Vom Tod zum Morgen - Thomas Wolfe - E-Book
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Thomas Wolfe

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Beschreibung

Dieses eBook: "Vom Tod zum Morgen" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Thomas Wolfe (1900-1938) war ein amerikanischer Schriftsteller. In dem expressionistischen Dichter Hans Schiebelhuth fand er für seine ersten beiden Romane einen kongenialen Übersetzer, der dazu beitrug, dass Wolfe sich zeitweise in Deutschland höher geschätzt fühlte als in seiner Heimat. In Amerika gehörte William Faulkner, in Deutschland Hermann Hesse zu seinen Bewunderern. Inhalt: Keine Tür Tod, der stolze Bruder Am Rande des Krieges Nur die Toten kennen Brooklyn Dunkel im Walde, fremd wie die Zeit Die vier verlornen Männer Gulliver Landstreicher um Sonnenuntergang Ein "Mädchen" aus unsrer Reisegesellschaft Ferne und Nähe Im Park Die Leute von Alt-Catawba Zirkus im Tagesgrauen Das Geweb aus Erde

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Thomas Wolfe

Vom Tod zum Morgen

Autobiographische Erzählungen
Übersetzer: Hans Schiebelhuth
e-artnow, 2016 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-6735-7

Inhaltsverzeichnis

Keine Tür
Tod, der stolze Bruder
Am Rande des Krieges
Nur die Toten kennen Brooklyn
Dunkel im Walde, fremd wie die Zeit
Die vier verlornen Männer
Gulliver
Landstreicher um Sonnenuntergang
Ein »Mädchen« aus unsrer Reisegesellschaft
Ferne und Nähe
Im Park
Die Leute von Alt-Catawba
Zirkus im Tagesgrauen
Das Geweb aus Erde

Keine Tür

Inhaltsverzeichnis

Es ist wunderbar, mit welcher Begeisterung und Wärme wohlgehegte Leute, die nie im Leben allein gewesen sind, Dich zu den Freuden der Einsamkeit beglückwünschen können. Ich weiß, wovon ich rede; ich habe sehr viel allein gelebt, mehr als irgend jemand, den ich kenne, und eine Zeitlang war ich auch mit ein paar Wohlgehegten bekannt. Und die leidenschaftliche Sehnsucht dieser Leute nach dem einsamen Leben ist erstaunlich. Abends lassen sie sich heimfahren; sie fahren hinaus auf ihre feinen Landhäuser, wo Frauen und Kinder begierig auf sie warten; oder sie fahren heim in ihre Stockwerkwohnungen in der Stadt, wo mit duftendem, gesalbtem, verführerischem Körper, mit dem Lächeln der Zärtlichkeit und der Umarmung der Liebe eine schöne Gattin oder eine reizende Freundin sie erwartet. Und all das gilt nicht mehr als eine Handvoll kalten Staubs, Asche und ein wenig Schlacke.

Manchmal lädt Dich einer von diesen Leuten zum Nachtessen ein. Dein Gastgeber ist ein Gentleman von gefälligem Äußeren; er ist sechsundvierzig, sein Haupthaar lichtet sich schon ein bißchen, er macht den Eindruck von gesunder Ründe und Wohlgenährtheit, aber es ist nichts Plumpes oder Grobsinnliches an ihm. In der Tat, er ist ein sehr ästhetisch aussehender Millionär. Zwar ist sein Gesicht groß und voll, aber die feinfühlige Verständigkeit wohnt in den Zügen. Die Manieren dieses Mannes sind liebenswürdig und voll leiser Zurückhaltung. Sein Lächeln ist ein wenig traurig, aber ein ironisch-launiger Humor spielt matt hinein, und es ist ganz so, als hättest Du da jemanden vor Dir, der die Herzensnöte, die Hoffnungen und die qualhafte Lebenswut der Jugend durchlitten hat und nun weiß, was man vom Leben erwarten soll, einen Menschen, dessen »Lider etwas gemüdet« sind, der sich geduldig ins Schicksal ergeben hat und dabei nicht allzu bitter empfindet.

Trotzdem, so arg unsanft ist das Leben mit unserm Gastgeber gar nicht umgegangen. Ruhevoll ringsum stehen die sichtbaren, kostspieligen Beweise seines ungeldlichen Interesses für köstliche Dinge. Der Mann wohnt im Dachgartenstockwerk eines Hochhauses in der Nähe des East River; seine Wohnung ist mit letzter Kennerschaft in einem ruhigen, erlesnen Geschmack eingerichtet; er besitzt mehrere Plastiken von Jacob Epstein, und darunter ist eine Bildnisbüste, die der Bildhauer vor zwei Jahren von Deinem Gastgeber gemacht hat, als dieser, wie er Dir sagt, »mal drüben in England« war. Außerdem hat er eine herrliche Bibliothek, seltne Drucke und Erstausgaben, und nachdem Du diese Schätze liebhaberisch bewundert hast, tretet Ihr zusammen hinaus aufs Dach, um die Aussicht zu genießen, besonders den Blick, den man von dort auf den Strom hat.

Es wird schnell Abend, die hohen, beschlagnen Gläser in Euren Händen machen ein leises, angenehmes Tinketinke, und die große Stadt grellt da vor Euerm Blick: – furchtbar ragen die Schauseiten der sternwärts emporgerißnen Türme, und nun sind sie wie ein Vorhang mit den Diamantpollen von einer Million Lichter übersät, und hinter den Türmen ist die Sonne untergegangen, und die Abendröte liegt auf dem Strom, und dort siehst Du Boote und Schlepper und Barken fahren, siehst Du frohlockend die flügelhaft beschwingten Brücken, und die Nacht ist da, und dort sind Schiffe, – dort sind Schiffe, – und in Dir ist ein wildes unerträgliches Verlangen, das Du nicht aussagen kannst.

Wenn Ihr dann wieder ins Zimmer eintretet, kommt es Dir vor, als wärst Du sehr weit weg von Brooklyn, wo Du wohnst. Dir ist zumut, als wäre all das, was Du als Kind (damals, als Du New York noch nicht gesehn hattest und kanntest) von der Weltstadt geträumt hast, nicht nur möglich, sondern gerade am Wahrwerden.

In allen seinen Zauberfarben brennt Dir das Wahrbild der Stadt im Herzen, und es ist ganz wie jenes, das Du als Zwölfjähriger geschaut hast. Nun, meinst Du, könne es jede Minute Dein werden, jenes glanzvolle, ruhmreiche, herrlich-sieghafte Los, das Du Dir damals erträumt hast. Nun, meinst Du, wird es geschehn, daß Du Deinen Platz einnehmen kannst unter den großen Männern und den liebenswerten Frauen in einem Dasein, das schicksälig schöner und glücklicher ist als irgendein Dir bekanntes. Nun, spürst Du, ist alles irgendwie da und wartet auf Dich; es ist bloß drei Zentimeter weit weg, wenn Du danach greifst, bloß ein Wörtchen weit weg, wenn Du das Wörtchen sprichst, bloß eine Wand, eine Tür, einen Schritt weit weg, falls Du den Zugang weißt.

Und irgendwie erwacht die alte, wilde, wortlose Hoffnung wieder, daß Du den Zugang findest, jene Tür, durch die Du eintreten kannst. Du denkst, dieser Mann, Dein Gastgeber, wird Dir Bescheid sagen. Die Luft, die Ihr atmet, ist ja geladen mit der drohenden Erregung des unmöglich guten Geschehns. Es drängt Dich also, diesen Mann nach dem Geheimzauber zu fragen, der seinem Leben soviel Macht, Überlegenheit und Behagen verliehen hat, der ihm die ganze Roheit des Daseinskampfes, den Schmerz und das Häßliche, die Wut, den Hunger und die Wanderschaft fernzuhalten scheint. Du meinst, der Mann könne es Dir sagen, könne Dir den Geheimzauber kundtun, – aber er sagt Dir nichts.

