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Vorbei ist die Zeit, da die Arktis den Eisbären und ein paar Abenteurern und Forschern gehörte – die Nordpolregion ist in den Fokus der Grossmächte gerückt. Es geht um militärische Präsenz, wirtschaftliche Ressourcen und politische Macht; die Karten für diese abgelegene, politisch lange Zeit periphere Region werden neu gemischt. Wie agieren Russland, China, die USA und die kleinen skandinavischen Anrainer? Was läuft in Spitzbergen? Wie klärt Finnlands und Schwedens Beitritt zur Nato die Sicherheitspolitik? Welche Rolle spielen die neuerdings vom Eis befreiten Rohstoffe in Grönland? Zwei Kenner von Europas Hohem Norden vermitteln detailliert und anschaulich in vielseitigen Texten und Fotos das Ringen um die «neue Arktis» sowohl aus historischer als auch aus aktueller Perspektive. Beide waren Korrespondenten in der Region, Doepfner am Ende des Kalten Krieges und Hermann von 2015 bis 2023, als eine hoffnungsvolle Zeit west-östlicher Kooperation in ein neues Klima der Konfrontation kippte.
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Seitenzahl: 286
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Rudolf Hermann Andreas Doepfner
Die geopolitischen Folgen desKlimawandels in der Arktis
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2024 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Covergestaltung: Marc Müller, Berlin
Korrektorat: Kerstin Köpping, Berlin
Layout: Claudia Wild, Konstanz
Satz: Daniela Weiland, textformart, Göttingen
Druck: Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
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ISBN Print 978-3-907396-87-2
ISBN E-Book 978-3-907396-88-9
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Die Arktis ist eine Weltregion, die das 21. Jahrhundert wesentlich mitprägen wird. Die tiefere Ursache dazu liegt im Klimawandel, der sich im hohen Norden überdurchschnittlich stark manifestiert und das Potenzial hat, Prozesse auszulösen, die mittelfristig auf die ganze Welt ausstrahlen. In der Arktis selbst sind indes schon jetzt direkte Folgen der Erderwärmung zu beobachten; nicht nur klimatisch, sondern auch politisch. Etwa in der Form eines Konkurrenzkampfs um Ressourcen und Einfluss in früher unzugänglichen Gebieten, die durch das Abschmelzen von Meereis zunehmend nutzbar werden. Es sind die geopolitischen und wirtschaftlichen Aspekte der von der Arktis ausgehenden Veränderungen, die im vorliegenden Buch zur Sprache kommen. Die Autoren nehmen eine umfassende Bestandesaufnahme vor, sowohl in historischer als auch aktueller Perspektive.
Die Texte basieren auf zahlreichen Reisen in die Region und den daraus hervorgegangenen Berichten, Reportagen und Analysen, die beide Autoren als Nordeuropakorrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung verfasst haben: Andreas Doepfner von 1982 bis 1985 von Stockholm aus, anschliessend als Redaktor von Zürich aus bis 1998; Rudolf Hermann von 2015 bis 2023. Persönlich gefärbte Beobachtungen und Erlebnisse sowie Fotos aus den Archiven der Autoren runden das im Teamwork geformte Bild ab.
Skandinavische Namen und Bezeichnungen werden in der Originalschreibweise wiedergegeben. Grönländische Ortsnamen erscheinen in ihrer heutigen, grönländischen Form; in historischem Kontext gegebenenfalls ergänzt durch die dänische Bezeichnung aus der Kolonialzeit. Bei slawischen Namen aus Sprachen mit kyrillischem Alphabet kommt zugunsten des Leseflusses eine vereinfachte Umschrift zur Anwendung.
Juni 2024
Rudolf Hermann
Andreas Doepfner
Einleitung Das neue Gesicht der europäischen Hocharktis
Grönland Vom Rand Europas mitten in die Weltpolitik
Ein schlafender Riese für strategische Rohstoffe
Amerikas Drang nach Norden
Dänemark übernimmt
Ein teilautonomer Kolonialwarenladen
Mit Schlittengespannen gegen Europa
Nur Fische fangen reicht nicht mehr
Chinas Fuss in der Tür
Thule – rund um die Uhr im Kalten Krieg
Ausgreifen in den Weltraum
SEITENBLICK – Zwangsferien beim Space Command
Der Traum von der Unabhängigkeit – wie realistisch ist er?
Spitzbergen Testlabor für den «Sonderfall Arktis»
Von der «Terra Nullius» zum internationalen Territorium
Die Spitzfindigkeiten des Spitzbergenvertrags
Die Schneekrabbe, eine hochpolitische Köstlichkeit
SEITENBLICK – 78 Grad Nord – eine unvermutete Feinschmeckeradresse
Wer darf was auf Spitzbergen?
