Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Vielleicht geht es Ihnen wie Tina, die in ihren 30ern schon eine Scheidung hinter sich hat. Das ist für viele traditionelle Christen einfach nicht mit dem Glauben zu vereinbaren. Vielleicht bekommen Sie von allen Seiten Moralpredigten oder erfahren Ablehnung. In diesem Buch ermutigt die Autorin dazu, sich einen Weg durch den Schmerz zu bahnen und sich von Gott zeigen zu lassen, was eigentlich seine Vorstellungen sind. Sind Sie bereit für einen Prozess des Herzens, durch den Sie Ihre Glaubensfundamente neu aufbauen dürfen? Tina ist eine Frau in den 30ern, kreativ, voller Elan, hat Mann und Kind. Und sie liebt Gott. Erst auf den zweiten Blick merkt man: Ihre Biografie hat einen Bruch. Ihr Mann ist nicht ihr erster. Nach junger Ehe und Scheidung hat sie ihre Vorstellung stark ändern müssen: darüber, wer Gott ist und wie er sich das mit Mann und Frau gedacht hat. Es hat sie viel gekostet, Schmerz vor allem. Aber auch Mut, sich mit ihrem Gottesbild auseinanderzusetzen. Und Kraft, sich eigenen Veränderungsprozessen zu stellen. In ihrem Buch ermutigt sie Menschen hinzusehen, warum der Lebens- und Glaubensplan nicht aufging. Und motiviert zu eigenen konkreten Schritten - hin zu dem Gott, der menschenfreundlich ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 348
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
CHRISTINE POPPE (Jg. 1989) lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Großraum Hannover. Sie arbeitet als Coachin und spezialisiert sich auf Traumasensibilität. Sie ist in einer Gemeinde mit engen moralischen Vorstellungen aufgewachsen, fand dann zu einem erneuerten Glauben an Gott, der sie hält, ohne sie einzuengen. Digital und persönlich teilt sie ihr Leben und ihren Glauben mit Menschen, die einen ähnlichen Weg gehen.
www.christinepoppe.com
Sich selbst wiederfinden, wenn man sich verloren hat
Christine ist eine Frau in den 30ern, kreativ, voller Elan, mit Mann und Kind. Und sie liebt Gott. Nach außen sieht alles perfekt aus. Erst auf den zweiten Blick merkt man: Ihre Biografie hat einen Bruch. Nach einer gescheiterten ersten Ehe hat sie viele sicher geglaubten Vorstellungen hinterfragen müssen. Darüber, wer Gott ist, und wie er sich das mit Frau und Mann gedacht hat. Es hat sie viel gekostet. Vor allem Mut, sich dem Schmerz, der Unsicherheit und den notwendigen Veränderungsprozessen zu stellen. Als sie mittendrin steckte, fühlte sie sich immer wieder einsam. Wenn es dir auch so geht, dann bleib nicht allein. Lass dich dazu ermutigen, neue Verbindung zu suchen: zu dir selbst, zu Gott, der voller Liebe zu dir spricht, und zu anderen Menschen.
»Christine traut sich, Rollenbilder und theologische Glaubenssätze zu hinterfragen. Die Antworten, die sie daraufhin findet, schenken Hoffnung. Denn Gott ist genau dort zu finden, wo wir oft nicht mit ihm gerechnet haben.«
PRISKA LACHMANNAutorin und Theologin | priskalachmann.de
SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-01002-2 (E-Book)
ISBN 978-3-417-01013-8 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2024 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de · E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel © der deutschen Ausgabe 2002 / 2006 / 2017
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen
Lektorat: Imke Früh
Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Holzgerlingen
Titelbild: resdikarawaty75 – freepik
Autorenfoto: © Philipp Poppe
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Für mein jüngeres Ich,das zu jeder Zeit sein Bestes gegeben hat.Und für alle mit gebrochenem Herzen,die so mutig sind, wieder aufzustehenund ihrer Sehnsucht nach Verbindung zu folgen.
Wieder aufrecht leben – Einleitung
TEIL 1 Wie ich versuchte, mich selbst zu zähmen – und kläglich daran scheiterte
1. Kann sich ein Mensch ändern?
2. Wie konnte es nur so weit kommen?
3. Bis dass der Tod euch scheidet
4. Bibelverständnis und Auswirkungen auf unseren Lebensstil
5. Ehe, Liebe und Gefühle heute
6. Wenn nicht so, wie dann?
TEIL 2 Wie ich mutig damit aufhörte, mich selbst zu zähmen
1. Exodus
2. In der Wüste findest du heraus, wer du bist und wer nicht
3. Schuld und Vergebung
4. Das gelobte Land finden – Therapie und Spiritualität
5. Grenzen, Gefühle und Verantwortung
6. Sich neu auf Beziehungen einlassen
7. Konflikte und ihr Potenzial
8. Herzenswünsche und unsere Vorstellungskraft
Lass dich ermutigen – Abschlussworte
Dank
Was mich in dieser Zeit inspiriert hat – Lektüreliste
Anmerkungen
Mein Traum für dieses Buch ist, dass du dich weniger allein fühlst, wenn du es liest. Ich hoffe, dass du dich wiederfindest in den Geschichten und dass sich ein Selbstmitgefühl bei dir einstellt. Ich hoffe, dass du dich selbst weniger verurteilst und dass du den Stimmen anderer, die sich verurteilend äußern, das Gewicht nehmen kannst. Ich hoffe, dass du dich gehalten fühlst in der Menge von Frauen und Männern, die etwas Ähnliches durchgemacht haben wie du. Ich hoffe, dass du deine ganz eigene Community gefunden hast oder noch findest, die dich trägt.
Ich träume von Gemeinschaften, und seien sie noch so klein, in denen Menschen einander mit Mitgefühl begegnen, anstatt sich gegenseitig zu verurteilen. In denen wir uns die Hand reichen, anstatt einander in den Rücken zu fallen. In denen wir gehalten werden, wenn wir das Gefühl haben zu fallen. Und in denen Liebe über Regeln steht und Wertschätzung über Versagen.
Wenn du zu diesem Buch gegriffen hast, obwohl du nicht selbst betroffen bist, dann bete ich, dass du dich berühren lässt von den Geschichten, die ich teile, und dass du diesen Traum mit wahr werden lässt, da, wo du bist.