Und dann kehrt auf einen Augenblick das alte, unerforschliche Geheimnis von der Zeit und der Stadt zurück und überrennt Dein Bewußtsein mit dem gräßlichen Gefühl des Besiegtseins und des Ertrinkens. Du siehst Deinen Gastgeber, seine Geliebte und all Deine andern Großstadtbekannten als Gestalten von todloser Helle, aber Leben und Zeit dieser Gestalten sind Dir fremder als ein Traum, und Du kommst Dir vor, als wärst Du dazu verdammt, unter ihnen zu wandeln wie ein Schatten, der nie imstand sein wird, ihr Leben zu fassen, sich ihre Zeit anzueignen. Dir erscheint ein Leben, das Du nie begreifen, dem Du nie näherkommen, auf das Du Dich nie einstellen kannst. Dir erscheint eine Welt von Geschöpfen, die ohne Seelenqual und Verdrüsse zu leben lernten, Dir erscheint eine Rasse von Großstädtern, die nie in den Dimensionen Deiner Zeit gelebt haben, – nie in den nach Minuten, Stunden, Tagen und Jahren meßbaren Spannen, sondern in den Ausdehnungen einer unergründlichen und undenklichen Sensation, so, daß dieser Leute nur gedacht werden kann in einem Augenblick ihres Lebens, der neuntausend Begeisterungen zurückreicht, der vor zwanzigtausend Rauschnächten war, der achthundert Abendgesellschaften, vier Millionen Grausamkeiten, neuntausend Treubrüche oder Ehrbarkeiten, zweihundert Liebschaften her ist, – Dir erscheinen also Menschen, deren Dasein ein fabulöses, grauenhaftes Sensationsalter annimmt, eine Wesenheit, die keinerlei Jugend kennt, die sich keiner Unschuld entsinnt, die Dich so bedrängt, daß Du in einer See aus Entsetzen, einem Meer aus blinder, unberechenbarer, unausdenklicher Zeit zu ertrinken glaubst. Da gibt's keine Tür.

Mittlerweile, leicht-bitter und ironisch lächelnd, hat sich Dein Gastgeber abermals einen guten, tüchtigen Schuß ehrlichen Roggenwhiskys auf die Eissplitter in seinem hohen, dünnwandigen Glas gegossen, und nun bringt er das Glas grüblerisch-genüßlich an die Lippen, und nach zwei oder drei andächtigen Schlucken fängt er an und spricht ein wenig kummervoll von dem Los, das ihm das harte Schicksal zuerkannt hat.

Während seine Geliebte, die so hübsch am Rand des prallgepolsterten Lehnstuhls sitzt, ihm mit ihren kühlen, feinen Fingern leis über die heruntergerunzelte Stirn fährt, während nebenan sein guter Kammerdiener Ponsonby oder Kato ihm ruhig alles zurechtlegt, so daß er ›sich schnell für den Abend umziehen‹ kann, starrt Dein Gastgeber düster vor sich hin, und schließlich, bitter lächelnd, beglückwünscht er Dich zu dem huldreichen Geschick, das Dir verstattet hat, allein im Armenierviertel von South-Brooklyn zu leben.

Nun, allein in South-Brooklyn leben, sagst Du, hat seine Schattenseiten. Das Zimmer, in dem Du wohnst, hat genau das Format eines Pullmanwagens, bloß ist es nicht ganz so lang und hat nur zwei Fenster, an jeder Schmalseite eins. Das Fenster nach der Straße ist vergittert; die Frau, die Dir das Zimmer vermietet, hat das Gitter dort anbringen lassen, um die Gauner in jener süßen Nachbarschaft vom Einbrechen abzuhalten. Im Winter ist das Gelaß kalt und dunkel, und die Wände schwitzen eine klamme Feuchte aus; im Sommer dagegen bist Du es, der schwitzt, und zwar besorgst Du das gründlich, vollauf genug für jedermann, denn die Bude wird höllisch heiß.

Außerdem – (und hier fängst Du an, Dich für die darstellerische Aufgabe zu erwärmen) – morgens, wenn Du aufstehst, dringt Dir das süße Arom des alten Gowanus-Kanals in die Nase, in den Mund, in die Lungen und in all Deine Gedanken, Tätigkeiten und Worte. Es handelt sich da (wie Du Dich ausdrückst) um einen erhabnen, gigantischen Gestank, eine Ruch-Symphonie, ein betäubendes Orgelgebraus von einem Duft, in dem arglistig-wohlabgestimmt siebenundachtzig Fauligkeiten zusammengetrieben, -gedrückt und -gedrängt sind. Und mit üppiger, ständig wachsender Begeistrung beginnst Du, diese Beitragsdüfte nacheinander aufzuzählen: – die Gerüche von gekochtem Fischleim und verbranntem Gummi, die Nasenwohltat von im Wasser verwesenden Katzen, die Fäulnisparfüme von Kohl, Tomaten und prähistorischen Eiern, die Brenzlichkeit schwelender Lumpen und von Müll, den sanften Sinnenkitzel von einer verreckten Schindmähre und einem toten Skunk und die pestilenzialische Dunstlast von einer verstopften Kloake, und nicht zu verschweigen auch, sagst Du, wäre – –

Aber in diesem Augenblick wirft Dein Gastgeber den Kopf zurück; einen Ausdruck der Verzücktheit auf den Mienen, zieht er lang und tief und begeisternd atmend Luft ein, ganz so, als hätte er bei Deinem Großaufgebot von Düften tatsächlich den Atem des Lebens selber gefunden, und er ruft aus:

»Wundervoll! Wundervoll! Einfach toll! Hinreißend!«

Er wirft den Kopf wieder zurück und lacht ein frohlockendes Lachen.

»Aber John!« bemerkt nun seine Lady. Ein Ausdruck von Besorgnis erscheint auf dem lieblichen Gesicht. »Ich glaube nicht, daß Du so einem Leben in Wirklichkeit etwas abgewinnen könntest. Es klingt doch einfach fürchterlich! Schrecklich, daß man Leute in so einem Viertel wohnen läßt! Ich will lieber nichts davon hören«, erklärt sie und läßt sich von einem leichten Schauder des Angewidertseins überlaufen.

»Ah!« sagt er. »Wunderbar ist es! So ein Leben hat doch noch Kraft und Fülle und Schönheit!« ruft er aus.

Wunderbar, pflichtest Du bei, ist es schon. Und an Kraft und Fülle fehlt es beileibe nicht. Bloß was die Schönheit anlangt, nun, das ist 'ne andre Sache und bei weitem nicht so sicher. Aber während Du diesen Zweifel vorbringst, fallen Dir ein paar Dinge ein. Dir fällt ein großes Pferd ein, ein Mordsgaul, ein grauer Apfelschimmel mit kurzen, haarbehangnen Hufen, der an einem knallheißen Augusttag neben dem Rinnstein stand. Der Fuhrmann hatte das Tier ausgespannt, und da stand es und ließ in unendlicher, stummer Trübsal den großen, geduldigen Kopf hängen, und ein kleiner Junge mit schwarzen Augen und einem dunklen Gesicht stand dabei und gab dem Gaul ein paar Stücke Zucker zu fressen, und der Fuhrmann, der ein zähes, versorgtes Städtergesicht hatte, kam mit einem Eimer Wasser und schüttete das Wasser gegen die Flanken des Tiers. Und die großen Flanken erschauerten dankbar bei dem Guß und begannen zu dampfen, und der Fuhrmann trat dann auf den Bürgersteig zurück und betrachtete das Tier mit einem prüfend bedächtigen Blick, und der kleine Junge stand dabei und rieb das Pferdemaul sacht mit der Hand und sprach die ganze Zeit leis zu dem Tier.

Dann erinnerst Du Dich daran, wie ein Baum, der in die enge, kleine Kehrichtgasse vor Deinem Hause überhängt, in diesem Frühjahr auslaubte, und wie Du ihn Tag für Tag betrachtet hast, als er in der kurzfristigen Glorie von jungem, zaubrischem Grün stand. Und Du erinnerst Dich an eine rauhe, rostige Uferstraße mit ihrem Baugewirr von Elendskasernen, Schuppen und Baracken und ihren großen schmutzigen Pieren; Du kannst das nackte, rohe Straßenleben sehn, kannst die Straße in ihrer unsäglichen Häßlichkeit und Schönheit sehen, und dann fällt Dir ein, daß Du einmal bei Sonnenuntergang diese Straße entlang kamst und all die Farben der Sonne und des Hafens blitzen und glitzern sahst von flüchtig wandelbaren Lichtfetzen, in einem schillerbunten Geweb von Strahlen, die sich auf einen Augenblick prall an der grellen Breitseite eines stolzen, weißen Dampfers brachen.

Und Du fängst an, Deinem Gastgeber zu erzählen, wie das alles war, wie dieser Abend schmeckte, was man da verspüren konnte, und wie erregend ein großer, verlassener Ladepier roch, wie das Licht auf den alten, rostroten, baufälligen Backsteinmauern lag, wie das schwärmende, schillerbunte Geweb von Strahlen sich auf dem Schiffsbug brach. Aber sobald Du zu erzählen anfängst, merkst Du, daß Du nicht, daß Du nie das Gefühl von Zauber, Geheimnis, Frohlocken und wildem Weh wieder einfangen kannst, das Du damals empfandest.

Ja, Schönheit hat es da genug gegeben, zum Herzbrechen genug, zum Verrücktwerden genug und genug auch, um die Sehnenbänder zu zerreißen, die Dein Lebensgehäuse zusammenhalten. Aber was bleibt da zu sagen? Du erinnerst Dich an all diese Dinge und dann noch an zehntausend andre, aber sobald Du diesem Mann davon zu erzählen anfängst, kannst Du es nicht.

