzel allen Übels? Er war so reich, daß es einfach nichts gab, was er sich mit Geld nicht kaufen konnte.

Pferde, Frauen, Immobilien, Kleinodien - für den Earl bedeutete es kein Problem, alles, was er sich wünschte, auch zu besitzen.

Vielleicht war es der Erfolg im Übermaß, der ihn oft so zynisch und gefühllos erscheinen ließ.

Inzwischen war es so weit gekommen, daß er sich auch seinen Freunden gegenüber äußerst hart und ablehnend verhielt.

Die innere Unzufriedenheit spiegelte sich deutlich auf seinen Zügen, die von Tag zu Tag verschlossener wurden.

Es war fast unmöglich, sich einen Mann vorzustellen, der besser aussah als der Earl. Aber selbst, wenn er einmal lächelte - was immer seltener vorkam - wich der zynische, gelangweilte Ausdruck nicht aus seinem Gesicht.

Dabei ging im Leben des Earl eigentlich alles nach Wunsch.

Er erwartete von seinen Dienern und Angestellten äußerste Sorgfalt und Perfektion in der Ausführung ihrer Pflichten. Und es kam höchst selten vor, daß er einmal eine wirkliche Enttäuschung erlebte.

Das Gleiche galt auch von den Agenten, Verwaltern, Sekretären und Anwälten, die er beschäftigte. Alle diese Leute waren äußerst fähige und qualifizierte Mitarbeiter, auf die er sich hundertprozentig verlassen konnte.

»Er ist einfach zu reich«, murmelte der Lord, und noch bis in den Schlaf hinein beschäftigte ihn die Frage, wie dem Freund zu helfen sei.

*

Am nächsten Tag fuhren die beiden Freunde nach dem morgendlichen Rennen in die Stadt zurück.

Der Earl lenkte eigenhändig den leichten, vierrädrigen Kutschwagen, der von zwei feurigen Gespannpferden gezogen wurde.

Der Earl war ein hervorragender Kutschierer, und sie legten die Strecke buchstäblich in Rekordzeit zurück.

Als sie vor dem Portal des Helstone Hauses in der Piccadilly Street eintrafen, sagte Lord Yaxley: »Sehen wir uns heute Abend zum Dinner? Soweit ich mich erinnere, haben wir beide von den Devonshires eine Einladung bekommen.«

»So?« Die Stimme des Earl klang gleichgültig. »Falls das der Fall ist, wird mein Sekretär den Termin notiert haben.«

»Übrigens, da fällt mir ein,« meinte Lord Yaxley, »wirst du während des Derbys in Epsom wieder bei Lady Chevington wohnen?«

»Ich glaube, ich habe ein Einladung von ihr erhalten«, gab der Earl zur Antwort.

»Und? Hast du vor, die Einladung anzunehmen?«

Sekundenlang herrschte Schweigen.

Der Earl brachte die Pferde zum Stehen, dann sagte er: «Warum nicht? Ihr Haus liegt äußerst bequem, ganz in der Nähe des Rennplatzes, und ihre Partys sind auch akzeptabel.«

»Dann könnten wir ja zusammen dorthin fahren«, sagte Lord Yaxley. »Würdest du so nett sein, mich mitzunehmen? Natürlich nur, falls du keine anderen Pläne hast.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Willoughby.«

Nachdem die beiden Männer sich voneinander verabschiedet hatten, brachte ein Kutscher des Earl Lord Yaxley zu dessen Wohnung, die nur zwei Straßen vom Helstone-Haus entfernt lag.

Der Earl schritt durch die Halle und betrat die Bibliothek.

Einen Augenblick später erschien sein Sekretär, Mr. Grotham, und verneigte sich.

»Was liegt an, Grotham?« fragte der Earl.

»Eine große Anzahl von Einladungen, Mylord. Doch damit möchte ich Sie jetzt nicht behelligen. Außerdem kamen einige Briefe. Ich habe sie auf Ihren Schreibtisch gelegt.«

Der Earl ging zu seinem Schreibtisch und nahm in dem bequemen Ledersessel Platz. Auf der Schreibunterlage fand er vier Kuverts, deren Adressen offensichtlich von weiblicher Hand geschrieben waren.

Mr. Grotham öffnete niemals ein Schreiben, das seiner Meinung nach eher persönlichen Charakter besaß. Die Jahre im Dienste Seiner Lordschaft hatten die Augen des Sekretärs geschärft. Und es passierte eigentlich nie, daß er die Handschrift einer Dame einmal nicht auf Anhieb erkannte.

Mit einem Blick sah der Earl, daß drei der Briefe von Lady Genevieve stammten. Die schwungvollen, ein wenig ausufernden Schriftzeichen ließen daran überhaupt keinen Zweifel.

Während der Earl niederblickte, verengten sich seine Lippen zu einer harten Linie.

Er war nicht mehr auf die Angelegenheit zurückgekommen, die Lord Yaxley und er in der vergangenen Nacht besprochen hatten. Aber die Empörung, die ihn bei der Auskunft des Freundes ergriffen hatte, war noch nicht abgeklungen.

