Vita Classica - Steffen Möller - E-Book

Vita Classica E-Book

Steffen Möller

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Beschreibung

Viva la musica! Während alle anderen Supertramp oder AC/DC hören, lauscht Steffen Möller schon als Jugendlicher den Klängen Brucknerscher Symphonien. Witzig und trotzig schildert er das Schicksal eines Außenseiters. Nicht die spottenden Klassenkameraden, nicht die ignoranten Eltern, ja nicht einmal die erbarmungslose Klavierlehrerin können ihn von seiner Passion abbringen. Steffen Möller hat uns mit seinem Bestseller »Viva Polonia« die kuriosen Aspekte der Deutschen und Polen nahegebracht. Hier gibt er seine intimste Seite preis, gibt launige Statements zur illustren Klassik-Szene und schenkt uns tiefe Einblicke in eine faszinierende Welt, die für viele noch zu einer echten Entdeckung werden kann.

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Steffen Möller

Vita Classica

Bekenntnisse eines Andershörenden

Sachbuch

Fischer e-books

»Ich mag klassische Musik, er dagegen ist Anhänger des Tango, und wenn ich ein Beethovenkonzert höre, beginnt er so beharrlich Tangos zu pfeifen, dass ich keinen anderen Ausweg weiß, als ihm das Radio zu überlassen. Erst gestern bat ich ihn sehr demütig, er möge mich doch ein wenig Musik hören lassen, aber seit diesem Moment betrachten mich alle im Hotel wie einen Mörder, einen Herzlosen, ein wahnsinniges Ergebnis des Feudalismus. Zum Schluss hat der Kellner gewonnen, denn um ihm über meine Grausamkeit hinwegzuhelfen, waren die Gäste ihm gegenüber doppelt liebenswürdig, und als ihm ein Papierstückchen hinfiel, sprangen zwei Greisinnen und ein Greis hin, um es aufzuheben.«

Witold Gombrowicz: Tagebuch aus Rio Ceballos

iOuting

Man darf nie vergessen, dass die klassische Musik heute bestenfalls fünf bis sieben Prozent des Tonträgerangebots ausmacht.

Eric Hobsbawm [1]

Seit der Pubertät verstecke ich es. Aber nun ist Schluss mit der infantilen Geheimniskrämerei. Demnächst werde ich vierzig Jahre alt, Zeit für einen Schlussstrich unter die elende Heuchelei.

Eigentlich seltsam, dass ich mich nicht schon früher dazu durchringen konnte. Woran lag es? Fiel meine Jugend nicht in die Zeit der großen, bahnbrechenden Outings? Zerknirschte Heroinsüchtige wie Christiane F., zerrüttete Sexprotze wie Michael Douglas, fröhlich aufspielende Homosexuelle wie Elton John – aber auch geläuterte RAF-Terroristen, reumütige Sektenmitglieder, trockene Alkoholiker: für jeden war etwas dabei.

Irrtum, so schien es lediglich. Denn meine Perversion war trotz allem nicht dabei. Seit fast dreißig Jahren fehlt mir nun der Vorbild-Exhibitionist, am besten ein Leadgitarrist, ein Modedesigner oder ein Suhrkamp-Philosoph, der eine Bresche in die Mauer des Schweigens interviewen würde. Nicht einmal in Frauenzeitschriften, den breit schäumenden Heckwellen der Aufklärung, wurde mein Problem einer kritischen Spalte gewürdigt.

Und so tappe ich immer noch in der Schmuddelzone der Gesellschaft.

Heute aber will ich reden, in der vagen Annahme, dass es Leute wie mich in allen Winkeln des 21. Jahrhunderts geben muss, von der Wetterfee bis zum ICE-Schaffner.

Ihnen allen rufe ich zu: Bleibt an euren Arbeitsplätzen. Ich tue es für euch. Ich habe meinen Job gekündigt, eine anonyme Ferienwohnung gemietet, sitze gelöst auf einem Balkon in Südeuropa, mit Blick auf die schneebedeckten Alpen, und rufe allen Nachbarn zu – während im Hintergrund das Finale von Beethovens Eroica unter Hermann Scherchen jubelt:

ICH BIN EIN KLASSIK-FAN.

Meine Nöte beginnen bereits damit, dass mir keine bessere Bezeichnung für mich einfällt als das niedliche »Klassik-Fan«. Zuletzt benutzt habe ich das grauenvolle Wort zwangsweise an einem Oktobernachmittag in London. Als Höhepunkt eines schönen Sightseeing-Weekends hatte ich mir den Besuch im Kulturkaufhaus Virgin in der Oxford Street aufgespart.

Eine Weile lang schaute ich mir die CDs im Erdgeschoss an, dann begriff ich: Hier lag keine Klassik. Für solche Ware war das Erdgeschoss mal wieder viel zu schade. Per Rolltreppe fuhr ich in den ersten Stock hinauf und sah eine mindestens fünfzigköpfige Menschenmenge versammelt, meist Teenager in schwarzen T-Shirts. Sie drängelten sich vor einer gelb-schwarzen Leine und versperrten mir so den Durchgang zum zweiten Stockwerk, wo sich die Klassik befand. Hinter der Leine stand ein Autogrammtischchen, das von vier Securitys bewacht wurde. Banner und Handzettel kündigten eine Band an, die System of a Down heißen und in wenigen Minuten an diesem Tischchen Platz nehmen sollte, um ihre neue CD zu signieren.

Die Stars schienen bereits im Anmarsch zu sein, denn die Stimmung war freudig erregt, alles rief durcheinander. Ich drängelte mich bis zur Absperrleine durch; dank allgemeiner Vorfreude und englischer Höflichkeit war dies anstandslos möglich. »To the Classic Department«, raunte ich einem der Securitys leise ins Ohr und deutete zur Rolltreppe. Der Schwarzuniformierte verstand mich nicht: »Pardon?« Unter den Jugendlichen entstand Unruhe. Man argwöhnte einen abgefeimten Autogrammjäger, der sich die Pole-Position sichern wollte. »I am a classic fan«, flüsterte ich etwas lauter. Unterstützend deutete ich mit dem Arm hinauf ins zweite Stockwerk. Nun verstand mich der Wachmann und hob ruhig die gelb-schwarze Leine hoch, so dass ich auf die Rolltreppe springen konnte.

Mutterseelenallein fuhr ich in den zweiten Stock hinauf, die Menge schaute mir verblüfft hinterher. Rasch durcheilte ich die menschenleeren Jazz- und Weltmusik-Korridore und klinkte die Glastüre der Klassik-Abteilung auf. Die Atmosphäre verwandelte sich schlagartig; sie erinnerte jetzt an einen edlen Möbelladen mit schweren Perserteppichen. Aus den Deckenlautsprechern ertönte leise das Klaviertrio in H-Dur von Johannes Brahms. Ich befand mich in einer der größten Klassik-Abteilungen Europas; es war die Krönung meiner gesamten Englandreise. Hier gab es so gut wie jede lieferbare Klassik-CD.

Auf meine Frage nach Aufnahmen des Dirigenten Jascha Horenstein geleiteten mich zwei diskrete Verkäufer, die ein von Kunden weitgehend unbelästigtes Leben führten, zu einem Regal, das eigens mit »Horenstein« beschriftet war. Solche Sonderregale für Geheimtipp-Dirigenten gab es allenfalls in einem Dutzend Klassik-Abteilungen weltweit. Sofort erblickte ich eine langgesuchte Sammelbox mit raren Horenstein-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren. Es war das Glück.

Zwei Stunden später verließ ich den schalldichten Klassik-Käfig, ein rot-weißes Virgin-Plastiktütchen mit elf CDs in der Hand, und fuhr wieder die Rolltreppe hinunter. Im ersten Stock war kein Mensch mehr zu sehen; nur Reste des geplatzten Absperrungsbandes sowie zerknüllte Flyer auf dem Erdboden kündeten von dem Menschenauflauf, der hier getobt hatte, während ich fünf Meter höher die Wonnen erfüllter Sehnsucht kostete.

Im Parterre wurde ich vom Wachmann höflich auf den nahenden Ladenschluss hingewiesen. Es war derselbe, dem ich mich als »classic fan« geoutet hatte. Guckte er mich zufälligerweise ein bisschen komisch an? Zweifel beschlichen mich, ob man auf Englisch überhaupt »classic fan« sagte.

 

*

 

Es betrübt mich aufrichtig, dass ich mich in einem so wesentlichen Punkt wie dem Musikgeschmack von den meisten Zeitgenossen unterscheide. Generell misstraue ich Sektierern, die sich in Privatwelten einkapseln, und rühme mich, ein Offener, Neugieriger, Wandlungsfähiger zu sein, der die europäische Integration unterstützt, Rezensionen der aktuellen Kinofilme studiert und SMS-Nachrichten mit dem Schnellschreib-System T9 tippt. Wer dieses System noch nicht kapiert hat und auf seinem Handy mühselig herumdrückt, statt flamingohaft über die Tasten zu huschen, muss sich herbe Vorwürfe von mir gefallen lassen.

Wie konnte es ausgerechnet mir passieren, im schallsicheren Ghetto der Klassik zu landen, dessen Abmessungen von Claudio Monteverdi bis Luigi Dallapiccola, von Johann Joseph Fux bis Hans Werner Henze reichen? Wie konnte die angelsächsische U-Musik, das wichtigste Integrationsmedium, die letzte Religion des Abendlandes, an mir abperlen wie an einem ungläubigen Atheisten?

Kein Jazz, kein Pop, kein Rock, keine Weltmusik – nein, kein einziger mildernder Umstand ist mir anzurechnen. Und so geht das seit meinem dreizehnten Geburtstag. Oh, wäre ich doch erst mit dreißig an die Klassik geraten, als Spätbekehrter! So aber wechselte ich direkt vom Stimmbruch in die Frührente. Alles wurde kompliziert – Pubertät, Schulzeit, Studium, meine ganze »Sozialisierung«. Im Fall eines Klassik-Fans sollte man zutreffender von einer »Asozialisierung« sprechen. Wie viel glaubwürdiger, kritikgefeiter stünde ich heute da, könnte ich mit einem breiten Grinsen verkünden: »Natürlich habe auch ich mit fünfzehn Jahren AC/DC, Police und Supertramp gehört. Aber dann, gegen Ende meiner irrenden Jugend, erlebte ich eine zünftige Bekehrung. Ich mutierte vom Judas-Priest besessenen Saulus zum Mendelssohn flötenden Paulus.«

Doch nein, es war mir nicht gegeben, musikalisch korrekt aufzuwachsen. Die U-Musik – ich boykottierte sie und habe mir in dreizehn Schuljahren vielleicht dreizehn Songs überspielt. Meine heiße Liebe gehörte Bruckners 7. oder Schostakowitschs 15. Symphonie. Und für diese Liebe litt ich, in brüsker Abkehr von allem, was da »achtziger Jahre« hieß. Wenn auf Klassenfahrten oder Partys – raren Partys! Einen Klassik-Fan lädt doch keiner ein – über Pop- und Rockgruppen gefachsimpelt wurde, konnte ich nicht einmal mitlästern.