Und so erzählst Du eben vom Leben in Deiner Wohnung, sagst ihm, wie dunkel und heiß Deine Bude im Sommer und wie naßkalt sie im Winter ist, und wie schwer es hält, etwas Gutes zu essen zu kriegen. Du erzählst von jener guten, offenherzigen Frau, die Dir das Zimmer vermietet, von der ›hartgesottnen‹ Ex-reporterin Miß Maude Whittaker, erzählst, was für ein echter und rechter Kerl sie ist, lebensvoll und energisch, eine Frau, die gern trinkt und mit Männern, die gern trinken, glänzend auskommt, ein Mensch, der des Lebens ruppige und finstre Seiten kennt, wie das eben bei Reportern der Fall ist.

Du erzählst davon, wie sie Mörder kurz vor der Hinrichtung interviewt hat, wie sie dazu die Mütter der Mörder ausfragte, wie sie, immer auf der Jagd nach dem aufregenden Bericht, unerwartet auf ankommenden und abfahrenden Dampfern erschien, sich uneingeladen bei Totenfeiern und Begräbnissen einstellte, wie sie rücksichtslos-zudringlich jede peinliche, ehrliche, schmerzvolle Regung der Menschheit mit Füßen trat, immer auf der Jagd nach dem Zeitungsbericht, – und wie sie bei all dem anständig blieb, diese ungeheuer gute, großmütige und lebensfrohe Person, die überdies eine alte Jungfer, puritanisch bis in die Wurzeln des Wesens, ist.

Du erzählst, daß sie vor ein paar Jahren wahnsinnig wurde und zwei Jahre in einer Heilanstalt zubrachte, daß der Wahnsinn sie gelegentlich noch auf Augenblicke überkommt, Du erzählst, wie Du sie einmal – vor ein paar Monaten nachts beim Heimkommen – auf Deinem Bett fandest: – als Du eintratest, erhob sie sich und begrüßte Dich als ihren großen Traumgeliebten, den Doktor Eustach McNamee, eine nach Namen und Art frei erfundne Gestalt, um die sie sich ein Liebeserlebnis gewoben hatte. Und dann erzählst Du von ihrer phantastischen Familie, ihren drei Schwestern und ihrem Vater, die alle einen Stich vom selben Wahnsinn haben, denen jedoch die Willenskraft, die Lebenstüchtigkeit und die außerordentlichen Fähigkeiten Miß Maudes fehlen, und Du erzählst, wie sie von ihrem achtzehnten Jahr ab für die ganze Gesellschaft gesorgt hat.

Du erzählst von dem Alten, der Erfinder ist und nichts Rechtes erfindet, erzählst, wie er einen Pfropfenzieher mit Korkanzug erfand, mit dem man keine Flasche entstöpseln kann, ein Sicherheitsschloß, das nicht wieder aufzubringen ist, ein unzerbrechliches Spiegelglas, in dem man sich nicht sieht. Du erzählst, daß er im Vorjahre einhundertzwanzigtausend Dollar erbte; es war das erstemal, daß er Geld in die Hand bekam, und prompt ging er in die Wallstreet und spekulierte an der Börse, und ebenso prompt wurde er um die ganze Summe erleichtert; seine Frau und seine Tochter hatte er damals in den Luxuskabinen eines herrlichen Dampfers nach Europa geschickt, und als sie zurückkommen wollten, kabelte er kühn: »Vorwärts nach Rom, Kinder! Vorwärts! Papa macht Millionen.«

Ja, alles dies und noch tausend andre Sachen dazu könnte ich meinem Gastgeber erzählen von dieser unglaublichen, verrückten, phantastischen Familie, bei der ich in einer kleinen Gasse in Brooklyn wohne, und außerdem zehntausend Sachen von den Armeniern, Spaniern und Iren in der Nachbarschaft, – Leuten, die wochentags heimkommen und das Radio anstellen, so, daß es ringsum von hundert Dissonanzen schrillt, Leuten, die sich Samstags besaufen und ihre Weiber verprügeln, und aus hundert offnen Fenstern werden dann mit Gelächter und Radau, mit Gekreisch und Flüchen alle intimen Tatbestände des Privatlebens dem Ohr der Öffentlichkeit vernehmlich gemacht.

Ich könnte also erzählen, wie diese Leute raufen, saufen, rauben, morden, huren, stehlen, erpressen, Totschlag begehn und Straßenüberfälle tätigen, – könnte erzählen, wie das alles für sie zum wohlgeordnet regelrechten und anständigen Tageslauf gehört, – und dann erzählen, wie diese selben Leute vor empörtem Schicklichkeitsgefühl aufheulten, sich bei der Polizei beschwerten und uns eine Abordnung ins Haus schickten, als einmal der junge Neffe von Miß Maude, lediglich mit einer Badehose bekleidet, sich auf dem Rasenplätzchen hinterm Haus sonnte.

»Sie hamm 'en nackigen Mann da drauß't!« erklärten die Abgeordneten im Ton des anklägerischen Entsetzens.

Ja, wir, guter Herr, die wir die Ironie so sehr lieben, – wir, der alte Erfinder Whittaker, die ›verrückte Maude‹, seine älteste Tochter, meine Hauswirtin also, – (sie brummt, wenn Du 'ne Untertasse zerbrichst und füttert Dich dann mächtig mit einem Mordsfrühstück; dies Jahr hat sie die zwanzig Quadratfuß Rasen vom April bis zum August nachgesät, gehegt und gesprengt, bis das Gras ganz herrlich stand, und dann ließ sie zwanzig magere, schwärzliche, halbnackte Rinnsteinrangen herein, die das Rasenplätzchen zu Sumpfboden stampften, während sie mit dem Schlauch die dreckigen, verschwitzten Kerlchen abspritzte) – wir also, der Alte, seine Töchter und sein Enkelsohn, drei Bankangestellte, ein Karikaturenzeichner, zwei junge Hearst-Journalisten und ich, – wir, guter Herr, die wir 'mal ein Mädchen mit auf die Bude nehmen, uns gelegentlich besaufen, unser sündenvolles und unwürdiges Leben einzugestehen pflegen, die wir Shakespeare, Milton, Whitman, die Bibel und freilich auch den Sportteil der Tageszeitungen lesen, – wir, jung, töricht, alt, verrückt, bestürzt, so, wie wir sind, – wir, die nie gemordet, geraubt oder einer Frau die Zähne eingeschlagen haben, – wir, die wir mit den Maßstäben der Welt gemessen ziemlich rechtschaffne, gütige und freimütige Leute sind, – wir sind die Parias vom Balcony Square, der wohl so heißt, weil er kein Platz ist, sondern eine enge, kurze Fahrgasse zwischen Häusern, von denen keins einen Balkon hat.

Ja, wir sind die Verdächtigen, die Feinde der Ordnung und der öffentlichen Moral, wir haben uns schamloserweise einer offnen, unzulässigen Infamie mitschuldig gemacht, und so kommt es, daß uns leichttadelnde Blicke treffen aus den mißtrauischen Augen unsrer Nachbarn, die als liebende Gatten ihre Weiber prügeln, die mit dem Stolz der Wohlbeleumdeten andern Menschen die Gurgel abschneiden, die sich wacker des ehrsamen Gewerbes von Mord und Straßenraub befleißigen als die sich selbst hochachtenden Staatsbürger, die sie sind.

In meiner Gasse, drei Türen weiter, wurde in jenen Tagen ein Mann ermordet; er lag mit eingeschlagnem Schädel auf der Stufe vorm Hauseingang; und eines Nachts um zwei Uhr stieg eine betrunkne Frau aus einem Auto und schrie ihren Begleiter mit Verwünschungen an, daß es die ganze Nachbarschaft hörte. »Zahl mich, Du Schuft!« gellte es. »Du zahlst mir die drei Dollar, oder ich hol' meinen Mann, daß er sie aus Dir 'rausdrischt!« – »Aber benehmen Se sich doch wie 'ne Lady!« mahnte der Mann in leiserem Ton. »Wenn Se sich nich' wie 'ne Lady benehmen, zahl' ich nicht! Sie müssen sich wie 'ne Lady benehmen!« Mit rührender Ergebenheit bestand er auf guten Umgangsformen. So ging's eine Zeitlang weiter, bis der Mann den Motor anlaufen ließ und wütend davonfuhr. Die Frau blieb auf der Gasse zurück und tobte. Sie kreischte, seufzte, verfluchte aufs gemeinste den Mann, der sie so geprellt hatte, rief die Rächerhand ihres Gatten auf jenen herab. Das tat sie stundenlang, unentwegt, bis schließlich drei ehrgeizige junge Gauner die Gelegenheit wahrnahmen, sie zu überfallen und auszuplündern. Die Burschen liefen vor meinem Fenster vorbei; einer kriegte es mit der Angst zu tun, er wollte sich drücken und erklärte: »Herrje! Ist mir schlecht! Ach so schlecht! Ich bin nicht aufm Damm! Wartet 'ne Minute! Geht und macht's allein! Ich brauch' 'ne Tasse Kaffee!« Und die andern fauchten ihn wild an: »Hopp! Mitgemacht! Feiger Hund! Vorwärts, oder ich mach' Dich kalt!« Und dann liefen die Drei weiter. Ich hörte den Laut ihrer schnellen, flinken Füße im Dunkel, und vom andern Ende der Gasse kam matt das Geheul der Frau, und dann verstummte es.

