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Die Neue Rechte hat die Kultur als Kampffeld entdeckt. Aber weshalb interessieren sich AfD- Politiker plötzlich für Tanztheater und zeitgenössische Musik? Und was geht im Kopf von Leuten vor, die Buchhändlern das Auto anzünden oder Sprengsätze in Jugendzentren werfen? Theaterintendantinnen und Pianisten erhalten Morddrohungen, das Publikum muss ein Berliner Revuetheater wegen einer Bombenwarnung verlassen, in Zwickau marschieren Skins vor einer Galerie auf, in Stuttgart verlangen AfD-Abgeordnete eine Übersicht über Theatermitarbeiter mit Migrationshintergrund. Rechte Politiker sprechen üble Beleidigungen aus und appellieren ans Volksempfinden. Nichts davon ist ein Einzelfall. Der Journalist Peter Laudenbach hat über hundert rechte Übergriffe auf die Kunstfreiheit dokumentiert. Welche Muster lassen sich dabei beobachten? Welche Funktionen und Folgen haben die gezielten Gewaltandrohungen in rechten Eskalationsstrategien? Was macht Theater und Kunstinstallationen zu attraktiven Zielen? Der Angriff auf die Kunstfreiheit ist ein Angriff auf die offene, liberale Gesellschaft. Das Ziel sind die Markierung von Feindbildern, das Schüren von Aggression und die Polarisierung der Gesellschaft. Mit klugen und solidarischen Aktionen halten unzählige Menschen aus Kunst und Kultur dagegen.
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Seitenzahl: 127
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Die Neue Rechte hat die Kultur als Kampffeld entdeckt. Aber weshalb interessieren sich AfD-Politiker plötzlich für Tanztheater und zeitgenössische Musik? Und was geht im Kopf von Leuten vor, die Buchhändlern das Auto anzünden oder Sprengsätze in Jugendzentren werfen? Der Journalist Peter Laudenbach untersucht den rechten Angriff auf die Kunstfreiheit, die Rolle der AfD, die Handlungsmuster, Feindbildmarkierungen und Bedrohungsallianzen. Es ist ein Angriff auf die offene, liberale Gesellschaft.
Peter Laudenbach
VOLKS THEATER
Der rechte Angriff auf die Kunstfreiheit
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
1DER KOFFER MIT DEN HAKENKREUZEN
2INSZENIERUNG DER GEWALT
Bedrohungsallianzen
Einschüchterung und Einflussnahme
3FEINDBILDMARKIERUNG
Rechte Rhetorik: Die Kriegserklärung
Goebbels geht ins Kino
4NAHAUFNAHMEN
5MODERNE KUNST: DAS BEISPIEL ZWICKAU
6DAS POPULISTISCHE MUSTER
»Linksliberales Kulturestablishment«: Exklusion im Kulturbetrieb
7VERROSTETE HUFEISEN
»Linksgrünes Schmierentheater«
Borderliner
8GEGENWEHR: DIE VIELEN
Chronik (Auswahl)
Dank
Anmerkungen
Autorenbiographie
Für Die Vielen
An einem Dienstag im September entdeckt ein neunjähriger Junge auf dem Theatervorplatz in Jena einen alten Koffer hinter einem Mülleimer. Auf Vorder- und Hinterseite prangt jeweils ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis. Als er seiner Mutter von dem Koffer erzählt, glaubt sie, er habe ein Bühnenrequisit gefunden. Der Junge gibt seinen Fund am Theater ab, wo sich zunächst ebenfalls niemand dafür interessiert. Erst am nächsten Tag öffnet ein Theatermitarbeiter den Koffer und erschrickt: Im Koffer ist ein Sprengsatz verbaut. »Die Kriminaltechniker finden ein Metallrohr, Drähte, Knetmasse, einen funktionsfähigen Zünder und zehn Gramm TNT, aber es fehlt die Energiequelle, um die Bombe zu zünden.«1
Hakenkreuz-Verehrer, die solche Attrappen basteln, können auch funktionsfähige Sprengsätze herstellen. Der Koffer ist eine Hassbotschaft. Sie richtet sich gegen das Theater, vor dem er abgestellt wurde, aber auch gegen die offene, angstfreie, diverse Stadtgesellschaft mit ihren Begegnungsräumen auf dem Theatervorplatz: »Er ist in der Neonazi-Szene als Treffpunkt der Alternativen verschrien. Erst vor wenigen Tagen hatte auf dem Platz ein Konzert stattgefunden.«2 Wäre die Attrappe eine echte Bombe gewesen, hätte ihre Explosion jede und jeden treffen können. Deshalb steht der Bombenkoffer auf dem Theaterplatz am Beginn dieses Buches.
