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Helga Gisela Fessner-Heleine heiratet jung und ist Teil einer großen Familie, die sich mit Landwirtschaft ihren Lebensunterhalt verdient. Aber sie hat größere Träume: Mit ihrem Mann Georg plant sie die Gründung des Waldenserhofs, damit ihre große Liebe zu den Pferden und der Reiterei eine Heimat bekommt. Vom Milchmädchen bis zur erfolgreichen Managerin beschreibt den Weg einer Frau, die aus einer Händlerfamilie über den Bauernhof bis hinein in die Pharmaindustrie ihr Ziel niemals aus den Augen verlor.
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Seitenzahl: 340
Vom
Milchmädchen zur
erfolgreichen Managerin
Ein Leben zwischen Hof, Beruf und Pferden
Helga G. Fessner-Heleine
©Helga G. Fessner-Heleine
Umschlaggestaltung: KK
Lektorat: Klarissa Klein
Druck & Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback: 978-3-384-45622-9
E-Book: 978-3-384-45623-6
Disclaimer:
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Ich danke meinem Mann Georg, dass er mich kurz vor seinem Tod am 9. Juli 2024 ermuntert hat, dieses Buch fertig zu schreiben, obwohl er sich am Anfang beschwert hatte, dass ich mich so viel im Büro aufhalten würde.
Ich danke meinem Enkel Alexander Heleine, für die Hilfe bei der Traueranzeige und der Danksagung, sowie dafür, dass er die Fotos für das Buch eingescannt hat.
Ich danke meiner Lektorin Frau Klarissa Klein für die Unterstützung beim Schreiben dieses Buches; ich schreibe meine Geschichten nieder und Frau Klein macht ein Buch daraus.
Inhalt
Impressum
Danksagung
Meine Jugend in Bad Kreuznach
Die gute Seele und angesengte Haare
Umstürzende Leuchten
Ein Geburtstag im Krieg
Schule und die Amerikaner
Das Pferd Rosa
Reiterei
Lehre und Reiten
Die erste Jagd
Musikunterricht und ein Weihnachtsbaum
Ferien in Traben-Trarbach
Amazonenrennen
Eine weitere Jagd
Mein Bruder Horst
Schicksalsschläge
Lehrjahre
Verlobung und Hochzeit 1959
Das Leben im Winter auf dem Hof
Meine Pferde …
Don Pedro und
Abdel Karim Akef
Historie zum 90. Geburtstag …
Das Leben auf dem Hof …
Der Doktor und
die lieben Patienten
Was der Frühling so bringt
Mähen und andere Abenteuer
Unsere Kinder
Konfirmation von Horst und Katja im Mai 1973
Wiedereinstieg indie Berufstätigkeit
Die erste Sprachreise
Der Wechsel in die Pharmaindustrie
Sprachreise in die USA
Der Start in den Außendienst 1981
Der Traum und Beginn des „Waldenserhofs“
Ein ereignisreiches Jahr: 1989
Jahrestagung des Gesamt-Außendienstes
Gesamtaußendienst-Tagung in Sonthofen/Bayern
Incentive-Reise für die Gewinner des Kramik-Wettbewerbs Moskau
Fevarin-Relaunch-Tagung in Ägypten
Meine Freundin Dalal Al-Thaheed aus Kuwait
Laudatio zu Horsts 50. Geburtstag
Laudatio zu Katjas 50. Geburtstag
Helgas 50. Geburtstag
Nachruf auf einen wunderbaren Menschen!
Todesanzeige
Danksagung
Gemeinsamer Lebensweg:
Auf dem Weg zur Konfirmation
In der guten Stube
Die Enkel
Himmelshochzeit
Deutschland im Jahr 1940: Während in vielen Teilen des Landes die Zerstörung durch Bombenhagel in vollem Gange ist, erblickte ich am Morgen des 5. Septembers genau um 8 Uhr im Diakonie-Krankenhaus in Bad Kreuznach das Licht der Welt. Mein Vater war nicht im Krankenhaus; zu diesem Zeitpunkt stand er auf unserem Dachgarten und verfolgte die Bomber mit dem Fernglas. Er passte auf, damit in unser Geschäftshaus nicht eingebrochen werden konnte. Er begleitete uns nie in den Schutzbunker, sondern brachte uns bei jedem Alarm in den Kauzenburg-Bunker, der nicht weit von unserem Haus lag. Ein schrecklicher Ort. Ich erinnere mich noch gut an das Geschrei und Weinen und die schlechte Luft dort.
Ich wurde in ein Geschäftshaus für Milch- und Molkerei-Produkte hineingeboren, in dem die Parole galt: „Das Geschäft geht über alles, wir leben davon.“ Dieser Spruch verfolgte mich lange Jahre und galt natürlich für alle Kinder.
Nach Erzählungen soll ich ein hübsches, freundliches Kind gewesen sein, mit einem Kopf voller dunkelblonder Locken. Unsere „gute Seele“ Hildegard Thomas brachte meiner Mutter mit dem Fahrrad frische Milch in die Klinik, trotz Fliegeralarm.
Meine Eltern, Irmgard Fessner, eine geborene Steuerwald aus Traben-Trarbach an der Mosel, und mein Vater, Ernst Wilhelm Fessner, hatten bereits meinen Bruder Horst, geboren am 3. Mai 1933, und meine Schwester Brunhilde, die am 27. November 1934 geboren wurde. Im Jahre 1946, am 7. Februar, kam noch eine Nachzüglerin, meine Schwester Rosemarie, genannt „Romy“. Alle sechs Jahre ein Mädchen, das Dreimädelhaus war nun perfekt und unser Bruder Horst war der Hahn im Korb.
Meine Eltern führten zwei Spezialgeschäfte für Milch, Butter, Eier und Käse und waren daher immer sehr beschäftigt. Wir wohnten in der Magister-Faust-Gasse 11, in der das Hauptgeschäft im Erdgeschoss lag. Ein weiteres war am Kornmarkt beheimatet, in dem Angestellte die Kundschaft bedienten. Wir hatten viele Angestellte, die zum Teil auch mit uns im Haus wohnten.