Dieser Traum kommt nicht von ungefähr. Denn in den dunkelsten Zeiten meines Lebens fühlte ich mich zutiefst einsam. Und diese Einsamkeit war noch schlimmer als all das Furchtbare, was tatsächlich passiert war. So möchte ich mich nie wieder fühlen. Und ich möchte auch nicht, dass andere sich so fühlen. Deswegen schreibe ich dieses Buch.
Mein Wunsch ist es, dass du dich gesehen und verstanden fühlst. Weil du in den Geschichten, die ich in diesem Buch teile, dich mit deiner Geschichte und deinem Schmerz wiederfinden kannst. Vielleicht entdeckst du darin auch Worte für deine eigene Geschichte. Dann kannst du sie vertrauenswürdigen Menschen erzählen, die mit Empathie reagieren können. Und du erlebst, wie es ist, emotional gehalten zu werden. Es würde mich tief berühren und ehren, wenn es so wäre.
In der Traumatheorie heißt es, dass die Verarbeitung eines Ereignisses stattfindet, wenn wir es von Anfang bis Ende in Worte gekleidet haben. Beim Erzählen der Geschichte setzt die Verarbeitung ein. Während wir erzählen und verarbeiten, nimmt sie Form und Gestalt an. Sie verändert sich. Im besten Fall geben wir ihr einen Sinn. Die Frage nach dem »Warum ist mir das passiert?« beruhigt sich in uns und wir finden zu dem »Wofür kann ich das, was ich im Laufe der Verarbeitung gelernt habe, sinnvoll einsetzen?«. Damit nehmen wir unsere Geschichte in Besitz. Anstatt zu versuchen, sie loszuwerden – im Sinne von verdrängen und vergessen –, integrieren wir sie in unser Selbstbild, und so werden wir Herr über sie und entscheiden, wie wir ihren weiteren Verlauf gestalten wollen. Meine Geschichte soll eine Einladung sein, die dir Mut macht, den Schatz zu bergen, der trotz des Schmerzes in dir liegt. Eine Einladung, dich zu bewegen – trotz der Angst, die dich vielleicht lähmt – und damit deiner ganz eigenen, gottgegebenen Bestimmung zu folgen.
Ich möchte mit dir teilen, wie ich wieder zu mir selbst, zu einem neuen Glauben an einen guten Gott und zu anderen Menschen gefunden habe. Wie ich immer mehr dazulernte – und bis heute lerne –, gesunde und erfüllende Beziehungen mit meinen Mitmenschen zu führen. Und wie ich dadurch immer weiter heilen konnte – und kann.
Ich möchte mit dir schmerzhafte, unbequeme Begebenheiten aus meinem Leben teilen, in denen du nicht nur mich und meine Geschichte siehst, sondern vielleicht auch dich selbst wiedererkennen kannst. Diese Geschichte muss wahr sein in dem Sinne, dass du dich selbst und deine Wahrheit darin erkennen kannst. Deswegen erzähle ich nicht nur meine Geschichte, sondern auch Teile der Geschichten von 42 Frauen und Männern, die ich für dieses Buch interviewt habe.
Dreißig Frauen und zwölf Männern habe ich die gleichen Fragen gestellt, um herauszufinden, wie es jeweils zu ihrer Ehe kam, was die Herausforderungen waren und was ihnen geholfen hat oder auch nicht. Ich wollte wissen, was in ihnen vorging in der Zeit, bevor, während und nachdem sie sich getrennt hatten. Wie reagierte das Umfeld? Was war hilfreich und was nicht? Wie leben sie heute in ihrer neuen Beziehung, wenn sie eine haben, und wie gehen sie mit Herausforderungen in der Partnerschaft um? Was würden sie Menschen raten, die selbst vor einer Trennung stehen? Worum würden sie die Angehörigen dieser Menschen bitten?
Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich alle Namen meiner Interviewpartner in meinen Erzählungen verändert und Details in den Geschichten so modelliert, dass die Identität dieser Personen geschützt bleibt. Die Geschichten waren in den Details sehr unterschiedlich, und gleichzeitig eint sie die Erfahrung von Schmerz, Verlust und dem Weg zurück in ein gutes Leben mit Hoffnung und Glauben an einen guten Gott.
Sicher werde ich deine Geschichte nicht im Detail treffen, aber ich hoffe, dass du dich in manchem dennoch wiederfindest, dich gesehen und verbunden fühlst und neue Hoffnung für deine eigene Situation bekommst.
Wovon ich träume, sind Gemeinschaften, und seien sie noch so klein, in denen Menschen Mitgefühl erfahren, wenn sie durch eine Trennung gehen – aus welchen Gründen auch immer diese Trennung zustande kommt –, ohne dass gefragt wird, wer »schuld« ist. Denn mit der Schuldfrage wird letztlich nur versucht, eine Legitimation für die Trennung im Fehlverhalten einer einzelnen Person suchen. Unsere Gemeinschaften könnten sichere Orte werden für uns alle, egal, durch welche Krisen oder Verluste wir durchmüssen. Früher oder später erleben wir alle Dinge, die unsere eigene Verarbeitungskapazität übersteigen und in denen wir andere Menschen brauchen, die uns durch diese Zeit tragen. Mögen wir Räume schaffen, in denen es sicher ist, Fehler zuzugeben, die uns schmerzlich bewusst werden. In so einem niederschmetternden Moment brauchen wir keine Zurechtweisung, keine Moralpredigt und auch nicht die Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.
Wir brauchen einander. Wir brauchen eine demütige Haltung, in dem Wissen, dass wir selbst ebenfalls nicht perfekt sind. Und gleichzeitig brauchen wir das Bewusstsein, dass unsere gottgegebene Würde nicht davon abhängt, was wir falsch gemacht haben, was uns passiert ist oder wie wir verletzt worden sind. Denn nur so können wir mit aufrechter Haltung durchs Leben gehen und anderen auf eine Weise begegnen, die hilft, auch ihre Schultern ein wenig aus der Krümmung ihres Traumas aufzurichten. Wir brauchen die Erinnerung, dass wir Kinder des Lichts sind, die zeitweise im Dunkeln wandeln. Neben der Dunkelheit, die auf die eine oder andere Weise in uns allen ist, gibt es auch Licht. Es wird heller und größer, wenn wir uns gegenseitig daran erinnern, dass es da ist.