Die Neue Rechte hat die Kultur und Kunst als ergiebiges Kampffeld für sich entdeckt. Seit einigen Jahren bewirtschaftet sie es energisch. AfD-Politiker:innen reichern ihre zahlreichen kulturpolitischen Interventionen und öffentlichen Auftritte mit Polemiken und Beleidigungen gegen Künstler:innen an. Andere Akteur:innen demonstrieren ihr Ressentiment gegen die Kunstfreiheit mit Mord- und Bombendrohungen und bringen es in Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Demonstrationen zum Ausdruck. Marc Jongen, der kulturpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, und der AfD-Extremist Björn Höcke sprechen offen von einem »Kulturkampf«.3 Mit Formulierungen wie der »Entsiffung des Kulturbetriebs«, zu der beizutragen ihm »Ehre und Freude« sein werde4, beweist Jongen, dass auch ein AfD-Parlamentarier mit Doktortitel und betont bürgerlichem Habitus das Hassvokabular des Rechtsextremismus beherrscht.
Die rechten Übergriffe zielen nicht nur auf die jeweils unmittelbar davon Betroffenen. Sie sind kein Nischenproblem einiger Kunstinteressierter. Die attackierten Theater, Buchhandlungen, Musikfestivals und Kulturzentren stehen stellvertretend für eine halbwegs liberale, demokratische Gesellschaft. Zu den Selbstverständlichkeiten und Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie gehören informelle und rechtliche Normen, der Schutz von Minderheiten, Meinungs- und Kunstfreiheit, aber auch Mindeststandards des respektvollen Umgangs. Sie benötigen, so der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, »etwas schwer zu Fassendes, wie kollektive Einstellungen, zum Beispiel dass die Bürger bereit sind, einander zivilisiert und mit Respekt zu begegnen«5. Die rechten Übergriffe gegen Kultureinrichtungen richten sich gegen diese Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft.
Das sehr viel weitere Feld der rechten Kulturkämpfe bildet den Rahmen dieser Angriffe auf die Kunstfreiheit. In dieses Feld gehören die von dem französischen Rechtsextremen Alain de Benoist inspirierten und von den deutschen Lautsprechern einer rechten Identitätspolitik propagierten Bemühungen um kulturelle Hegemonie, die Paranoiavisionen eines angeblich vom »Great Reset« bedrohten »Abendlandes« sowie die Wut deutscher Gartenzwerge, die für ihr Nationalgefühl dringend das »Zigeunerschnitzel« und das Recht auf ein bisschen Rassismus und Homophobie benötigen.6 Der hier verwendete Begriff »Neue Rechte« ist sicher etwas pauschal und der aktuelle Rechtsextremismus alles andere als »neu«. Als Sammelbegriff kann er dennoch nützlich sein, um das breite Spektrum rechter, rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien, Akteur:innen und Bewegungen zu bezeichnen.7
Theater, Konzerthäuser, Bibliotheken und Kunstausstellungen wollen zugänglich sein und sich nicht in der eigenen Exklusivität verschanzen. Gleichzeitig schaffen sie Bühnen der Aufmerksamkeit. Das macht sie zu weichen, ungeschützten und damit besonders attraktiven Zielen der rechten Aggression. Wenn in Kassel die lokale AfD zu Demonstrationen gegen das Kunstwerk eines documenta-Teilnehmers aufruft, das den Bibel-Vers »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt« zitiert, und wenn der AfD-Stadtverordnete Thomas Materner diese Skulptur als »ideologisch polarisierende, entstellte Kunst« beschimpft8, wirkt die prominent im öffentlichen Raum sichtbare Skulptur wie ein Verstärker für das eigentliche Anliegen der rechten Akteur:innen, ihre Fremdenfeindlichkeit zu demonstrieren. Wenn einige Aktivisten der »Identitären Bewegung«, die modisch frisierte Nachwuchsfraktion der Hardcore-Rechten, am Wiener Burgtheater und am Deutschen Theater Berlin lautstark Vorstellungen stören9, mag ihnen der Auftritt vor Theaterpublikum für einen Moment die narzisstische Illusion von Bedeutung auf großer Bühne verschaffen. Die identitär bewegten Selbstdarsteller missbrauchen die Theater dabei als Bildhintergrund für ihre Social-Media-Videos. Das ist insofern ehrlich, als sich die Aktionen der Performance-Rechten als schlechtes Theater outen.