Zwietracht im «arktischen Donbass» – wie der Ukrainekrieg in den hohen Norden kam
Das Barents-Ostsee-Scharnier Schnittstelle zwischen den Grossmächten
Das «Normannische Ufer» und seine strategische Stadt
Sowjetische Störmanöver und Eingriffe
Nordische Ambivalenz – und ein Verräter
Spielarten nordischer Neutralität: Schweden und Finnland im Kalten Krieg
Die Stunde der Diplomatie – «finnischer Sommer»
Sicherheit dank Verträgen und Vertrauensbildung
SEITENBLICK – Kommissarow
«Naivität ohne Ende» – unterschätzte Norwegen die neue Realität?
Ein seltener Lichtblick arktischer Zusammenarbeit: das Barents-Fischereiabkommen
Eine heisse Kartoffel für Norwegen: das «arktische Öl»
Frost der Geopolitik contra «Solidarität der Abgeschiedenen»
SEITENBLICK – Sechzig fröhliche Tage
Der Arktische Rat stösst an seine Grenzen
Die NATO-Norderweiterung: Auftakt zum Kalten Krieg 2.0?
SEITENBLICK – Die «Wolfsinsel» mit den grossen Ohren
Die Neuen Arktischen Seewege Auf dünnem Eis: die Entwicklung der Nordostpassage
Neue Seewege im Norden
Das arktische Fischerdorf, das zum «Singapur Europas» werden möchte
Russland-China-Achse statt interkontinentaler Handelskorridor?
Finnland, die Eisbrechergrossmacht
Eine isländische Wette auf den Klimawandel
Trophäe Nordpol Prestigekampf um ein Stück Meeresboden
Bildnachweis
«Wärmer als Paris», konstatierte die spitzbergische Lokalzeitung Svalbardposten trocken, als sie am 5. Juli 2023 das Messergebnis für die Lufttemperatur vom frühen Morgen im rund 2000 Einwohner zählenden Städtchen Longyearbyen publizierte. 14,5 Grad Celsius hatte das Thermometer um 8 Uhr angezeigt. In der französischen Hauptstadt war es zur gleichen Zeit 1 Grad kühler gewesen.
Nun ist Longyearbyen nicht wie Paris eine Metropole in mittleren Breiten, sondern der nördlichste bewohnte Ort auf der Erdkugel, der für sich einen gewissen städtischen Charakter in Anspruch nehmen kann. Auf 78 Grad nördlicher Breite gelegen, sind es von Longyearbyen, dem Hauptort des Spitzbergenarchipels, nur noch rund 1300 Kilometer zum Nordpol. Nach Süden hingegen beträgt die Luftdistanz bis Paris mehr als 3000 Kilometer. Im Juli, dem wärmsten Monat des Jahres, liegen die längerfristigen Durchschnittstemperaturen auf Spitzbergen zwischen 3 und 9 Grad.
Doch 2023 wurden mit 10,0 beziehungsweise 10,1 Grad Celsius an zwei Wetterstationen auf Spitzbergen erstmals seit Beginn der Messungen zweistellige Juli-Durchschnittstemperaturen ermittelt. Eine der einschlägigen Definitionen des Begriffs «arktisches Klima» lautet, dass im wärmsten Monat im Jahr die Durchschnittstemperatur einstellig bleibt. Nach dieser Massgabe sei Spitzbergen jetzt also nicht mehr «arktisch», sagte eine norwegische Klimawissenschafterin gegenüber Medien.
In der Hocharktis macht sich die Erderwärmung deutlich stärker bemerkbar als in anderen Weltgegenden. Das hat zu einem guten Teil damit zu tun, dass die Oberfläche der nördlichen Polregion weitgehend aus Wasser besteht. Bei einem tendenziell sich erwärmenden Klima entsteht ein Rückkopplungseffekt: Helles Eis, das Sonnenlicht zurückwirft, schmilzt im Sommer und wird zu dunklem Wasser, das dadurch wiederum mehr Sonnenlicht absorbiert. Die zusätzlich aufgenommene Wärme wird im Winter an die Atmosphäre abgegeben; es entsteht weniger neues Eis. So beginnt sich eine Spirale zu drehen.
Und sie dreht sich offensichtlich schneller, als in bisherigen Klimamodellen angenommen wurde. Zu diesem Schluss kam 2022 die Fachzeitschrift Nature in einer Studie, die empirische Daten aus den letzten rund fünf Jahrzehnten mit den Annahmen verglich, die einst für die Arktis getroffen worden waren. Generell seien die Projektionen von einer stärkeren Erwärmung des hohen Nordens gegenüber der Welt insgesamt um den Faktor 2 bis 3 ausgegangen, hiess es bei Nature. Doch die tatsächlichen Zahlen legten nun nahe, dass es sogar um einen Faktor 4 gehen könne.