Im ersten Teil des Buches schreibe ich über Dinge, die dazu führen können, dass die Dunkelheit die Oberhand gewinnt – ob nun in uns oder in unseren Beziehungen. Über Theologie, Idealvorstellungen und falsche Erwartungen – Dinge, die bei vielen der Betroffenen zu Herausforderungen in ihren Ehen und zu Problemen bei der Trennung geführt haben.
Im zweiten Teil findest du, nach einem kurzen Moment der totalen Dunkelheit, das Licht wieder, kannst beobachten, wie es in mir durch Therapie, gelebte Spiritualität und die Hilfe anderer Menschen wieder größer und heller wurde. Vielleicht kannst du dich dadurch an das Licht in deinem Innern erinnert fühlen. Ich wünsche dir, dass deine Haltung aufrechter wird und dein Herz weicher und empfänglicher für all das Schöne, das hier und jetzt passiert und in der Zukunft auf dich wartet.
»Jetzt mal ganz ehrlich. Können Sie mir sagen, ich meine … ist es möglich, dass ein Mensch sich ändert?«
Mein Blick durchbohrte Camila, die christliche Beraterin, die mir gegenübersaß. Ich wollte es wirklich wissen. Alles hing davon ab.
Ich saß auf einem bequemen Sessel gegenüber dieser gelassenen und freundlichen Frau mit spanischem Akzent, die mir scheinbar wirklich helfen wollte. Und dabei so lebenslustig und unbekümmert wirkte. Wie konnte sie das nur sein? Ich fühlte mich gerade so gar nicht nach Leben.
Ihr Blick war offen, und sie schien meine Situation auf eine angenehme Weise nicht allzu ernst zu nehmen. Ich fragte mich, wie sie es schaffte, so locker und gelassen zu sein. So lebendig. Ihre kurzen, schwarzen Haare wirkten irgendwie frech, und wenn sie lachte, warf sie den Kopf zurück, und ihre Augen leuchteten. Wenn es ernster wurde, sah sie mich an mit einem Blick, der sagte: »Ja, ich verstehe. Das macht absolut Sinn, dass du so fühlst«, ohne dass sie dabei dramatisch wurde. Das gefiel mir.
Es war mein zweiter Termin bei Camila. Sie hatte mein Vertrauen bereits gewonnen, als ich das erste Mal bei ihr gewesen war – damals zusammen mit meinem Noch-Ehemann. Nachdem ich ausgezogen war, hatte er darauf bestanden, dass wir gemeinsam eine Therapie machten. Jahrelang hatte ich alles versucht, und jetzt, als ich die Reißleine gezogen hatte, wollte er mich nicht gehen lassen.
Als wir dann gemeinsam bei Camila saßen, war ich wütend und fühlte mich nicht gehört. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben. Und nun sollten wir Camila erklären, was unser Auftrag an sie war. Es schien mir, dass nicht klar war, wie hoffnungslos die Situation und wie verzweifelt ich in dieser Beziehung war, und so tickte ich aus. Ich weiß gar nicht mehr, was genau ich sagte, ich erinnere mich nur, dass ich zum Ende meiner Rede schrie. Die Therapeutin sollte einfach verstehen, dass diese Beziehung völlig hoffnungslos war und ich in keinster Weise kooperativ sein würde. Ich wollte einfach nur die Trennung. Und ich wollte, dass mir eine Autoritätsperson bestätigte, dass ich diese Trennung vollziehen durfte. Es war mir egal, ob sie dabei feststellte, dass ich allein schuld am Scheitern dieser Ehe war. Hauptsache, ich musste nicht zurück in diese aussichtslose Situation.
Aber den Gefallen tat Camila mir nicht. Von meinem Verhalten ließ sie sich weder einschüchtern noch hinreißen und gab mir gleichzeitig das Gefühl, ernst genommen zu werden. Sie schlug vor, die kommenden Sitzungen getrennt zu gestalten. Scheinbar konnte sie mit mir und allem, was ich mitbrachte, umgehen. Ich war ihr nicht zu viel. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich einen Menschen, der mich und meine Emotionen aushalten konnte und keine Erwartungen an mich hegte.
Und so saß ich ihr in meiner ersten Einzelstunde gegenüber und stellte die Frage, ob ein Mensch sich ändern kann.
Für mich war klar: Wenn nein, dann ist diese Therapie sinnlos. Denn dann würde sich der Mann, mit dem ich zu diesem Zeitpunkt verheiratet war, ja nicht ändern. Und ich würde es auch nicht tun. Dann könnten wir direkt die Flinte ins Korn werfen. Denn wir hätten aus meiner Sicht alles versucht – ohne Erfolg.
Für mich bestand der einzige Ausweg darin, dass einer von uns sich dem anderen anpasste, also so werden musste, wie der andere ihn haben wollte. Nur dann würde es klappen. Doch es widerstrebte mir völlig, mich noch mehr zu verändern. Nicht, weil es zu anstrengend gewesen wäre – vor Arbeit hatte ich mich nie gescheut –, sondern weil ich bereits alles Mögliche an mir geändert hatte und mir selbst dabei immer fremder geworden war. Ich hatte Dingen zugestimmt, die ich eigentlich nicht wollte, wie zum Beispiel ein Haus zu kaufen, weil ich glaubte, dass mein Mann dann glücklicher sein würde.
Es fing mit kleinen Dingen an: meiner Garderobe, mit wem wir uns trafen, ob wir überhaupt Leute trafen. Irgendwann war ich nur noch allein unterwegs. Und ich musste abends früher zu Hause sein, als mir lieb war. Langsam und für mich fast unmerklich veränderte sich auch das, was ich über mich dachte. Ich fing an zu glauben, nicht liebenswert zu sein und als Frau anders sein zu müssen. Ruhiger, zurückhaltender, am besten schüchtern bis unsicher. Ich sollte auch keine Meinung zu irgendwelchen Themen in der Welt oder zu anderen Menschen haben, mich anpassen und nirgendwo anecken. Keine Ansprüche stellen.
Stück für Stück passte ich mich an, wie ich nur konnte, und hoffte, dass er dadurch glücklicher werden, mich lieben würde. Doch es half nichts. Im Gegenteil. Und auch ich selbst wurde dadurch noch unglücklicher. Ich entfernte mich immer weiter von mir selbst und merkte es erst, als kaum noch etwas von mir übrig war.