Meine Mutter war eine sehr geschäftige Frau. Sie bediente die Kundschaft in unserem Geschäft im Haus und erledigte außerdem den Einkauf für die Läden. In der Mittagszeit kochte sie für alle und Zeit, sich etwas auszuruhen, hatte sie kaum. Mein Vater fuhr schon morgens sehr früh, meistens gegen fünf Uhr, in die Molkerei, um die frische Milch und Sahne einzukaufen. Doch bevor er losfuhr, kochte er sich einen sehr starken Kaffee und rauchte erst einmal eine Zigarette, der damals sehr populären Marke Eckstein ohne Filter. Das hatte zur Folge, dass im Auto oberhalb des Lenkrads Tabakkrümel verteilt waren.
Nachdem er die Milch und Sahne zu Hause abgeladen hatte, fuhr er die Cafés, Hotels und Eissalons an, um die bestellte Ware auszuliefern. Wenn er dann gegen zwei Uhr nach Hause kam, legte er sich nach dem Mittagessen etwas hin, damit er später seine Büroarbeit erledigen konnte.
Zu meinem Leidwesen musste ich dann auch Mittagsschlaf halten, obwohl ich das nicht wollte. Nachdem ich mich mehrmals an den Ellerbach, einem Bach, an dem wir Kinder trotz Verbot gerne spielten, verdrückt hatte, musste ich im Ehebett auf der Seite meiner Mutter schlafen, damit mein Vater mich kontrollieren konnte. Er wollte nicht, dass ich dort spielte, da es dort nicht gerade sauber war. Die Leute, die dort wohnten, schütteten ihre Abfälle über die Balkonbrüstungen auf den Beton. Die dort lebenden Gänse freute es, die Menschen eher nicht, denn das war natürlich nicht sehr hygienisch und die Gänse waren gefürchtet. Die Ellerbach-Zone wurde in Bad-Kreuznach auch gerne „Klein-Venedig“ genannt. Fotos und Gemälde von diesem pittoresken Ort berichten davon. Wir Kinder wurden Ellerbach-Matrosen genannt, weil wir trotz Verbot dort sehr gerne spielten.
An einem meiner Geburtstage, ich glaube, es war mein Siebter, lud ich mehrere Schulkameradinnen ein. Alle trugen schöne Kleider, wie man das halt damals so machte, wenn man eine Einladung zum Geburtstag hatte. Nachdem wir unseren Pflaumenkuchen mit Schlagsahne auf unserem Dachgarten gegessen hatten, wollten wir etwas unternehmen.
Was lag näher, als zum Ellerbach zu gehen, um Mutproben abzulegen? Da ich die Aktion angestiftet hatte, musste ich als Erste über den 2 m breiten Bach springen. Mit dem richtigen Anlauf klappte es hervorragend und zurück funktionierte es auch. Nun waren die Freundinnen gefordert, sie wollten ja nicht zurückstehen. Den meisten gelang der Sprung hin und zurück, bis auf Doris, sie sprang zu kurz und landete, mit ihrem schönen rosa Kleidchen, im nicht sehr sauberen Wasser.
Die Aktion hatte für mich ein paar unangenehme Nachwehen in Form von Ohrfeigen meiner Mutter, weil die Familie dieses Mädchens Kunden bei uns waren und mit Kunden würde man so nicht umgehen, belehrte sie mich.
Beim weiteren Lesen meiner Aufzeichnungen habe ich festgestellt, dass ich meine Mutter so beschrieben habe, dass sie in einem falschen Licht erscheinen könnte. Es wäre unfair dieser Frau gegenüber, weil es ihrer Lebensleistung nicht gerecht werden würde. Schließlich habe ich mich meist mit meinen Taten und deren Reaktionen darauf beschäftigt. So könnte für den Lesenden der Eindruck erstehen, dass sie eine wütende, um sich schlagende Frau ohne jedwedes Gefühl für ihre Kinder war und nur den „guten Eindruck“ nach außen hin wahren wollte. Dem war nicht so. Wie jede Frau ihres Alters und ihres Standes in der Gesellschaft hatte auch sie eine Geschichte.
Ich denke, diese Aufgaben, die sie vor ihrer Heirat mit meinem Vater zu bewältigen hatte, haben ihr das Organisieren eines Lebens einer berufstätigen Mutter erleichtert. Uns Kindern war nicht klar, was diese Frau, die unsere Mutter war, geleistet hat.
Als junge Frau war unsere Mutter bei der jüdischen Verlegerfamilie Pit Fries als Hausdame angestellt. Sie hatte dort Familienanschluss und organisierte viele Gesellschaften im Haus und hat erleben dürfen, wie solch eine Familie zu funktionieren hat, wenn man in der Öffentlichkeit stand. Es war für sie ganz schön, aufregend, aber auch anstrengend.
Nach der Reichskristallnacht 1939 floh die Familie nach Amerika und meine Mutter war plötzlich erwerbslos. Bald darauf fand sie eine neue Stelle als Leiterin in einem Kinderheim in Bad Kreuznach, wo sie meinen Vater kennenlernte, der dieses Kinderheim belieferte.
Obendrein hatte sie es mit meinem Vater nicht immer leicht. Er war zwar durchaus ein Familienmensch, der mir in der Nacht meine Armbanduhr abnahm, damit mein Handgelenk gut durchblutet wurde, oder uns auch noch einmal zudeckte, allerdings tat er das nur, wenn er nüchtern war. Aber als ältester Sohn musste er die Geschäfte von seinem Vater Wilhelm übernehmen, der bereits mit 62 Jahren verstorben war. Und wie jeder junge Mensch hatte auch unser Vater Träume und Pläne für sein Leben, die nichts mit Milch, Quark und Sahne zu tun hatten. Unser Vater liebte Operetten und so war sein innigster Wunsch, selbst zu singen. Schon als sehr junger Mann trat er in den Gesangverein „Liedertafel“ ein. Er liebte es, Arien zu singen, und seine Schallplattensammlung von Operetten war sehr ansehnlich. Wir Kinder hörten diese auch sehr gerne, und nach einiger Zeit konnten wir sie auch mitsingen. Noch heute kann ich einige Arien auswendig singen.
Dass er seinen Lebenstraum nicht verwirklichen konnte, machte ihm zu schaffen und so war er oft schlechter Laune. Im Eissalon in Bad Kreuznach, bei den Italienern, wurde er oft aufgefordert zu singen oder mitzusingen und sie schenkten ihm Wein ein. Das passierte leider häufiger und wenn er dann nach Hause kam, machte ihm meine Mutter Vorwürfe und es kam zum Streit. Wir Kinder mussten das öfter erleben, als uns lieb war, und es blieb uns unser ganzes Leben in Erinnerung.