Rechneten Fachleute zunächst damit, dass die Nordpolregion um 2050 erstmals im Spätsommer eisfrei sein dürfte, so gibt es nun deshalb auch Prognosen, dass dieser Fall bereits etwa zehn Jahre früher eintreten könnte. Diese Entwicklung wird nicht nur von der Klimaforschung scharf beobachtet, sondern auch von globalen Akteuren in Politik und Wirtschaft. Denn schmelzendes Eis bedeutet nicht nur Zugang zu neuen Gebieten und ihren natürlichen Ressourcen, sondern öffnet auch Möglichkeiten für neue Transportrouten. Das weckt vielfältige Begehrlichkeiten.
Die neue Aufmerksamkeit für die Arktis hat im öffentlichen und medialen Raum bereits Spuren hinterlassen. Als 2019 der damalige US-amerikanische Aussenminister Mike Pompeo in einer Rede die «zunehmende Militarisierung der Arktis» durch Russland geisselte und gleichzeitig vor Chinas Ambitionen in der Nordpolregion warnte, katapultierte er damit die europäische Hocharktis mitten in die internationale Politik.
Die Bühne für Pompeos Auftritt war ein Treffen des Arktischen Rats gewesen, eines 1996 konstituierten Forums, das die acht Staaten zusammenbringt, die Arktisanrainer sind, und in dem auch die indigenen Bevölkerungsgruppen der Region eine Stimme haben. Im Arktischen Rat war bis 2019 über sehr vieles gesprochen worden: von kultureller Zusammenarbeit über wissenschaftliche Kooperation in Fragen etwa des Klimawandels bis hin zu Aspekten der Wirtschaftsförderung. Doch um die Sicherheitspolitik hatte man immer einen grossen Bogen gemacht. Zu konfliktreich war das Thema für eine Organisation, die sich für ihre Entscheide dem Konsensprinzip verpflichtet hatte.
Deshalb traf Pompeos Rede das Forum wie ein Blitzschlag. In dessen grellem Licht erschien eine neue Arktis: Das Gebiet war nicht mehr nur die abgelegene, weitgehend menschenleere Eiswüste von einst, die vornehmlich Forscher und Abenteurer angezogen hatte, sondern Pompeo beschrieb auch eine Arena, in der nun die Ambitionen der globalen Supermächte direkt aufeinanderprallen.
Dabei geht es um wirtschaftliche ebenso wie sicherheitspolitische Interessen. Ein zentrales Element ist die Nordostpassage, die vom Nordpazifik über die Beringstrasse entlang der russischen Nordmeerküste in den nordöstlichen Atlantik führt. Durch den Klimawandel wird diese Route in den Sommermonaten immer besser befahrbar.
Weil sie deutlich kürzer ist für Transporte zwischen Ostasien und Europa als der Weg über Südostasien und den Suezkanal, kann sie für die Weltwirtschaft eine wachsende Rolle spielen. Vor allem für China, denn Peking möchte die Nordostpassage für sich als «blaue Seidenstrasse» nutzen – und zwar sowohl für den Export von Industrieprodukten als auch für den Import von Rohstoffen. Für Russland wiederum ist die Nordostpassage der Seeweg, über den Erdöl und Erdgas aus seinen arktischen Feldern auf den Weltmarkt gelangt.
Ein weiteres Thema sind die Bodenschätze der Region. In der Arktis werden beispielsweise grosse Mengen an noch unentdecktem Erdöl und Erdgas vermutet. Dass es gerade auch der Gebrauch fossiler Brennstoffe ist, der die Klimaerwärmung vorantreibt und zum Rückgang des Meereises beiträgt (was wiederum der Petroleumindustrie das Vorstossen noch weiter nach Norden ermöglicht), ist aus der Perspektive des Klimaschutzes eine unheilvolle Rückkopplung. Eine Beschleunigung der Erwärmung der Arktis könnte wiederum gefährliche Kaskadeneffekte für den Rest der Welt auslösen.
Sich zurückziehende Gletscher geben ferner den Zugang zu grossen Lagerstätten von Mineralien strategischer Bedeutung frei, etwa Uran oder Seltenerdmetalle. Grönland spielt hier eine zunehmend wichtige Rolle. Zur Konsternation Dänemarks, zu dessen Königreich Grönland als autonomes Gebiet gehört, begann 2019 der damalige amerikanische Präsident Donald Trump deshalb laut über einen Kauf der Insel nachzudenken. Derweil sind die Chinesen längst dort präsent, etwa über Beteiligungen an Bergbauunternehmen.
