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Es gibt kein Entkommen für mich! Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, vielleicht nur wenige Stunden. Lang genug, wenn ich Glück habe, um mir zu ermöglichen, bis zum Anbruch der Nacht zu warten, bis die Vögel im Garten still werden, bis das Feuer dunkel wird und stirbt, zu warten, bis mein Gegner seinen nächtlichen Lauf aufnimmt …
Michael Minnis führt uns auch in seinen 5. Erzählband seiner gesammelten Prosa durch die Zeiten und erzählt vom Grauen in den Schlachtgräben des 1. Weltkriegs und spannt den Bogen weiter bis in die nahe Zukunft, einer dystopischen Realität, wo die Zombies und deren Abschlachten zum normalen Tagesablauf gehören.
Ob Dunwich oder Yuggoth, ob Arkham oder Innsmouth, Michael Minnis folgt den Fußspuren seines großen Vorbildes H. P. Lovecraft und sei es, dass er bis nach Providence gehen muss.
Folgende Geschichten sind in diesem Band enthalten:
› Stumpergasse 29
› Hoch und mächtig und weltmüde und tragisch
› Albtraum Vorort
› Das Zimmer am Ende des Flurs
› Anencephalus
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Michael Minnis
Von Boston
bis Ulthar
Fünf Novellen und Erzählungen
Copyright © by Author/Bärenklau Exklusiv
Übersetzung/Bearbeitung: Jörg Munsonius; »Hoch und mächtig und weltmüde und tragisch« und »Das Zimmer am Ende des Flurs«
Übersetzung: Lars Menk; »Stumpergasse 29«, »Albtraum Vorort« und »Anencephalus«
© der deutschen Übersetzung: Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Steve Mayer mit eigenen Motiven von eedebee (KI), mit Bärenklau Exklusiv, 2024
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau (OT), Gemeinde Oberkrämer. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Von Boston bis Ulthar
Stumpergasse 29
1
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Hoch und mächtig und weltmüde und tragisch
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Albtraum Vorort
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Das Zimmer am Ende des Flurs
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Anencephalus
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Es gibt kein Entkommen für mich! Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, vielleicht nur wenige Stunden. Lang genug, wenn ich Glück habe, um mir zu ermöglichen, bis zum Anbruch der Nacht zu warten, bis die Vögel im Garten still werden, bis das Feuer dunkel wird und stirbt, zu warten, bis mein Gegner seinen nächtlichen Lauf aufnimmt …
Michael Minnis führt uns auch in seinen 5. Erzählband seiner gesammelten Prosa durch die Zeiten und erzählt vom Grauen in den Schlachtgräben des 1. Weltkriegs und spannt den Bogen weiter bis in die nahe Zukunft, einer dystopischen Realität, wo die Zombies und deren Abschlachten zum normalen Tagesablauf gehören.
Ob Dunwich oder Yuggoth, ob Arkham oder Innsmouth, Michael Minnis folgt den Fußspuren seines großen Vorbildes H. P. Lovecraft und sei es, dass er bis nach Providence gehen muss..
Folgende Geschichten sind in diesem Band enthalten:
› Stumpergasse 29
› Hoch und mächtig und weltmüde und tragisch
› Albtraum Vorort
› Das Zimmer am Ende des Flurs
› Anencephalus
***
Fünf Novellen und Erzählungen
von Michael Minnis
(No. 29 Stumpergasse)
»Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.«
Vergil, Aeneis
Wien war für mich einst die leichteste und unveränderlichste aller Städte.
Voller Kultur und doch ursprünglich, fand sich hier weder die erdrückende gallische Anmaßung von Paris noch der graue preußische Militarismus Berlins. Moskau, so sagte man mir, sei roh und ungeschliffen, eine aus der Wildnis herausgehackte Stadt. London indes gab sich gänzlich dem Industrialismus, dem Moloch dieses Zeitalters, hin.