Dein Gastgeber ist ganz hingerissen von diesem wüsten Bericht. Er schlägt sich begeistert auf die Stirn und ruft aus: »Groß! Ganz groß! Sie haben Dusel! An Ihrer Stelle wär' ich der glücklichste Mensch von der Welt!«

Du siehst Dich um und sagst nichts.

»Frei sein! Herumgehn und diese Dinge erleben!« fährt er fort. »Unter wirklichen Menschen wohnen! Das Leben sehn, wie es ist, – im Rohzustand! Die wirkliche Sache! Nicht so wie hier ...«,sagt er mit einem gemüdeten Blick auf die ganze schöne, scheinbar unwirkliche Einrichtung, die ihn umgibt. »Und vor allem: – Alleinsein!« ruft er aus.

Du fragst ihn, ob er je allein gewesen ist, ob er weiß, wie die Einsamkeit tut. Du versuchst, ihm davon zu erzählen, aber auch hier kennt er sich aus. Mit einem ironisch-leisen Lächeln Dich und Deine Einwände beiseite schiebend, mit jener blasierten Duldsamkeit, die der Weise für die Jugend hat, seufzt er: »Ich weiß! Ich weiß! Aber wir sind ja alle allein, mein Junge, und schließlich sitzt die wirkliche Einsamkeit doch wohl hier ...« Er tippt sich mit dem Zeigefinger aufs Vorhemd, ein wenig links vom dritten Knöpfchen, auf jene Stelle, wo aller Annahme nach sein Herz sitzt. »Aber Sie! Frei, jung, ungebunden! Die ganze Welt steht Ihnen offen! Sie haben ein feines Leben! Was in Gottes Namen könnte ein Mann außerdem begehren?«

Nun, was bleibt da zu sagen? Auf eine kleine Weile pocht Dir der Puls heftig in den Schläfen; eine hitzige Antwort, scharf und bitter, liegt Dir auf der Zunge; Du wirst gewahr, daß Du Deinem Gastgeber allerhand erwidern könntest. Du könntest ihm ohne Ziererei und Zimperlichkeit erklären, daß es einen höllischen Haufen Sachen gibt, die ein Mensch außerdem begehrt –: gutes Essen und herrliche Gefährten, ein behagliches Heim und Daseinssicherheit und leichte Tage, eine liebenswerte Frau wie diese, die da jetzt neben Deinem Gastgeber sitzt, und ein Ende der Einsamkeit. Aber was bleibt da zu sagen?

Du bist, der Du bist; Du weißt, was Du weißt; und es gibt keine Worte für die Einsamkeit, die schwarze, bittre, schmerzliche Einsamkeit, die nachts an den Wurzeln der Stille nagt.

Also: was bleibt da zu sagen? Es hat genug Leben gegeben, genug Kraft und Größe und Freude, und es hat auch genug Schönheit gegeben, und, Gott weiß es, genug Trübes und Schmutz und Elend und Irrsinn und Verzweiflung, genug Mörderisches und Grausames und Haß ... und Einsamkeit genug, daß es Dir die Eingeweide mit dem Stoff des grauen Entsetzens füllte und Dir der harte, herbe Geschmack der Verlassenheit wie eine Kruste um die Lippen zog.

Und oh! Es hat genug Zeit gegeben, selbst in Brooklyn gibt es genug Zeit, genug fremde Zeit, dunkle geheime Zeit, genug dunkle, millionengesichtige Zeit, die immer an Dir vorbeifließt wie ein Strom, ja, selbst in den Kellertiefen in Brooklyn gibt's genug Zeit, aber wenn Du versuchst, dem Mann davon zu erzählen, kannst Du es nicht, denn: – was bleibt da zu sagen?

Plötzlich fällt Dir ein, wie das tragische Abendlicht auf die große, rostige Erdendschungel fällt, die Brooklyn heißt, und auf all die Menschengesichter mit toten Augen und talggrauem Fleisch, und wie selbst in Brooklyn die Leute an der Schwelle des Abends lehnen in diesem traurig-gedämpften Licht. Und Dir fällt ein Zwiegespräch ein. Eines Abends lagst Du auf der Kautsch in Deiner kühlen Kellertiefe in Brooklyn und lauschtest hinaus, den Abendlauten und dem ersterbenden Vogelsang in Deinem Baum; und da wurden zwei Fenster aufgestoßen, und Du hörtest zwei Stimmen, einen Mann und eine Frau, die in diesem sanften, tragischen Licht miteinander sprachen. Und heimsucherisch wie der Kehrreim eines alten Lieds kommen Dir die Worte ins Gedächtnis zurück, so, wie sie damals in Brooklyn zu hören waren und verlorengingen.

»Sie müssen weggewesen sein«, sagte die eine Stimme in jenem traurigen Licht.

»Ja, weggewesen. Bin grad zurückgekommen«, sagte die andre.

»Ja? Hab mir's schon gedacht, Sie müssen weggewesen sein«, sagte die erste Stimme wieder.

»Ja, weg auf Urlaub. Grad zurückgekommen.«

»O ja? Genau das hab' ich mir gedacht. Erst vorgestern dacht ich, daß ich Sie seit einiger Zeit nicht gesehn hab'. ›Sie wird wohl wegsein‹, hab' ich mir gesagt.«

Und dann wurde es auf Sekunden still, – still bis auf den ersterbenden Vogelsang, Stimmen auf der Straße, matte Laute und Rufe und zerschelltes Geschrei und ein abendlich gedämpftes, fernes und ungeheures Raunen in der Luft.

»Nun, und was gibt's Neues, seit ich weggewesen bin?« erkundigte sich ruhig die eine Stimme im sanften, sanften, tragischen Licht. »Ist was losgewesen, derweil ich weg war?«

»Nöh, 's ist nichts losgewesen«, erwiderte die andre Stimme. »Ungefähr so wie immer, Sie wissen ja ...« Schwerfällig wird die Vorstellungsfähigkeit in den Raum eingeladen, den die Sprachunbeholfenheit so schmerzlich freiläßt.

»Ja, ich weiß«, erklärte ruhig-resigniert die andre Stimme. Und dann ward es still in Brooklyn.

»Pater Grogan ist gestorben; da müssen Sie wohl weggewesen sein.«

»O ja?« erwidert ruhig teilnahmsvoll die andre Stimme.

»Ja.«

Und auf einen Augenblick ward es abwartend still.

»Sagen Se, das is' aber schlimm, nich' wahr?« sagt die ruhige Stimme mit trostlosem Bedauern.

»Ja. Er starb am Sonnabend. Freitag nacht noch ist er ganz gesund heimgegangen.«

»O ja?«

»Ja.«

Und auf einen Augenblick schwang das Gespräch ein in eine starke Stille.

»Herrje, das war arg, nich' wahr?«

»Ja. Er ist am folgenden Tag um zehn Uhr gefunden worden. Sie sind in seine Wohnung eingedrungen, um nachzusehn, und da lag er der Länge nach auf 'm Fußboden im Badezimmer.«

»O ja?«

»Ja. So ham se ihn gefunden.«

Und auf einen Augenblick schwangen die Stimmen ein in eine in der Schwebe gehaltne Stille.

»Herrje, das is' aber arg schlimm ... Da muß ich wohl weggewesen sein, als das geschah.«

»Ja. Sie müssen weggewesen sein.«

»Ja. So war's wohl, ich muß weggewesen sein. Sonst hätt' ich's sicher gehört. Ich war weg.«

»Also, Wiedersehn, Kleine! ... Wiedersehn!«

»Also, Wiedersehn.«

Ein Fenster wurde zugemacht, und dann war es still. Abend war es, und es waren ferne Laute und zerschelltes Geschrei in Brooklyn, in Brooklyn, in der formlosen, rostigen, unermeßlichen Wildnis des Lebens.