Das ist in gewisser Weise symbolisch: Amerika hat den Start zum Wettlauf um die Arktis als Region von geopolitischer Bedeutung verschlafen. Amerikanische Kriegsschiffe in der Barentssee, die mittlerweile ziemlich oft bei Manövern zu beobachten sind, geben zwar Hinweise darauf, dass man dies erkannt hat und nun immerhin versucht, Präsenz zu markieren.
Doch der Rückstand Washingtons lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen aufholen. Die USA verfügen über einen einzigen, mit Diesel angetriebenen schweren Eisbrecher mit Baujahr 1976, der sich dem Ende seiner Betriebsdauer nähert, sowie einen mittelschweren Eisbrecher, der 1999 in Dienst gestellt wurde. Russland hingegen hat bereits mehrere atomgetriebene Eisbrecher in Betrieb, die deutlich schwerer sind, und eine Reihe weiterer im Bau, die nochmals grösser werden sollen. China verfügt vorläufig über zwei konventionell angetriebene Eisbrecher, arbeitet aber dem Vernehmen nach seinerseits ebenfalls an einem superschweren atomgetriebenen.
Washington möchte das Manko zwar wettmachen: So wurde von der Politik der Aufbau einer Eisbrecherflotte aus drei schweren und drei mittelschweren Einheiten bis 2029 gefordert. Die Finanzierung allerdings lief harzig an, und bereits jetzt ist ein Verzug bei dem Vorhaben absehbar.
Um in der Polregion Ansprüche untermauern und Projekte – ob kommerzieller oder militärischer Natur – durchsetzen zu können, sind Eisbrecher zwar entscheidend. Doch die Arktispolitik der wichtigsten Spieler setzt auf ein breiteres Instrumentarium. Im Fall Russlands fällt der starke und vom Westen argwöhnisch beobachtete Aufbau militärischer Kapazitäten ins Auge. Die Aufrüstung ist insofern logisch, als Russland über eine lange arktische Küstenlinie verfügt und die Nordostpassage über weite Strecken in den Gewässern seiner exklusiven Wirtschaftszone verläuft. Da will man Muskeln zeigen können. Doch manifestiert sich hier zweifellos auch Moskaus Grossmachtambition in der arktischen Region allgemein.
China hingegen, kein Arktisanrainer, wenn auch ein selbsterklärter «arktisnaher Staat», versucht eher über Forschung und wirtschaftliche Hebelwirkungen in der Region Fuss zu fassen. Forschung sei ein legitimer Grund zum Aufenthalt und biete die Möglichkeit, Wissen zu akkumulieren, das später zivilen wie militärischen Zwecken dienlich sein könne, schrieb die Denkfabrik Arctic Institute dazu in einer sicherheitspolitischen Studie. Noch gebe es zwar wenige Zeichen dafür, dass für Peking die Ausweitung militärischer Kapazitäten im Vordergrund stehe. Zweifellos aber arbeite China daran, Strukturen aufzubauen, die dereinst die Durchsetzung seiner Interessen ermöglichten.
Nicht zuletzt pocht China auf Verkehrsrechte in der Nordostpassage nach internationalem Seerecht, wie einem chinesischen Grundlagenpapier zur Arktispolitik zu entnehmen ist. Das allerdings steht laut der Studie des Arctic Institute in einem gewissen Widerspruch dazu, wie Peking sich selbst gegenüber der übrigen Welt im Südchinesischen Meer verhält.
Dass die Arktis in den Fokus der grossen Akteure China, Russland und USA geraten ist, ist eine ambivalente Nachricht für Regionen wie Nordnorwegen oder Grönland – also Gebiete, die innerhalb ihrer jeweiligen Staaten, die im Weltmassstab schon selbst Leichtgewichte sind, nochmals am Rand liegen. Zwar könnten sie wirtschaftlich von der neuen Aufmerksamkeit für die Polregion profitieren. Nordnorwegen etwa stellt den ersten westeuropäischen Landepunkt der Nordostpassage dar und wäre damit attraktiv für Infrastrukturinvestitionen.
Doch sollte das Geld dafür aus China kommen, läuten auf nationaler Ebene schnell einmal politische Alarmglocken. Dasselbe gilt für Grönland und sein Bergbaupotenzial. Und weil politische und militärstrategische Überlegungen im derzeit kühlen Klima zwischen dem Westen einerseits und Russland sowie China andererseits eine zunehmende Rolle spielen in nördlichen Meeresgebieten wie der Barentssee und der Norwegischen See, werden regionale Wirtschaftsinteressen schnell einmal von nationalen Sicherheitsbedenken überlagert.
In jedem Fall dürfte sich für die europäischen Staaten mit Arktisanstoss ihr Spielraum im hohen Norden in einem Umfeld zunehmend konkurrierender Grossmachtinteressen verringern. Denn den globalen Akteuren gegenüber vermögen diese Staaten, auf sich allein gestellt, kaum zu bestehen.