Er ging auch nie zum Arzt, denn seine Devise war: Ich bin für mich der bessere Arzt. So kam es, wie es kommen musste: Er fiel morgens um sieben Uhr in unserem Haus hinter der Ladentheke um und war sofort tot. Meine Schwester Brunhilde sagte mir am Telefon, ich könnte froh sein, ihn nicht mehr gesehen zu haben, denn er sei innerhalb kurzer Zeit blitze blau gewesen. Zu dem Zeitpunkt war meine Mutter im Badezimmer und schrie wie von Sinnen seinen Namen, nachdem sie den Aufprall gehört hatte. Als wäre dies, für eine Mutter und Ehefrau, bisher nicht traumatisch genug, erschien die Kriminalpolizei, um zu untersuchen, ob eine Fremdeinwirkung vorgelegen hätte.
Es war der 2. Februar 1977 und er wäre am 17. März 74 Jahre alt geworden. Bei seiner Beerdigung stellten wir mit Blick auf unser Grabmal fest, dass unser Vater am selben Tag, genau am 2. Februar, aber 40 Jahre später, wie sein Vater Wilhelm an derselben Ursache gestorben war; am tödlichen Herzinfarkt. Unseren Opa Wilhelm habe ich nicht kennenlernen dürfen; er starb 1937 im Alter von 64 Jahren, drei Jahre bevor ich geboren wurde.
Meine Oma Katharina, die in Bosenheim geboren war, lebte mit uns zusammen im Haus an der Magister-Faust-Gasse 11, in dem sich auch unser Hauptgeschäft für Käse und Milch im Erdgeschoss befand. Während des Krieges fuhren wir häufiger nach Bosenheim und fanden dort bei der Familie Unterschlupf, aber auch dort mussten wir in den Bunker, nachdem wir nachts über die kaputte Eisenbahnbrücke balancierten. Sie war eine herzensgute Frau, kümmerte sich rührend um mich, da meine Mutter sehr wenig Zeit hatte. Sie starb mit 67 Jahren am 28. April 1945. Zu diesem Zeitpunkt war ich viereinhalb Jahre alt, aber ich kann mich noch gut an sie erinnern.
Als sie starb, wurden alle Spiegel mit Tüchern abgehängt, auch eine schöne Figur aus Porzellan, die auf dem Treppenabsatz zum 1. Stock stand. Ich erinnere mich, dass ich meine Oma immer wieder gesucht habe, denn niemand sagte mir, was geschehen war.
Was mir ebenfalls im Gedächtnis geblieben ist, wenn ich an sie denke, ist ihre Aussage, dass, wenn ich nicht brav wäre, ich Salz in die Suppe bekäme und barfuß ins Bett müsse. Aber oft nahm sie mich auch in den Arm und tröstete mich, wenn ich mir wehgetan hatte, und das geschah häufig, denn ich war ein wildes Kind.
Sie hatte eine Zauberkommode im Wohnzimmer, dachte ich zumindest, denn da holte sie die schönsten Sachen heraus, die ich mir als Kind vorstellen konnte. So unter anderem eine kleine Puppe oder auch Puppengeschirr, ich erinnere mich an eine rote Puppentasse mit weißen Punkten darauf. Wenn ich so etwas Schönes von ihr bekam, war ich selig.
Abbildung 1 Geschäft am Kornmarkt
Abbildung 2 Helga in der Mitte
Abbildung 3Vater Ernst Fessner mit Bursche Martin Schmitt
Abbildung 4 Helgas 5. Geburtstag
Abbildung 5Irmgard u. Ernst Fessner mit Brunhilde und Horst
Meine Mutter hatte eine „gute Seele“ im Haus, die ihr bei allen anfallenden Arbeiten zur Hand ging. Und so gut sie mit meiner Mutter konnte: Meine Freundin war sie nicht. Denn wenn es hieß, dass es am heutigen Tag ans Haarewaschen ging, war ich wie der Wind verschwunden. Natürlich entdeckte sie mich und dann war ich dran. Ohne Wenn und Aber. Kein Heulen, kein Weinen verschonte mich. Das Waschen der Haare war nicht das Problem, aber das Auskämmen meiner Locken ziepte entsetzlich, weil es damals leider noch keine Cremespülung gab.
Meine Mutter erzählte mir eine Geschichte, mit der sie mich immer wieder gerne aufzog. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, wollte ich offensichtlich lieber Wellen als Locken. Meiner Großmutter Katharina wurden jeden Morgen von der Friseuse (so hießen die damals) Tante Regine, die einen eigenen Salon hatte, die Haare in unserem Haus onduliert. Sie verwendete dazu eine Brennschere, die über dem Gas erhitzt wurde, danach wurde die Hitze an einer Zeitung geprüft, damit das glühende Eisen die Haare nicht verbrannte. Meine Großmutter hatte nach dieser Prozedur immer schöne Wellen auf dem Kopf, wie ich als dreijähriges Kind offensichtlich bemerkte.
Unsere taube Bügelfrau Gretchen half eines Tages – wie so oft – mit der Bügelwäsche. Diese Plätteisen wurden zu der Zeit auf dem Gas erhitzt. Meine Mutter vermutete später, nachdem sie das Desaster analysiert hatte, dass ich wohl mit einem Kamm an die Flamme gegangen sein musste, um mich dann mit dem glühenden Stück zu „frisieren“. Der Erfolg war spektakulär, denn ich stand innerhalb von Sekunden in Flammen. Dass ich keine bleibenden Schäden davongetragen habe, verdankte ich der schnellen Reaktion meiner Großmutter, die gerade den Raum betreten hatte. Sie nahm ihre riesige Schürze und erstickte die Flammen auf meinem Kopf.
Als meine Mutter in der Mittagspause nach Hause kam, sie war an diesem Tag in unserem Geschäft am Kornmarkt, traf sie fast der Schlag. Ich lag in meinem Bettchen und hatte fast keine Haare mehr, nur ein paar versengte Stoppeln standen wie verbranntes Korn auf dem Feld von meinem Kopf ab. Gott sei Dank, war mein Gesicht nicht betroffen. Die Haare wuchsen wieder nach und wurden auch wieder lockig.
Meine geliebte Großmutter Katharina starb 1945 an einer Lungenentzündung. Es gab zwar schon Penicillin bei den Amerikanern, das meine Großmutter hätte retten können, doch meine Eltern erzählten mir später, dass sie keine Möglichkeit hatten, welches zu bekommen.