Schließlich hat etwas in mir die Reißleine gezogen. Ich konnte mich nicht noch mehr verbiegen. Wirklich nicht. Sonst würde ich mich noch mehr verlieren, als ich es ohnehin schon getan hatte. Ich war an mein Äußerstes gegangen und wollte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn ich noch weiter ginge. Und von meinem Mann konnte ich auch keine Veränderung fordern. Denn dann würde er sich ja genauso fühlen wie ich mich jetzt.
Und dann war da ja noch die Sache mit Gott …
»Du kannst den andern nicht ändern. Du musst an dir arbeiten«, hatte eine gut meinende Frau in der Gemeinde zu mir gesagt.
Genau das hatte ich versucht. Wirklich. Jahrelang hatte ich mich bemüht, dem zu entsprechen, was mein Mann wollte. Und was Gott nach der Meinung meines Umfelds wollte. Ich hatte meine Bedürfnisse verleugnet und mich angepasst. Wieso hatte es trotzdem nicht funktioniert? Weil ich etwas Grundlegendes falsch verstanden hatte. Es ging um Veränderung. Und es ging um mich. Aber anders, als ich immer gedacht hatte. Das wurde mir aber erst allmählich während meiner Therapie bei Camila klar.
Als ich Camila fragte, ob es möglich sei, sich zu ändern, reagierte sie etwas zögerlich: »Ja, grundsätzlich schon. Wenn man wirklich will und an sich arbeitet. Man kann aber nur sich selbst ändern. Nicht den Partner.«
Okay. Scheinbar sagen das alle. Und scheinbar funktioniert es für mich nicht. Denn für mich hatte dieser Ansatz bis dahin alles nur schlimmer gemacht. Je mehr ich mich bemüht hatte, umso mehr waren wir auseinandergedriftet und umso weniger wusste ich noch, wer ich war. Was hatte ich bloß falsch verstanden?
»Was genau bedeutet dieser Satz? Ist diese Ehe nun zu retten oder nicht?« Ich wollte es wissen, also ließ ich mich auf den Prozess ein und hoffte, dass es helfen würde. Und es half auch. Kurzzeitig.
Am Ende haben wir uns doch getrennt. Die Veränderungen, die wir versucht hatten umzusetzen, blieben nicht langfristig bestehen.
Ein paar Jahre später saß ich in einem Vorlesungssaal mit vierzig anderen Studenten und hörte mir eine Vorlesung zu Differentieller Psychologie an. Dabei lernte ich: Den Kern unserer Persönlichkeit können wir nicht ändern. Das, was wir sind, das, was uns ausmacht, unsere ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmale, unsere Werte und unsere Geschichte, sind so tief in uns verankert, dass es nicht möglich ist, diese zu ändern.
Inzwischen denke ich, dass Gott uns nicht so einmalig geschaffen hat, nur damit wir uns verbiegen. Ich glaube, der Zweck unserer Existenz ist, dass wir immer mehr von dem ablegen, was uns davon abhält, authentisch und echt wir selbst zu sein und damit die Auswirkung auf unser Umfeld zu haben, für die Gott uns geschaffen hat. Deswegen fühlen wir uns auch nur geliebt, wenn wir so, wie wir sind, gesehen und angenommen werden. Ich bin überzeugt: So hat Gott sich das vorgestellt!
Deswegen müssen wir nicht an uns arbeiten, um so zu werden, wie der andere es sich wünscht. Wir dürfen erkennen, dass wir so, wie wir sind, von Gott geschaffen wurden, um in dieser Zeit, in der Familie, in die wir geboren wurden, in dem Kontext, in dem wir stehen, mit unseren Gaben und unseren Ecken und Kanten in die Welt zu bringen, was wir zu geben haben. Damit wir sie verändern. Nicht, damit wir uns ihr anpassen.
Was können wir tun, und worin liegt die Hoffnung für eine gelingende Partnerschaft, ja für ein gelingendes Leben? Ich denke, wir können zuallererst anfangen hinzusehen. Können uns sehen. Den anderen sehen. Hinter das oberflächliche Verhalten blicken. Unsere Verletzungen anschauen. Sie annehmen und heilen lassen, sodass sich das daraus resultierende dysfunktionale Verhalten langsam ändern kann.
Meiner Erfahrung nach braucht es extrem viel Energie, wenn wir versuchen, ein Verhalten zu ändern, das aus einer Wunde stammt, ohne sie vorher heilen zu lassen. Und es führt letztlich nicht zum Ziel. Denn wenn diese Wunde nicht richtig heilt, dann reißt sie ständig wieder auf, eitert und führt immer dann, wenn wir uns nicht mehr unter Kontrolle haben, zu einem Verhalten, das uns von uns selbst und von anderen entfernt. Manche glauben, der richtige Weg sei es, zu lernen sich zu kontrollieren. Aber das funktioniert nur so lange, wie deine Kraft dafür ausreicht. Und für mich passt es auch nicht zu Jesu Aussage: »Die Last, die ich euch auflege, ist leicht« (vgl. Matthäus 11,30). Ich denke, Jesus möchte nicht, dass wir mit viel Anstrengung unsere Wunden und ihre Auswirkungen verbergen, sondern er wünscht sich, dass unsere Verletzungen in einem liebevollen, weichen, warmen Licht zum Vorschein kommen und dort heilen können.
Für mich war es so wertvoll, diese Wunden heilen zu lassen. Und ich bin überzeugt davon, dass Heilung nicht nur wichtig ist, damit unsere Ehen bestehen bleiben oder (wieder) besser werden. Nein, sie ist wichtig, weil unsere Herzen es wert sind zu heilen. Wirklich geliebt zu werden. Nicht nur von jemand anderem, sondern auch von uns selbst. Denn da ist einer, der sagt: »Du bist es wert.« Schon jetzt. In genau der Version deiner selbst, wie sie momentan ist. In deiner Verletzung, deiner Angst, deiner Schuld und Scham, deinem Schmerz will er dich halten. Da, wo Menschen dich nicht halten können. Da, wo du selbst es nicht einmal schaffst, dich auszuhalten. Da hält er dich.