Europa als Weltregion hätte da schon mehr Gewicht. Eine koordinierte europäische Arktispolitik ist derzeit aber erst in Ansätzen auszumachen. Ein 2021 formuliertes Papier der Europäischen Kommission definiert die Klimaerwärmung als grösstes übergreifendes Risiko. Lösungsansätze für dieses globale Problem wären allerdings auf funktionierende multilaterale Kooperation angewiesen. Und gerade diese ist schwierig geworden, behindert durch politischen Frost und gegenläufige Grossmachtinteressen.
Es wird vonseiten der Europäischen Union (EU) denn auch eingeräumt, dass der geopolitische Wettbewerb zu einem kennzeichnenden Faktor in der Arktis geworden sei und dass damit die Verwirklichung des europäischen Ziels, die Region in Frieden nachhaltig zu entwickeln und den Wohlstand zu fördern, in Gefahr gerate. Indes sieht Brüssel für die Umsetzung seiner Arktispolitik in erster Linie die Arktisanrainer in der Pflicht. Dass die EU eine Arktisbeauftragte ernannt und im März 2024 in der grönländischen Hauptstadt Nuuk offiziell eine Vertretung eröffnet hat, sind zwar Anzeichen einer Kurskorrektur gegenüber früher. Klare Konturen muss das von Brüssel in Aussicht gestellte «verstärkte Engagement in der Arktis» jedoch erst noch erhalten.
Der hohe Norden: Gross, weit, menschenleer – und dennoch politisch zunehmend umkämpft. Lange stand die Arktis exemplarisch für eine Region friedlicher internationaler Zusammenarbeit. Doch dieser Charakter wird zunehmend überdeckt von einem Konkurrenzkampf der globalen Grossmächte um Ressourcen und Einfluss. Im Bild: Die Ostküste Grönlands auf der Höhe des Polarkreises, Aufnahme vom September 2018.
Dass dieses vorerst diffus bleibt, kann allerdings nicht erstaunen. Die EU ist als Staatenbund ein politischer Akteur anderer Art als die USA, China oder Russland, die ihre Interessenpolitik zentral lenken können. Der mediterrane Süden der EU zum Beispiel schaut für Akzente der EU-Aussenpolitik eher nach Nordafrika als in die Arktis, und für die ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten ist die direkte Bedrohung durch Russland vorrangig.
Von den europäischen Arktisstaaten sind zudem nur drei auch Mitglieder der EU (Dänemark, Schweden und Finnland). Die übrigen zwei – Norwegen und Island – gehören zwar dem Europäischen Wirtschaftsraum an, doch Norwegen verfolgt gerade in der Arktis auch von der EU-Perspektive abweichende Interessen und hat mit Brüssel in gewissen Bereichen sogar wesentliche Differenzen.
Bei der Formulierung ihrer Politik für den hohen Norden ging die EU von einer anhaltenden Existenz des «Sonderfalls Arktis» aus. Dieser beschreibt eine Region, in der internationale Akteure zusammen nach Lösungen suchen und dadurch Sicherheit schaffen. Brüssel hatte dabei vor allem Sicherheit in Bezug auf die Bedrohung durch den Klimawandel im Auge. Mit ihrem «Green Deal» wäre die EU auch gut positioniert gewesen, diesbezüglich eine grössere Rolle zu spielen.
Doch beim Thema Sicherheit hat inzwischen weit mehr der militärische Aspekt an Bedeutung gewonnen. Und der Grundton lautet nicht mehr «Kooperation», sondern «Konfrontation». Als koordinierendes Organ rückt deshalb eher die NATO als die EU in den Fokus der europäischen Arktisanrainer; umso mehr, als seit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens nun alle von ihnen Mitglieder in der Allianz sind.
Im internationalen Machtspiel um den hohen Norden hat sich Grönland in den letzten Jahren als wichtiger Akteur etabliert. Schon im Kalten Krieg war die riesige Gletscherinsel mit ihrer Lage zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion militärstrategisch bedeutsam gewesen. Heute ist sie es angesichts der markanten Abkühlung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen erneut. Durch die Klimaerwärmung wird ferner der grönländische Reichtum an strategischen Rohstoffen besser erschliessbar. Dies hat einerseits Chinas Interesse an der Insel geweckt, andererseits möchten die USA und die EU Lieferketten aufbauen, die von China unabhängig sind. Nun ist Grönland plötzlich mitten in der Weltpolitik: Hier treffen Pekings «blaue Seidenstrasse», Moskaus neuer Konfrontationskurs in der Arktis und Washingtons Sicherheitsinteressen aufeinander. Die gestiegene internationale Aufmerksamkeit beflügelt zwar die grönländische Politik in ihrem Bemühen, die ersehnte Unabhängigkeit zu erreichen. Doch im Dickicht der Ambitionen sowohl der globalen politischen Schwergewichte als auch der einstigen Kolonialmacht Dänemark ist der Weg dorthin hindernisreich.