Und nun welkt das Abendrot auf den alten, rostigen Rotbacksteinhäusern, und Stimmen wehn in der Luft, und irgendwoher kommt Musik, und wir liegen in unsern Kellertiefen und sind blinde Kleinstteilchen, graue Einzelteilchen ohne Stimme in der menschenbeschwärmten Ödnis der Erde, und unser Ruhm ist verloren, unsre Namen sind vergessen, und unsre Kraft ist von uns genommen worden wie Erz aus den Bergwerken der Erde, und wir liegen da, und es ist Abend, und der Strom zieht dahin ... und die dunkle Zeit zehrt wie ein Geier an unsren Eingeweiden, und wir wissen, daß wir verloren sind, und wir können uns nicht regen ... und dort sind Schiffe! Dort sind Schiffe! ... Und Herrgott! – Wir alle sterben in der Dunkelheit! ... Und ›Sie müssen weggewesen sein‹ ... ›Sie müssen weggewesen sein‹ ...

Und das ist ein Augenblick der dunklen Zeit; das ist eins von den dunklen Gesichtern der fremden, millionengesichtigen Zeit.

Tod, der stolze Bruder

Inhaltsverzeichnis

Das Antlitz der Nacht, das Herz der Dunkelheit, das Zünglein der Flamme – alles, was unterm Schicksalsgesetz der Nacht west, wirkt und sich regt, hatte ich kennengelernt. Ich war der Nacht Kind, einer von ihren zahlreichen Söhnen, und ich wußte um alles, was die Herzen derer bewegt, die die Nacht lieben. Solchen Leuten war ich an tausend Orten begegnet, und nichts, was sie je taten oder sagten, war mir fremd, und schon als Junge, als ich Zeitungsausträger an einem Morgenblatt war, hatte ich sie auf Kleinstadtstraßen erlebt, diese sonderbare und einsame Gesellschaft der nächtlichen Streuner. Manchmal waren sie allein, manchmal zu zweit oder zu dritt, und immer gingen sie in den Mittwachen der Nacht auf dem leeren Pflaster öder Straßen, hielten sie inne vor den gräßlich wächsernen Schaufenster-Puppen der Kleiderläden, blieben sie im harten, grellen Licht der zwiebelbündligen Laternen stehn, strichen sie an hundert verdunkelten Läden vorbei, traten sie schließlich in irgendein kleines Lokal, um Schnute, Lipp' und fahle Wang' in die fleckige Tiefe eines Kaffeekumpens zu stecken und in aller Ruhe zu quasseln und zu klöhnen, oder aber die graue Asche der Zeit stumpfsinnig-schweigsam verrinnen zu lassen.

Traumhaft fremd kamen mir diese Leute, kamen mir ihre Gesichter, kam mir ihr rastloses Streunen, das mir damals selbstverständlich vorgekommen war und keine Fragen ausgelöst hatte, nun ins Gedächtnis zurück. Was hatten sie wohl gewollt, was zu finden gehofft, als sie an tausend Türen und Toren in jenen öden, kleinen, winterlichen Städtchen vorüberstrichen?

Ihr Hoffen, ihr wilder Glaube, das dunkle Lied, das die Nacht in ihnen sang, jenes Etwas, das im Dunkel lebte und webte, während die Menschen schliefen, das heimlich, frohlockend und sieghaft überall im ganzen Lande geschah, – das alles stand mir im Herzen geschrieben. Nicht in der Reinheit und Süße des ersten Morgenglanzes und all seiner kühnen und eindringlichen Offenbarungsglorie, nicht im tätig-tüchtigen, schlichten Licht des Vormittags, nicht im Mittag der Maisfelder, wenn die Halmschäfte stumm stehen, noch auch um drei Uhr nachmittags im schläfernden Gesumm und Grillengestichel auf den Fluren oder im sonderbar zaubrischen Gold und Grün des lyrisch wilden Waldlands, selbst nicht auf Fluren, die stumm des Tages letzte Hitze und Heftigkeit ausatmend in die unergründliche Tiefe und brütende Stille der Dämmrung sanken, – so tapfer und herrlich diese Stunden und Stimmungen auch gewesen waren, sie waren es nicht, in denen ich das Mysterium, die Größe und die unsterbliche Schönheit Amerikas erfühlt und gefunden hatte.

Ich hatte das dunkle Land im Herzen der Nacht, der dunklen, stolzen, geheimnisvollen Nacht gefunden; das unermeßliche und einsame Land lebte für mich im Gehirn der Nacht. Dann sah ich es vor mir hingebreitet mit seinen Ebnen, Strömen und Gebirgen, in seiner ganzen dunklen und unsterblichen Schönheit, seiner ganzen Weite und ungeheuren Entfaltungsfreudigkeit, seiner ganzen Einsamkeit, Wüstheit und Schreckhaftigkeit, seiner maßlosen und erlesnen Fruchtbarkeit, und mein Herz ward eins mit den Herzen aller, die die fremde, wilde Musik dieser Ebnen, Ströme und Gebirge vernahmen, und erfüllt von unbekannten Harmonien und tausend wilden und geheimen Zungen, die frohlockend und furchtbar von der wilden Erde, von Triumph und Entdeckung, die fremd und bitter wahrsagend von Liebe und Tod redeten und sangen.

Denn da lebte etwas im nächtigen Lande, da wogte etwas Dunkles flutend durch die Herzen der Menschen. Wild, seltsam, mit seinem Jubel über die unermeßliche, schlafende Erde hinschwellend, hatte es in tausend Nachtwachen zu mir gesprochen, und alles, was seine dunklen und geheimen Zungen gesagt hatten, stand mir im Herzen geschrieben. Mit der rhythmischen Gehaltenheit mächtiger Fittiche war es über mir aufgerauscht, im rasenden Geheul des Winterwinds war es mit dämonisch-ekstatischem Geschrei über mich hinweggesaust wie Kugeln, aus den dumpfweichen Himmeln der Schneeluft war es mit leiser Benommenheit in dunkel andrängenden, wildfreudigen Vorahnungen über mich gekommen, und dunkel, wild und heimlich hatte es überm stillen Lande gebrütet und überm erschütternden, dynamischen Schweigen der Weltstadt gehangen, verstummt zwar in den Millionen Schlafzellen, aber immerdar nächtig bebend im fernen, mächtigen Murmellaut der Zeit.

Durch mein Wissen und Leben gehörte ich mit unzweifelhafter Gewißheit zur großen Gesellschaft derer, die bei Nacht leben, um das Mysterium der Nacht wissen und die Nacht lieben. Alles, was diese Leute freut, plagt und erregt, freute, plagte und erregte auch mich. Mit allem, was nachts auf Erden geschieht, hatte ich Bekanntschaft gemacht, und schließlich auch nachts jene drei Gefährten kennengelernt, mit denen ich meines Lebens besten Teil zubrachte, – den stolzen Tod und dessen Geschwister, die strenge Einsamkeit und den großen Schlaf. Nachts in aller Schlafstille der Erde hatte ich als ihr Freund mit der Einsamkeit gelebt, gearbeitet und geschafft, und tausendmal hatte ich in Schlafgesichter geblickt und die dunklen Schlafrosse anrücken hören. Und in dunklen Mittwachen der Nacht hatte ich meinen Bruder und meinen Vater sterben sehen und die Gestalt des stolzen Todes beim Eintreten erkannt und geliebt.

Dreimal bereits hatte ich das Antlitz des Tods in der Weltstadt gesehn, und nun in jenem Frühling sollte ich es noch einmal sehen. Eines Nachts – es war eine kaleidoskopische Nacht von Wahnsinn, Trunkenheit und Wut, wie ich sie damals oft durchlebte, eine Nacht, in der ich auf der großen Straße der Dunkelheit von Licht zu Licht, von Mitternacht bis zum Morgen, herumlief, – sah ich einen Mann in der New-Yorker Untergrundbahn sterben.

Der Mann starb so ruhig, daß wir Zuschauer es zunächst gar nicht wahrhaben wollten, daß er tot war, so ruhig, daß sein Tod nur ein augenblickliches und stilles Aufhören der Lebensbewegung war und so friedlich und natürlich eintrat, daß wir alle mit faszinierten, ungläubigen Augen hinstarrten und das Antlitz des Todes zwar gleich mit jenem furchtbaren Erkenntnisschauder erkannten, der uns sagte, wir hätten den Tod schon von jeher gekannt, aber doch in unsrer Bestürztheit und Verängstigung nicht zugeben wollten, daß es der Tod war, den wir da miterlebten. Und obschon ich den Großstadttod schon dreimal furchtbar und gewalthaft hatte kommen sehen, war es gerade dieser stille Tod, der sich mir endgültig ins Gedächtnis prägte mit einem Schrecken, einer Majestät und einer Größe, die die drei andern Todesfälle nicht gehabt hatten.

Der erste dieser Todesfälle, der nun bereits vier Jahre zurücklag, hatte sich im April meines ersten New-Yorker Jahres ereignet, und zwar an einer Straßenecke im schmierig-trüben, überschwärmten Upper-East-Side-District, und in der Art, wie er sich zutrug, war etwas Erbarmungsloses, Zufälliges und Gleichgültiges, etwas, das bei weitem furchtbarer war, als es berechnete und absichtliche Grausamkeit je sein kann, etwas, das jäh und gräßlich durch die glänzende Luft, durch all die Freudigkeit und den Zauber der Jahreszeit hindurch und in die Menschen hineinfuhr und allen Frohsinn, alle Hoffnung in den Herzen derer, die den Tod miterlebten, auslöschte.