Zentrale Elemente einer modernen Bildung fehlen mir heute so sehr, dass meine Umgebung mich beim Kneipenschunkeln oft ungläubig mustert: »Das kennst du nicht? Du kennst nicht ›Child in time‹ von Deep Purple?« Nein, ich kenne es wahrhaftig nicht. Mein erster Discobesuch fand im fernen Freiburg statt; da war ich zwanzig Jahre alt. John Lennons »Imagine« habe ich zum ersten Mal in einem polnischen Dorf vernommen, mit sechsundzwanzig Jahren. Kurz vorher, 1994, besuchte ich mein erstes Rockkonzert, Pink Floyds Auftritt im Berliner Olympiastadion, aber nur, weil man mich als Brezelverkäufer einstellte.

 

*

 

Im Eingangsbereich des Kopenhagener und auch des Hamburger Hauptbahnhofs werden die Passanten seit einigen Jahren von klassischer Musik berieselt; zuletzt hörte ich dort den zweiten Satz von Mendelssohns Violinkonzert e-moll. Hinter der provokanten Maßnahme steckt aber kein Geige spielender Bahnhofsdirektor, sondern knallharte Soziologie. Polizeiliche Studien haben nämlich ergeben, dass Boccherini, Haydn und Brahms die Zahl der Drogensüchtigen und Penner erheblich vermindern. Sei es, dass klassische Musik sogar eine Bahnhofshalle beseelt – weil sie vielleicht ein Gefühl von gutbürgerlichem Wohnzimmer erzeugt, in dem herumzurotzen schwerer fällt –, sei es, dass Violinkonzerte abstoßend wirken wie einst Walnussbäume, die die Insekten von den Bauernhöfen abhalten sollten: Ein Bahnhof wird sicherer, wenn er von einem Klassik-Mantel umhüllt wird. Auch die Rucksack-Touristen haben weniger Lust, ihre Isomatten auszurollen. Wenn ich als Einziger in der riesigen Halle stehen bleibe und neugierig der Musik lausche, komme ich mir vor wie ein Marsbewohner, der fasziniert eine Vogelscheuche betrachtet, statt zu kapieren, dass sie ihn verjagen soll.

Ja, Klassik gilt als Abturner. Man wird belächelt und geächtet, zumindest wenn man unter fünfzig ist, Musik nicht als Broterwerb betreibt und nicht in Kreisen verkehrt, in denen man »Hubertus«, »Otto« oder »Frederick« heißt und in Salzburg oder Bayreuth Premieren-Sekt schlürft. Ein zwanzigjähriger, dreißigjähriger Klassik-Fan gilt als seitengescheiteltes Bürgersöhnchen, weltfremdes Sensibelchen, konservativer Bildungsbürger, braves Pfarrerssöhnchen, verzärtelter Waldorfschüler, schwuler Snob, schöngeistiges Muttersöhnchen, humanistischer Gymnasiast, ekelhafter Streber.

So darf ich mich aufschluchzend als die moderne Variante von David Copperfield bezeichnen. Was bei Dickens die Londoner Armenviertel sind, in denen David seine getretene Jugend verlebt, das waren bei mir Schulhof, Mensa und jede andere Ansammlung von Zeitgenossen. Aufatmen konnte ich nur in den schalldicht isolierten Klassik-Abteilungen der Musikgeschäfte, zwischen deren einsamen Regalen ich mich nach der Schule herumdrückte, zusammen mit lebenshungrigen Rentnern, die den Verkäufer nach der feurigsten Einspielung von Ravels Bolero fragten.

 

*

 

Oder täusche ich mich? Unterliege ich einem Verfolgungswahn? Steht die klassische Musik in Wahrheit nicht ziemlich hoch im Kurs? Wird sie nicht umweht vom Flair einer elitären Randgruppe und gilt als intellektuell anspruchsvoll? Zeigen nicht die Prognosen, dass sie sich noch einige Jahre lang gut verkaufen wird? Ja, die CD-Verkaufszahlen sind prozentual sogar weniger eingebrochen als im U-Musik-Sektor. Die Labels können sich freuen, dass der durchschnittliche Klassik-Fan immer noch nicht weiß, wie man Musik aus dem Internet klaut.

Weinhandlungen, in denen abwechselnd Popmusik und Klassik gespielt wurde, berichten, dass Mozart und Kollegen den Umsatz um das Zweieinhalbfache erhöhten. »Dabei nahmen die Kunden insgesamt zwar nicht mehr Flaschen mit – dafür aber teurere! Der Grund: Mozart-Symphonien – wie klassische Musik im Allgemeinen – assoziieren die meisten von uns mit feiner Kultur, vielleicht auch mit vornehmem Geschmack und Prestige«. [2]

Auch der schulische Musikunterricht preist vermutlich immer noch den Haydn’schen Sonatenhauptsatz als die Vollendung abendländischer Musik. Oder analysieren deutsche Studienräte inzwischen die Lieder von Tokio Hotel?

In der akademischen Musikwissenschaft jedenfalls existiert die U-Musik nicht. Ein Buch des renommierten Musikwissenschaftlers Peter Gülke, das den universalen Titel Die Sprache der Musik trägt und nicht 1950, sondern im Jahr 2000 erschienen ist, dreht sich auf 453 Seiten ausschließlich um E-Musik zwischen Johann Sebastian Bach und Heinz Holliger. Ähnlich verhält es sich mit dem Standardwerk Musik im Abendland von Hans Heinrich Eggebrecht.

Der Gipfel ungebrochener Klassik-Weihen waren die TV-Huldigungen zum einhundertsten Geburtstag von Herbert von Karajan. Man durfte (und ich wollte) bisweilen glauben, Klassik sei insgeheim immer noch die Aushängemusik des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Eines dieser opulenten Porträts begann an einem Sonntagabend des Jahres 2008, direkt nach Anne Will. Szenen aus einem langen Dirigentenleben endeten mit der Erzählung von Karajans Tod daheim im Salzburger Bett: Zur Begleitung von »Isoldes Liebestod« schwebten einsame Adler über schroffen Bergschlünden. Musik und Bilder rührten mich so tief, dass ich erst anschließend bemerkte: Fünfundvierzig Minuten lang war kein Wort darüber verloren worden, dass der Heros zeitgleich mit Dizzy Gillespie, den Rolling Stones, mit Led Zeppelin und Queen gelebt hatte. Was dachte ein Karajan, wenn er sich im Jahr 1969 nach einer Brahms-Symphonie zu den zweitausend Applaudierern seiner Philharmonie umdrehte? Dachte er an das Durchschnittsalter seiner Zuschauer, an die Subventionen des Berliner Senats oder an Woodstock, wo sich gerade einhunderttausend Nackedeis munter mit Pfützwasser bespritzten?

Vermutlich ließ es ihn kalt. Und nicht nur die Stars haben sich schalldicht eingeigelt in ihren Philharmonien, sondern auch wir, die gemeinen Fans. Zwar schwatzen wir viel von Öffnung und Crossover, bejubeln Ausnahmekünstler wie Lang Lang, Keith Jarrett oder Nigel Kennedy, aber ein junger Pianist, der so tollkühn wäre, auf das Programm seiner Solo-Rezitale außer Bach und Chopin auch ein Beatles-Potpourri zu setzen, würde von uns gemieden und bekäme keinen Vertrag bei einem seriösen Klassik-Label. Manche Klassik-Fans werden regelrecht aggressiv, sobald sie hinaus in das kakophonische Treiben der U-Musik schauen, etwa der niederländische Schriftsteller und Organist Maarten t’Hart: »Zum Glück erschienen in den durch die Beatles, durch Miniröcke, sexuelle Revolution und Kuba-Krise geplagten sechziger Jahren bei Erato nach und nach Aufnahmen von Les Grandes Cantates de Johann Sebastian Bach unter der Leitung von Fritz Werner.«

Oder: »Auch so schrecklichen Dingen wie dem Jazz bin ich dank Bach nie anheimgefallen.« [3]

 

*

 

Solch unverhohlene Arroganz ist wohl nur noch den älteren Klassik-Fans vergönnt. Mir, fünfundzwanzig Jahre jünger als t’Hart, kommt sie vor wie lautes Pfeifen im Dunkeln. Seit Kindesbeinen sehe ich die Macht der Gegenseite und bemühe mich schamhaft, meine absonderliche Musikvorliebe zu verbergen. Einmal zur Vorweihnachtszeit, als ich in einem Berliner Kulturkaufhaus mit vier Klassik-CDs zur Kasse ging, vier Versionen von Gustav Mahlers Auferstehungssymphonie, hielt ich dem Druck nicht mehr stand. Hektisch langte ich ins kassennahe Indie-Rock-Regal und legte eine Yo La Tengo-CD auf den CD-Stapel. So konnte der Verkäufer beim Scannen der Ware glauben, dass die Klassik-Sachen nur Geschenke für meine Großeltern seien.

Sogar in der eigenen Wohnung reagiere ich heuchlerisch: Klingelt es an der Wohnungstür, und sei es nur der Klempner, hole ich rasch die Hindemith- oder Mozart-CD aus dem Player heraus und lege dafür eine Mike-Patton- oder Chris-Cornell-CD ein. Es darf ruhig sehr laut sein – Hauptsache, aus dem Wohnzimmer dringen keine Streicherklänge.

Auf Ämterkorridoren, in öffentlichen Toiletten und Flughafen-Lounges bemühe ich mich, keine Berlioz- oder Schostakowitsch-, sondern Coldplay-Melodien zu pfeifen, gerne auch Filmmusik, etwa aus dem Paten.