Abbildung 6 Helgas 1. Schultag
Im Februar 1945 besuchte uns der jüngste Bruder meiner Mutter, Fritz Steuerwald. Er führte in Traben im Loretta-Haus eine Zahnarztpraxis und kam fast jeden Mittwoch nach Bad-Kreuznach, da er hier mit einem örtlichen Zahntechniker zusammenarbeitete. In unserem Haus waren die Fenster wegen der feindlichen Flugzeuge verdunkelt, und auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe.
Meine Eltern und Onkel Fritz unterhielten sich in der Küche. Wir Kinder, Horst, der damals 12 Jahre war, Brunhilde, die zu diesem Zeitpunkt 11 Jahre und ich, die Kleinste, war 4,5 Jahre alt. Während ich auf dem Sofa spielte, saßen meine älteren Geschwister am Tisch und sollten eigentlich ihre Hausaufgaben machen. Doch meine Schwester Brunhilde spielte lieber mit ihrem Bleistift an der Lampe herum und wippte mit dem Stuhl. Mein Bruder Horst warnte sie, nicht an der Lampe herumzuspielen, sie kümmerte sich nicht um seine Warnung. Plötzlich fiel die Lampe um und auf dem Tisch brannte das Petroleum. Ich schrie und meine Geschwister stürmten die Treppe hoch in ihre Zimmer.
Ich wollte auch nach oben, bevor meine Eltern und Onkel Fritz hereingestürzt kamen, konnte aber nicht von dem Sofa runter, da der Tisch so nah davor und für mich viel zu schwer war, um ihn beiseitezuschieben. So bekam ich die Ohrfeige ab, die eigentlich meine Schwester hätte bekommen müssen.
Abbildung 7 Horst, Brunhilde und Helga
Gegen Ende des Krieges wollten wir den 42. Geburtstag meines Vaters am 17. März feiern. Es war eine schlechte Zeit und Lebensmittel waren nur über Umwege und Tauschgeschäfte zu bekommen. Mein Vater konnte in der Molkerei ein wertvolles Besteck tauschen, um an Butter und Sahne zu kommen. Ein Bekannter der Familie, Willi Kochendörfer, seines Zeichens Konditor, war als Kriegsgefangener in der Foch-Kaserne in Bad Kreuznach. Willi zauberte eine wunderschöne Schachbrett-Buttercremetorte.
Die Torte war gerade fertig geworden, als die Nachricht kam, die Amerikaner würden Bad-Kreuznach besetzen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir uns auf die Torte stürzten, um sie in Windeseile aufzuessen, damit die Amerikaner sie uns nicht wegnehmen konnten. Die Geräusche, die von der Straße ins Wohnzimmer drangen, ängstigten mich so sehr, dass ich mich zwischen Sofa und Wand versteckte, damit mich die Amerikaner nicht entdecken konnten.
Als Kind war ich sehr jähzornig. Wenn ich das Gefühl hatte, dass mir Unrecht geschehen war, schrie ich, bis ich blau anlief und keine Luft mehr bekam. Meine Mutter wusste sich nicht anders zu helfen, als mich mit dem Kopf unter kaltes Wasser zu halten oder mir ein paar Ohrfeigen zu verabreichen. Danach japste ich nach Luft und meine Gesichtsfarbe wurde wieder rosig.
Im Jahr 1946 wurde ich eingeschult. Da immer noch allgemeiner Mangel herrschte, besorgte der Bruder meines Vaters, Onkel Richard, für seinen Sohn Adolf und mich schwarze lederne Schulranzen. Ich frage mich noch heute, wo er in dieser Zeit, kurz nach dem Krieg, wo es nichts gab, diese aufgetrieben hatte. Am Tag der Einschulung wurden auf dem Dachgarten Fotos von uns Kindern mit den schönen neuen Ranzen gemacht. Auf diesem Bild sieht man meine Zöpfe und am Ende der Zöpfe standen die Haare in alle Richtungen. Meine Mutter sagte immer, wenn sie dieses Foto sah: „So wie die Haare sind, so widerspenstig ist das ganze Kind.“
Im Winter setzte ich mich auf den Ranzen und rodelte den Berg auf dem Schulhof hinunter, was meiner Mutter nicht gefiel.
In der Foch-Kaserne lernte mein Vater noch andere Kriegsgefangene kennen, welche auch in der Küche arbeiteten. Es entstand eine lebenslange Freundschaft mit ihnen. Heinz Breitenborn und Heinrich Lauxner waren Schreiner und kamen beide aus Sachsen. Heinz Breitenborn lernte seine spätere Frau Lucie in unserem Haus kennen und blieb in Bad-Kreuznach. Tante Lucie, wie ich sie nannte, arbeitete bei uns und kontrollierte die Schulaufgaben und übte mit uns Diktate und Ähnliches, wir Kinder mochten sie nicht besonders, denn sie war sehr streng.
Wenn mein Vater die Kaserne mit Milch und Molkereiprodukte belieferte, wollte ich ihn immer begleiten, da ich dort jedes Mal Leckereien zugesteckt bekam, die es zu Hause nicht gab. Die Schreiner Heinz und Heinrich fertigten für mich Holzklepper-Schuhe an. Diese bestanden aus mehreren Holzteilen in Form meiner Füße, die durch Lederriemen verbunden waren und die beim Laufen einen schönen Krach machten, wie ich fand. Auf diese Klepper war ich sehr stolz.
Die Freunde aus der Kaserne hatten auch tagsüber Ausgang und konnten uns besuchen. Sie halfen meinen Eltern dabei, die Lebensmittelmarken für die Abrechnungen auf die Karten aufzukleben, und wenn es etwas zu feiern gab, waren sie selbstverständlich eingeladen.
Abbildung 8Vater Fessner mit Hund
Als die Amerikaner Bad Kreuznach besetzt hatten, wollten viele Menschen die Stadt verlassen. Es gab aber zu wenig Transportmöglichkeiten. Mein Bruder Horst spannte unser Pferd Rosa ein und fuhr Leute mit ihrem Gepäck zum Bahnhof. Als er wieder zu Hause am Stall ankam, bemerkte unser Vater, dass das Pferd ein Hufeisen verloren hatte. Eine Katastrophe. Man fand keinen Hufschmied und selbst wenn, dann waren Hufeisen absolute Mangelware. In seiner Wut gab Vater Horst ein paar saftige Ohrfeigen. Als ich das sah, versteckte ich mich weinend in einem Hauseingang, denn Horst hatte nicht alleine auf dem Bock gesessen. Er hatte mich mitgenommen.