Wie konnte Genevieve es versuchen, so fragte er sich, ihn mit dem ältesten und billigsten Trick der Welt einzufangen? Und wie konnte er solch ein Narr sein und auch nur einen Augenblick lang annehmen, daß Genevieve ihm die Wahrheit sagte!

Als die Affäre mit Lady Genevieve begann, hatte er nicht im mindesten an etwas Ernsthaftes gedacht. Was ihm vorschwebte, war die zwanglose Verbindung zweier aufgeklärter Menschen, die mit den entsprechenden Spielregeln vertraut waren.

Daß Genevieve sich in ihn verliebt hatte, wie sie unablässig beteuerte, beeindruckte ihn nicht im mindesten. Ärgerlich war nur, daß sie glaubte, ihre Gefühle unbedingt an die große Glocke hängen zu müssen.

Anfangs hatte der Earl die junge Witwe begehrenswert gefunden. Sie übte eine ungewöhnliche Faszination auf ihn aus. Noch nie in seinem Leben war er einer Frau mit einer solchen Leidenschaft und mit einem solchen Feuer begegnet.

Sie vermochte es, einem Mann alle Wonnen der Liebe zu schenken. Dafür revanchierte er sich mit Brillanten und Rubinen, führte sie in die exklusivsten Restaurants und beglich widerspruchslos die astronomischen Rechnungen, die ihm von den verschiedenen Modesalons in der Bond Street zugeschickt wurden. Außerdem hatte er ihr eine Kutsche geschenkt, und die Pferde, die sie zogen, riefen den Neid all ihrer Freunde hervor.

Doch nie nicht einmal einen Moment lang war der Earl auf die Idee gekommen, Lady Genevieve Rodney zu heiraten.

In seinen Augen war sie der Typ von Frau, der wie er aus eigener Erfahrung wußte einfach nicht imstande war, ein ganzes Leben einem einzigen Mann die Treue zu halten. Weder ihrem Gatten noch ihrem Liebhaber.

Der Earl war fest davon überzeugt, daß sie sich hinter seinem Rücken gewissenlos mit jedem Mann einlassen würde, der ihr gefiel und ihre Begierde entflammte.

Doch was er nicht begriff, war, daß Genevieve ihn schon allein deshalb unwiderstehlich fand, weil er als ehescheu galt. Denn noch keiner Frau war es bisher gelungen, den eingefleischten Junggesellen dazu zu bewegen, sie zum Altar zu führen.

Irgendetwas im Kern seiner Persönlichkeit schien sich den Frauen zu verschließen.

Sogar in den Augenblicken größter Nähe spürte Genevieve, daß sie ihn nicht wirklich besaß, daß sein Herz ihr nicht voll und ganz gehörte. Und deshalb vielleicht, gerade weil der Earl sich ihr entzog, weil sie die Begehrende und nicht die Begehrte war, verliebte sich Genevieve in ihn.

Genevieve war tieferer Gefühle nicht fähig, und ihre Hingabe glich eher einem Strohfeuer. Aber sie war eine ungewöhnlich leidenschaftliche Frau, eine Nymphomanin mit dem unersättlichen Verlangen nach jedem Mann, der ihren Gefallen erregte.

Selbst für Genevieves verwöhnte Ansprüche war der Earl ein außerordentlich begabter Liebhaber. Doch umso mehr litt sie unter der Tatsache, daß sie ausgerechnet bei ihm nicht die letzte Befriedigung fand.

Sie war es gewohnt, daß ein Mann ihr zu Füßen lag und ihr Sklave wurde. Sie brauchte das Bewußtsein, einen Mann völlig zu beherrschen. Er mußte sich nach ihr verzehren, sie anbeten als seine Göttin. Und weil das in ihrer Beziehung fehlte, weil der Earl sich Genevieve im Innersten entzog, versuchte sie ihn auf andere Weise an sich zu ketten: Sie faßte den Entschluß, ihn zu heiraten.

Natürlich war dies nicht der einzige Beweggrund für Genevieve. Abgesehen von allen gefühlsmäßigen Motiven war der Earl einfach eine hervorragende Partie.

Keine Frau in ganz England hätte ihm einen Korb gegeben, wäre er mit der Bitte zu ihr gekommen, die Seine zu werden.

Auch ohne die Geschichten, die man sich von seinem unermeßlichen Reichtum erzählte, brauchte eine Frau ihm nur gegenüberzustehen, um auf der Stelle ihr Herz an ihn zu verlieren.

Genevieve zog also alle Register ihrer Verführungskunst, bot all ihren Charme und all ihre Liebenswürdigkeit auf, um den Earl an sich zu fesseln.

Erfolglos.

Es war ihr zwar ein leichtes, seine Begierde zu entflammen, und er zeigte sich ihr gegenüber von einer geradezu verschwenderischen Generosität. Aber nie kam das Wort 'Ich liebe dich!' über seine Lippen. Im Gegenteil, um seine Lippen spielte stets ein feines, zynisches Lächeln, wenn er sich mit ihr unterhielt. Und seine Stimme war nie, ohne diesen spöttischen Unterton, den sie an ihm so haßte.