Wien hingegen war nichts dergleichen. Auf ihren Straßen zu wandeln, zwischen ihren Kolonnaden und Opernhäusern entlang zu promenieren, ihre eklektische, sinnliche, zutiefst romantische Silhouette unter einem wagnerianischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu erschauen, hieß, diese absurde, märchenhafte Stadt zu lieben.
Was wird aus dir werden, Mutter von Beethoven und Strauß, Sitz der Doppelmonarchie von Österreich-Ungarn? Was wird mit diesem gemächlichen, unwandelbaren und merkwürdigen Ort geschehen, wo der Kaiser immer noch in einer vergoldeten Kutsche fährt und sich selbst der niedrigste Staatsbeamte noch wie ein Habsburger Monarch aufführt?
Eine große Nacht bricht an, und ich fürchte, dass ein letzter Tag kommen wird, an dem die Lichter von Wien einzeln verlöschen, um nie wieder angezündet zu werden, und dann werden nur die Sterne darüber zurückbleiben.
Mein Zimmerkamerad Oskar schläft, doch ich kann es nicht. Ich beneide ihn. Oskar Bronkowski, ein Pole aus Krakau, langsam, fleißig und ernst. Ein Kommilitone, neu angekommen, neigt er dazu, mich angesichts dessen, was mir vor Kurzem widerfahren ist, mit Vorsicht zu betrachten. Dieser Tage behandelt mich jeder wie seltenes Porzellan.
Wir kennen einander kaum, doch Oskar verhält sich mir gegenüber einigermaßen höflich.
Und dennoch gibt es niemanden, mit dem ich über diese schreckliche Sache sprechen könnte, und ich habe Angst.
Thomas hätte es verstanden. Der arme Thomas …
Ich bin wach in unserem Zimmer, kann nicht mehr tun als schreiben und horchen. Er ist da draußen, ebenso wach. Er, der Träumer, der verhinderte Künstler, Zielscheibe von Streichen und Unfug, und seine Gefährten, sein Mentor und sein Beschützer, über die ich hier nicht schreiben kann …
Da! Schon wieder. Ein Kratzen am Fenster. Leise wie das Klopfen eines Insekts. Oder bilde ich mir das nur ein?
Wir befinden uns zwei Stockwerke hoch, so dass es unmöglich irgendein Lebewesen sein kann.
Vielleicht ist es die große Esche, die draußen im Hof steht, auch wenn ich weiß, dass ihre Zweige eigentlich zu weit entfernt sind, um das Glas zu berühren. Und doch, es ist eine stürmische Herbstnacht …
Ich schiebe mich von meinem winzigen Schreibtisch fort, der von einer einzelnen tropfenden Kerze beleuchtet wird. Ich werde Oskar wecken und ihm alles erzählen. Er ist nicht jemand, der zu Phantasien oder Alptraumanfällen neigt, aber vielleicht wird er mir doch glauben.
Ich zögere, lasse ihn weiterschlafen, wie Wien. Beide lasse ich ruhen, wie die Toten.
Ich kam als Künstler in die Kaiserstadt, als Landschaftsmaler. Meine Lehrer am Gymnasium in Linz hatten mein Talent gelobt und darauf gedrängt, dass ich nach Wien an die Akademie der Bildenden Künste ging, was ich dann auch im Herbst 1907 tat.
Eine Zeit lang lief alles gut. Meine Mustermappe wurde von der Akademie angenommen. Ich bestand die Aufnahmeprüfung mit Leichtigkeit, zwei Tage angefüllt mit ziemlich ermüdenden Zeichenübungen, die sich mit der Darstellung des Menschen beschäftigten – »Eine Episode aus der Sintflut«, »Die Vertreibung aus dem Paradies«, »Die Rückkehr des verlorenen Sohns« und so fort. Jedes Mal wurde ich vor den anderen Studenten fertig, die sich alle wie Sisyphus in der Hölle unter dem Felsblock abmühten. Kritzeln und radieren, kritzeln und radieren …
»Die Zeit«, verkündete schließlich der steife, schnauzbärtige Professor.