Falls ich im ICE-Waggon den Klassik-Kanal höre, drehe ich, wenn ich zur Fahrkartenkontrolle den Kopfhörer absetzen muss, rasch auf Minimal-Lautstärke, damit die anderen Passagiere nicht Lunte riechen. Einmal geschah es mir peinlicherweise, dass ich auf meinem Laptop Anton Bruckners 3. Symphonie hörte, aber den Kopfhörer nicht richtig eingestöpselt hatte. Der glühenden Geistlichkeit bruckneresker Klänge hingegeben, bekam ich nicht mit, dass die Musik nicht nur in meinem Kopfhörer erklang, sondern auch den überfüllten ICE-Waggon bombastisch scheppernd beschallte. Erst an den befremdeten Blicken, am Grinsen der Mitreisenden wurde mir deutlich: Ich war aufgeflogen. Ich war einer, der Klassik im Laptop hatte.

Oder bildete ich mir die »befremdeten Blicke« mal wieder nur ein? Grinsten die Leute in Wahrheit über die Segelohren des Schaffners? Ich habe jedes objektive Urteil verloren. Es ist eine grundsolide Paranoia.

iiMilieu

Am Hügel endet leise der Abendwind, Verstummt die Klage der Amsel, Und die sanften Flöten des Herbstes Schweigen im Rohr.

Georg Trakl, Geistliche Dämmerung

Niemand außer SZ-Kritikerpapst Joachim Kaiser ist je auf die Welt gekommen mit dem glasklaren Wissen: »Herrjemine – ich bin Klassik-Fan!« Auch bei mir dauerte es einige Jahre, ehe klarwurde, dass da etwas nicht stimmte. Erst tief in der Pubertät setzte die bohrende Frage ein: Warum höre gerade ich diese Barock-Chöre und romantischen Symphonien, bei denen jedes anständige Mädchen auf die Uhr guckt?

Die erste Antwort, die ich mir gab, lautete: Ich bin halt ein Pfarrerssöhnchen. Mein Milieu ist schuld. Was bleibt dem Sohn, dem Neffen und Enkel eines Theologen denn auch anderes übrig, als Klassik-Fan zu werden? Sogar meine Babysitter waren doch Theologiestudenten.

Mein Vater amtierte zunächst als evangelischer Pfarrer in der nordhessischen Kleinstadt Wolfhagen und wurde dann an eine nichtstaatliche, aus Kirchenmitteln unterhaltene Hochschule berufen, und zwar nach Wuppertal, die vor allem dank Loriots »Herrenboutique« bekannte Hauptstadt des Bergischen Landes. Die Hochschule befand sich inmitten des langgezogenen Tals auf einem Hügel namens Hardt, der wegen seiner frommen Bewohner auch »Heiliger Berg« genannt wurde.

Wer vom Wuppertaler Hauptbahnhof auf die Hardt gelangen wollte, musste am Döppersberg in die Schwebebahn einsteigen und an einer Station namens Völklinger Straße aussteigen. Wenn er dann frontal den Berg hinaufschaute, sah er oben zwischen alten Buchen einen der weltweit einhundertzweiundsiebzig erhaltenen Bismarcktürme. Über einen steilen Waldweg ging es hinauf zu dem trutzigen Koloss, der mir paradoxerweise immer wie der zu Stein gewordene Kleinbuchstabe »t« erschien. Falls Obertürmer Harald Müller aufsperrte, der später in seiner Barmer Dachwohnung tragisch verbrannte, konnte man die Aussichtsplattform erklimmen und den Blick über das Tal und die umliegenden Anhöhen schweifen lassen. An schönen Sommertagen glitzerte in weiter Ferne der Rhein, allerdings leicht zu verwechseln mit den verzinkten Schloten der Chemiefirma Bayer.

Klaustrophobischen Anwandlungen, die in einem solchen nimmer endenden Tal leicht entstehen können, versuchten die Wuppertaler seit jeher durch malerische Türme abzuhelfen, die dem Auge einen fernen Ruhepunkt bieten. So stand etwa auf den östlichen Höhen der merkwürdig geformte Toelleturm, auf den nördlichen der alte Wasserturm, der im lokalen Platt »Atadösken« hieß, weil er wie eine Ata-Streudose aussah.

Neben dem Bismarckturm lagen die Gebäude der Justizvollzugsschule Nordrhein-Westfalen, an der jeden Morgen, wenn ich zur Schule ging, unzählige VW- und Opel-Kleinwagen vorfuhren, und zwar aus den entferntesten Gemarkungen des Bundeslandes. Ich lernte Kennzeichen von Heinsberg bis Paderborn kennen. Stämmige Männer entstiegen ihnen, und zwar – was ich sympathisch fand – stets in pragmatischen Vierer-Fahrgemeinschaften. Sie waren zukünftige Gefängniswärter, die hier ihre Ausbildung absolvierten.

Dann kam eine große Wiese, unterbrochen von einer garstigen Dschungel-Hecke, die das staatliche vom kirchlichen Gelände trennte. Dahinter stiegen mehrere burgartige Gebäude auf. Über dem burgartigsten, in dem sich der große Hörsaal befand, genannt Auditorium Maximum, erhob sich ein richtiger Glockenturm. Hier schlug das Herz der Kirchlichen Hochschule. 1935 als Bollwerk der Bekennenden Kirche gegen den Hitlerstaat und seine Drohnen, die Deutschen Christen, gegründet, wurde die Hochschule nach 1945 wiederbelebt und bildete seither den Pfarrernachwuchs des Rheinlands aus. Einmal pro Jahr reisten aus ganz Deutschland die Kuratoren an, pensionierte Pfarrer und Professoren, von denen einige noch im KZ gesessen hatten, und berieten über den Haushalt des kommenden Jahres.

 

*

 

Beliebt war die Kirchliche Hochschule vor allem bei schüchternen Erstsemestern, weil unter den zweihundert Bewohnern eine familiäre Atmosphäre herrschte. Die Professoren mussten, vielleicht in Anlehnung an die Ideale des Urchristentums, in denselben Gebäuden wie ihre Studenten hausen. Und so bezogen auch wir, meine Eltern, mein jüngerer Bruder Tilman und ich, den Seitenflügel eines Wohnheims. Am Wochenende gab es studentische Flurpartys, so laut und so lange, bis mein Vater hinüberging und freundlich um Ruhe bat und das dann noch fünf Mal wiederholte. Auch meine Mutter hatte ihre Not mit den adoleszierenden Theologen. Sie war gerade dreißig Jahre alt und hatte sich am Timmendorfer Strand einen Strandkorb bestellt. Der stand nun im Garten des Studentenwohnheims, und auf seinem weiß-roten Streifenpolster sonnte sich die Professorengattin in ihrem blauen Bikini. Das hatte es an der Kirchlichen Hochschule seit 1935 nicht gegeben. Kein Wunder, dass die armen Studiosi in den Fenstern hingen, statt Hebräisch-Vokabeln zu lernen.

Die Wand-an-Wand-Nachbarschaft mit den Studenten hatte für meine Eltern aber auch Vorteile. Es wimmelte nur so von potentiellen Babysittern. Wenn sie abends ausgehen wollten, mussten sie lediglich eine Verbindungstür in unserem Flur öffnen, um in die nach ranzigem PVC-Belag stinkende Küche der Studenten zu gelangen, wo sie einen Zettel aufhängten. Zwei Stunden später meldete sich dann jemand, der am Abend zehn Mark verdienen wollte.

So manchem meiner Babysitter stand der künftige Familiengottesdienst-Entertainer schon ins bärtige Gesicht geschrieben. Meine erste Erinnerung an Musik ist denn auch die Gitarren-Canzone »Mein Gott, Walter!« des TV-Ulkbarden Mike Krüger, gespielt von einem Babysitter namens Henning Trübel, der aus dem Saarland kam. Er trug eine riesige Brille, lachte breit wie ein saarländischer Chinese und hegte eine Leidenschaft für das Schrammeln von Sakro-Pop-Schlagern. Die meisten Babysitter interessierten sich nicht für uns und setzten sich vier Stunden lang mit ihren Hebräisch-Vokabelkarten vor den Fernseher – nicht so Henning Trübel. Er kam sofort mit der Gitarre in unser Zimmer und sang zunächst das obligatorische »Laudato si, o mio signore!« Hierauf ging er zu weltlichen Liedern über, eben zum Beispiel zur Moritat vom Pechvogel Walter, deren neun Strophen er alle auswendig kannte. Die letzte war die beste. Sie brachte uns jedes Mal zum Lachen:

Ja das Leben verlangte Walter schon ne’ Menge ab Und sein Pech verfolgte ihn sogar bis ins Grab. Denn sein Sarg glitt den Trägern aus den Händen. Auf den Boden knallt er. Der Pfarrer rief entsetzt: Mein Gott Walter.

Später widerfuhr Henning Trübel leider Ähnliches wie seinem Held Walter: Wegen Pfuscherei in der Hebräisch-Klausur wurde er von der Hochschule geschasst. »Im Trübeln ist nicht gut fischeln«, bilanzierte mein Vater den traurigen Fall. Keine Ahnung, ob aus dem Saarländer später doch noch ein seriöser Menschenfischer geworden ist.

 

*

 

Aber selbst wenn es ihm gelungen ist und er heute noch im Konfirmandenunterricht sein »Laudato si« schrammelt: Henning Trübel ist deswegen, dafür lege ich meine Hand ins Fegefeuer, noch lange kein Klassik-Fan geworden. Ähnlich verhielt es sich mit achtundneunzig Prozent seiner Kommilitonen. Man müsste eher umgekehrt sagen: Einen Klassik-Fan konnte man unter den zweihundert Studenten der Kirchlichen Hochschule mit der Lupe suchen. Ich weiß es, weil ich als Kind oft genug durch die Verbindungstür in den Nachbarflur gehuscht bin und heimlich die stinkende Küche inspiziert habe. Aus den Studentenzimmern erscholl alles Mögliche, aber keine Klassik. Hauptsächlich war es wohl deutscher Rock, auf Platz zwei kamen Betroffenheits-Balladen von Bettina Wegner, Joan Baez und Bob Dylan, doch rollte sich der ranzige PVC-Belag auch zu hämmernden Sex-Pistols- oder Joy-Division-Klängen.