Sie wußte sehr genau, daß er sie im Grunde nicht brauchte. Wenn er sie spät in der Nacht verließ, war sie nie wirklich sicher, ob sie ihn wiedersehen würde. Und oft genug hatte sie die Befürchtung, daß er sie buchstäblich auf der Stelle vergaß, sobald er ihr Haus verlassen hatte.

Wenn Genevieve ehrlich zu sich war, mußte sie zugeben, daß sie unter dem Earl litt. Daß er sie in Wirklichkeit regelrecht zum Wahnsinn trieb.

»Wann wirst du mich endlich heiraten, Osric?« fragte sie eines Nachts, während sie sich fest in seine Arme schmiegte und nur die Flammen des Kaminfeuers ihr Schlafzimmer erhellten.

»Du bist unersättlich, Genevieve«, erwiderte der Earl.

»Unersättlich?« fragte sie.

»Ja«, antwortete er. »Gestern habe ich dir einen Brillanten geschenkt. In der vergangenen Woche waren es Rubine. Und wenn ich mich nicht irre, kaufte ich dir in der Woche davor eine Smaragdbrosche, die Dir so gefiel. Ich muß sagen, du bekommst nie genug!«

»Bitte? Jetzt geht es doch nur um einen kleinen Goldreif?« bat sie flüsternd.

»Das ist das einzige, was zu verschenken ich mir nicht leisten kann, meine Liebe.«

»Aber warum nicht? Wir würden so glücklich sein, das weißt du doch auch.«

»Was nennst du glücklich?«, fragte der Earl ausweichend.

»Für mich besteht das Glück darin, mit dir zusammen zu sein«, erwiderte Genevieve. »Du weißt, daß ich dich glücklich machen kann.«

Sie schmiegte sich enger an ihn. Gleichzeitig bog sie den Kopf zurück und hob ihm ihre halbgeöffneten Lippen entgegen.

Er blickte auf sie nieder, und sie vermochte den Ausdruck in seinen Augen nicht zu deuten.

»Ich liebe dich«, sagte sie. »Heirate mich! Bitte, mach mich doch zu deiner Frau!«

Statt einer Antwort beugte er sich über sie und verschloß ihr mit einem heftigen Kuß den Mund. Die Leidenschaft schlug wie eine Woge über ihnen zusammen, und die Welt um sie herum versank.

Erst später, nachdem der Earl gegangen war, erinnerte sich Genevieve daran, daß sie auf ihre Frage keine Antwort erhalten hatte.

Noch immer starrte der Earl auf die drei Briefe, die Genevieves Schriftzüge trugen. Seine Augen hatten einen harten Ausdruck angenommen, und er spürte, wie sein Unwille und seine Verärgerung immer stärker wurden.

Dann gab er sich einen Ruck. Er streckte die Hand aus und griff nach dem vierten Brief, dessen Schreiberin ihm unbekannt war.

»Wenn sie meine Dienste nicht mehr benötigen, Mylord, und keine weiteren Instruktionen für mich haben«, sagte Mr. Grotham respektvoll, »bitte ich um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.«

»Ich glaube mich zu erinnern, daß ich heute Abend bei den Devonshires zum Dinner eingeladen bin,« sagte der Earl mit einem fragenden Unterton in der Stimme. »Ist das richtig?«

»Ja, Mylord. Ich habe dem Kutscher bereits die nötigen Anweisungen gegeben.«

»Welchen Bescheid haben Sie Lady Chevington auf ihre Einladung nach Epsom gegeben?«

»Noch keinen, Mylord. Sie wollten damit bis nach Ihrer Rückkehr von Newmarket Heath warten.«

»Nun, dann schreiben Sie, daß ich annehme«, sagte der Earl knapp.

»Sehr wohl, Mylord. Und darf ich Eure Lordschaft zu Ihrem heutigen Sieg beglückwünschen?«

»Der Stallmeister wird Ihnen davon erzählt haben, nehme ich an«, versetzte der Earl. »Ja, das Rennen verlief äußerst zufriedenstellend. Ich glaube, aus Delos wird noch etwas werden.«

»Ich wünsche es sehr, Mylord. Ich wünsche es wirklich von ganzem Herzen.«

»Danke, Grotham. Haben Sie einige Shilling auf ihn gesetzt?« fragte der Earl.

Stolz antwortete der Sekretär: »Ja, Mylord. Jeder im Haus hat das getan. Wir alle setzen größtes Vertrauen in das Urteil Eurer Lordschaft.«

Mr. Grotham verließ den Raum und zog leise die Tür hinter sich ins Schloß.

Der Earl stellte fest, daß er immer noch den Briefumschlag in der Hand hielt und öffnete ihn mit dem Brieföffner. Er entfaltete den Bogen und überflog die wenigen Zeilen. Falls jemand beabsichtigt hatte, ihn mit diesem Schreiben in Erstaunen zu versetzen, war ihm das rundherum gelungen.