Ich saß also weinend und verängstigt in diesem Hauseingang, als ich plötzlich auf die Stiefel eines GIs blickte. Ich sah auf und in die Augen eines schwarzen Amerikaners, der mich freundlich anlächelte. Was er zu mir sagte, konnte ich nicht verstehen, aber die Schokolade, die er mir gab, war köstlich. Meinem Bruder Horst gab er ebenfalls welche, was ihn etwas tröstete und von der schmerzenden Wange ablenkte. Wir hatten unser Pferd noch nicht lange wieder zurück. Sie war von den Besatzern beschlagnahmt und einem Bauern zugeteilt worden, der wiederum seine Pferde dem Militär abtreten musste. Es war sehr schwierig, sie wieder zurückzubekommen, aber wir haben es geschafft. Rosa war noch sehr jung und eigentlich ein liebes Tier, sie hatte aber panische Angst vor der Eisenbahn und dem Straßenverkehr. Dies brachte uns mehrmals in große Schwierigkeiten.
Einmal auf dem Weg von der Molkerei, unser Auto hatte kein Benzin mehr, weil es keines zu kaufen oder anderweitig zu organisieren gab, hatte unser Vater sie vor den Wagen gespannt. Aber sie ging mit dem Wagen durch, der Vater stürzte vom Bock und alle Milchkannen flogen in hohem Bogen auf die Straße und die Milch war verloren. Ein sehr beherzter Mensch konnte das Tier samt Wagen dann wieder einfangen.
Ein andermal fuhr ich wieder einmal mit meinem Bruder von einer Tour nach Hause, als Rosa in der Fischergasse die Kurve schnitt; der Pritschenwagen, auf dem ich saß, knallte gegen die Hausmauer und ich flog im hohen Bogen von der Ladefläche auf die Straße. Das Ergebnis waren ein verstauchter Fuß und Prellungen. Das hielt mich aber nicht ab, bei der nächsten Fahrt wieder dabei zu sein.
Ein besonderes Vergnügen war es, für uns, mit Rosa zum Schwimmen zu gehen. Horst ritt in die Kirchsteinanlage, von dort konnte er mit dem Pferd in die Nahe reiten. Rosa fand das Schwimmen schön und angenehm. In einem Sommer hatte die Nahe nicht viel Wasser, sodass wir uns entschieden hatten, in Richtung Bretzenheim zu gehen, da dort der Fluss tiefer war. Wir fuhren mit dem Pferdewagen dorthin, spannten aus und gingen mit Rosa schwimmen. Wir genossen das kühle Nass, bis plötzlich aus heiterem Himmel Rosa aus dem Wasser raste und auf und davon galoppierte. Mein Bruder Horst in der Badehose hinterher und ich versuchte, mit meinen kurzen Beinen den beiden zu folgen. Horst musste bis in die Stadt rennen, um das Pferd wieder einzufangen, und das war eine ziemliche Strecke.
Das waren nur einige Streiche, die uns unsere geliebte Rosa gespielt hat.
Abbildung 9Horst mit Rosa am Zugwagen
Abbildung 10Horst und Helga auf dem Bock mit Rosa
Mit 14 Jahren startete meine Reiterkarriere. Für die damaligen Verhältnisse war das ein sehr junges Alter. Als Geschwister sind wir mit unserem Pferd Rosa, einem leichten Warmblutpferd, und unserem Schäferhund Bodo aufgewachsen. Horst, mein Bruder, hatte die Aufgabe, mit Rosa die Milch und Molkereiprodukte im Kurviertel von Bad Kreuznach auszuliefern, da es nach dem Krieg dort keine Geschäfte mehr gab. Soweit mir bekannt ist, ist das auch heute noch so. Rosa stand immer mit den Vorderbeinen auf dem Bürgersteig und schaute die Passanten, die vorbeigingen, freundlich an. Von einigen bekam sie Brot oder andere Leckereien zugesteckt.
In den Ferien war es meine schönste Zeit, meinen Bruder auf dem Kutschbock zu begleiten. Ich half ihm, so gut ich konnte, und ich bekam von den Hausfrauen, denen ich die Milch ans Haus brachte, einen kleinen Geldbetrag.
Nach einigen Jahren entschloss mein Vater sich dazu, einen Verkaufswagen anzuschaffen; dadurch wurde die Stute erwerbslos. Mein Bruder war nach der ersten Tour mit dem neuen Auto richtig traurig. Ihm fehlte Rosa und er wollte lieber wieder mit ihr die Runden fahren. Aber die Anschaffung des Autos hatte auch etwas Gutes: Es war die Gelegenheit, unsere Reiterei intensiver zu betreiben. Vor allem mein Bruder profitierte davon, denn ich war zu diesem Zeitpunkt noch zu jung.
Abbildung 11 Helga 2.v.r. bei einer Jagd
Ich war 14, als ich in die Lehre geschickt wurde, und zwar zur Firma Immerheiser & Co., Lebensmittel-Großhandel und Kaffeegroßrösterei. Das Argument meiner Eltern war damals, dass es für unsere Geschäfte das Beste sei. Ich hatte eigentlich andere Pläne, denn ich wollte Tierärztin werden. Das war nicht möglich, denn sie erlaubten mir nicht, von der Volksschule auf das örtliche Lyzeum zu wechseln. Es war schwer für mich, diese Entscheidung zu akzeptieren, denn sie hatte ausschließlich mit den Geschäften meiner Eltern zu tun und war eine Konsequenz aus der schulischen Leistung meiner Schwester Brunhilde, die sechs Jahre älter als ich war.
Brunhilde hatte die Chance bekommen, auf das Lyzeum gehen zu dürfen. Zunächst waren auch alle sehr stolz, dann allerdings musste sie dieses wieder verlassen, weil ihre Noten in Französisch zu schlecht waren. Das war eine Schande für unsere Familie, die jeder in der Stadt kannte, und jedermann wusste davon. Die Eltern vermuteten, dass auch ich es nicht schaffen würde, und so war meine weitere Ausbildung vorherbestimmt. Der Grund für das Scheitern meiner Schwester Brunhilde wurde mir erst viel später bewusst. Wir Kinder hatten zu wenig Zeit zum Lernen. Dauernd waren wir gefordert, im Geschäft zu helfen und Waren auszutragen. Auch zum Spielen blieb fast keine Zeit.
