Vom glücklichen Leben. [Was bedeutet das alles?] - Seneca - E-Book

Vom glücklichen Leben. [Was bedeutet das alles?] E-Book

Seneca

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Beschreibung

"Glücklich leben wollen alle." Wohl wahr! Doch worin besteht echte Glückseligkeit eigentlich? Und wie kann man sie erreichen? Der römische Philosoph Seneca bietet eine Lösung, indem er die übliche Betrachtungsweise umkehrt: Den Verlauf der äußeren Welt zu ändern liegt nicht in unserer Macht, wohl aber unsere innere Haltung, die wir dieser Welt gegenüber einnehmen. Diese gilt es zu ändern. Breit wird dies am Beispiel vom Wert des Reichtums vorgeführt – ein Text, der in Zeiten einer chronischen Finanzkrise ganz neue Aktualität gewinnt …

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Seitenzahl: 73

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Seneca

Vom glücklichen Leben

Aus dem Lateinischen übersetzt von Fritz-Heiner Mutschler

Reclam

Lateinischer Originaltitel: De vita beata

 

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961418-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019596-3

www.reclam.de

Inhalt

Vom glücklichen LebenAnhangNachwortLiteraturhinweise

Vom glücklichen Leben

1 Glücklich leben, mein Bruder Gallio1, wollen alle; aber wenn es darum geht, zu durchschauen, was es ist, das ein glückliches Leben bewirkt, dann ist ihr Blick getrübt; und so schwer ist es, ein glückliches Leben zu erreichen, dass jeder sich umso weiter von ihm entfernt, je hastiger er zu ihm hineilt – wenn er sich im Weg geirrt hat: Wo dieser in die entgegengesetzte Richtung führt, wird die Eile selbst zur Ursache noch größerer Entfernung.

Daher müssen wir uns zunächst einmal vor Augen stellen, was es ist, das wir anstreben; dann müssen wir Umschau halten, auf welchem Weg wir am schnellsten dorthin eilen können, wobei wir auf dem Marsch selbst erkennen werden – wenn er nur in die richtige Richtung geht –, wie viel täglich bewältigt wird und wie viel näher wir dem Punkt sind, zu dem uns ein natürliches Begehren hintreibt. Solange wir freilich überall umherschweifen und nicht einem Führer folgen, sondern dem Lärmen und Durcheinanderschreien von Leuten, die uns in verschiedene Richtungen rufen, wird unser Leben mit Irrtümern vertan werden – kurz wie es selbst dann ist, wenn wir uns Tag und Nacht um eine vernünftige geistige Haltung bemühen. Daher muss entschieden werden, wohin wir streben sollen, und auf welchem Wege; nicht ohne einen Mann von Erfahrung, dem die Gegenden, in die wir ziehen, genau bekannt sind, da ja die Situation hier nicht dieselbe ist wie auf den übrigen Reisen: Auf jenen lassen es ein markierter Weg und Anwohner, die man befragt, nicht zu, dass man in die Irre geht; hier dagegen täuschen gerade die ausgetretensten und belebtesten Wege am meisten.

Nichts muss daher in höherem Maße gewährleistet werden, als dass wir nicht wie das Vieh der Herde der Vorausziehenden folgen und unseren Weg nicht dorthin nehmen, wohin man gehen muss, sondern wohin man geht. Und doch verwickelt uns nichts in größere Übel, als dass wir uns nach dem Gerede richten und das für das Beste halten, was mit großer Zustimmung aufgenommen worden ist, und uns nicht an die guten, sondern an die vielen Beispiele halten und nicht auf die Vernunft, sondern auf die Anpassung hin leben. Daher rührt diese riesige Anhäufung übereinanderstürzender Menschen. Was bei einem Massensturz geschieht, wenn das Volk sich drängt: Keiner fällt, ohne noch einen anderen auf sich zu ziehen, und die Vordersten bringen den Nachfolgenden Verderben – das kannst du überall im Leben sich ereignen sehen. Niemand geht nur für sich in die Irre, sondern jeder ist auch Grund und Urheber fremden Irrtums; denn es bringt Schaden, sich den Vorausgehenden anzuschließen, und indem jeder Einzelne lieber glauben als urteilen will, wird über das Leben niemals geurteilt, sondern immer nur geglaubt, und der von Hand zu Hand gereichte Irrtum treibt uns hin und her und lässt uns stürzen. Am Beispiel anderer gehen wir zugrunde: Wir werden geheilt werden, wenn wir uns nur von der Masse absondern. Jetzt aber steht das Volk als Verteidiger seines Übels gegen die Vernunft. Daher geschieht das, was bei Wahlen geschieht, bei denen sich darüber, dass gerade diese Männer zu Prätoren gewählt worden sind, dieselben Leute wundern, die sie gewählt haben – wenn die unbeständige Gunst sich gewendet hat: Dasselbe billigen und tadeln wir; dieses Ergebnis hat jeder Entscheidungsprozess, bei dem die Entscheidung gemäß der Mehrheit getroffen wird.