Jesus sieht deinen Schmerz und möchte deine Wunden verbinden. Du musst nichts dafür tun. Du brauchst dich nicht anstrengen, dir nicht noch mehr Mühe geben und dich nicht noch mehr aufgeben. Du musst dich nicht zusammenreißen. Weniger anstrengend sein. Oder sonst noch etwas tun, was dir andere über dich eingeredet haben.
Du darfst dich fallen lassen, alles zulassen. Deine Wut. Deinen Ärger. Sogar deinen Hass. Du kannst all diese Gefühle mit Jesus verbinden, und er wird dir helfen, in Aktion zu treten und die Dinge umzusetzen, die nötig sind, um dich zu heilen. Er versteht dich. Jede deiner Emotionen. Er verurteilt dich nicht. Er sieht deinen Schmerz. Und er sieht dich hinter deinem Schmerz. Das, was du in deinem Kern bist. Er sieht dich. Und er wünscht sich, dass dein Innerstes zur Ruhe kommt. Er sehnt sich danach, dass du aus dieser Ruhe heraus aufblühen kannst.
Aber dazu später mehr. Bleiben wir noch ein bisschen bei einer wichtigen Frage …
Meine Mutter wollte eigentlich eine Ausbildung machen, nachdem sie im Mai 1988 mit ihrem Mann und vier Kindern nach Deutschland gekommen war. Doch dann kündigte ich mich an. Und nicht ganz zwei Jahre nach mir kam mein kleiner Bruder. Wir brachten alles durcheinander.
Die russlanddeutsche Christengemeinde, der sich meine Eltern angeschlossen hatten, gab strenge Bekleidungsregeln für Frauen und Mädchen vor. Als ich in die zweite Klasse kam, zogen wir in eine Gegend, in der viele aus dieser Kirche wohnten. Ich musste ab sofort mit Röcken in die Schule gehen und durfte meine Haare nicht offen tragen.
Ich habe es gehasst. Und nicht verstanden. Vor allem habe ich nicht verstanden, warum auf einmal niemand in meiner Klasse mit mir spielen wollte. Nur ein einziges Mal wurde ich zu einem Geburtstag eingeladen – und das auch nur sehr widerwillig. Ich glaube, ihre Mutter hatte meine Klassenkameradin dazu gezwungen, weil ich ihr leidtat. Aber ich durfte sowieso nicht hingehen. Mit Ungläubigen sollte ich nicht befreundet sein. »Wer weiß, wohin das führt. Vor allem bei Mädchen!«, schien die Devise. »Am Ende werden sie schwanger, und dann haben wir den Salat.« So zumindest kam es bei mir an.
Vielleicht war ich sensibler als meine Cousinen und damaligen Freundinnen aus der Kirche, die aufgrund ihrer Klamotten scheinbar keine Herausforderungen in der Schule hatten. Ich durfte mir jedenfalls anhören, dass keine sich beschwerte und nur ich mal wieder Probleme machte. Mein Fazit: »Mit mir stimmt etwas nicht.« Ich lernte, meine eigene Wahrnehmung nicht ernst zu nehmen und mich mehr zu hinterfragen als andere. Und zu glauben, dass es zwecklos war, um Unterstützung oder Hilfe zu bitten. Ich musste selbst klarkommen.
Meine Lernfähigkeit und das Feedback der Lehrer verschlechterten sich drastisch ab dem Zeitpunkt unseres Umzugs. Ich hatte ständig Bauchweh und wollte nicht in die Schule. Keiner hinterfragte, woran das lag.
Es gab viele Gründe, einer davon war diese Situation auf dem Schulhof. Ein Junge riss mir vor versammelter Mannschaft den Rock runter. Was er parallel dazu rief, erinnere ich nicht mehr. Nur die Scham über das, was da passiert war, blieb sehr lange. Und die Wut. Ich glaube, ich habe ihn verprügelt. Aber vielleicht war das auch eine andere Situation mit einem anderen Jungen. Jedenfalls war ich rasend vor Wut, und die Jungs hatten anschließend Angst vor mir. Mehr Freunde brachte mir das aber nicht ein.
Vielleicht lag es auch an anderen Erlebnissen – auf die ich hier nicht im Detail eingehen möchte –, die so schrecklich und unfassbar waren, dass sie mich sprachlos machten. Ausgerechnet mich. Das Kind, das sonst nie aufhörte zu reden, das vor Energie sprudelte und wie ein Wirbelwind alles durcheinanderbrachte. Aber über manche Dinge konnte ich einfach nicht sprechen. Und so zog ich mich immer mehr in mich zurück. Las sogar Bücher im Unterricht und verpasste in der ganzen Grundschule den Matheunterricht.
Eine hohe Mauer schützte spätestens ab diesem Zeitpunkt mein Innerstes davor zu zerbrechen. Aber sie sorgte auch dafür, dass ich selbst kaum Zugang zu diesem Inneren hatte. Ich schwor mir, dass die schrecklichen Dinge, die ich erlebt hatte, nicht mein Leben bestimmen sollten und dass ich trotzdem glücklich werden würde.
Gott sei Dank änderte sich mein Leben, als ich in die siebte Klasse kam. Auf einmal war ich nicht mehr die Exotin. Nicht mehr das einzige Kind mit Migrationshintergrund und damit auch nicht mehr die Einzige, die nichts durfte – vor allem keinen Freund haben. Die Mehrheit meiner Mitschüler hatte einen Migrationshintergrund, und insbesondere die Eltern meiner muslimischen Mitschüler hatten ähnlich strenge Regeln für ihre Töchter wie meine Eltern für mich. Die meisten Deutschrussen kannten aus ihrem weiteren Familien- oder Bekanntenkreis auch andere »Baptisten«. Unter diesem Begriff wurden diverse christliche Gruppen mit russlanddeutschem Hintergrund zusammengefasst, als deren Erkennungsmerkmal es galt, dass Mädchen nie Hosen trugen, sondern immer nur Röcke. Somit war es für die Deutschrussen weniger befremdlich, dass ich nur Röcke trug. Wir waren alle »anders« und akzeptierten uns gegenseitig, auch wenn wir im Detail mit unterschiedlichen Herausforderungen zu kämpfen hatten. Was uns einte, war, dass unsere Eltern in einer anderen Welt aufgewachsen waren als wir und die Welt, in der wir lebten, nicht verstanden. Sie wollten, dass wir ihre Welt bewahrten und gleichzeitig in der neuen, anderen Welt bestehen würden – am besten sollten wir sehr erfolgreich werden, uns aber gleichzeitig nicht zu sehr anpassen. Wir erlebten alle ein ähnliches Dilemma. Für manche kamen noch andere Themen hinzu, wie die Diskriminierung durch Lehrer.