Im Juli 2019 erschien im Weissen Haus in Washington ein Mann mit Namen Greg Barnes, um vor einer Gruppe ausgewählter amerikanischer Spezialisten eine Präsentation zu geben. Barnes, ein australischer Geologe und Unternehmer, hatte in Insiderkreisen einen Namen dafür, an eher ungewöhnlichen Orten nach Rohstoffen zu suchen. In Washington sprach er darüber, was er in Südgrönland gefunden hatte: enorme Vorkommen sogenannter Seltenerdmetalle. Es sei ein Schatz, befand Barnes, der aus der abgelegenen arktischen Gletscherinsel einen globalen Schlüsselspieler für strategische Rohstoffe machen könnte.
Nicht Barnes war es allerdings, der damals international Schlagzeilen zu Grönland machte, sondern der Hausherr im Oval Office: Präsident Trump überraschte im August 2019 die Weltöffentlichkeit mit dem Gedankenspiel, Dänemark die Gletscherinsel abzukaufen. Die Avancen wurden von dänischer Seite umgehend zurückgewiesen. Dies wiederum veranlasste Trump, kurzfristig einen Staatsbesuch in Kopenhagen abzusagen. Eingeladen hatte ihn die Königin.
Auch wenn sich Barnes damit in der internationalen Medienberichterstattung lediglich auf einem Nebenschauplatz wiederfand – bei den Experten hatten seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt. Nur kurze Zeit später stapfte der Australier mit Carla Sands, damals US-Botschafterin für das dänische Königreich, durch das raue Gelände des südgrönländischen Kringlerne-Massivs. Dort nämlich will seine Gesellschaft Tanbreez die relevanten Mineralien abbauen. Und die amerikanische Geologiebehörde USGS entsandte gleich eine ganze Delegation, um das Gelände für einen Monat zu studieren.
Aus dem Namen Tanbreez lässt sich ableiten, was in dem von Barnes entdeckten Vorkommen alles drin ist: Tantal (Ta), Niob (Nb), Elemente seltener Erden (REE) sowie Zirkonium (Zr). Und warum sind diese Mineralien wichtig? Tantal ist in zahlreichen Bereichen der Mikroelektronik nachgefragt, Niob in Legierungen für Spezialstahl. Seltenerdmetalle braucht es für eine Reihe hochtechnologischer Anwendungen, von Cleantech-Produkten bis zu militärischen Gütern. Zirkonium wiederum findet man etwa in Installationen der Kernenergie oder, legiert mit Niob, als supraleitendes Material. Es geht damit um Bereiche, die in einer zukünftigen grünen und elektrifizierten Wirtschaft von Bedeutung sind, oder die für die Rüstungsindustrie einen besonderen strategischen Wert haben.
Barnes sagt, das Kringlerne-Massiv unweit der Siedlung Narsaq ganz im Süden der Insel sei weltweit eine der zehn wichtigsten noch nicht erschlossenen Fundstellen für diese strategischen Rohstoffe. Das klingt beeindruckend, auch wenn man dabei in Rechnung stellt, dass in dieser Einschätzung ein Schuss Selbstvermarktung dabei sein dürfte – schliesslich hält Barnes mit Tanbreez die Schürfrechte. Immerhin hatte er aber vorab rund 50 Millionen Dollar an eigenen Mitteln eingeschossen. Das deutet an, dass er von Anfang an eine vielversprechende Zukunft für die Kringlerne-Lagerstätte sah.
Und der Kringlerne-Korpus ist noch längst nicht alles, was der Süden Grönlands an Rohstoffreichtum zu bieten hat. Das «Tanbreez»-Projekt mag vielversprechend sein – und doch verblasst es neben der schieren Grösse des ebenfalls unweit von Narsaq gelegenen Kvanefjeld-Massivs. Dieses ist Teil der gleichen geologischen Formation, der sogenannten Ilimaussaq-Intrusion. Und Kvanefjeld (oder Kuannersuit, wie es in der Sprache der Inuit heisst) gilt als eines der grössten Vorkommen dieser Art überhaupt auf der Welt.