Nein, das Klischee von den Theologiestudenten, die sich bei Bach-Kantaten und Beethovens Missa Solemnis erbauen, stimmte einfach nicht. Sie lernten Griechisch und Hebräisch – das ja, und sie bemalten ihre Bettlaken mit Parolen gegen die NATO-Nachrüstung – das auch. Aber vor allem spielten sie Fußball, und zwar auf sehr hohem Niveau, mit Eisenstollen und Schienbeinschonern.

Hinter den Studentenwohnheimen gab es eine große Wiese und einen stets von drei Pfützen gewässerten Aschenplatz. Dort wurde an allen sieben Schöpfungstagen gekickt. Wir Professorenkinder durften gnädigerweise mitspielen. Man brachte uns die Abseitsfalle, aber auch Schimpfwörter wie »Armleuchter« oder »Blindfisch« bei.

Ein Hauptereignis jedes Semesters waren die Hochschulmeisterschaften, bei denen die einzelnen Wohnheimflure über mehrere Wochen hinweg gegeneinander antraten. Der Tag des Endspiels begann mit einer allgemeinen Volksbelustigung, nämlich einem Match der Professoren gegen eine Studentinnen-Auswahl. Mein Vater stand dabei meist im Tor und war nicht imstande, die harmlosesten Bällchen zu parieren. Peinlicherweise lachte er noch dazu, war aber unter seinen Kollegen zum Glück nicht das einzige Antitalent.

Wie kam es, fragte ich mich am Spielfeldrand entsetzt, dass die Theologiestudenten so gut spielten, während ihre Professoren nicht für fünf Pfennig Ballgefühl hatten? Verlor man sein Ballgefühl mit dem Alter? Nein, allmählich kam ich dahinter, dass ich einem ungeheuren Generationswechsel beiwohnte. Während die Professoren noch der Epoche entstammten, in der Theologen des Sonntags eine Kirche aufsuchten, gehörten ihre Studenten bereits den modernen Zeiten an, wo man sonntags Eckbälle trainierte. Jedenfalls musste man, bis auf zwei Ausnahmen – einen Tennis spielenden Griechischdozenten und einen Systematiker mit Sportbrille –, Mitleid haben mit den Gotteswissenschaftlern, die da über den Platz eierten. Fast immer kam es ohne jede Fremdeinwirkung zu bösen Verletzungen, und dann saß ein Neutestamentler benommen auf der Asche, ein Alttestamentler trug einen weißen Kopfverband, und ein Kirchengeschichtler hinkte im Strafraum herum, weil er gegen den Torpfosten statt gegen den Ball getreten hatte.

Ich hatte als Zuschauer jedenfalls ausgiebig Gelegenheit, mich für meine Theologenabkunft zu schämen und heilige Schwüre abzulegen, mein Leben lang streng gegen das Klischee vom Pfarrerssohn zu verstoßen.

Nur in Bezug auf das Fußballspielen ist es mir gelungen. Kein Nachmittag, an dem mein Bruder Tilman und ich nicht auf dem Aschenplatz mittrainierten. Während Tilman zum Abwehrturm heranwuchs, lauerte ich als unfehlbarer Knipser – neidische Gegner nannten es »Abstauber« – am gegnerischen Strafraum auf gute Pässe. Später gründeten wir sogar eine eigene Mannschaft nur aus Professorensöhnchen, die bei den Meisterschaften der späten achtziger Jahre grausame Kantersiege gegen die ach so sportlichen Theologiestudenten errang, einer davon lautete gar 62: 2. Ich wurde Torschützenkönig, weil ich im gesamten Turnier mehr als fünfzig Treffer verbuchen konnte. Noch heute getraue ich mich nicht, meinen Teamkameraden einzugestehen, dass ich schon damals ein Klassik-Fan war.

Auch die anderen Professorensöhnchen hörten nämlich keineswegs Mozart oder Brahms. Unsere Väter, die schlechten Fußballer, waren die letzte Theologengeneration, die noch Klassik-Platten im Plattenschrank hatte. Aber damit erschöpfte sich auch bei ihnen die Teilnahme an der bürgerlichen Kultur. Man lebte zumeist in bescheidenen IKEA-Möbeln und begnügte sich mit dem staatlichen Fernsehprogramm. Theater, Oper, Literatur, Kabarett, Kino, Kunstausstellungen – der ganze bildungsbürgerliche Betrieb interessierte nicht. Es gab auch keinerlei Hausmusik-Streichquartette, keine Dramen-Lesungen mit verteilten Rollen, nicht einmal einen SZ- oder FAZ-Abonnenten. Stattdessen las oder boykottierte man den Wuppertaler Generalanzeiger. Höhepunkt des allsemestrigen Kulturlebens waren die Kaffeekränzchen der Professorengattinnen sowie die »Bunten Abende« der Studenten, wo in der girlandengeschmückten Mensa kleine Professoren-Verulkungen oder hundertstrophige Reinhard-Mey-Balladen geboten wurden. Manchmal kamen Kollegen meines Vaters zu uns an den Mittagstisch; dann wurde über Bezirkssynoden, Politik und Fußball geredet. Eine Goethe-Ausgabe besaßen wir nicht, ebensowenig Bücher von Thomas Mann, dessen säkular aufgeweichten »Humanismus« mein Vater und auch mein Großvater verabscheuten. Die nichttheologischen Bücher unseres Wohnzimmerregals stammten von Heinrich Böll und Henry Miller.

Vielleicht wurde die Kunst als weichgespülte Konkurrenz der Religion empfunden – jedenfalls ignorierte man sie auf dem »Heiligen Berg« recht weitgehend. Mit Ausnahme der Musik: Sämtliche Theologen sangen gerne. An Sankt Martin zogen die Studenten mit uns Kindern durch die Häuser der Nachbarschaft und brachten uns zur Abwechslung einmal nicht die Abseitsfalle, sondern »Ich geh mit meiner Laterne« bei. Viele Studenten spielten Gitarre, und in den werktäglichen Morgenandachten im Auditorium Maximum, zu denen die Glocke um zehn Uhr rief, wurden gerne und lange alle Arten von geistlichen Liedern gesungen, ob Bach-Choräle, Sakro-Pop-Songs oder Taizé-Gesänge.

Mit der Zeit bastelte ich mir eine kleine Theorie, woher die protestantische Liebe zur Musik rührte. Sie war der einzige Weg, den so schwierig gewordenen christlichen Glauben noch laut werden zu lassen, ohne dass es peinlich wurde. Begriffe wie Gott, Jesus oder Auferstehung der Toten wurden nämlich im Alltag streng vermieden. Man sagte nicht: »Das liegt in Gottes Händen«, sondern allenfalls »Das liegt in anderen Händen«. Man bekreuzigte sich nicht und spulte das Tischgebet – falls man es überhaupt noch pflegte – scheinbar lieblos herunter.

Religiösen Gefühlskitsch überließ man lieber den »Evangelikalen«, den unzähligen protestantischen Sekten, die unten im unheiligen Tal der Wupper wucherten – zahlreicher als in jeder anderen deutschen Stadt. Der wissenschaftlich gefilterte Glauben, dessen Vorbilder Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer waren, hatte außerhalb der Kirchen stumm zu sein, sogar unter den zweihundert Menschen, die da auf dem Heiligen Berg wohnten und sich wahrlich unter ihresgleichen hätten fühlen dürfen. Niemand berichtete von persönlichen Gotteserfahrungen, es gab kein Zungenreden und keine Traumanalysen; weder drückte man auf körpereigenen Chakren herum noch analysierte man seine letzte Inkarnation. Es wurde eine strenge Askese eingeübt, die gegen jede heidnische Esoterik immunisieren sollte. Auf Außenstehende, etwa die tanzanischen oder koreanischen Semesterstipendiaten, wirkte das vermutlich wie ein verzweifelter Spagat, wie ein nebulöses Glasperlenspiel, das kein Mensch verstehen konnte, der nicht fünfzehn Jahre Kindergottesdienst hinter sich hatte. Erst im Gesang lösten sich alle Probleme wie von selbst. Kein Wunder, dass Johann Sebastian Bach verehrt wurde wie der fünfte Evangelist.

 

*

 

Für mich war es oft lästig, am Ende aber faszinierend, einer so unzeitgemäßen Community anzugehören, die weder an meiner Schule noch in den Medien ernst genommen wurde. Ich bewunderte diese Menschen, die sich hartnäckig einer sonst überall belächelten Sache widmeten. Mit den Jahren wurde ich sogar immer neugieriger. Wenn auf der Wiese neben dem Fußballplatz verlorene Vokabelkärtchen mit hebräischen Wörtern herumflatterten, hob ich sie auf und argwöhnte, dass in diesen Strichen und Punkten die tiefsten Geheimnisse verborgen lägen. Gelüftet wurden sie vermutlich nur hinter den verschlossenen Seminartüren und im Schutz des akademischen Fachjargons.

Nach dem Zivildienst wurde ich deshalb selber zum Theologiestudenten und immatrikulierte mich bei der Sekretärin, die mir als Kind Schokoladenstücke in den Mund gesteckt hatte. Sie begrüßte mich als baldigen Nachfolger meines Vaters. Nach wenigen Wochen folgte ein peinlicher Rückzug meinerseits. Vielleicht hatte ich nur das falsche Seminar erwischt – jedenfalls zeigte mir die »Einführung in die neutestamentliche Bibelexegese« auf ernüchternde Weise, dass auch hinter den verschlossenen Türen keine Mysterien offenbart wurden. Professor und Studenten waren auch hier nicht in der Lage, die schüchternen Münder zu öffnen. Ich verlor die Geduld mit den subtilen Andeutungen und wissenschaftlichen Verklausulierungen und sattelte auf ein Philosophiestudium um.

Die Vermutung, dass eine Kindheit im theologischen Milieu automatisch zum Klassik-Fan schmiedet, wurde mir seither tausendmal an den Kopf geworfen, gelegentlich nicht ohne Aggression. Ich kann sie aber nur zu einem Fünftel mit »Ja« beantworten. Sicherlich, eine musikalische Umgebung ist gerade im Fall der Klassik unabdingbar. Wer als Kind niemals mit Klassik zu tun hatte, wird diese Musik vermutlich nicht mehr kennenlernen; ein Erstkontakt im Alter von zwanzig Jahren dürfte zu spät kommen. Wenn man zusätzlich, so wie ich, in einer gesellschaftlichen Randgruppe aufgewachsen ist, wird man möglicherweise auch einen gewissen Mut zur Opposition gegen den Zeitgeist mitbekommen, ohne den der Klassik-Fan Harakiri begehen müsste.