An dieser Schule hat mich niemals jemand dafür aufgezogen, welche Klamotten ich trug. Ich hatte Freunde. Erstaunt und fast ungläubig stellte ich fest, dass ich beliebt war, ja sogar zur Klassensprecherin gewählt wurde. Meine Noten drehten sich komplett. Ich wurde eine der Klassenbesten. Meine Klassenlehrerin lobte mich vor meiner Mutter in der Elternsprechstunde. Meine Welt stand kopf. Und das alles nur, weil ich mich wohlfühlte in dieser Umgebung. Weil ich mich zugehörig fühlte. Weil ich gesehen wurde. Ich wurde sicherer in meinem Auftreten. Jungs verliebten sich in mich. Ich konnte es nicht glauben: Was für ein Gefühl, gesehen zu werden!
Gleichzeitig verstand ich zu dem Zeitpunkt, was ich tun musste, damit meine Eltern stolz auf mich waren. Als die Cousine meines Vaters einmal zu Besuch kam, war sie ganz erstaunt, dass ich meiner Mutter in der Küche half und mich mit ihr lang und breit unterhielt. Sie berichtete, dass ihre Teenagerkinder kein Wort mit ihr sprachen. Mit stolzgeschwellter Brust und in dem Glauben, eben ein besonders guter Mensch zu sein, goss ich ihr zuvorkommend den Tee ein, fragte, ob sie noch etwas brauchte, und verabschiedete mich dann. Charmant konnte ich.
Irgendwann hatte ich unbewusst gelernt, dass mich die Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bestätigung von außen glücklich machten. Und irgendwie fühlte ich mich auch selbstsicher dadurch. Nur war es keine echte Selbstsicherheit. Denn sie gründete sich ja nicht darauf, wer oder wie ich wirklich war, sondern nur darauf, wie andere mich beurteilten. Es war eine Scheinlösung. Später in meinem Leben war ich bereit, für diese äußere Bestätigung viel mehr zu geben, als ich zu geben hatte.
In meiner ersten festen Beziehung klammerte ich sehr. Ich wollte meinen Freund jede freie Minute um mich haben. Konnte kaum ohne ihn sein. Nach zwei Jahren beendete ich die Beziehung trotzdem. Wir waren in der gleichen Gemeinde aufgewachsen, und ich wollte sie verlassen. Er nicht. Meine Gründe konnte ich mit ihm nicht teilen. Ich konnte sie mit niemandem teilen.
Mit neunzehn Jahren verließ ich die Kirche mit den strengen Bekleidungsvorschriften, in der ich aufgewachsen war, und ging von da an in etwas freier anmutende Gemeinden. Die Klamotten waren dort hipper, die Musik war cooler, aber inhaltlich war es nicht viel anders als da, wo ich herkam. Männer hatten das Sagen, Frauen hatten sich anzupassen, auch wenn sie auf der Bühne gut aussehen durften. Die entscheidenden Dinge wurden ohne Frauen entschieden. Es herrschten ähnlich enge Moralvorstellungen wie in meiner früheren Gemeinde, nur gab es zumindest keine öffentliche Bloßstellung, wenn jemand sie nicht einhielt.
Mit zwanzig schlitterte ich in die nächste Beziehung, aus der zehn Monate später auch eine Ehe wurde. Nein, ich war nicht schwanger. Aber der Grund war neben der Verliebtheit vor allem einer: Wir durften auf keinen Fall vor der Eheschließung miteinander intim werden.
»Warum beendest du die Beziehung nicht?« Auf der Kante meines Bettes sitzend, mit Mitgefühl und zugleich Unverständnis im Gesicht, stellte meine Mutter mir diese Frage.
Ich war von einer Verabredung mit dem Mann zurückgekommen, mit dem ich mich einige Jahre später in der Therapie wiederfand. Meine Mutter hatte mich verzweifelt weinend vorgefunden und verstand nicht, wieso ich mich selbst so verletzte, indem ich zuließ, dass jemand so rücksichtslos mit mir umging. Ich konnte es ihr nicht erklären, spürte nur einen tiefen Schmerz in meiner Brust und fühlte mich nicht geliebt, nicht gesehen, nicht priorisiert. Und irgendwie glaubte ich, dass ich mich immer so fühlen würde, egal, mit wem ich zusammen sein würde. Dieser Schmerz fühlte sich an wie etwas, das ich schon lange wusste und das nun von ihm bestätigt wurde. Mein Ex-Freund hatte sich ja auch gegen mich und für die Gemeinde entschieden. Wahrscheinlich würde es nie jemanden geben, für den ich die erste Priorität sein würde.
Alles, was ich rauskriegte, war: »Das ist nicht meine erste Beziehung. Ich kann mich nicht schon wieder trennen. Es kann ja nicht immer nur an den anderen liegen. Scheinbar stimmt mit mir selbst etwas nicht.«
Meine Mutter wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Ihr ratloses Schweigen ließ die Ahnung in mir hochsteigen, dass ich recht hatte. Innerhalb der Gemeinde hatte ich von klein auf gehört, wie über andere Mädchen geredet wurde, die sich von ihrem Freund getrennt hatten – oder von denen sich ein Junge getrennt hatte. Es galt die Erwartung, dass man einen Jungen kurz kennenlernte, sich recht schnell verlobte und heiratete. Wenn sich jemand trennte, dann war das nicht nur ungewöhnlich, es ließ die Betroffenen und ihre Vertrauenswürdigkeit auch irgendwie fragwürdig erscheinen. Und obwohl meine Mutter mir immer gesagt hatte, dass ich mich bis zur Heirat jederzeit von einem Mann trennen könne, hatte ich angefangen, das selbst zu glauben: Wenn sich jemand einmal trennt, dann tut er das immer wieder.