Auch beim «Kvanefjeld»-Projekt ist eine australische Minengesellschaft an der Arbeit: Energy Transition Minerals (ETM, vormals Greenland Minerals). Doch ETM hat bei der Entwicklung des Vorhabens unlängst einen herben Rückschlag einstecken müssen. Denn bei den grönländischen Parlamentswahlen von 2021 trugen zwei Parteien den Sieg davon, die das Projekt verhindern möchten. Der Grund liegt darin, dass das Erz im Kvanefjeld-Massiv, anders als bei Kringlerne, auch die radioaktiven Elemente Uran und Thorium enthält. Weil das Vorkommen nur wenige Kilometer vom Städtchen Narsaq entfernt liegt und durch den Betrieb einer Mine eine beträchtliche Menge von Erzabfällen anfiele, befürchtet man, sich damit ein grosses Umweltproblem einzuhandeln. Hinzu käme noch der Staub, der durch die Bergbautätigkeit freigesetzt würde. Trotz der Verlockungen hoher ausländischer Investitionen, einer bedeutenden Zahl neuer Arbeitsplätze und erklecklicher zukünftiger Gewinnsteuern für die grönländische Staatskasse stiess das «Kvanefjeld»-Projekt zunächst lokal und später, nach dem Machtwechsel von 2021, auch auf Regierungsebene auf Ablehnung.
Dieses Problem mit der Radioaktivität hat Tanbreez bei seinem Minenprojekt im Kringlerne-Massiv hingegen nicht. Und auch in einer weiteren Hinsicht fährt Greg Barnes mit seinem Unternehmen auf einer anderen Schiene als die Gesellschaft, die das Vorkommen Kvanefjeld erschliessen möchte. Während ETM mit Shenge Resources einen Ecksteinaktionär und strategischen Partner aus China hat, möchte Barnes um China explizit einen Bogen machen – das Land mithin, das beim Abbau von Seltenerderzen rund 60 Prozent des Weltmarkts beherrscht und in der nachgelagerten Aufbereitung von Erzkonzentrat zu separierten Metallen derzeit eine sogar noch stärkere Stellung einnimmt.
Diese fast totale Abhängigkeit der Welt von China für Produkte, die immer wichtiger werden für verschiedenste Bereiche ziviler und militärischer Hochtechnologie, wird von den USA, der EU, Japan oder auch Südkorea als zunehmend problematisch empfunden. Deshalb hat die Schaffung eigener Wertschöpfungsketten für seltene Erden, von der Mine bis zum verarbeiteten Produkt, sowohl für Washington als auch Brüssel an Dringlichkeit gewonnen. Zumal China um die Stärke seiner gegenwärtigen Position weiss und auch nicht davor zurückschreckt, seine Hebel einzusetzen.
So verfügte im Jahr 2010 Peking gegenüber Japan Ausfuhrbeschränkungen für verarbeitete Seltenerdprodukte, was deren Preise explodieren liess. Und später rückte China seinen Eigenbedarf mehr in den Vordergrund. Auch wenn hier «bloss» dahinterstecken sollte, dass China lieber zu Hause höherwertige Waren (etwa Magnete) fabrizieren und exportieren möchte statt Halbfertigprodukte, die anderswo veredelt werden, zeigt sich darin, wie Peking mit seiner Quasi-Monopolstellung den internationalen Markt beeinflussen kann. Dass China in der heutigen Struktur des Weltmarkts für strategische Rohstoffe das Potenzial hat, seltene Erden als politisches Werkzeug einzusetzen, ist unter Analytikern deshalb eine verbreitete Ansicht.
Die USA sorgen sich zum Beispiel um die Verfügbarkeit aufbereiteter kritischer Rohstoffe für ihr Hightech-Rüstungsprogramm. Auch wenn es dort nur um einen Bruchteil des Volumens geht, das etwa in der Elektromobilität oder bei Windturbinen zur Anwendung kommt, will man sich nicht der Gefahr aussetzen, dass man an das Material nicht herankommt.
Die Verarbeitung seltener Erden ist allerdings technologisch kompliziert und finanziell anspruchsvoll. Jede Mine liefert ein Konzentrat anderer Zusammensetzung. Das erfordert individualisierte Trennungsverfahren. Viel von diesem Spezialwissen ist heute in China konzentriert. Hier liegt auch die Logik der Verbindung von Energy Transition Minerals und Shenghe Resources, einem Unternehmen mit breiter Erfahrung und besten Kontakten in diesem Bereich. Wenn der Konkurrent Tanbreez hingegen auf einen USA- und EU-Fokus setzt, so ist das aus der geostrategischen Perspektive zwar sinnvoll und nachvollziehbar, allerdings fehlen dazu noch die nötigen Strukturen in Teilen der Wertschöpfungskette. In jedem Fall zeigt sich, dass das Thema der strategischen Rohstoffe nicht bloss eine wirtschaftliche Seite hat, sondern auch mitten in die Geopolitik führt.