Doch all das sind nicht mehr als Voraussetzungen zum Klassik-Hören. Vier Fünftel aller Jugendlichen, die diese Voraussetzungen mitbekommen, werden trotzdem nicht zu Klassik-Fans – so wie ich es an den kickenden Theologiestudenten sah, unter denen klassische Musik nicht mehr salonfähig war. In noch höherem Maße galt diese Abneigung übrigens für meine Mannschaftskameraden, die Theologensöhnchen vom Aschenplatz. Hier schlugen die »idealen Voraussetzungen« geradezu ins Gegenteil um. Die permanente Nähe zur protestantischen Musik-Religion, zu Orgelpräludien, Gesangbuchliedern und Kantatengottesdiensten, machte viele von ihnen fuchsteufelswild. Sie setzten nach der Konfirmation nie wieder einen Fuß in die Kirche, verabscheuten Bach-Passionen und wurden strikte Mainstream-Hörer oder schweigende Buddhisten.

iiiDer elterliche Plattenschrank

Die zweite Antwort, die ich mir auf die Frage nach meinem perversen Hobby gab, lautete: Wenn eigentlich kein einziges Theologensöhnchen, das zusammen mit mir im Kindergottesdienst saß, zum Klassik-Fan geworden ist, dann verengt sich der Kreis der Verdächtigen. Dann muss es an meiner höchstpersönlichen Musiksozialisierung gelegen haben, sprich: an meinen Eltern.

Auf den ersten Blick wirkte die Hypothese schlüssig. Meine Mutter spielte Gitarre, und zwar so gut, dass sie damit ihren Unterricht als evangelische Religionslehrerin auflockern konnte. Mein Vater, der um ein Haar Klavier studiert hätte, spielte vor dem Mittagessen mal eben eine Schubert-Sonate, und wenn meine Mutter mit dem Kartoffelbrei ins Zimmer kam, schwenkte er vor Freude auf die Schlagermelodie »Ich steh mit Ruth gut« um. Sein Paradestück war ein selbsterdachtes Variations-Potpourri auf »Die Vöglein wollten Hochzeit halten«, und zwar im Stil von Bach, Mozart, Beethoven, Chopin und Boogie-Woogie.

Trotzdem konnte man meine Eltern kaum als glühende Klassik-Fans bezeichnen. Sie waren eher aktive Hausmusiker; das passive Genießen von Musik, geschweige denn das fanatische Sammeln von Platten interessierte sie nicht. Symphoniekonzerte oder Opernaufführungen besuchten sie nicht, das Radio schalteten sie allenfalls im Auto an.

Im Plattenschrank unseres Wohnzimmers standen etwa einhundert Platten, vor allem Bach-Kantaten, dazu Brahms- und Schubert-Klaviersonaten; von Beethoven allerdings gar nichts, ebenso wenig von Debussy oder Mahler. Der einzige Vertreter aus dem 20. Jahrhundert durfte Max Reger sein, nämlich mit seinen geistlichen Chorgesängen. Doch waren diese Platten samt und sonders Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke fremder Leute an meine Eltern. Alle unsere Besucher waren der selbstverständlichen Meinung, ein Theologieprofessor höre nun einmal Brahms-Sonaten und Schubert-Messen. In Wirklichkeit hörte er am liebsten Bach, aber auch nur sonntags zum Frühstück. Da erklang dann, während wir unsere Eier klopften, die Kantate »Es ist nichts Gesundes an meinem Leib« oder auch »Liebster Gott, wann werd ich sterben?«

Eine dieser Geschenk-Platten betrachtete ich immer wieder mit Respekt: Sie war mir, als mein Vater einmal nicht zu Hause war, an der Wohnungstür von einem sehr fahrigen Studenten überreicht worden, der sich wenige Stunden später von einer Autobahnbrücke stürzte. Die Platte sollte der Dank für die monatelangen Seelsorgegespräche sein, die mein Vater mit ihm geführt hatte, sowie eine Entschuldigung dafür, dass alles vergeblich gewesen war. Auf dem Plattencover fand sich, mit Kugelschreiber sehr sauber geschrieben, die Widmung: »Für Christian M. mit herzlichem Dank.« Mein Vater rätselte noch lange, warum der Selbstmörder ihm ausgerechnet zwei heitere Mozart-Symphonien geschenkt hatte. Lag hier der Beweis für Franz Schuberts umstrittene Behauptung, dass es eigentlich gar keine heitere Musik gebe? Für mich jedenfalls sind diese beiden Symphonien, KV199 und 200, seither der Beweis dafür, dass die Phrase von der »abgründigen Heiterkeit« Mozarts ihre Berechtigung hat. Bis heute kenne ich keine unheimlichere Musik.

Viel wichtiger als Schallplatten war für meine Eltern der Sport. Mein Vater guckte, als glühender Fan von Borussia Mönchengladbach, an jedem Wochenende die Sportschau, und um sich die nervösen Minuten davor irgendwie zu verkürzen, spielte er gegen meine Brüder und mich Tischtennis. Er war darin ein ähnliches Ass wie am Klavier. Weil ihn Gnaden-Pingpong langweilte, schuf er uns materielle Anreize: Wer aus dem Schneider kam, verdiente sich ein Würstchen, wer ihn gar besiegte, bekam noch eine Fanta dazu. Auf meine Frage, warum sein Ballgefühl ihn, den großen Tischtennisspieler, auf dem Fußballplatz so radikal im Stich ließe, wusste er allerdings keine Antwort.

Meine Mutter spielte Tennis, war mehrfache Klubmeisterin und lockte auch ihre Kinder auf die rote Asche, wo wir einige Jahre lang Trainerstunden erhielten. Als Boris Becker 1985 seinen ersten Wimbledon-Sieg errang, durfte meine Mutter für sich in Anspruch nehmen, dass sie seinen Aufstieg schon zwei Jahre vorher prophezeit hatte.

 

*

 

Dass mich unsere Bach-Platten zur Klassik gebracht hätten, kann ich nicht behaupten, eher im Gegenteil: Es entstand eine schrundige Aversion gegen Tenor-Rezitative und Alt-Arien, mit einem speziellen Horror vor heulenden Frauenstimmen. Diese Aversion führte dazu, dass ich heute noch ein amputierter Klassik-Fan bin, nämlich ohne die rechte Liebe zur Oper. Aber auch die Brahms- und Schubert-Sonaten gefielen mir erst viel später, als ich zum heimischen Plattenschrank bereits ein entspanntes Verhältnis hatte. Trotzdem hat mich dieser Schrank beeinflusst, und zwar mit seinem Bestand an U-Musik. Nicht so sehr die Biermann- und Degenhardt-LPs beeindruckten mich, als vielmehr die Dutzende von Singles, die hüllenlos nackt in einem langen, gelben Gitterständer steckten und dementsprechend verkratzt waren. Unter ihnen dominierte der deutschsprachige Schlager von Peter Alexander bis Ina Deter, hinzu kam Filmmusik, Alexis Sorbas und Der Clou, sowie die spezielle Schwäche meiner Mutter: Französische Chansons von Jacques Brel und Yves Montand. Ihre größte Leidenschaft waren aber Johann-Strauß-Walzer. Wie aus heiterem Himmel konnte sie den Teppich vor dem Fernseher wegschieben, den nächstbesten Sohn schnappen und mit ihm durch das Wohnzimmer walzen: »Immer bis drei zählen! Und der Herr muss führen!« Eben wegen dieser Walzerliebe schaltete sie auch regelmäßig das Wiener Neujahrskonzert ein, die einzige Gelegenheit im Jahr, bei der in unserem Fernseher Klassik lief.

Zwei unserer verkratzten Singles gefielen mir am besten: Alain Barrières Chanson »Un poète ne vit pas très longtemps« und Cat Stevens’ Hippie-Ballade »Morning has broken«. An dunklen Winternachmittagen saß ich allein im Wohnzimmer auf dem Sofa, legte mir im Wechsel diese beiden Singles auf und schmökerte dazu in meinem Lieblingsbuch aus dem Bücherschrank, einem dicken Band mit Schwarzweißfotos des Wimbledon-Tennisturniers von den Anfängen bis 1970. Während ich die schweißüberströmten Sieger- oder Verlierergesichter von Wilhelm Bungert, John Newcombe und Billy Jean King betrachtete, lauschte ich der Musik, und stand stets schon einige Sekunden vor dem Ende der Platte auf, um die Nadel wieder auf den Anfang zurückzusetzen. Vom Inhalt der Lieder verstand ich nur die Anfangsworte, spürte allerdings, dass es nicht um banalen Herz-Schmerz-Kitsch ging. Stevens’ »Morning has broken« würde ich heute dem letzten Stück aus Faurés Requiem, dem »In Paradisum«, musikalisch und theologisch völlig gleichberechtigt an die Seite stellen, beschreibt er doch den sanften Morgen nach dem Ende aller Dinge. Und Alain Barrières poetisch-heroisches Chanson bringt die Atmosphäre der französischen 68er-Zeit auf den Punkt.

Was in unserem Plattenschrank vollständig fehlte, waren die musikalischen Meilensteine der Achtundsechziger-Generation, zu der meine Eltern eigentlich jahrgangsmäßig gehörten. Von der Beatles-Manie der sechziger Jahre hatte sich gerade mal das rote Album eingefunden. Die Platte war unzerkratzt, weil nie gehört – ein weiteres nutzloses Geschenk. Von den Rolling Stones gab es rein gar nichts, nicht einmal von Louis Armstrong. Janis-Joplin-Platten kamen erst durch meinen Bruder Tilman ins Haus.

Nein, der Plattenschrank meiner Eltern hat mich bestimmt nicht zum Klassik-Fan gemacht. Allenfalls könnte man sagen: Er hat mich auch nicht zum Rock oder Pop oder Jazz gebracht. Er spiegelte einen weitherzigen Mainstream wider, wie ich ihn seither noch bei unzähligen anderen Akademikerfamilien beobachtet habe, zufällig gemischt von Geschenken und Sonderangeboten. Wenn die Kinder aller dieser Akademiker automatisch zu Klassik-Fans geworden wären, gäbe es heute einige Hobby-Chöre und -Symphonieorchester mehr auf der Welt. Schlagendster Beweis für die stark zu relativierende Rolle meiner elterlichen Klassik-Prägung sind übrigens meine Brüder Tilman und Julian, der Nachkömmling. Gleiche Eltern, gleicher Plattenschrank – und nix mit Klassik.

Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich auch dann zum Klassik-Fan geworden wäre, wenn meine Eltern zu Beethovens Leonore III-Ouvertüre oder Schostakowitschs 5. Symphonie durchs Wohnzimmer gerockt wären. Ich wage es zu bezweifeln. Wehe den Kindern der fanatischen Musik-Freaks – sie enden vermutlich in Gönn-dir-Stille-Workshops. In diesem paradoxen Sinn könnte man den Einfluss des elterlichen Plattenschranks auf meinen Musikgeschmack dann wieder recht hoch ansiedeln: Gerade weil es bei uns keine Beethoven-, keine Brahms-, keine Mahler-Symphonien gab, hatte ich die Freiheit, dies alles selbst zu entdecken.

 

*

 

Ach, und jetzt hätte ich fast noch eine sehr schöne Platte vergessen. Es war eine Kinderplatte, und wir hatten sie von unserer Oma Gertraude zu Weihnachten bekommen. Der Erzähler, Mathias Wieman, sprach ernst wie ein Lehrer, aber mit einer verhaltenen Wärme, die mich als Elfjährigen immer wieder vor den Plattenspieler zog. »Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Amadeus. Und Amadeus heißt: Von Gott geliebt.« Erzählt wurde die Geschichte vom Wolferl und seiner Schwester Nannerl, die gemeinsam mit ihrem Vater Leopold Mozart durch Europa ziehen. Bald legte ich mir nur noch die zweite Seite auf, weil das Ende so schön traurig war. Zunächst sangen Wolferl und Nannerl noch eine der letzten Kompositionen des erwachsenen Mozart, das Lied Komm lieber Mai und mache, und dann sprach der Erzähler einige traurige Sätze, wobei ihm fast die Stimme brach:

 

»Es will uns das Herz schwer machen, dass dieser mit überirdischen Gaben beschenkte Mensch in Vergessenheit und Elend sterben musste. Helfen, wiedergutmachen – das können wir heute nicht mehr. Aber lieben wollen wir dieses Kind, lieben müssen wir seine Musik. Und als Dank und kleinen Liebesgruß wollen wir mit Ehrfurcht und Behutsamkeit und mit dem von ihm geforderten Eifer an sein Werk gehen. Das soll unser Blumenstrauß sein, den wir auf sein unbekanntes Grab legen.«

Und dann ertönte eine todtraurige Orchestermusik, die direkt aus dem unbekannten Grab zu kommen schien. Als ich sie Jahrzehnte später bruchstückhaft im Autoradio wieder hörte, musste ich verwundert zugeben, dass sie eigentlich heiter war. Noch am gleichen Tag stürmte ich in einen Musikladen und entdeckte beim Durchhören aller sechsundvierzig Mozart-Symphonien, dass es sich bei meiner angeblichen Grab-Musik um die siebenminütige Kurzsymphonie KV22 handelte, komponiert vom zwölfjährigen Mozart – Kindermusik also! Trotzdem ergriff sie mich auch weiterhin, und zwar nicht minder als die beiden Symphonien des Selbstmörders. Ob ich das auch so empfände, wenn ich nicht die Stimme des Erzählers im Ohr hätte, dem vor Ergriffenheit die Stimme brach, weiß ich nicht. Manche Leute finden Mozarts Musik harmlos – »bis auf das Requiem!« Vielleicht haben sie objektiv recht. Aber ich interessiere mich nun einmal nicht für objektives, unsentimentales Musikhören. Einige subjektive Assoziatiönchen scheinen mir in Sachen Musik mehr wert zu sein als dreihundert Lexikon-Analysen.

ivKlavierunterricht

Weil bei meiner Selbstanalyse herauskam, dass Milieu- und Eltern-Prägungen unwichtiger waren als angenommen, stand mir nun bevor, meine eigene, individuelle Musikbildung aufzudröseln. Was war es, das mich auf eine so andere Bahn als meine Theologensöhnchen-Freunde, ja sogar meine eigenen Brüder schleuderte?

War es der Klavierunterricht? Ich begann ihn im Alter von acht Jahren. Die Initiative dazu ging nicht – wie das Klischee vermutlich fordern würde – von meinen Eltern aus, sondern ich selber war es, der sie bat, mir einen Klavierlehrer zu suchen. Auf die Idee dazu kam ich, weil mein Freund Elmar eines Nachmittags überraschend früh von seiner Mutter nach Hause gerufen wurde. Ungewöhnlicherweise kam sie bis an den Fußballplatz heran und winkte mit dem Schlüssel: »Elmar! Klaviiiier üben!« Elmar eilte davon, ich blieb allein zurück und fragte mich, welchen Geheimplan er da wieder hinter meinem Rücken ausgeheckt hatte. Jedenfalls nahm ich mir vor, schnellstmöglich nachzuziehen.

Das mutmaßliche Skelett Johann Sebastian Bachs (1685–1750) – bei einer Umbettung 1894 fotografiert von Wilhelm His.

Meine Eltern ließen sich nicht zweimal bitten. Im Handumdrehen trieb mein Vater jemanden auf, der mich von nun an einmal pro Woche unterrichtete, immer donnerstags. Zu meinem Missvergnügen handelte es sich dabei aber nicht um die erfahrene Klavierlehrerin Frau Hendrichs, bei der mein Freund Elmar lernte, sondern um einen wuschelköpfigen Kandidaten der Theologie, der natürlich auch, wie schon Henning Trübel, in unserem Wohnheim hinter der Verbindungstür hauste. Er hieß Gerald Schenk, fuhr einen roten Renault 4 und hatte eine ebenso wuschelköpfige Freundin, mit der ich ihn einmal küssend hinter einer Garage erwischte.

Einige Wochen lang experimentierte er mit Unterricht ohne Noten, dann fügte er sich den Erkenntnissen von Jahrhunderten und kaufte mir eine Klavierfibel. Während mein Freund Elmar bei Frau Hendrichs im Turbotempo vorankam und auf unserer Grundschul-Weihnachtsfeier schon mit Bartók-Stückchen brillierte, kämpfte ich monatelang mit dem Erlernen von Bass- und Violinschlüssel, halben und ganzen Noten, seltsamen »ff«- und »pp«-Kürzeln. Dazu kamen albtraumartig die Bezeichnungen der Klaviertasten. Ich verstand nicht, dass sich ein »C« fünfmal wiederholen sollte, in jeder Oktave einmal. Wie konnte das sein – im Alphabet gab es doch auch nur ein einziges »C«! Vollends unmöglich erschien mir, dass man sich die Bezeichnungen der Klaviertasten merken sollte, ohne sie mit einem Zeichen zu markieren.

Die nächste Schikane war das permanente Üben. Man wurde eigentlich niemals fertig. Auch in der Schule gab es Hausaufgaben, aber doch jeden Tag neue. In der Klavierstunde wurde wochenlang ein einziges Stück gepaukt, und schließlich sagte Gerald doch wieder nur: »Na gut, das muss jetzt reichen. Wir legen das jetzt ab und gehen weiter zur nächsten Lektion.« Erst Jahre später, als ich bereits keine Lehrer mehr hatte, kam ich auf die rettende Idee, dass man nicht immer nur »weiter« gehen musste, sondern auch mal rein zum Spaß Klavier spielen konnte, und zwar ruhig auch Stücke, die man im Unterricht bereits abgelegt hatte.

Noch schlimmer als das Üben war aber das Nichtüben. Es verursachte Gewissensbisse. Manchmal akkumulierten sie sich sechs Tage lang, bis ich mich endlich am Mittwochabend, schon im Schlafanzug, auf den Klavierhocker quälte.

Und da begann ich mich zu wehren. Es kam der Tag der ersten Ausrede heran: »Gerald, ich konnte nicht üben, weil ich die Noten verlegt und erst heute Morgen wiedergefunden habe.«

Das war eine Lüge, aber was blieb mir anderes übrig. Gerald hielt mich für einen unbegabten Wicht, und nun galt es, irgendwie die Selbstachtung zu retten. Auf dem Klavier konnte ich es nicht, also argumentierte ich beredt wie ein erwischter Schwarzfahrer. Für die nächsten Jahre wurde das Klavier ein Ort, an dem sich in meinem Kopf automatisch feurige Plädoyers formten. Ähnlich wie ein sensibler Rechtsanwalt fühlte ich mich in die Seele des vorsitzenden Richters ein. Gerald akzeptierte am ehesten Ausreden, die etwas mit meinem Vater zu tun hatten. Je intimere Details ich preisgab, desto milder stimmte ich ihn.

»Gerald, meine Eltern haben sich gestritten, da konnte ich nicht ins Wohnzimmer.«

»Ach so, deine Eltern haben sich gestritten – worüber denn?« Ich erzählte irgendetwas Harmloses, und die halbe Stunde verging mit Geralds Rückfragen so blitzschnell, dass er nicht einmal mehr dazu kam, sich die Hausaufgabe der letzten Woche vorspielen zu lassen. Wenige Stunden später bereicherten meine Berichte dann vermutlich schon den Tagesklatsch der stinkenden Studentenküche.

 

*

 

Nach zwei Jahren kam es zu einem Lehrerwechsel. Gerald Schenk bepackte seinen Renault 4 mit zehn Bücherkisten und verließ Wuppertal, um in Tübingen weiterzustudieren. Seine rote Klavierfibel hatte ich gerade glücklich durchgeackert. Ich konnte nun schon Noten lesen und das letzte Stück der Fibel sogar völlig auswendig spielen. Es hieß: Die Blümelein, sie schlafen. Stolz klimperte ich es Tag und Nacht, sogar vor dem Mittagessen, wenn eigentlich mein Vater ans Klavier wollte.

Mit zweijähriger Verspätung geriet ich nun doch noch an Frau Hendrichs, die siebzigjährige Klavierlehrerin meines Freundes Elmar. Sie unterrichtete seit vierzig Jahren alle Theologenkinder des Heiligen Berges, weil sie selber der Kirche nahestand; in ihrer Gemeinde amtierte sie als Presbyterin und Aushilfsorganistin. Vor der ersten Unterrichtsstunde wurde ein Kennenlernnachmittag anberaumt, bei dem meine Eltern beide anwesend sein mussten. Es gab Kaffee und Kuchen, und Frau Hendrichs ließ sich meine Fertigkeiten am Klavier vorführen. Ich spielte natürlich Die Blümelein, sie schlafen, aber Frau Hendrichs war nicht beeindruckt. Sie kannte Gerald Schenks neumodische Fibel nicht und erklärte, aus ihren eigenen, jahrzehntelang bewährten Klavierwerken unterrichten zu wollen. Das waren Der kleine Burckhardt, das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, Etüden von Carl Czerny sowie Bartóks Mikrokosmos in allen seinen vierzig Teilbänden. Der Donnerstag wurde als Unterrichtstag beibehalten.