Außerdem dachte ich, dass ich zu viel erwartete. Zu viel wollte. Dass ich es nicht verdiente, so geliebt zu werden, wie ich es brauchte. Und dass ich mich, wenn ich mich jetzt trennte, nur immer wieder neu verlieben und nach einer Enttäuschung trennen würde. Irgendwie glaubte ich nicht daran, dass es mit jemand anderem besser werden würde. Und so nahm ich mir vor, mehr zu beten und mir total viel Mühe zu geben, eine richtig gute Frau zu sein. Etwas in mir glaubte schon sehr lange, dass ich etwas dafür tun musste, um geliebt zu werden. Dass ich mich anstrengen musste. Zudem nahm ich an, dass ich mich nur deshalb nicht geliebt fühlte, weil wir ja nicht intim miteinander waren. Würden wir erst einmal verheiratet sein, dann dürften wir das ja endlich. Sein Verhalten würde sich ändern, ich würde mich geliebt fühlen. Alles würde gut werden. Ich hatte keine Ahnung, wie falsch ich mit dieser Annahme lag.
Heute habe ich so viel Mitgefühl mit dieser jüngeren Version meiner selbst. Ich möchte dieser zwanzigjährigen Tina sagen:
»Nein, das ist alles nicht wahr! Du bist liebenswert. Du musst nichts leisten oder dich anstrengen, um Liebe zu verdienen. Deine Wahrnehmung ist goldrichtig: Diese Beziehung läuft absolut falsch. Hör auf dein Bauchgefühl. Lauf! Selbst wenn die Hochzeit morgen wäre: Du kannst jederzeit die Reißleine ziehen und sagen, dass du das doch nicht möchtest. Egal, wie hoch die Kosten sind. Egal, wie viel du schon investiert hast. Wenn du jetzt weitergehst, wird der Preis nur immer höher werden. Du bist viel mehr wert als das alles.«
Leider hatte ich noch nicht gelernt, mich und mein Bauchgefühl ernst zu nehmen oder mit Liebe und Verständnis auf mich oder andere zu schauen. Mir wurde eher vermittelt, dass Gefühle trügerisch sind und wir uns nicht auf uns selbst verlassen dürfen. Strenge und Disziplin führen zu etwas. Andere, Erwachsene, Autoritäten sagen uns, wer wir sind, was wir tun sollen und wie wir ein gutes Leben führen können. Auch wenn ich mich äußerlich immer wieder dagegen aufbäumte, etwas in mir hatte sich so verunsichern lassen, dass ich es letztendlich selbst glaubte.
Ich hatte das Gefühl, niemanden zu haben, mit dem ich über meine Zweifel sprechen konnte. Dabei war ich Teil einer Gemeinde, einer Jugendgruppe, hatte Familie und Verwandtschaft und hundertachtzig Menschen, die ich wenig später zu meiner Hochzeit einlud. Ich bin mir sicher, viele dieser Menschen liebten mich und wünschten mir das Beste. Aber ich hatte zu niemandem so ein Vertrauen, dass ich über das sprechen konnte, was mich wirklich bewegte. Es fühlte sich an, als wären sie alle Zuschauer, die darüber urteilten, ob ich, die ich in der Arena stand und um mein Überleben kämpfte, es gut oder schlecht machte. Ob ich mich an die Regeln hielt und bei allem, was ich tat, gut aussah. Ich musste das Richtige tun. Und schon wieder eine Beziehung zu beenden, wäre nicht das Richtige.
Inzwischen weiß ich, dass das nicht nur meine Geschichte ist, sondern die von vielen. Von den 42 Menschen, die ich interviewt habe, die aus einem ähnlichen Kontext kommen wie ich, sahen fast alle einen bedeutenden Grund dafür, dass sie trotz Bedenken, Zweifeln und schlechten Vorzeichen so früh geheiratet hatten, darin, dass sie in sehr engen moralischen Denkmustern erzogen worden waren. Manche hatten geheiratet, weil sie vorehelich intim gewesen waren und mit dem Ausschluss aus ihrer Kirche hatten rechnen müssen, wenn das herausgekommen wäre. Sie hatten geheiratet, obwohl sie tief im Inneren wussten, dass sie ihr Gegenüber nicht liebten. Nach der Hochzeit blieben allerdings die Scham über den vorehelichen Geschlechtsverkehr und die Angst, deswegen in die Hölle zu kommen.
Eine Frau erzählte mir, dass sie geheiratet hatte, weil sie ihre Eltern finanziell entlasten und von der Sorge befreien wollte, was wohl aus ihr werden würde. Eine Tochter, die verheiratet ist, kann nicht mehr Schande über die Familie bringen, indem sie unehelich schwanger wird. Ein angeblicher Prophet hatte gesagt, dass sie einen bestimmten Mann heiraten sollte, für den sie nichts empfand. Sie gehorchte – es schien ja Gottes Wille zu sein – und betete ab sofort dafür, dass Gott ihr Liebe oder wenigstens Zuneigung für diesen Mann schenken würde. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was es mit der empfindsamen Seele dieser Frau gemacht haben muss, mit diesem Menschen intim sein zu müssen. Heirat hin oder her, das hat nichts mit freiwilliger Entscheidung zu tun.
Die Motivation hinter solchen Eheschließungen ist letztlich, dem ewigen Mantra der sogenannten »Purity Culture« treu zu bleiben: »Bleib rein, sei gut, gib dir mehr Mühe.« Doch dass diese Kultur auch sehr hässliche Auswirkungen haben kann, bekamen ich und viele andere am eigenen Leib zu spüren. Mir wurde von klein auf beigebracht, dass junge Menschen keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben sollen, also »rein« bleiben müssen. Vor allem Mädchen sollten darauf achten, sich nicht »unter Wert zu verkaufen«. Rein zu bleiben, schien über allem anderen zu stehen. Um diese Reinheit zu erreichen, sollten sich junge Paare am besten weder küssen noch intim berühren noch Zeit allein verbringen. Mir wurde vermittelt, dass in der Ehe dann die Sexualität wie ein Lichtschalter angeschaltet werden könne. Die Botschaft an die Männer lautete: »Deine Gedanken sind böse.« Und uns Frauen wurde vermittelt: »Dein Körper ist böse, und du bist verantwortlich für die Gedanken von Männern.«
Ein beliebtes Buch, das in meiner Teeniezeit die Runde machte, war Ungeküsst und doch kein Frosch von Joshua Harris. Der damals gerade einmal 21-jährige Autor hält in diesem Buch ein glühendes Plädoyer dafür, mit jeglicher Form der Intimität bis zur Ehe zu warten. Auch ohne dieses Buch wäre die Einstellung in meiner Gemeinde so gewesen, wie sie war. Trotzdem möchte ich das Buch erwähnen, weil es als Aushängeschild der »Wahre Liebe wartet«-Bewegung in den USA galt und auch in meiner Gemeinde hochgehalten wurde. »Sogar in Amerika verstehen die Christen, dass es richtig ist zu warten«, wurde uns Teenagern vermittelt. Auch der Folgeband Frosch trifft Prinzessin – Wie geht’s weiter, wenns gefunkt hat? war sehr beliebt. Wie ich herausfand, ist der Autor inzwischen selbst geschieden und hat einige Aussagen in seinen Büchern infrage gestellt und zum Teil sogar widerrufen. Er entschuldigte sich öffentlich für den Schaden, den er mit seiner Botschaft angerichtet hat.1 Seine Frau Shannon Harris schrieb nach der Trennung ein Buch mit dem Titel The woman they wanted – Shattering the Illusion of the Good Christian Wife, in dem sie davon berichtet, wie sie sich viele Jahre ihres Lebens selbst verleugnete, um dem Bild der »guten christlichen Ehefrau« zu entsprechen.