2 Wenn es um das glückliche Leben geht, gibt es keinen Grund, dass du mir wie bei den Abstimmungen die Formel zur Antwort gibst: »Dieser Teil scheint größer zu sein.« Deswegen ist er nämlich schlechter. Mit den menschlichen Verhältnissen steht es nicht so gut, dass der Mehrheit das Bessere gefällt: Der große Haufen ist ein Beweis für das Schlechteste. Fragen wir also, was zu tun am besten ist, nicht, was am häufigsten getan wird, und was uns in den Besitz ewigen Glückes setzt, nicht, was die Masse, der schlechteste Vermittler der Wahrheit, gebilligt hat. Als Masse bezeichne ich aber ebenso Männer im Prachtgewand wie bekränzte Häupter; denn ich sehe nicht auf die Farbe der Kleider, mit denen die Körper bedeckt sind. Den Augen traue ich, wo es um den Menschen geht, nicht; ich habe ein besseres und sichereres Auge, um vom Falschen das Wahre zu unterscheiden: Den Wert der Seele muss die Seele ausfindig machen. Wenn diese jemals Zeit hat, Atem zu schöpfen und in sich zurückzukehren, o wie wird sie sich, von sich selbst gequält, die Wahrheit gestehen und sagen: »Was immer ich bis zu diesem Augenblick getan habe: ich wollte lieber, es wäre ungeschehen; was immer ich gesagt habe: wenn ich es bei mir überdenke, beneide ich die Stummen; was immer ich gewünscht habe: ich halte es für Feindesfluch; was immer ich gefürchtet habe: wie viel weniger schlimm war es als das, was ich begehrt habe! Mit vielen war ich verfeindet und bin aus dem Hass zu freundschaftlichem Einvernehmen – wenn es unter Schlechten überhaupt Einvernehmen gibt – zurückgekehrt; mir selbst aber bin ich noch nicht freund. Ich habe mir jegliche Mühe gegeben, um mich aus der Menge herauszuheben und durch irgendeinen Vorzug bemerkenswert zu machen: Was habe ich anderes getan, als dass ich mich Geschossen ausgesetzt und der Missgunst gezeigt habe, was sie angreifen könne. Siehst du jene, die meine Beredsamkeit preisen, die meinem Reichtum nachlaufen, die vor meinem Einfluss kriechen, die meine Macht in den Himmel heben? Alle sind entweder Feinde oder, was auf das Gleiche hinausläuft, können es sein; ebenso groß wie die Menge der Bewunderer ist die Menge der Neider. Warum suche ich nicht eher etwas, das tatsächlich gut ist, das ich empfinde, nicht vorzeige! Jene Dinge, die betrachtet werden, bei denen man stehen bleibt, die der eine dem anderen staunend zeigt, glänzen außen und sind innen jämmerlich.«

3 Suchen wir also irgendetwas, das nicht zum Schein gut ist, sondern fest und sich gleichbleibend und auf der verborgeneren Seite schöner; das wollen wir ausfindig machen. Und es liegt nicht weit entfernt: Es wird sich finden lassen; man muss nur wissen, wohin man die Hand ausstrecken soll; jetzt gehen wir wie in der Dunkelheit ganz nahe daran vorbei, indem wir an eben das, wonach wir uns sehnen, geradezu anstoßen.

Aber um dich nicht auf Umwege zu ziehen, will ich die Meinungen anderer übergehen – denn sowohl sie aufzuzählen würde zu weit führen als auch sie zu widerlegen; vernimm die unsere. Wenn ich aber »unsere« sage, dann lege ich mich damit nicht auf einen einzelnen unter den führenden Stoikern fest: Auch ich habe das Recht, ein Votum abzugeben. Daher werde ich mich dem einen anschließen, den anderen werde ich auffordern, seinen Antrag zu teilen, vielleicht auch werde ich, nach allen anderen aufgerufen, nichts von dem verwerfen, wofür sich meine Vorredner erklärt haben, und lediglich sagen: »Dies beantrage ich zusätzlich.« Einstweilen pflichte ich – worin unter allen Stoikern Übereinstimmung besteht – der Natur bei; von ihr nicht abzukommen und nach ihrem Gesetz und Beispiel sich zu richten ist Weisheit.

Glücklich ist also ein Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur, das nur gelingen kann, wenn die Seele erstens gesund ist, und zwar in dauerndem Besitz ihrer Gesundheit, sodann tapfer und leidenschaftlich; ferner auf schöne Weise leidensfähig, den Zeitumständen gewachsen, um den ihr zugehörigen Körper und was mit ihm zusammenhängt besorgt, aber ohne Ängstlichkeit; ferner in Bezug auf die anderen Dinge, die zur Lebensgestaltung dienen, gewissenhaft, aber ohne übertriebenes Interesse für irgendetwas; willens, die Geschenke des Glücks zu nutzen, nicht aber, ihnen zu dienen. Du kannst erkennen, auch wenn ich es nicht eigens hinzufüge, dass beständige Seelenruhe und innere Freiheit folgen, wenn einmal die Dinge vertrieben sind, die uns reizen oder schrecken; denn wenn Lust und Schmerz verachtet werden, dann tritt an die Stelle jener Dinge, die unbedeutend und brüchig und sogar durch Schandtaten schädlich sind, eine große Fröhlichkeit, die unerschütterlich ist und gleichmäßig, ferner Friede und Harmonie der Seele und Größe verbunden mit Milde; denn jegliche Ungebärdigkeit gründet auf Schwäche.

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