Es ist merkwürdig, doch zurückschauend kommt mir die Themenauswahl der Prüfung gleichzeitig treffend und bitterlich ironisch vor – wie die Generalprobe einer dem Untergang geweihten Stadt.
Und so saß ich da, aalte mich still in meinem Triumph über noch eine weitere bestandene Prüfung, während langsam die staubigen Minuten in diesem alten Raum vorbeizogen. Ich ging sogar so weit und fügte meinen Ausarbeitungen Hintergründe hinzu, phantastische biblische Szenen voller Exotik, mit Bergen und Wasserfällen. Einigen Studenten erging es nicht so gut. Ich erinnere mich insbesondere an einen, einen rundlichen, unscheinbaren Burschen namens Werner, der ein Blatt Papier nach dem anderen zerknüllte. Sein Radiergummi war bis zur Unkenntlichkeit abgenutzt. Jede »Zeit« trieb ihn zu noch größerer Verzweiflung. Am Ende brach er zusammen, Tränen liefen über sein Gesicht, er zog die Nase hoch. Die anderen Studenten starrten ihn teils amüsiert, teils peinlich berührt an.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Professor ohne jede Spur von Mitgefühl. »Sie da. Der untersetzte Mensch. Machen Sie das bitte draußen. Sie stören die anderen.«
Werner, sein Gesicht so rot, dass sein kurz geschnittenes blondes Haar gegen seine Haut weiß wirkte, packte seine Sachen und pilgerte zur Tür. Es gab unterdrückte, tuschelnde Ausgelassenheit über seinen schändlichen Abgang, ein weiterer Versager, noch ein Kandidat, der von seinem Felsblock erdrückt wurde. Leb wohl, Dickerchen, auf Wiedersehen! Heimliche Schleudergeschosse und Pfeile folgten ihm von allen Seiten.
Schließlich räusperte sich der Professor und sprach mit seiner gelangweilten, gebieterischen Stimme: »Meine Herren, dürfte ich Sie daran erinnern, dass Sie mitten in einer sehr wichtigen Prüfung sind?«
Die anderen kehrten an ihre Arbeiten zurück. Kritzeln und radieren, kritzeln und radieren. Ich indes nahm meine Arbeit nicht sofort wieder auf. Es stimmt schon, ich war den anderen ein gutes Stück voraus und trödelte bloß bis zur nächsten Aufgabe herum. Und zugegeben, Werners Blamage war für mich eher kurzweilig als störend gewesen, doch nun hatte etwas Anderes oder vielmehr eine Person meine Aufmerksamkeit erregt.
Wie ich war er mit der gegenwärtigen Übung fertig, saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und betrachtete mit einer ärgerlichen Miene stiller Verachtung und einem Ausdruck von Überlegenheit in seinen verträumten Augen die Anstrengungen der anderen Studenten – wie eine Katze mit untergeschlagenen Pfoten, die sich ihres hohen Ansehens sicher ist.
Er war jetzt etwas älter, doch genauso blass und geisterhaft wie eh und je, und auf seiner Oberlippe saß, wie mit Ruß bestäubt, immer noch ein Schnurrbärtchen. So viel hatte sich nicht geändert. Doch hatte der kleine Stutzer, wie es schien, auf die schwarzen Glaceehandschuhe und den Stock mit dem Elfenbeingriff aus seinen Tagen in Linz verzichtet, und vielleicht wirkte er deshalb am Ende weniger sonderbar.
Ein Blick in seine merkwürdig unfokußierten, blaugrauen Augen vertrieb hingegen diesen letzten Gedanken.
Er war immer noch ein Bauerntölpel. Und nach wie vor der kleine irre Außenseiter.
In diesem, mit vergangenen Geschehnissen aufgeladenen Moment lief ein elektrischer Strom zwischen ihm und mir. Ich lächelte, schlug leise und leicht mit der Faust in meine Handfläche. Die selbstgefällige Katze wurde auf einmal zur stillen, mit Furcht erfüllten Maus.