Es begannen vier Horror-Jahre. Noch fünfzehn Jahre später geschah es mir, dass ich beim Aufwachen am Donnerstagmorgen einen Stromstoß spürte: »Heute ist Klavierstunde.« Mit den billigen Ausreden war es vorbei. Frau Hendrichs interessierte sich nicht für Familienklatsch; sie brachte auch von Anfang an kleine DIN-A-6-Heftchen mit, in die sie die Hausaufgaben eintrug, so dass eine weitere meiner Gerald-Ausreden hinfällig war: »Ich wusste nicht mehr, was du aufgegeben hattest.«

Wenn die Übungsergebnisse ganz besonders unerfreulich waren, zeichnete Frau Hendrichs mit harten Strichen einen Wochenplan auf, wo ich für jeden Tag eintragen musste, wie viele Minuten ich geübt hatte. Und noch eine weitere quälende Neuerung führte sie ein: Tonleitern und Dreiklänge. Ich hasste diese Fingerübungen. Es-Dur, es-moll, erste Umkehrung, zweite Umkehrung – Frau Hendrichs sang dazu schrill mit und klopfte mit dem Bleistift hart das Tempo auf die Klavierkante. Wenn es schlecht lief und auch bei den Kuhlau-Sonaten nicht besser wurde, setzte sie zur Strafe noch einmal Dreiklänge an. »Tut mir leid, aber wie sollen wir denn die Stunde rumkriegen, wenn du nicht richtig übst?«

Eines Tages lief es so schlecht, dass sogar die Dreiklänge abgesetzt wurden. Frau Hendrichs fragte mich, woher die große rote Beule auf meiner Stirn rühre? – »Da habe ich mich gestoßen«, sagte ich eilig. »Nein nein«, lächelte Frau Hendrichs grimmig. »Die Beule kommt von innen. Man nennt es Pickel. Du bist jetzt in der Pubertät.« Ich erfuhr es tatsächlich von meiner Klavierlehrerin.

 

*

 

Eines Donnerstags verspätete sich Frau Hendrichs um etliche Minuten. Ich sah aus dem Fenster und überlegte schon, ob der Weltuntergang bevorstünde. Frau Hendrichs zu spät? Das konnte nur – es war die Zeit der NATO-Nachrüstung – durch eine irrtümlich abgefeuerte Cruise-Missile-Rakete und einen sofortigen SS-20-Gegenschlag erklärt werden. Schon drängte sich mir die irrwitzige Hoffnung auf, dass Bonn, Moskau und Washington bereits in Trümmern lagen, da klingelte es doch noch an der Tür. Frau Hendrichs trat in den Flur, blieb stehen und fixierte mich gespannt. Statt ihres normalen braunen, dichten Lockenschopfes trug sie kurze, weiße Haare. Sie sah plötzlich viel sympathischer aus als sonst, nämlich wie eine ziemlich nette Oma. »Hat dein Vater dir denn nichts gesagt?« – »Nee.« – »Ich habe ihn extra gestern Abend angerufen, damit er dich darauf vorbereitet, dass ich heute ein bisschen anders aussehe. Ich hatte wegen einer Krankheit fremde Haare, und jetzt habe ich wieder eigene.« Das Wort Perücke benutzte sie nicht. Interessant war aber, dass sie mit ihren eigenen Haaren eine gewisse Menschlichkeit zurückgewann. Bei den Tonleitern zu Beginn der Stunde sang sie nun nicht mehr schrill mit, sondern tippte nur noch ungeduldig mit dem Bleistift auf ihren knöchernen Handrücken.

Mehrere hundert Donnerstage mit Tonleitern und Kuhlau-Sonaten gingen ins Land. Vielleicht wäre mir der vorklassische Komponist Friedrich Kuhlau etwas sympathischer geworden, wenn Frau Hendrichs mal eine Anekdote von ihm erzählt hätte, am besten eine traurige. Und wie sehr hätte ich mich beim Üben von Bartóks spröden Mikrokosmos angestrengt, wenn Frau Hendrichs mir vom Leukämietod des ungarischen Exilanten in einem New Yorker Krankenhaus berichtet hätte: »Es will uns das Herz brechen … «

Doch das tat sie nie. Das Klavier war für sie ein Instrument zur Betätigung der Finger, keine Bühne für sentimentale Rührstücke. Natürlich schwärmte sie mir auch niemals von einer eigenen Lieblingskomposition oder einer schönen Schallplatte vor. Ich bezweifle, dass sie nach der Arbeit zu Hause überhaupt noch Musik hörte. Bei ihr hatte man in keiner Weise das Gefühl, dass es außer Klavieretüden vielleicht noch Symphonien oder Opern geben könnte.

Nur ein einziges Mal wurde ich von Frau Hendrichs gelobt. Als sie einmal nach dem Unterricht auf der Straße zuguckte, wie ich pfeifend mein Fahrrad aufschloss, sagte sie seltsam fröhlich: »Du kannst schön pfeifen.« Und dann fügte sie hinzu: »Am besten von allen konnte aber mein Verlobter pfeifen.« Da lief mir ein Schauer den Rücken herunter. Ihr Verlobter war im Krieg gefallen.

Nach vier Jahren gab ich auf. Bei einem der grausamen Vorspiele im Kreis von Frau Hendrichs’ Schülern war ich durch Lampenfieber und Antitalent sehr unangenehm aufgefallen. Nun reichte es. Ich flehte meinen Vater an, Frau Hendrichs zu kündigen. Selbst für ihn war es aber nicht einfach, diesen Wunsch durchzusetzen. Frau Hendrichs nahm die Kündigung nämlich zunächst gar nicht an. Sie war der Ansicht, dass man den Wünschen wankelmütiger Pubertierender nicht so rasch nachgeben dürfe. Erst, als ich einige Wochen später eine hieb- und stichfeste Begründung präsentieren konnte, lenkte sie ein. Diese Begründung lautete, ich wolle ein neues Instrument beginnen: Kontrabass. Nun gut, sagte Frau Hendrichs spitz: Wer das Klavier mit dem Kontrabass vertauschen wolle – bitte sehr! Sie wünsche mir alles Gute.

Wenn Frau Hendrichs ein bleibendes Verdienst um meine Vita Classica zukommt, dann besteht es darin, dass sie mir brutal, aber rechtzeitig das Hirngespinst eines etwaigen Musiker-Talents ausgetrieben hat. Von Anfang an durfte ich auch nicht den Funken einer Hoffnung hegen, jemals an einem Klavierwettbewerb für Nachwuchstalente teilnehmen oder gar ein Musikstudium beginnen zu können. So blieb mir vielleicht ein quälender Eiertanz erspart. Mehrmals beobachtete ich später nämlich verdutzt, wie ehrgeizige Jungpianisten gegen Ende eines zehnjährigen Unterrichts plötzlich das Klavier zu- und niemals wieder aufklappten, weil sie sich nicht so begabt wie Ivo Pogorelich oder Claudio Arrau fühlten.

Somerset Maugham hat das Problem in der Geschichte Das fremde Samenkorn so zugespitzt: Der junge George hält sich trotzig für ein pianistisches Talent, übt jahrelang auf eigene Faust und erschießt sich am Ende aus Scham, weil er eine Chopin-Polonaise allenfalls durchschnittlich spielen kann.

Ich aber, bei dem alle höheren Ansprüche im Keim erstickt wurden, spielte unverdrossen weiter Klavier, und zwar im vollen Bewusstsein, dass es mir an Rhythmusgefühl und taktiler Leichtigkeit gebrach. Hartnäckig schleppte ich in jede meiner Wohnungen ein Klavier hinauf und hackte begeistert auf den schwersten Stücken der gesamten Literatur herum, ob nun Beethovens Hammerklaviersonate oder Liszts h-moll-Sonate. Peinlich achtete ich allerdings stets darauf, dass meine Wohnungstür gut isoliert war, damit die Nachbarn nicht Frau Hendrichs alarmierten. Sie hätte mir zur Strafe für so viel Unverfrorenheit sofort Dreiklangs-Kaskaden in Des-Dur und des-moll aufgebrummt, und zwar in der siebten Umkehrung.

Fazit: Klavierschüler sind etwa so automatisch Klassik-Fans, wie Führerscheinbesitzer automatisch für die Formel 1 schwärmen. Der beste Beweis ist mal wieder mein Bruder Tilman, den Frau Hendrichs ebenfalls unterrichtete und für viel begabter als mich erklärte. Er hörte gleichzeitig mit mir auf und gab zwanzig Jahre lang weder Kuhlau noch Konsorten auch nur den Hauch einer Chance.

vSchicksalssymphonie

Nein, der grauenvolle Klavierunterricht machte mich nicht zum Klassik-Fan. Und wenn weiter nichts passiert wäre, hätte meine musikalische Entwicklung im besten Fall wieder wie eine matte Kopie meines Fußballfreundes Elmar ausgesehen. Er, das anfängliche Turbotalent, gab den Klavierunterricht sogar noch vor meinem Bruder und mir auf. Frau Hendrichs bestürmte ihn, dass er weitermachen solle, und zwar nicht aus pädagogischen Gründen wie bei mir, sondern aus echtem Kummer, aber ihre Überredungskünste fruchteten nicht. Elmar hatte die Nase noch voller als wir; nicht nur von Kuhlau und Bartók, sondern von der gesamten Klassik, und zwar ein für alle Mal. Er sattelte um auf E-Gitarre und spielte schon mit fünfzehn Jahren in einer Rockabilly-Band mit. Nur die Tatsache, dass inzwischen bereits mein Durchbruch zur Klassik erfolgt war, rettete mich vor erneutem Neid.