Um das Ausmaß der Übergriffe auf die Kunstfreiheit zu erfassen, habe ich in Zusammenarbeit mit dem Kulturbündnis »Die Vielen«, mit Hilfe von zahlreichen Kulturinstitutionen, Einzelpersonen und Pressearchiven versucht, entsprechende Vorfälle möglichst genau und vollständig zu dokumentieren. Die für die Jahre 2016 bis 2021 erfassten gut 100 Fälle reichen von zahlreichen Morddrohungen und Beleidigungen bis zu schwerer Sachbeschädigung, Sprengstoff- und Brandanschlägen und Körperverletzung. Ebenfalls dokumentiert wurden unmittelbar gegen Künstler:innen und Kultureinrichtungen gerichtete öffentliche Äußerungen von AfD-Mandatsträger:innen. Die Dokumentationen der Übergriffe sind 2019 und 2021 zuerst in der Süddeutschen Zeitung erschienen.10 Die zugrundeliegende Recherche lieferte die Datenbasis für dieses Buch. Die Chronik der Übergriffe ist im Anhang abgedruckt.11 Meine systematische Recherche erfasst nur den Zeitraum bis 2021, aber auch danach haben weitere Übergriffe stattgefunden.
Die Recherche dokumentiert, dass sich im untersuchten Zeitraum im Schnitt jeden Monat ein bis zwei rechte Übergriffe gegen die Kunstfreiheit ereignet haben. Ohne die von der Pandemie erzwungenen Einschränkungen des Veranstaltungsbetriebs wäre die Gesamtzahl der erfassten Übergriffe vermutlich noch höher ausgefallen. Die Dokumentation ist unvollständig, auch weil ich nicht öffentlich bekannt gewordene Vorfälle nur mit Zustimmung der Betroffenen veröffentlicht habe.
Betroffen von den Übergriffen sind zahlreiche Künstler:innen und Kultureinrichtungen aller Genres – Musikfestivals, Buchhandlungen, Theater, Kunstwerke im öffentlichen Raum, Kabarett- und Revue-Bühnen, Jugendzentren und Bibliotheken. Nach dem Eindruck der Verantwortlichen in den Kultureinrichtungen haben die Übergriffe seit Mitte der 2010er Jahre deutlich zugenommen. Das deckt sich mit einer Studie von Politikwissenschaftler:innen der Universität Kassel. 80 Prozent der von ihnen befragten Bundesverbände verschiedener Segmente des Kulturbetriebs sehen ein »zunehmendes« oder »stark zunehmendes« Gefahrenpotential durch rechte Aktivitäten. 40 Prozent der befragten Bundesverbände und 57 Prozent der Landesverbände halten die Konsequenzen für die von ihnen vertretenen Kulturinstitutionen für »gefährlich« oder »sehr gefährlich«. Der Zusammenhang zum Aufstieg der AfD ist dabei evident: »Je höher der Zweitstimmenanteil der AfD (im jeweiligen Bundesland) ist, desto eher sehen die Verbände eine Gefahr für die eigenen Organisationen.«12
Aber rechte Übergriffe auf die Kunstfreiheit sind nicht auf AfD-Hochburgen beschränkt, sie finden bundesweit statt. Auslöser sind oft konkrete Kunstwerke oder Theateraufführungen, etwa mit Geflüchteten, oder Projekte, die sich mit dem historischen Nationalsozialismus oder dem aktuellen Rechtsextremismus auseinandersetzen. Kultureinrichtungen können allerdings auch alleine durch ihre Existenz Aggressionen auf sich ziehen. Die Übergriffe sind nicht zentral gesteuert, in der Regel gehen sie von lokalen Akteur:innen aus. Diese sind jedoch oft überregional gut vernetzt, so dass lokale Vorfälle schnell ein bundesweites Echo auslösen. Die rechten Akteur:innen lernen voneinander und