Er erinnerte sich an mich, dachte an die Zeit in Linz zurück. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, er wäre uns beiden für immer entkommen, so wie er schließlich seinem herrischen Vater, dieser Donnerbüchse von einem kleinstädtischen Zollamtsoffizialen, entflohen war.
Ich konnte kaum das Glück dieses Tages fassen: Das Muttersöhnchen war hier!
Du bist tot, Muttersöhnchen, sagte ich leise zu ihm, lächelnd und die Worte überdeutlich artikulierend, so dass er sehr genau wusste, was ich meinte. Ich drückte noch einmal die Faust gegen meine Handfläche. Er sprach kein Wort, zuckte mit keinem Muskel, doch ich wusste, dass er erschrocken war.
»Sie da«, redete der Professor mich von seiner hohen Warte herab an, und seine alten, tränenden Augen stierten käfergleich über den zarten Zwicker. »Wie lautet Ihr Name?«
»Posch«, antwortete ich, für einen Moment das Muttersöhnchen vergessend. Stille trat im Raum ein. »Georg Posch.«
»Gehen Sie an Ihre Arbeit zurück, Posch!«
Ich nickte und nahm das Zeichnen wieder auf. Wie gesagt, bestand ich die Prüfung mit Leichtigkeit, auch wenn ein anonymer Professor mit krakeliger Kritzelschrift anmerkte, dass ich eigentlich nur die menschliche Gestalt und nicht verschiedene andere Dinge wie Berge, Büsche et alia hätte darstellen sollen. Befolgen Sie die Anweisungen genau und buchstabengetreu. Denken Sie daran, G. Posch: Obrigkeit und Untertan. Gehorsam. Disziplin. Keine Unterschrift.
Ich feierte meinen Triumph mit meinem Freund Thomas Grossmann, ein paar anderen Freunden und einer Abfolge mehrerer Flaschen guten Weins. Grelles Sonnenlicht und ein zerschmetternder Kopfschmerz waren meine Begleiter am darauffolgenden Morgen.
Es ging das versteckte Gerücht über anschließende mitternächtliche Spitzbübereien und einen heimlichen Besuch bei einer Frau, einer italienischen oder polnischen Prostituierten. Wie entsetzlich! Was hätten meine deutschnationalen Eltern wohl davon gehalten? Thomas sagte mir, ich hätte mich in dieser Nacht ganz wie ein Tier aufgeführt. Aber höchstwahrscheinlich waren das bloß Worte. Und wäre ich Dionysos gewesen, wäre alles, was ich von der Orgie hätte vorzeigen können, ein Kater, der in meinem vom Wein durchweichten Schädel herumtobte. Doch wen interessierte es? Ich war an der Wiener Akademie der Bildenden Künste angenommen worden. Große Ereignisse lagen vor mir.
Dem Muttersöhnchen hingegen war es viel schlechter als mir ergangen. Er fiel in der Aufnahmeprüfung durch. Zweimal.
Das musste für den kleinen Spinner eine bittere Pille gewesen sein. In Linz hatte er sich sich immer eingebildet, er wäre der begabteste Künstler unserer Klasse.
Ich wohnte in der Stumpergasse 33 nahe dem Westbahnhof in einem kleinen gemieteten Zimmer in der zweiten Etage.
Thomas teilte dieses Zimmer mit mir.
Er war mit mir von Linz gekommen, wollte aber Architektur studieren. Ein gutaussehender Kerl mit einem ehrlichen, offenen Gesicht. Gerade Zähne. Blondes Haar. Das Hohenzollernsche Ideal eines jungen Mannes. Ein Jahr jünger als ich, aber auf Grund seiner Fähigkeiten, seines moralischen Charakters und seiner Disziplin in derselben Klasse. Ich kann mich nicht entsinnen, dass Thomas in irgendeinem seiner Fächer weniger als ›befriedigend‹ erhielt, obwohl ein Lehrer das gelegentlich hitzige Wesen des Jungen bemerkte und davor warnte – ebenso wie seine Schwäche dafür, das Muttersöhnchen aufzuziehen.