Ich kam eine dieser trüben Querstraßen im oberen East-Side-District entlang, – eine Straße, in der noch allenthalben mit ihren unschönen, kantigen Schauseiten jene alten Braunsandsteinhäuser stehn, die einst zweifellos Heime wohlhäbiger Leute waren, nun aber vom Rost, Ruß und Schmutz vieler Jahre geschwärzt sind. Im ganzen Viertel brodelte und trubelte es von heftigem, unordentlichem Leben, dem Auf- und Abschwall eines Stroms von dunkelhäutigen, dunkeläugigen Menschen fremder Zunge, eines Stroms von Zahl- und Namenlosen, deren Gehaben jene verflüssigte, flutgezeitenartige, schwarmhafte Gelöstheit hatte, die den Völkern dunklen Bluts und dunkler Rasse eignet, so, daß das hager-genaue, einzelgängerische und strenge Gebahren, wie es Menschen nordischer Art auszeichnet, wie etwas Einsames, Kleines, kläglich und doch großartig auf sich selbst Gestelltes beim Anprall dieser dunklen Gezeitenwoge augenblicklich zerschellt, denn augenblicklich offenbart er sich, der zahl- und alterslose Menschenschwarm der Erde, in seinem ganzen, bodenlosen Grauen, und er sucht einen später im Traum heim, selbst wenn man nur ein halbes Dutzend dieser dunklen Gesichter auf einer Straße gesehen hat.

Dort, wo die beschwärmte Querstraße auf eine jener großen, schmutzigen Hauptverkehrsadern trifft, die New York der Länge nach durchziehen, vom Hochbahnstrang verdunkelt und stets vom heftig-wüsten Hochbahnverkehr belärmt, so, daß nicht nur das durch das rostige Gerüst aus Eisenpfeilern und -streben fallende Licht, sondern auch aller Verkehr auf den Bürgersteigen und dem Fahrdamm einem harsch und gehetzt, bedrückt und gewaltsam, bestürzt und verworren vorkommt, – dort, an so einer Ecke kam der Mensch ums Leben. Er war Italiener, ein Mann in mittleren Jahren, und besaß so einen windigen Restaurationskarren, für den er dort am Rinnstein einen Standplatz hatte. Was er feilbot, eine schäbige Auswahl, waren allerlei Zigaretten, Zuckerzeug und in Flaschen abgefüllte, alkoholfreie Getränke; ferner Orangeade, aus einer großen, fettig aussehenden, in einen verdällerten Zapfbehälter aus weißem Emaille gestürzten Flasche; schließlich verschiedne Gerichte, vor allem Würstchen und Spaghetti, die in ein paar Töpfen auf einem kleinen Petroleumherd ständig warm gehalten wurden.

Gerade als ich die diesem Verkaufsstand gegenüberliegende Straßenecke erreichte, ereignete sich der Unfall. Nach Norden und Süden, unter der Hochbahnanlage hin, brüllte der Fahrverkehr. Im gleichen Augenblick kam ein ungeheurer gedeckter Lastkraftwagen – eins von diesen mächtigen und schwerfälligen Fahrzeugen, die an große Lokomotiven erinnern, die die kleineren Maschinen auf dem Fahrdamm geradezu zu verschlingen und die Straßenbreite vollständig einzunehmen scheinen, so, daß man sich immer wieder über die Genauigkeit und Gewandtheit der Chauffeure wundert, die sie fahren können – unter der Hochbahnanlage herangedonnert. Um einen bedeutend kleineren Lastwagen zu überholen, bog das riesige Fahrzeug aus und fuhr vor, im Vorbeifahren streifte es an und versetzte dem kleinen Lastwagen einen Stoß von so furchtbarer Wucht, daß dieser krachend zur Seite – über den Rinnstein auf den Bürgersteig, auf den Restaurationskarren zu – geschleudert wurde. Der Karren wurde vollständig zertrümmert, der Lastwagen überschlug sich über ihn hin und blieb, ein eingedrücktes Wrack aus zerschmettertem Glas und verbognem Stahl, ein Stück weiter weg liegen.

Durch ein Wunder des Zufalls kam der Lastkraftfahrer heil davon, aber der kleine italienische Händler wurde so schwer verletzt, daß er überhaupt nicht mehr zu erkennen war. Als der Lastwagen auf ihn hereinkrachte, schoß ihm jäh eine hellrote Blutfontäne aus dem Kopf, – unglaublich, daß so ein kleiner Mann solche Springbrunnen Blutes im Körper haben konnte, – und binnen weniger Minuten, ehe noch der Ambulanzwagen eintraf, starb der Mann dort auf dem Bürgersteig.

Lärmende Menschen mit dunklen Gesichtern, eine ganze Menge, scharten sich sofort um den Sterbenden, und Polizisten, eine erstaunliche Anzahl, waren sofort zur Stelle. Sie drängten die aufgeregten Leute ab, schoben und schubsten sie zurück, fluchten und wurden handgreiflich, drohten mit dem Knüttel und befahlen barsch:

»Weitergehn, da! Keinen Auflauf machen! Weitergehn soll'n Se! Hab'n Se verstanden?!« ... »Wo woll'n Sie denn hin?!« fauchte einer plötzlich, packte einen Mann an den Rockaufschlägen, hob ihn hoch und schnickte ihn in die Menge zurück, als wäre er ein Stück Kot ... »Weitergehn, da! Weitergehn! Keinen Auflauf machen! Schaun Se, daß Se weiterkommen, verstanden?!«

Andre Polizisten hatten derweil den Sterbenden vom Fahrdamm auf den Bürgersteig gehoben, sie bildeten einen Kreis um ihn, um den andrängenden Pöbel zurückzuhalten. Und dann traf der Ambulanzwagen ein. Der Mann aber war schon tot. Die Leiche wurde mitgenommen. Mit Stößen, Püffen, Drohungen, ganz so, als hätten sie eine Herde dumpfen, störrischen Viehs vor sich, trieben die Polizisten die Menge zurück, bis schließlich die ganze Unfallstelle von Neugierigen frei war.

Damit der Fahrdamm wieder für den unaufhörlich anbrausenden Verkehr freigegeben werden konnte, machten sich zwei Polizisten ans Reinemachen. Sie schleiften den zertrümmerten Restaurationskarren zum Rinnstein, lasen das Zubehör auf – Küsten und Kästchen, zerbrochnes Geschirr und zerscherbte Gläser, billige Eßbestecke und schließlich auch die blechernen Spaghettitöpfe – und warfen es auf den Trümmerhaufen. Spaghetti, Schädelsplitter und das Hirn des Toten lagen zu einem gräßlichen Blutfladen vermengt auf dem Asphalt. Einer von den Polizisten guckte sich den Fladen einen Augenblick an. Vorsichtig setzte er die Zehenspitze seines dicken Stiefels gegen die weiche Masse, so, als wolle er sie beiseite schieben, dann aber wandte er sich ab, sein rohes, rotes Gesicht verzog sich zu einer Fratze. »Jesus!« sagte er.

In diesem Augenblick kam aus einer düstern kleinen Schneiderwerkstatt ein kleiner Mann mit einem Eimer Wasser; ein Jude war es mit grauem Gesicht, großer Nase und fettigem, rückwärtswüchsigem Ringelhaar über einer zerquälten, fliehenden Stirn, und er lief schnell, vor Aufregung keuchend, mit komischen, o-beinigen Bewegungen über den Bürgersteig auf den Fahrdamm, goß das Wasser auf den blutigen Fladen und rannte dann ebenso schnell wieder in die Werkstatt zurück. Und dann kam aus einem andern Laden ein Mann mit einem Kübel Sägemehl, das er auf die blutbesudelte Straße streute, bis alle Lachen bedeckt waren. Schließlich war nichts mehr zu sehen außer dem Wrack des Lastwagens und dem Trümmerhaufen des Restaurationskarrens, zwei Polizisten, die, Notizbuch in der Hand, den Unfall besprachen, ein paar Leuten, die mit dumpfen, gebannten Augen ein paar Blutspritzer auf dem Bürgersteig anstierten, und kleinen Gruppen von Menschen, die an der Straßenecke standen und in leisen und erregten Tönen Unterhaltungen führten, die etwa so begannen: –

»Aber sicher hab ich's gesehn! Ich sag Ihnen doch, daß ich's gesehn hab! Zwei Minuten zuvor hab ich noch mit ihm gesprochen. Ich hab das Ganze mit angesehn, ich stand ja keine fünf Schritt weiter weg, als er getroffen wurde!« – worauf dann der blutige Augenblick lebhaft wieder heraufbeschworen und mit einem unersättlichen, zehrenden Hunger bis ins Kleinste erörtert wurde.