Ich war eine begeisterte Rollschuhläuferin auf der Straße vor unserem Geschäft in der Straße am Kornmarkt, da es keine Rollschuhbahnen gab, musste ich damit vorliebnehmen. Wenn mein Vater mich dabei erwischte, sagte er: „Geh deiner Mutter zur Hand.“ Dann musste ich mit ihm nach Hause fahren. Diesen Spruch habe ich mein Leben lang gehasst.
In der Lehre verdiente ich dann erstmals auch Geld. Nicht viel, aber immerhin etwas. Im ersten Jahr 30,00 DM und dann jedes Jahr 10 DM mehr im Monat. Dieses Geld investierte ich in Reitstunden beim Reitlehrer Joschi Pfann, der im ehemaligen Winterquartier beim Zirkus Fischer sein Domizil hatte. Die Reitstunde kostete 5,00 DM, für die damalige Zeit war das schon kostspielig, und folglich konnte ich zu Hause kein Geld mehr abliefern. Mein Vater war sehr erbost und verpasste mir eine Ohrfeige. Wie konnte seine eigene Tochter nur so frech sein? Er wollte nicht, dass ich richtig reiten lerne. Warum kann ich nicht sagen, aber ich denke, er hielt es für Zeitverschwendung und somit für absoluten Luxus? Aber ich gab nicht auf.
Wenn ich zum Reiten gehen wollte, warf ich meine Hose aus dem Fenster meines Zimmers, das im 2. Stock lag, und ging dann mit normaler Kleidung aus demHaus.
Mein Vater verstand lange Zeit nicht, warum ich reiten wollte. Immer war er böse auf mich. Doch durch den tragischen Unfalltod meines geliebten Bruders Horst im Februar 1956 war er nicht mehr so streng. Denn nun war ich ganz alleine für Rosa verantwortlich. Meine Eltern wollten sie verkaufen, aber ich setzte Himmel und Hölle in Bewegung, die dann in Form des Bruders meiner Mutter auftraten, damit ich die Stute behalten konnte.
Es ergab sich die Möglichkeit, Rosa in den Stall Bronnemeyer zu geben, der sich nach dem Weggang der Familie Pfann dort auf der Pfingstwiese etablierte. Die Bronnemeyers konnten die Stute in ihrem Schulbetrieb laufen lassen, wo sie dann auch gleichzeitig in der Dressur und dem Springen ausgebildet wurde. So war uns beiden geholfen, da die Stute bis zu dieser Zeit nur am Wagen gegangen war.
Dass Rosa bei Bronnemeyer untergestellt worden war, war wirklich ein großes Glück, denn so konnte ich das erste Mal an einer Jagd teilnehmen. Der 1. Vorsitzende des Reitervereins, Richard Krämer, Besitzer des größten Kaufhauses von Bad Kreuznach, lud zur Jagd in den Soonwald ein. Als verantwortlichen Gestalter dieser Jagd konnte er Herrn Weidemann gewinnen, der von der Kavallerieschule Hannover kam. Damit wir auch alle mit unseren Pferden an der Jagd teilnehmen konnten, mietete Herr Bronnemeyer einen Lkw.
Das Verladen der Pferde begann und als meine Stute Rosa, die jetzt auf den Namen Tamara hörte, verladen werden sollte, gab es Probleme, da sie das nicht kannte. Sie wurde nervös und trippelte an der Longe vor dem Lkw auf und ab. Erst als man ihr ein Tuch vor die Augen band und sie die anderen Pferde hörte und roch, wurde sie ruhiger und ließ sich in den Lkw führen. Ich stand dabei und war froh, dass sie verladen war, doch plötzlich trat sie gegen die Holzwände des Lasters, was dem Besitzer des Fahrzeuges nicht sonderlich gefiel.
Bronnemeyer machte die Klappe wieder auf und schob mich zwischen die sechs Pferde.
„Du sorgst dafür, dass sie Ruhe hält und nichts kaputtgeht.“ Das war der Auftakt der Jagd, in jeder Kurve der 30 km langen Fahrt in den Soonwald kamen mir die Pferdehufe verdammt nahe, sodass ich versuchte, an der Bordwand hochzuklettern. Es war laut und eng und die Pferde ziemlich nervös. Alles in allem war das keine ungefährliche Fahrt.
Beim Ausladen der Pferde begann es zu regnen, so fiel die Begrüßung der Teilnehmer, die aus ganz Deutschland angereist waren, durch den 1. Vorsitzenden Krämer buchstäblich ins Wasser, sodass wir zügig aufstiegen. Der erste Sprung machte uns noch etwas zu schaffen, aber dann lief es gut. Herr Weidemann hatte einen Steilhang mit in die Jagd eingebaut, der am Ende fast 2 m steil war und von den Pferden auf dem Hinterteil rutschend bewältigt werden musste.
Am Fuß des Hügels floss ein kleiner Bach und als sollte es uns Reiter beruhigen, stand da ein Krankenwagen.
Einige sehr elegante Damen, die aus Düsseldorf angereist waren, trugen eine klassische Dressuruniform mit Zylinder auf dem Kopf. Sie schienen eine etwas andere Art der Jagd erwartet zu haben.
Nun standen sie auf dem Hang und hätten wahrscheinlich dort übernachtet, wenn Udo Anhäuser sich nicht erbarmt hätte, um sie sicher über diese Klippe zu bringen.
Der letzte Sprung war ein großer Wassergraben. Frau Bronnemeyer und ich ritten direkt hinter Herrn Krämer. Sein Pferd Rex trat bei diesem Sprung voll ins Wasser und kassierte dafür einige gedankliche Minuspunkte von Herrn Krämer. Mein Pferd Rosa, jetzt Tamara, hingegen überflog den Wassergraben in vollendeter Manier, was Frau Bronnemeyer mit einem breiten Grinsen quittierte.
„Schau dir den ollen Rex an, mit dem Herrn Vorsitzenden im Sattel. Tritt der doch glatt ins Wasser.“ Ich war mächtig stolz auf mein Pferd, das zeitweise unseren Milchwagen gezogen hatte und soeben diese anspruchsvolle Jagd so gut gemeistert hatte. Beim gemeinschaftlichen Umtrunk begrüßte mich Herr Krämer dann sogar persönlich.
„Wie schön, dass Sie an der Jagd teilgenommen haben“, sagte er und weil ich das ziemlich seltsam fand, erzählte ich den Bronnemeyers davon und sie erklärten mir, dass Herr Krämer mich eigentlich nicht hatte teilnehmen lassen wollen, da mein Bruder erst vor Kurzem verunglückt war.