Dieser Durchbruch kam an meinem dreizehnten Geburtstag. Es ist kaum zu glauben, wie normal ich zu diesem Zeitpunkt war. Ich hatte zwei Hobbys: Fußball und Eisenbahn. Die Nachmittage verbrachte ich auf dem Fußballplatz; mein Lieblingsklub war Bayern München, in deren roter Bettwäsche ich auch schlief. In meinem Zimmer stand eine riesige Sperrholzplatte, auf der meine Märklin-Bahn installiert war. Aus Gips formte ich Tunnel und besäte sie mit echtem Naturgras, das leider schnell schimmelte. Zu Weihnachten bekam ich das teuerste Geschenk aller Zeiten: Eine rote Diesellok der Baureihe 218. Die Eisenbahnliebe erstreckte sich bis in die Realität: Nach der Schule eilte ich an den Wuppertaler Hauptbahnhof, wo ich mir von den Lokführern ihre Bremszettel erbettelte. Darauf war markiert, an welchen Streckenabschnitten sie im Bergischen Land zu bremsen hatten. Im Lauf der Zeit kamen drei Schuhkartons mit solchen Bremszetteln zusammen; sie lagerten unter der Märklin-Platte. Außer Cat Stevens und Alain Barrière hörte ich am liebsten ABBA, deren Platten mein Bruder inzwischen nach Hause brachte. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich mich im musikalischen Einklang mit meiner Umwelt fühlen durfte.

 

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Nun also der dreizehnte Geburtstag. Anhand eines Wunschzettels hatte meine Mutter die folgenden Geschenke besorgt: Rote Fußballstutzen von Bayern München; einen Modellbausatz des Bahnhofs »Neuffen«, eine ABBA-Kassette sowie ein Buch, das von einem schüchternen Korvetten-Kapitän zur Zeit Napoleons handelte; sein Name lautete Horatio Hornblower.

Und dann lagen da noch zwei Kassetten: Die Feuerwerksmusik von Georg Friedrich Händel sowie die 5. Symphonie in c-moll von Ludwig van Beethoven. Diese beiden Kassetten hatten ganz sicher nicht auf meiner Wunschliste gestanden. Verfolgte meine Mutter mit ihrem Kauf einen weitreichenden Plan? Wollte sie mich vom infantilen Eisenbahner zum klugen Klassik-Fan formen? Nichts da, sie hatte die Kassetten zusammen mit der ABBA-Kassette auf dem Wühltisch des Hertie-Kaufhauses gefunden, so dass sie in den Genuss eines günstigen Dreierpack-Angebots kam.

In den folgenden Wochen lag ich im Wohnzimmer auf dem Sofa, las den Hornblower-Roman über die Schlacht bei Trafalgar und hörte dazu die Kassetten. Musik und Lektüre vermischten sich so stark, wie es danach nie wieder geschah. Noch heute summe ich sofort, wenn ich in Buchhandlungen zaghafte Neuauflagen der Horatio-Hornblower-Reihe sehe, die feierliche Einleitung von Händels Feuerwerksmusik.

Noch besser als Händel gefiel mir aber die Beethoven-Symphonie – auch deshalb, weil mein Vater so heftig gegen sie wetterte. Wenn er ins Wohnzimmer kam und mich lesend und musikhörend auf dem Sofa antraf, stöhnte er, dass ihm dieser ganze Beethoven nicht liege, dieses »da-da-da-da«, aber immerhin! Besser die 5. als die 9. Symphonie! Die sei ja noch viel größenwahnsinniger, mit diesem hysterischen Geschrei am Ende: »Freude schöner Götterfunken.«

Ich horchte auf. Bislang hatte ich angenommen, dass jeder Bach-Bewunderer automatisch auch Beethoven mochte. Doch siehe da: Klassik war nicht gleich Klassik. Bach galt als korrekt und Beethoven als größenwahnsinnig. Das machte ihn interessant. Inständig bemühte ich mich, an eine Kassette der verpönten neunten Symphonie heranzukommen. Als ich sie schließlich auftrieb, war ich enttäuscht. Die ersten drei Sätze zogen sich endlos in die Länge. Und den Schlussgesang des vierten Satzes, das berühmte »Freude schöner Götterfunken«, fand ich überladen und wenig eingängig. Cat Stevens hätte daraus allenfalls einen Fünfminuten-Hit gemacht. Größenwahnsinnige Verstiegenheiten konnte ich überhaupt nicht erkennen. Es war das übliche Chor-Geheul, das ich von den Bach-Kantaten kannte, die mein Vater immer am Sonntagmorgen auflegte. Nein, diese Kassette war reine Zeitverschwendung. Gnadenlos überklebte ich ihre Schutzlaschen mit Tesafilm und überspielte sie mit einer neuen ABBA-Platte meines Bruders.

In der Schule erzählte ich niemandem etwas davon. Eine schamvolle Intuition sagte mir, dass es besser sei, von Händel und Beethoven zu schweigen, ebenso wie von der Hornblower-Lektüre. Nicht, dass man mich gehässig verunglimpft hätte, aber ich musste ja nicht unnötig in die Bildungskerbe hauen. In der Schule konnte man eigentlich nur von dem Modellbausatz und den Bayernstutzen berichten.

 

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Mit Billigkassetten fing es an. Auf einer DDR-Reise nach Görlitz und Leipzig bekam ich dann meine erste Vinylplatte. Es war im Jahr 1983, wir besuchten die Kindheitsstätten meines Vaters und mussten jeden Tag mindestens fünfundzwanzig DM umtauschen. So kam es, dass wir am Tag der Ausreise noch DDR-Mark übrig hatten. Mein Vater zog uns in ein Leipziger Musikgeschäft und kaufte sich Klaviernoten. Auch mein Bruder Tilman und ich durften uns etwas aussuchen. »Aber jeder nur eine Platte!« In Wuppertal wäre schon eine einzige Platte undenkbar gewesen – sie kostete dort fast zwanzig Mark. Ein Rausch überkam mich. Zum ersten Mal im Leben ging ich zwischen Plattenregalen herum und hatte die Qual der Wahl. Die meisten Platten gab es von einem Komponisten namens Felix Mendelssohn-Bartholdy, eingespielt von einem Orchester, das den seltsamen Namen »Gewandhausorchester« führte und dirigiert wurde von einem Mann namens Kurt Masur. Während Tilman die Italienische Symphonie wählte, entschied ich mich für den Sommernachtstraum. Ausschlaggebend waren das romantische Gemälde auf dem Cover sowie der seltsame Titel.

Auf der Rückfahrt von Leipzig nach Wuppertal schaute ich mir beide Platten genau an und bemerkte, dass sich auf der Rückseite der Platten lange Texte mit Erklärungen befanden. Es waren sehr erwachsene Texte, abgefasst in einer ganz anderen Sprache als meine Schulbücher. Solche ernsten Texte gab es auf den Covern von Cat-Stevens- oder ABBA-Platten nicht. Von da an wurden Plattencover und ihre Nachfolger, die CD-Booklets, zur Hauptquelle meines Musikwissens.

Zu Hause in Wuppertal klemmte ich den Sommernachtstraum zwischen meine Schulbücher. Zum Hören musste ich die Platte natürlich hinunter ins Wohnzimmer tragen, achtete aber strikt darauf, dass sie dort niemals über Nacht blieb. Sie durfte um Himmels willen nicht ebenso verkratzt werden wie alles, was dort im Einzugsbereich meiner plattenignoranten Eltern lag. Heimlich tauschte ich ihre billige Papier- gegen eine aufwendigere Zellophanhülle um, die ich aus der Box der Matthäus-Passion stibitzte.

Wenn ich am Schreibtisch saß, zog ich immer wieder meine neue Platte zwischen den Schulbüchern hervor, betrachtete das romantische Gemälde auf der Vorder- und las den Text auf der Rückseite. Das alles gefiel mir so sehr, dass ich beschloss, mein Taschengeld von nun an lieber für Platten als für Märklin-Lokomotiven auszugeben.

 

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Die ersten Platten waren durchweg Symphonien mit romantischen Beinamen. Das begann bei einem Werk, das Die Unvollendete hieß. Ich hörte die Musik im Fernsehen; sie lief als Soundtrack eines traurigen Sonntagnachmittagsfilmes, und mein Vater sang die Hauptmelodie spöttisch mit: »Frieda, wo kommst du her, wo gehst du hin, wann kommst du wieda? Oh Frieda!« Das war angeblich ein alter Merkvers, und ich sang ihn von nun an ebenfalls. Der Beiname Unvollendete regte meine Phantasie an. Umstandslos nahm ich an, dass Franz Schubert das Werk nicht hatte vollenden können, weil ihm der Tod die Feder aus der Hand riss.

Mein erster großer Favorit wurde Dvořáks Symphonie Aus der Neuen Welt. Auf dieses Werk brachte mich während unserer Sommerferien auf Borkum eine Pensionsnachbarin, eine sehr resolute Hausfrau aus dem Ruhrgebiet. Als sie erzählte, dass sie beim Hausputz immer Klassik höre, spitzte ich die Ohren. Dann fuhr sie lachend fort: Speziell zu Dvořáks Aus der Neuen Welt tanze sie regelrecht durch die Wohnung; das Staubwedeln gehe dann dreimal so schnell von der Hand.

Mehr als dieses Argument faszinierte mich der Beiname der Symphonie: Aus der Neuen Welt. Dvořák, so glaubte ich, hatte die Sphärenklänge einer geheimnisvollen »neuen Welt« hinter den Sternen vertont. Dann aber kaufte ich die Platte und las auf dem Plattencover: Mit der »Neuen Welt« waren die USA gemeint. Dvořák hatte das Werk nach einem längeren Amerikaaufenthalt geschrieben und deutete dies durch pentatonische Indianer-Harmonien an.

Diese banale Erklärung gefiel mir ganz und gar nicht. USA? Indianische Pentatonik? Ich assoziierte damit ein in der Grundschule gelesenes Buch über General Custer, Sitting Bull und die Schlacht am Little Big Horn. Seltsam! Dabei konnte ich doch genau hören, dass besonders der melancholische Beginn der Symphonie, ebenso das hochdynamische Ineinander von Bläsern und Streichern im dritten Satz, von fernen Galaxien kündeten – nein, das wollte ich mir von niemandem ausreden lassen.

Ein zweites Lieblingswerk wurde Peter Tschaikowskys Symphonie Pathétique. Der Covertext kündete von solch dramatischen Entstehungsumständen, dass mir Schauer den Rücken herunterliefen. Die Pathétique, Tschaikowskys sechste und letzte Symphonie, war 1893