So war es, so erlebte ich zum erstenmal den Tod in der Großstadt. Später, als der Anblick von Blut und Hirn und des gräßlich zugerichteten Menschen meinem Gedächtnis fast entfallen war, erinnerte ich mich mit aller Lebhaftigkeit noch an die verdällerten, blutbesudelten Blechtöpfe, – ich sah sie deutlich auf dem Asphalt liegen, sah, wie der Polizist sie aufhob und auf den Trümmerhaufen warf, – und mich dünkte dann, diese trübseligen, leblosen Töpfe wären imstand, mit hohem Pathos die ganze Geschichte eines Lebens in mir aufzurufen, die Wärme und Güte und lächelnde Freundlichkeit jenes Mannes, den ich so oft an seinem Karrenstand gesehn hatte, und dazu auch das kläglich kleine Geschäftsunternehmen, in dem er kümmerlich dürftig, aber ständig hoffnungsvoll und redlich beflissen sein Bestes getan hatte, um hier, unterm Himmel der Fremde, im Herzen der ungeheuren, gleichgültigen Weltstadt, für all seine bittre Müh und geduldige Stetigkeit einen kleinen Lohn zu erringen, – bescheidnes, leuchtendes Ziel, – die Zuflucht, die ihm jene Sicherheit, Freiheit und Ruhe verhieß, um die sich alle Menschen auf Erden leidlich plagen.

Und der ungeheure Gleichmut, mit der die riesenhafte, furchtbare Weltstadt dieses kleine Dasein ausgelöscht und die leuchtende Luft und die Herrlichkeit des Tags mit Blut getränkt hatte, dazu die ungeheure und beiläufige Ironie des Zuschlags, – das große gedeckte Lastfahrzeug nämlich, das den kleineren Wagen aus der Bahn geschleudert und so den Italiener getötet hatte, war weitergedonnert und verschwunden, vielleicht ohne daß der Fahrer überhaupt gewahr geworden war, was sich zugetragen hatte, – das alles wurde in seiner Betrüblichkeit, seinem Pathos und seiner maßlosen Gleichgültigkeit in mir aufgerufen durch die Erinnerung an ein paar verdällerte Kochtöpfe. Und dies also war meine erste Begegnung mit dem Großstadttod.

Bei meiner zweiten Begegnung mit ihm war es Nacht und Winter, und er war ganz anders gekommen.

Etwa um die Mitte einer still- und bitterkalten Februarnacht, als der Mond kalt und grell im weißlichen Blauglast des Frosthimmels stand, hatte sich auf dem Bürgersteig einer jener verwirrenden, kantigen Straßen, die in der Nähe des Sheridan Square auf die Seventh Avenue stoßen, eine Gruppe fröstelnder Leute zusammengeschart. Die Leute standen vor einem unvollendeten Neubau, dessen Schauseite roh und leer im harschen, braunfahlen Licht ein paar Schritte hinter ihnen aufragte. Der Wachmann, der nachts auf den Neubau aufzupassen hatte, hatte sich in der Gosse in einem rostigen Ascheneimer ein Feuer angemacht, und dieses Feuer peitschte und loderte mit knatternden Flammen in der Frostluft, und von Zeit zu Zeit traten Leute aus der Gruppe nahe an es heran, um sich die Hände zu wärmen.

Auf dem eisigen Asphalt vor dem Neubau lag ein Mann. Der Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken, und neben ihm kniete ein Assistenzarzt vom Hospital, der die Tuben eines Stethoskops in den Ohren stecken hatte, und ging mit dem Instrument von einer Stelle zur andern über die mächtige, entblößte Brust des Liegenden. Ein Ambulanzwagen, dessen Motor leise und schwach, – ein wenig unheimlich – pochte, war am Rinnstein vorgefahren. Der Mann auf dem Asphalt war ungefähr vierzig; er hatte die schwerfällig wuchtige Gestalt und das rohzügige, kräftige Gesicht des berufsmäßigen Landstreichers. Es war, als hätte die ganze wüste Gewalttätigkeit von Wetter, Armut und körperlicher Entbehrung mit ehernem Stempel in langen Jahren der Wanderschaft diesem narbigen, knorrigen Gesicht ihre Wahrzeichen aufgeprägt, denn nun hatten die Züge dieses Manns eine gewissermaßen epische Brutalität, und was da geschrieben stand und deutlich zu lesen war, war eine Legende von einsam-machenden und furchtbaren Entfernungen, von stampfenden Rädern auf gleißenden Schienen, von Rost und Stahl und blutiger Rauferei, eine Legende von der wilden und wüsten Erde Amerikas.

Der Mann lag auf dem Rücken, still und fest wie ein Fels lag er da; die Augen hatte er geschlossen; das grobzügige, kräftige Gesicht war in der starr-stumpfen Gehaltenheit des Todes gen Himmel gerichtet. Er lebte noch, aber auf der einen Seite des Gesichts hatte er eine furchtbare, klaffende Wunde. Betrunken und beinahe blind von jenem billigen Alkohol, der ›Smoke‹ heißt, war er in den Neubau geraten, war über einen Stapel Eisenbalken gestürzt und hatte sich beim Sturz die Schläfe eingeschlagen. Das schwarze Gesicker aus der Wunde war ihm über die eine Gesichtshälfte gelaufen und hatte eine kleine Lache auf dem Asphalt gemacht; aber der Mann blutete nun kaum noch, denn in der Frostluft gerann das Blut schnell.

Der Schmutzfetzen von einem Hemd, das der Mann anhatte, war aufgerissen worden, und der mächtige Brustkasten schien mit der gleichen stumpf-starren Unbeweglichkeit herausgewölbt. Von einem Atemgang war nichts zu merken; der Mann lag da wie aus Fels gehauen, aber eine dumpfe, hitzige, ungesund wirkende Röte brannte noch auf dem breiten, schweren Gesicht, und noch zu Fäusten geballt lagen die Hände an den Seiten. Der alte Hut war ihm vom Kopf gefallen, man sah die große Glatze, und diese Glatze mit dem dünnen, fransigen Haarkranz war es, die abschließend endgültig und auf eine irgendwie furchtbare Art dem starken, rohen Gesicht dieses Menschen das Gepräge von Macht und Würde verlieh; es war etwas wie jener Ausdruck von Stärke, Anstand und Strenge auf den Gesichtern der Männer, die im Zirkus am Trapez die Schwerarbeit leisten, denn diese Männer haben ja gewöhnlich auch Glatzen.

Von den Leuten, die um den Mann herumstanden, zeigte niemand irgendeine Gemütsbewegung. Sie standen einfach da und sahen den Mann mit gespannter und dennoch gleichgültiger Neugier an, ganz so, als ob der Tod dieses Vagabunden für sie etwas Beiläufiges, Vorausgesagtes darstelle, das ihnen nun so natürlich vorkäme, daß sie weder Überraschung, noch Mitleid, noch Bedauern empfinden könnten. Ein Mann wandte sich an einen andern, der neben ihm stand, und versicherte diesem ruhig, aber bestimmt und leise grinsend:

»Na also, das ist immer das End vom Lied mit diesen Stromern. Über kurz oder lang kommen se alle auf so 'ne Weise um. Ist mir noch nie zu Ohren gekommen, daß es mal anders gewesen war.«

Derweilen ging der junge Arzt ruhig und bedachtsam, aber gleichgültig mit dem Stethoskop von einer Stelle zur andern über die Brust des Liegenden und horchte. Ein Polizist mit einem dunklen, schweren Gesicht, das blatternarbig, versorgt und brutal war, stand hinter dem Arzt. Der Polizist sah dem Auftritt ruhig zu, ließ leise seinen Knüttel schwingen und schob gemächlich ein Kaugummiknöllchen im Mund herum. Mehrere Männer, darunter der Nachtwachmann und der Zeitungsverkäufer von der nächsten Straßenecke, standen stumm da und starrten. Und schließlich waren da auch ein junger Mann und ein Mädchen. Die beiden waren gut angezogen, und etwas Unverschämtes, Nacktes, Häßliches in Rede und Gehaben zeichnete sie, nach Stand, Wohlstand und Bildungsgrad gesehn, vor den übrigen Zuschauern aus und besagte, daß sie etwas Besseres wären, also junge Leute, die auf ein College gegangen waren, oder Müßiggänger aus angesehnen New Yorker Familien oder etwa Maler, Schriftsteller oder Theaterkünstler aus dem Greenwich-Village-Viertel, – kurz, ›moderne Jugend der Nachkriegsgeneration.‹