entwickeln Routinen in der Bedrohung ihrer Gegner. Sie verwenden wiederkehrende rhetorische Muster zur Begründung ihrer Aktionen. Dazu gehört die Behauptung, mit ihrem demokratischen Engagement würden Kultureinrichtungen gegen das Gebot parteipolitischer Neutralität verstoßen. Diese Anschuldigung ist nicht haltbar. Zwar gilt für Beamte in Ausübung ihrer Tätigkeit das Gebot der politischen Neutralität: Richter:innen oder Staatsanwält:innen dürfen im Dienst Parteifreund:innen nicht bevorzugen, die Erteilung von Baugenehmigungen darf nicht von den politischen Vorlieben der zuständigen Beamt:innen beeinflusst werden, Lehrer:innen dürfen im Unterricht nicht zur Wahl einer bestimmten Partei aufrufen. Das gilt auch für Kultureinrichtungen. Aber natürlich können sie sich in ihrer Arbeit mit politischen Fragen oder mit Themen wie rechten Angriffen auf die Demokratie und die Werte des Grundgesetzes beschäftigen. Der von rechten Akteur:innen öffentlich erhobene Vorwurf eines angeblichen Verstoßes gegen die Neutralitätspflicht dient vor allem der Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft und will Kultureinrichtungen diskreditieren.
Neben lokalen Akteur:innen polemisieren auf Landes- und Bundesebene AfD-Politiker:innen gezielt und systematisch gegen bestimmte Kultureinrichtungen und Projekte, aber auch pauschal gegen »ein Lumpenproletariat an Möchtegern-Künstlern«13. In der innerparteilichen Konkurrenz scheint die lautstarke Polemik gegen die Kunstfreiheit als Mittel der Selbstprofilierung attraktiv zu sein. Pünktlich zum Redaktionsschluss dieses Buches im Januar 2023 beklagt die Bundestagsfraktion der AfD in einem Antrag ganz prinzipiell »die Ideologisierung der Kulturpolitik«, die „mit jeder Legislaturperiode weniger auf die Stiftung kultureller Identität ausgerichtet« sei. Die AfD-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, »die aktuelle Reduktion kultureller Identität auf eine Schuld- und Schamkultur, die die Regierungspolitik und weite Teile der öffentlichen Meinung dominiert, durch positive Bezugspunkte kultureller Identität zu korrigieren, um die aktive Aneignung kultureller Traditionen und identitätsstiftender Werte wieder in den Vordergrund zu rücken.«14 In ihren Augen sollte die Kulturpolitik offenbar vor allem einer nationalen Selbstfeier und Geschichtsverharmlosung dienen.
Die Strategie, Übergriffe auf die Kunstfreiheit zur gesellschaftlichen Polarisierung wie zur Selbstdarstellung zu nutzen, ist nicht neu. Bereits 1988 störten Rechtsradikale Claus Peymanns Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz am Wiener Burgtheater, ein Stück über die nicht vergangene, immer noch virulente nationalsozialistische Geschichte Österreichs. Einer der damaligen Störer war der rechte Aktivist Heinz-Christian Strache, der es später zum FPÖ-Vorsitzenden und 2017 sogar zum österreichischen Vizekanzler gebracht hat. 2019 musste er infolge des berühmt gewordenen Ibiza-Videos, einem bizarren Sittenbild rechter Machtphantasie, zurücktreten, 2021 wurde er in erster Instanz wegen Bestechlichkeit verurteilt. Der einstige Theaterstörer ist selbst zu einer Figur wie aus einem Schmierenboulevardtheaterstück des Grauens geworden.