Auch dieser kleine Erfolg änderte die Meinung meiner Eltern bezüglich meiner Reiterei nicht. Sie unterstützten mich auch weiterhin nicht. Doch dank einiger Vereinskameraden, die mit mir an Turnieren in der Umgebung teilnahmen, war ich nicht ganz alleine und konnte mit ihnen reiten. So konnte ich einige Erfolge im Springen und in der Dressur erreichen.
Die Liebe zu den Pferden und der Reiterei hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Nach dem schrecklichen Tod meines Bruders Horst, der nicht nur „großer Bruder“ war, sondern auch Freund, da wir die gleichen Interessen hatten, hatte mir mehr zugesetzt, als ich zu diesem Zeitpunkt wahrhaben wollte. Und es kam noch schlimmer, denn unser Schäferhund Bodo wurde ein paar Wochen später überfahren.
Alles, was mir wichtig war, was ich geliebt hatte, war nicht mehr da. Es war eine schwere Zeit für mich. Aus heutiger Sicht betrachtet, denke ich, dass ich sehr depressiv war und auch suizidale Gedanken hatte. Die Kameraden im Reiterverein haben mich in dieser Zeit aufgefangen.
Abbildung 12Fuchsjagd 1956 Helga links
Außer der Reiterei hatte ich aber auch noch andere Verpflichtungen, denn mein Vater war überzeugt, dass auch ich ein Instrument lernen sollte, genauso wie meine Geschwister. Horst spielte hervorragend Klavier, meine Schwester Brunhilde nicht so gut, weshalb sie auch immer schlechte Laune hatte, wenn sie üben sollte. Mein Vater spielte Violine. Ich wollte ebenfalls Klavierspielen und konnte mich mit Erlaubnis meiner Eltern bei Herrn Karl Kappesser anmelden, der auch der Leiter und Dirigent unseres Kinderchors war. Mein Problem war damals jedoch, dass mein Vater unser Wohnzimmer, in dem das Klavier stand, verschlossen hielt. Unser Wohnzimmer hatte mehrere Funktionen, unter anderem erledigte unser Vater dort seine Bankangelegenheiten.
Als ich mich darüber beklagte, dass ich nicht ans Klavier konnte, schloss er mich kurzerhand im Wohnzimmer ein. Mein Vater war in seinen Aktionen manchmal sehr restriktiv. Mit der Zeit war es schrecklich, eingeschlossen zu sein, und manchmal musste ich auch länger warten, bis ich wieder befreit wurde. Eines Tages hatte der Vater dann die Idee, dass ich besser Violine lernen sollte, da die Geschwister schon Klavier spielen würden. Das gefiel mir nicht, ich liebte das Klavier.
Aber mit dem abgeschlossenen Wohnzimmer gab es noch ein weiteres Problem, das vor Weihnachten auftauchte. Das Zimmer konnte nicht in Ordnung gebracht und für die Festtage hergerichtet werden, da es ein Jahr abgeschlossen war. Meine Schwester, die ja sechs Jahre älter war als ich, übte großen Druck auf meinen Vater aus, damit sie ins Zimmer konnte. Endlich öffnete er die Tür und wir erstarrten. Der Weihnachtsbaum vom letzten Jahr stand noch dort, mit Kugeln, Lametta und herab gebrannten Kerzen. Die Nadeln lagen wie ein Teppich auf dem Boden herum. Jetzt konnten wir endlich putzen und aufräumen, was wirklich dringend nötig war.
Meine Geigenstunden waren für mich eine Qual. Ich musste das Notenbuch meines Vaters nehmen und dort stand gleich auf der ersten Seite: Fingernägel schneiden. Das machte Fräulein Eimert, meine Lehrerin, als Erstes bei mir, obwohl diese nicht sehr lang waren. Ich schien ein gewisses musikalisches Talent zu haben, denn nach einiger Zeit spielte ich leidlich gut und war sogar Teil eines Geigenorchesters meiner Lehrerin und durfte auf einem von ihr organisiertem Konzert mitspielen.
In der Weihnachtszeit spielten wir mit dem Geigenchor in Krankenhäusern und Altenheimen. Bei einem dieser Auftritte vergaß ich meinen Notenständer dort. Leider bekam ich den nie zurück. Das hielt mir meine Mutter jahrelang vor, bis zu meiner Hochzeit. Meine Eltern nahmen nie an Veranstaltungen jeglicher Art von uns teil; sie hatten einfach keine Zeit. Wir Kinder haben das immer aufrichtig bedauert. Eines Tages erklärte ich meinen Eltern, dass ich nie mehr Geige spielen würde. Gleichgültig, was sie sagen würden.
Ich war in der Zeit zwischen meinem zwölften und sechzehnten Lebensjahr in der Pubertät und ein richtiges Ekelpaket. Nachdem meine Mutter mich wieder einmal gemaßregelt hatte, sagte ich zu ihr, ich wäre bei der Geburt bestimmt vertauscht worden und nicht ihre Tochter, so böse wie sie zu mir wäre. Ich war sehr aufbrausend und wenn ich dachte, mir würde Unrecht geschehen, schrie ich und hielt die Luft an, bis ich blau wurde. Das hatte zwar schon nicht funktioniert, als ich noch ein Kind war, aber aus dieser Gewohnheit kam ich einfach nicht heraus. Wenn ich mich so verhielt, dann bekam ich entweder so lange Ohrfeigen, bis ich zu mir kam, oder man hielt mich unter den kalten Wasserhahn.
Die Vorfahren meines Vaters kamen aus Tirol, wie ein Familien-Wappen zeigt. Ein altes, sehr ehrbares Geschlecht, das sich aus Tirol verzweigte. Ein David Anton Feßner kam unter Napoleon an den Rhein, und dann vermutlich an die Nahe, die bei Bingen in den Rhein fließt. Es ist bekannt, dass die Bergbewohner auch ein hitziges Temperament haben, das ich von meinem Vater geerbt habe.