Auch diese beiden sahen auf den Mann auf dem Asphalt herunter, sie betrachteten ihn mit jener Neugier, mit der man ein sterbendes Tier betrachtet, aber mit weniger Mitleid; sie lachten, schwatzten, witzelten miteinander mit einer so widerlichen und verächtlichen Hartherzigkeit, daß ich ihnen am liebsten in die Fresse gehauen hätte. Die beiden hatten zwar getrunken, aber betrunken waren sie nicht, und etwas Hartes und Häßliches brannte nackt in ihnen, und doch, – es war dies kein gezwungnes und beabsichtigtes, sondern einfach ein hartblickendes, in der Arroganz geschultes Wesen, eine trockne, falsche, eingebildete Art der Gebärdung, die da wie ein Lebensstil vorgetragen wurde. Die beiden hatten eine erstaunlich literaturmäßige Wirklichkeit, ganz so, als wären sie fix und fertig aus den Seiten eines Buchs herausgetreten, ganz so, als gehörten sie tatsächlich einer schnöden, auf Erden zuvor unbekannten Jugend an, einer neuen Rasse, einem harten, brachen, heillosen Geschlecht greller, dürrer Geschöpfe, die sich die für sie vollkommen unzeitgemäßen Organe verkehrter Gefühligkeit, die uralten Eingeweide, in denen sich von je des Menschen Mitleid, Kummer und wilder Freudenüberschwang regen, hätten herausnehmen lassen, Geschöpfe, die es störrisch vorzögen, eine mit Bitternis und Gehässigkeit geladne Luft zu atmen und sich fatalistisch spröde, anmaßend und stolz an die eigne Daseinsverlassenheit zu klammern.

Die Unterhaltung der beiden hatte etwas Heimliches, Süßtuerisches, Geziertes; sie stak voll von schnellen Anspielungen, wendigem Geschnackel und versteckten Feinheiten, deren Sinn einzig von diesen beiden Eingeweihten verstanden werden konnte, und außerdem war sie gespickt mit den Handelsmarken-Wörtern des rauh-schlichten Umgangstons, der damals bei Leuten dieser Art in Gunst stand, Bezeichnungen wie »toll«, »ganz groß«, »ei fein«, »schlichthin wunderbar.«

»Wo können wir noch hin?« fragte das Mädchen den jungen Mann. »Bei Louie wird zu sein. Er schließt, glaub ich, um zehn.«

Das Mädchen war hübsch, hatte eine gute Figur, aber Gesicht und Körper hatten weder Kurve noch Fülle. Körper, Herz und Seele, es war keine Reife an diesem Mädchen, es war ein Wesen mager an Brust, hart, unfruchtbar, selbstsüchtig.

»Wenn schon«, sagte der junge Mann. »Gehn wir eben nebenan zu Steve. Hat die ganze Nacht auf.« Sein Gesicht war dunkel und unverschämt, die Augen waren flüssig, der Mund war weich, schwach, verwöhnt, anmaßend und verderbt. Beim Lachen kamen Kullerbläschen in die Stimme, und das Lachen klang lose, höhnisch, auf üble Art selbstsicher.

»Ei fein!« sagte das Mädchen mit seiner nackten Stimme. »Würde mir Spaß machen, hinzugehn. Laß uns noch ein paar Leute auftreiben! Wer, meinst Du, war mit von der Partie? Ob Bob und Mary zu erreichen sind?«

»Bob vielleicht, Mary kaum«, sagte der junge Mann, sich geschickt unschuldig stellend.

»Nei-in! Was Du nicht sagst!« rief das Mädchen aus, gewandt das Nichtglaubenkönnen mimend. »Sie wird doch nicht etwa? Meinst Du? ...« Und hier wurden die Stimmen leise, begierig, schlau, die beiden lachten, und schließlich war der junge Mann wieder zu vernehmen, der, weiche Kullerbläschen in der Stimme, sagte:

»Oh, weiß nicht. Wieder so 'ne Sache. Soll in den besten Familien vorkommen, weißt Du.«

»Nein«, rief das Mädchen mit einem kleinen Quietschlachen des Nichtglaubenkönnens. »Weißt Du, das dann doch nicht! Dazu nach all dem, was sie über ihn gesagt hat! ... Ei, das ist ja schlichthin – unbezahlbar!« Und dann, ganz langsam, vor sich hingesagt: »Oh, das ist aber einfach ganz groß!« Und dann schnell ausgerufen: »Ich würde alles drum geben, wenn ich Bobs Gesicht sehn könnte, wenn er dahinter kommt!« Dann lachten und tuschelten die beiden verständnisinnig miteinander, und dann, nach einem kleinen, herausgestoßnen, ungläubigen Lachlaut, rief das Mädchen wieder aus:

»Zu schön, um wahr zu sein! Oh, weißt Du, das ist ja ganz wunderbar!« Und dann kam, ganz schnell, ungeduldig hinzugesetzt die Frage:

»Also wen können wir noch auftreiben? Wen sonst?«

»Weiß nicht«, sagte der junge Mann. »Schon ziemlich spät geworden. Weiß nicht, wen wir noch auftun könnten, es sei denn –« Der weiche, dunkle Mund begann zu lächeln, die Lachbläschen kullerten in der Kehle, als der junge Mann mit einem Nicken auf den Mann auf dem Asphalt deutete. »– es sei denn, Du fragst unsern Freund hier, ob er gern mitmachen möchte.«

»Oh, das war nun ganz groß!« rief das Mädchen mit einem beglückten kleinen Lachen und starrte einen Augenblick die stumme Gestalt auf dem Asphalt ernsthaft an. »Wär mir ungeheuer lieb!« versicherte das Mädchen. »Wär's nicht toll, wenn wir so jemand mitschleifen könnten?«

»Nun ja –« meinte der junge Mann unentschieden. Dann, als er auf den Mann auf dem Asphalt herunterblickte, wallte das weich- und feuchtflüssige Lachen wieder auf, und der junge Mann sagte sanft und schlau zu dem Mädchen: »Ich hasse es, Dich zu enttäuschen, aber mir scheint nicht, daß wir unsern Freund hier mitnehmen können. Sieht aus, als hätte er morgen früh ein großes Weh im Kopf.« Und wieder lächelte der dunkle Mund, wieder wallte das weiche Lachen aus der Kehle.

»Hör auf!« rief das Mädchen ein wenig kreischend aus. »Bist Du aber gemein!« mimte es vorwurfsvoll. »Ich finde ihn süß! Ich finde, es war schlichthin wunderbar, wenn man so jemand mal zu einer Partie mitnehmen könnte! Der Mann sieht doch toll aus«, fuhr das Mädchen fort und blickte neugierig herunter auf den Mann auf dem Asphalt. »Wirklich, toll, weißt Du.«

»Je nun, Du weißt ja, wie es ist«, sagte der junge Mann. »Er war ein großartiger Kerl, als er das Leben noch hatte.« Üppig wallte das Lachen aus der sanften Kehle. »Na, komm schon!« sagte der junge Mann. »Schaun wir, daß wir weiterkommen. Hab Dich 'n bißchen im Verdacht, Du möchtest mit ihm anbandeln.« Und lachend und miteinander redend, Nacktheit und Hoffart in den jungen Stimmen, gingen die beiden ihres Wegs.

Es dauerte nicht lang, da stand der Assistenzarzt auf, nahm die Stethoskopstöpsel aus den Ohren und sprach leise und ganz sachlich ein paar Worte mit dem Polizisten, der daraufhin etwas in sein Notizbuch kritzelte. Der Arzt ging die paar Schritte zum Rinnstein und stieg hinten in den Ambulanzwagen ein. Er setzte sich auf den einen Sitz, legte die Beine auf den andern, und sagte zu dem Fahrer: »Fertig, Mike, fahren wir!« Der Wagen fuhr glatt ab, glitt mit einem leisen Klingen der Warnschellen um die Ecke, war weg.

Der Polizist klappte nun sein Notizbuch zu und schob es in die Tasche. Er wandte sich plötzlich an uns, die wir herumstanden. Ein verdrossener Ausdruck lag auf seinem schweren, dunklen, übernächtigen Gesicht. Er spreitete die Arme aus, drängte uns ganz sachte zurück und sagte mit einer geduldig und müde klingenden Stimme: »Schon recht jetzt, Ihr Leute! Schaut, daß Ihr fortkommt! Also weitergehn! Der Fall ist erledigt.«

Und seinem müden und duldsamen Befehl Folge leistend, machten wir uns auf den Weg und gingen davon. Und auf dem Pflaster lag, auf dem Rücken ausgestreckt, der tote Mann, und das große, rohe Gesicht der Gewalt und Stärke war starr nach oben gerichtet, kahl, mit einer fürchterlichen Stille, einer bangemachenden Würde dem Antlitz des kalten und grellen Monds entgegengereckt.

Das war das zweitemal, daß ich den Tod in der Weltstadt miterlebte.

Das drittemal, als ich den Tod in der Weltstadt miterlebte, kam es so: –