Welchen Zweck verfolgen die unterschiedlichen Akteure mit ihren Übergriffen gegen Kunsteinrichtungen? Welche Handlungsmuster und ideologische Versatzstücke kommen dabei zum Einsatz? Und weshalb wird etwas so Vieldeutiges und schwer Fassbares wie Kunst überhaupt zum Objekt rechter Aggression? Weshalb pöbeln in Zwickau Nazis gegen eine harmlose Pop-Art-Ausstellung von Pipilotti Rist? Welche Rolle spielen Gewaltandrohungen?
Der Koffer mit den Hakenkreuzen wurde 1997 vor dem Theater in Jena deponiert, also deutlich vor der Welle der Übergriffe, die zwei Jahrzehnte später zum Stresstest für die Kunstfreiheit geworden sind. Die Hassbotschaft mit Hakenkreuzverzierung war eine der ersten kriminellen Aktionen der späteren Mörder des »Nationalsozialistischen Untergrund«. Sie gehört wie ein Auftritt in SA-Uniform in der Gedenkstätte des früheren Konzentrationslagers Buchenwald, an die Lokalredaktion der Thüringischen Landeszeitung und an die Stadtverwaltung Jena geschickte Briefe mit Bombenattrappen oder eine von einer Autobahnbrücke herabhängende Puppe mit gelbem Stern zu einer Serie von Einschüchterungsversuchen und Propagandadelikten, die sie 1996 und 1997 verübten, bevor sie im Januar 1998 in den Untergrund gingen. In der Mordserie des NSU setzt sich die Gewaltandrohung in terroristischen Gewaltakten fort.
Die Täter, die den Koffer auf dem Theaterplatz wie auf einer großen Bühne abstellen, zielen auf die größtmögliche Wirkung im öffentlichen Resonanzraum. Ihre Kofferinstallation ist selbst ein theatralischer Akt, vielleicht nicht unbedingt ein »stummer Schrei nach Liebe« (Die Ärzte), aber auf jeden Fall ein Schrei nach Aufmerksamkeit mit Hilfe toxischer Zeichen und etwas TNT. Es wirkt, als würden sich die Bombenattrappen-Bastler mit beschränkten Mitteln am Remake eines Historienfilms versuchen und den rechtsradikalen Terror in der Endphase der Weimarer Republik imitieren: Ein paar Glatzen blähen sich zum »nationalen Widerstand« auf. Die erste spontane Vermutung, bei dem Koffer könne es sich nur um ein Theaterrequisit aus einem historischen Stück handeln, entspricht dem Operettenhaften der inszenierten Aktion. Die Mutter des Jungen und die Theatermitarbeiter:innen, die den Koffer eher verwundert als schockiert in Empfang nehmen, lassen die Intention der Täter, Macht zu demonstrieren und Angst auszulösen, ins Leere laufen. Sie halten die Hakenkreuzbemalung für schlechtes Theater und eine billige Schockdekoration.
Dagegen lässt sich eine Bombenattrappe nicht schulterzuckend ignorieren. Dass die Gewaltandrohung als Aufmerksamkeitsgenerator, als Geste der Machtdemonstration und Signal der Entschlossenheit hervorragend funktioniert, macht den Schritt von der symbolischen zur physischen Gewalt attraktiv. Die Bombenattrappe der späteren NSU-Mörder verweist darauf, dass die Übergriffe gegen Theater und andere Orte der Kunst nicht aus ästhetischen Gründen stattfinden. Sie sind keine Fortsetzung der Kunstkritik mit anderen Mitteln, weil jemand zum Beispiel mit dem modernen Regietheater oder abstrakter Kunst hadert, sondern Akte symbolischer Gewalt.