Direkt oder indirekt wurde mir als Teenager auch vermittelt, dass meine Ehe nicht gesegnet sein würde, wenn ich mit dem Sex nicht bis zur Hochzeit warten wollte. Außerdem hatte ich davon gehört, dass junge Menschen vor der versammelten Gemeinde zur Rechenschaft gezogen wurden, weil sie nicht bis zur Ehe gewartet hatten. Manche wurden sogar per Abstimmung aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
Damals glaubte ich, meine Entscheidung aus freien Stücken getroffen zu haben. Aber wie frei war ich wirklich, wenn ich befürchten musste, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, wenn ich mit meinem Freund zusammenzog? Wenn ich mit der Muttermilch und den Geschichten in Kinderstunde und Jungschar aufgesaugt hatte, dass ich unrein war, wenn ich nicht bis zur Ehe wartete? Ich fühlte mich keineswegs frei, die Gültigkeit althergebrachter Regeln infrage zu stellen.
Ich kenne nur sehr wenige, die es geschafft haben, sich diesen – oft sogar in der Gemeindeordnung niedergeschriebenen – Gesetzen zu entziehen. Aber ich erinnere mich an einen Jungen in meiner Kirche, mit dem ich in meiner Teeniezeit sehr gut befreundet war und der sich standhaft weigerte, sich anzupassen. Er fühlte sich nicht richtig zugehörig und wirkte oft wütend. Aber er machte sein eigenes Ding. Ich weiß nicht, woher er diese Stärke nahm. Etwas in ihm schien ihm zu sagen, dass es keinen Sinn machte, sich anzupassen. Schon damals begann er, sich Freunde außerhalb unserer Kirchenblase zu suchen. Später zog er mit der Frau, die er liebte, zusammen, bevor sie geheiratet haben. Er ging stur seinen Weg, unabhängig davon, ob seine Eltern oder die Leute in der Gemeinde gut fanden, was er tat. Ich will nicht behaupten, dass er keine Probleme hatte oder hat. Aber mir scheint, er hat sich selbst nicht so verraten wie ich mich. In der Kirche galt er allerdings als verlorenes Schaf. Irgendwie traurig und ironisch zugleich finde ich heute, dass jemand, der sich nicht manipulieren ließ, sondern sich aus einer inneren Stärke heraus weigerte, sich dem engen und einseitigen moralischen System zu beugen, als verloren angesehen wurde – von denen, die sich angepasst hatten und die vielleicht nie wahre Zugehörigkeit erleben werden, weil sie nie herausfinden, wer sie selbst ohne dieses System sind.
Ich selbst hatte zwischen Rebellion und dem Versuch, ins System zu passen und zu gefallen, immer hin- und hergeschwankt. Einerseits weigerte ich mich irgendwann, Röcke in der Schule zu tragen. Und andererseits gab ich alles, um eine Vorzeigetochter zu sein, damit meine Eltern stolz auf mich sein konnten – was sie auch waren und oft zum Ausdruck brachten. Aber das, worauf sie stolz waren, war nur ein Teil von mir. Es war die angepasste Version meines Selbst. Und wenn meine Rebellion mal wieder die Oberhand gewann, sah das schon wieder ganz anders aus.
Als mein Vater mich zum Altar führte, sagte er zu mir: »Sei gut.« So als wäre ich es nicht schon und als müsse man mich daran erinnern, weil ich sonst zu einem schrecklichen Monster mutieren würde, für das er sich schämen müsste. Es triggerte mein Gefühl, mich besonders anstrengen zu müssen, um gut genug zu sein. So, als wäre ich eine schreckliche Frau, die es nicht verdiente, einfach so, wie sie ist, geliebt zu werden. Und die jetzt beweisen musste, dass sie doch ein bisschen Liebe verdiente.
Ich weiß, mein Vater hat es nicht böse gemeint. Seine Worte entsprachen dem, was er selbst gelernt hatte. Was er damals über sich selbst und über alle anderen glaubte: »Wir sind Sünder. Und wir müssen uns anstrengen, um gut zu sein.« Aber auch wenn eine gute Absicht dahintersteckte, hatte diese Botschaft eine verheerende Wirkung auf mich.
Es bricht mir schier das Herz, wenn ich auf meinem Instagram Nachrichten von Menschen bekomme, die nicht wissen, ob sie sich trennen dürfen oder nicht. Eine davon las sich in etwa so:
Tina, kannst du mir sagen, was ich machen soll? Ich bin Pastorin in einer Freikirche, und mein Ehemann, der ebenfalls Pastor ist, betrügt mich am laufenden Band. Wir sind in Seelsorge bei unseren Seniorpastoren, und die sagen, dass ich mich nicht trennen soll. Er wird sich schon noch ändern, sagen sie. Aber ich kann nicht mehr. Es tut so weh und hört nicht auf. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie hast du dich damals entschieden? Was hat dir geholfen? Ich verliere ALLES, wenn ich mich trenne. Alle meine Freunde, meine Gemeinde, sogar meinen Job. Ich habe dann absolut NICHTS mehr.