Der Kinderchor machte mir viel Spaß, hauptsächlich die Freizeiten mit Nachtwanderungen und Spielen in den Jugendherbergen in Stromberg und Büchenbeuren im Hunsrück. In den Ferien schickte unsere Mutter uns zu ihren Eltern nach Traben-Trarbach an der Mosel. Da ich noch klein war, begleitete uns meine ältere Schwester. Wir fuhren mit der Bahn bis Hirschberg. Vom Bahnhof aus mussten wir zur Milchsammelstelle laufen, dort wurden wir abgeholt und wir saßen auf einem Pritschenwagen zwischen den Milchkannen. Es war sehr beängstigend, die Serpentinen waren ausgesprochen eng und ich dachte, wir würden nie dort heil ankommen, aber es ging immer gut. Nachdem wir abgestiegen waren, mussten wir noch mindestens 45 Minuten laufen, bis wir das Haus unserer Großeltern erreichten. Unser Großvater Daniel war Buchdrucker und unsere Großmutter Hausfrau.
Ich erinnere mich an einige Sommerferien, die durch den typischen Landregen in der Moselregion sehr langweilig waren. Meine Freundin Rosemarie Zwick, die Tochter des Försters, wohnte nur einen Steinwurf entfernt, kam aber wegen des Regens auch nicht zu mir, so stand ich am Fenster und wartete sehnsüchtig auf Sonnenschein.
Es gab aber auch schöne sonnige Ferien und für uns Kinder aus Bad Kreuznach war es die einzige Zeit im Jahr, in der wir uns auch einmal um uns kümmern konnten und Kinder sein konnten.
Rosemaries Mutter gab uns frisches Brot, das sie mit Honig aus der eigenen Produktion bestrich. Sie hatten Bienenvölker und es gab schöne Wiesen zum Spielen, auf deren gegenüberliegende Seite ein Park mit großem Schwimmbad lag: dem Mannesmann-Erholungsheim. Wir schlichen uns immer mal wieder dorthin und wollten so gerne dort schwimmen, aber wir trauten uns nicht. Es waren eher unschuldige, für heutige Verhältnisse eher sparsame Ferien, doch trotzdem schufen sie bleibende Erinnerungen.
Eine Woche vor meiner Konfirmation starb meine Großmutter Sophie. Die ganze Familie fuhr mit dem Auto hin. Ich trug mein Konfirmationskleid aus schwarzem Taft, welches einen gebogenen Ausschnitt hatte, der mit Samt geschlossen wurde. Später, nach der Konfirmation, wurde der Ausschnitt freigelegt, damit ich das Kleid in der Tanzstunde weitertragen konnte.
Als der Trauerzug sich aufstellte, bekam ich einen hysterischen Lachanfall, der absolut nichts mit Freude zu tun hatte. Meine Freundin gab mir einen kräftigen Schubs in die Seite, damit ich mich wieder beruhigen konnte. Es war wohl so etwas wie ein Nervenzusammenbruch, denn ich war geschockt von der Endlichkeit; darüber, meine Großmutter verloren zu haben. Wir waren dann nicht mehr oft in Traben-Trarbach.
Abbildung 13Ferien in Traben-Trarbach
Die Tatsache, dass ich die schwierige Jagd so gut gemeistert hatte, sprach sich herum und so erhielt ich alsbald Besuch von einem gewissen Herrn Kalt vom Provinzial-Verband Rheinland-Pfalz, der in unser Geschäft kam und mir erzählte, dass am nächsten Sonntag ein Pferderennen auf der Rennbahn stattfinden sollte, die auf der Pfingstwiese angelegt war. Als erstes Rennen sollte ein Amateur-Amazonen-Rennen starten. Er war überzeugt, ich müsse unbedingt daran teilnehmen. Mein Einwand, dass meine Rosa-Tamara mittlerweile 18 Jahre alt war, wollte er nicht gelten lassen. Und von unserem Reiterverein ritten ohnehin fast alle mit. Also entschied ich, daran teilzunehmen. Aber ich wusste auch, dass ich als Letzte ins Ziel kommen würde.
Zu dieser Zeit waren sehr viele junge Amerikaner in Bad-Kreuznach stationiert, die sich die Rennen ansehen wollten und auch Wetten darauf abschlossen. Wir Amazonen wurden vor dem Rennen im Führring gezeigt, wie das bei Pferderennen so üblich ist, um die Zuschauer zum Wetten zu animieren. Während des Aufgalopps wäre ich fast vom Pferd gefallen, weil man uns die Steigbügel so kurz schnallte, dass wir uns nur noch mit den Fußknöcheln am Sattel halten konnten.
Das Amazonenrennen startete und Frau Bronnemeyer, die Frau unseres Reitlehrers, gewann mit ihrem Pferd Bobby. Ich kam, wie erwartet, als Letzte ins Ziel. Die jungen Amerikaner waren stinksauer, offensichtlich hatten sie ihren Sold auf mich gesetzt.
„Du hast geschloffen! Du hast geschloffen“, riefen sie mir in gebrochenem Deutsch hinterher. Vielleicht hatte ich ihnen gefallen und sie dachten, die sieht gut aus, die kann das Rennen machen.
Mit 16 Jahren war mir das sehr peinlich, und ich ließ mich von meiner Schwester Brunhilde und ihrem Mann Hans schnell nach Hause bringen. Danach bin ich nie wieder ein Rennen geritten. Mit meinen 1,76 m war ich auch zu groß dafür.
Und dann traf mich ein weiterer Schock: Rosa-Tamara gab es nicht mehr, denn die Familie Bronnemeyer hatte Bad Kreuznach verlassen, ohne dass ich davon erfuhr. Sie hatten die Stute mitgenommen, was mir irgendwie auch zugutekam, denn ich hätte mich nicht um sie kümmern können. Dafür kam die Familie Joschie Pfann zurück, bei dem ich meine ersten Reitstunden und den Sturz erlebt hatte.
Auch ohne Rosa-Tamara, die ich schmerzlich vermisste, weil sie das letzte Bindeglied zu meinem Bruder war, setzte ich meine Reitstunden im Verein fort. Als bekannt wurde, dass es eine Fuchsjagd geben würde, fragte ich meinen Reitlehrer Joschi Pfann, welches Pferd ich denn reiten könnte. Er dachte kurz nach, denn alle Pferde hatten ja schon ihre Reiter. Ihm fiel nur Astrid ein, eine Vollblutstute, die von der Rennbahn übernommen worden war. Das konnte ja heiter werden, denn Astrid hatte so eine kleine Marotte. Zu reiten, war sie optimal, zumal ich ja keine ungeübte Reiterin war. Aber: Astrid begrüßte ihre Reiter schon mal mit offenem Maul in ihrer Box. Wer sich mit Pferden auskennt, weiß, was das bedeutet. Trotzdem übernahm ich sie für diese Jagd.