Spätestens seit den Morden des NSU und seit der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Rechtsterroristen muss man die zahlreichen Gewalt- und Morddrohungen gegen Künstler:innen ernster nehmen. Anonyme Briefschreiber:innen können sich mit geringem Aufwand ein Machtgefühl verschaffen und andere Menschen mit ihren Gewaltphantasien in Angst versetzen. Das betrifft seit Jahren auch zahlreiche Künstler:innen. Jan Gorkow, der Sänger der kämpferisch antifaschistischen Band Feine Sahne Fischfilet, lebt schon lange mit solchen Bedrohungen: »Mein Name steht auf vielen Todeslisten«. Der politisch engagierte Pianist Igor Levit erhält 2019 die konkrete Ankündigung eines Anschlags auf eines seiner Konzerte. Das Konzert muss unter Polizeischutz stattfinden. Die Kabarettistin İdil Baydar erreichen im Vorfeld ihrer Rede auf der Kundgebung zum Gedenken an den rassistischen Brandanschlag von Mölln anonyme Morddrohungen. Einige dieser Drohungen sind unterzeichnet mit »NSU 2.0« oder »SS Obersturmbannführer« und werden an ihre Privatadresse geschickt. Auch die Comedyautorin und antifaschistische Bloggerin Jasmina Kuhnke wird 2021 unmittelbar in ihrem privaten Umfeld bedroht: Im Internet wird ein Video ihres Wohnhauses mit dem Aufruf, sie zu »massakrieren«, verbreitet. Die Botschaft ist klar: Wir wissen, wo du wohnst.15
Es bleibt nicht immer bei der Androhung von Gewalt. 2020 verüben in Bremen Unbekannte während eines Rockkonzerts einen Brandanschlag auf das linke Jugendzentrum Friese. Der Backstagebereich brennt komplett aus, mehrere Besucher:innen erleiden Rauchvergiftungen. Am Tatort werden Aufkleber rechtsradikaler Parteien gefunden. Mitarbeiter:innen des Jugendzentrums beobachten im Tatzeitraum ortsbekannte Rechtsradikale in der Nähe des Gebäudes. Der Staatsschutz ermittelt wegen des Verdachts einer rechtsextrem motivierten Straftat. 2022 wird gegen drei Tatverdächtige Anklage wegen Brandstiftung und Körperverletzung erhoben. Sie sollen laut Innenbehörde Kontakte in die rechtsextremistische Szene haben. In Chemnitz wird 2016 bei einem nächtlichen Sprengstoffanschlag auf das Kulturzentrum Lokomov das Schaufenster zerstört. Im Gebäude befinden sich während des Anschlags mehrere Personen. Das Kulturzentrum hatte sich im gleichen Monat an dem Theaterfestival Unentdeckte Nachbarn beteiligt, das den NSU und die rechte Szene in Sachsen thematisierte. Der Anschlag setzt eine ganze Reihe von Übergriffen auf das Kulturzentrum fort, bei denen Scheiben eingeschmissen, die Fassade mit Farbbeuteln beworfen und Pflastersteine durch das Fenster geworfen werden. Auch hier geht die Polizei von politisch motivierten Täter:innen aus.16
Die anonymen Mord- und Bombendrohungen sind keine isolierten Phänomene. Immer wieder begleiten sie wie Beiboote öffentlich vorgebrachte Polemiken gegen Kultureinrichtungen. Dahinter steht ein informelles Zusammenspiel unterschiedlicher Akteur:innen. Drei Beispiele: Der Intendant des Berliner Revuetheaters Friedrichstadtpalast hatte sich 2017 öffentlich gegen die AfD ausgesprochen. Im Oktober fordert der Berliner AfD-Landtagsabgeordnete Dieter Neuendorf, die Subventionen des Friedrichstadtpalastes in prozentualer Höhe des AfD-Wahlergebnisses zu kürzen: »Mittels eines qualifizierten Sperrvermerks in Höhe von 12,6 Prozent der Mittel möchte die AfD dem Intendanten Zeit geben, sein Demokratieverständnis zu überdenken.« Den Intendanten erreichen zur gleichen Zeit zahlreiche Morddrohungen, das Theater erhält rund 600 Hassmails und -briefe, Servicemitarbeiter:innen werden am Telefon lautstark beschimpft. Nach einer Bombendrohung muss eine ausverkaufte Vorstellung unterbrochen und das Theater von der Polizei geräumt werden.17