Das Haus Nummer 33 war groß, alt und feucht, eine braune bauliche Fehlkonstruktion aus Ziegeln und Mörtel, erbaut in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, mit Fenstern, von denen die Farbe abblätterte, steilen Stiegen und Holzböden, die beim Auftreten jämmerlich knarrten.
Im Gegensatz dazu hatten die Zimmer, glaube ich, früher eher als Besenschränke oder Hundehütten gedient. Tatsächlich schien es so, als ob ich mit meinen ausgestreckten Händen die sich gegenüberliegenden Wände beinahe berühren konnte.
Das Beste, was man über das Haus sagen konnte, war, dass es ziemlich nahe bei der Akademie gelegen und das Viertel nicht ganz verfallen war. Es war eine enttäuschende erste Begegnung mit Wien; darauf war ich nicht gefasst, auf diese klamme, schimmlige Unterseite der Kaiserstadt.
Doch auch auf die sich drängenden Menschenmassen, die ich erblickte, war ich nicht vorbereitet, oder die belebten Straßen, in denen ich oft kaum ein Wort Deutsch hörte, stattdessen aber die eigenartigen Dialekte östlicher und südlicher Völker. Polen und Ungarn. Italiener und Slowaken. Kroaten und Slowenen. Aus Russland vor den Pogromen geflüchtete orthodoxe Ostjuden. Dämmerig-dunkle Haut, dunkles Haar, braune Augen. Eindringlinge aus dem Mittelalter, die es jetzt zufrieden waren, die Kaffeehäuser heimzusuchen. Rabbiner, in endlosen Schachpartien gefangen. Alles, was fremd und exotisch, alles, was leidenschaftlich und lebendig war, fand sich hier in Wien. Im Vergleich dazu wirkte Linz unfruchtbar und tot. Ich verliebte mich immer wieder aufs Neue. Wieder und wieder, bei jeder Überquerung einer Straße verlor ich mein Herz.
In jenen ersten Herbsttagen streiften Thomas und ich weit in dieser riesigen, unwahrscheinlichen Stadt umher, von der Ringstraße zum grün und golden beschatteten Ausblick auf den Park von Schönbrunn. Wir sahen die Schwindel erregende Turmspitze des Stephandoms. Gingen in den phlegmatischen, imposanten, vom Himmel erhellten griechischen Tempel des Parlamentsgebäudes, dessen Mauern mit den herbstlichen Farbtönen des Pavanazzo-Marmors verkleidet waren und dessen Eingang auf beiden Seiten von Bildnissen der Götter flankiert wurde. Die weise Athena, der Göttervater Zeus, der Schmied Hephaestos, der Meeresgott Poseidon, die Jägerin Artemis und zuletzt der schreckliche, mitleidlose Ares, der Zerstörer.
Wie passend, dass ich hier, in dieser großen, wenn auch sterbenden Stadt den Gott des Krieges entdeckte, wo sich die Sturmwolken sammeln und am Horizont aufziehen, wie angemessen – wie klassisch –, inmitten einer bevorstehenden Tragödie.
Höchst amüsant und zugleich doch entsetzlich war es dann, den Gegensatz zu dieser Erhabenheit zu erblicken, den die komische Oper einer Parlamentstagung vermittelte.
Was für ein Zirkus! Welch ein Basar! Gott weiß, wie viele Staatsmänner und Bürger, Beamte und Abgeordnete sich dort aufhielten und darum kämpften, sich über den allgemeinen Lärm hinweg Gehör zu verschaffen. Man hörte Geschrei, Proklamationen, wütende Denunziationen, Aufrufe zur Ruhe, das heftige Klopfen des Hammers.
Hin und wieder trat Ruhe ein und Fragen wurden erörtert.