Der Engpass bei den Seltenerdmetallen liegt für den Westen dabei nicht so sehr in der Verfügbarkeit dieser Rohstoffe an sich. Denn anders als ihr Name impliziert, sind sie gar nicht so selten. Tatsächlich belaufen sich die bekannten globalen Reserven für Seltenerdkonzentrat laut einer konservativen Schätzung des US Geological Survey von 2019 auf rund 120 Millionen Tonnen. Auch wenn sich der Weltjahresverbrauch gegenüber dem Stand von 2020 mittelfristig auf etwa 500000 Tonnen verdoppeln sollte, würden die heute bekannten Reserven für über 200 Jahre reichen. Das wiederum bedeutet, dass der internationale Markt nicht die Realisierung jedes Minenprojekts benötigt, das derzeit ausserhalb Chinas an den Start drängt.
Es ist zwar nicht auszuschliessen, dass in ein paar Jahren in der grönländischen Politik der Wind wieder zugunsten von Kvanefjeld dreht. Doch wenn der Markt tatsächlich in Richtung eines Überangebots bei der Förderung der strategischen Rohstoffe steuert, könnte es dannzumal für das Mammutprojekt «Kvanefjeld» schon zu spät sein. Denn ein Überangebot drückt die Preise, und Annahmen zur zukünftigen Preisentwicklung sind ein essenzielles Element bei der Beurteilung, ob sich der enorme finanzielle Aufwand für die Erschliessung eines Rohstoffvorkommens rechnet.
Bleibt hingegen in Grönland das Verbot zur Prospektion und Förderung radioaktiver Materialien bestehen, könnte das die Insel teuer zu stehen kommen. Denn ETM hat Grönland und Dänemark auf Schadenersatz in der Höhe von 15 Milliarden Dänischer Kronen (rund 2 Milliarden Euro) verklagt. Auf diese Summe beziffert ETM den Wert des derzeit blockierten Projekts. Für die grönländische Regierung wäre es ein exorbitanter Betrag: Er entspricht mehr als dem Zwanzigfachen der jährlichen Subvention, die Dänemark an Grönland ausrichtet und mit der auf der Insel derzeit rund die Hälfte der öffentlichen Ausgaben bestritten werden.
Trumps Vorstoss für den Grönlandkauf war nicht der erste Versuch Amerikas, die Insel ganz in die eigenen Hände zu bekommen. Das Interesse der USA an Land war schon im 19. Jahrhundert strategischer Natur gewesen. Landnahme war eine Tradition bei der Staatsbildung, ein früher Pfeiler der Sicherheitspolitik. Ausdehnung und Abrundung der Territorien gingen auf Kosten der indigenen Bevölkerung und früherer Eroberer wie Spanien oder Frankreich. So verkaufte Madrid Ost-Florida an die USA. Der heutige Gliedstaat fiel Spanien nach Kriegen und Grenzkonflikten zur Last; es gab das Gebiet 1819 (1821 trat der Vertrag in Kraft) für 5 Millionen Dollar ab. Die Ausdehnung der jungen Vereinigten Staaten nach Süden und nach Westen entsprach jener des russischen Zarenreichs nach Osten und Südosten. Nicht territorial zu wachsen war weder für die Republik noch für das Kaiserreich eine Option. Sie kamen einander dabei nicht in die Quere, wie der Alaska Purchase zeigt.
Alaska war eine 1741 von Vitus Bering entdeckte lange Küste mit unbekanntem Hinterland; nach dem dänisch-russischen Seefahrer ist die Beringstrasse zwischen Alaska und Sibirien benannt. Das Gebiet wurde zur zaristischen Pelzjägerkolonie, genannt Russisch-Amerika. Im 19. Jahrhundert wollte Zar Alexander II. nicht in die militärische Verteidigung Alaskas investieren. Dort mussten nach dem englischen Sieg im Krimkrieg 1856 Vorstösse gegen Russisch-Amerika von Britisch-Nordamerika (Kanada) aus erwartet werden. Im Besitz der auf die Karibik und den Atlantik ausgerichteten, nicht feindlich einzustufenden Mittelmacht USA würde Alaska eher ein Puffer gegen Kanada als eine Gefahr sein. Der Zar wollte sich auf die näher gelegenen Schätze Zentralasiens konzentrieren.
Der Landkäufer im Namen der USA war William H. Seward, Aussenminister. Dessen Hauptleistung war innenpolitischer Art: seine Einflussnahme für die Abschaffung der Sklaverei 1861. Als der Zar 1859 Russisch-Amerika zum Kauf anbot, stand Seward im republikanischen Vorwahlkampf gegen Abraham Lincoln; dann kam der Bürgerkrieg. Secretary of State Seward war einer der wichtigsten Berater Präsident Abraham Lincolns, für den er sich um die Fernhaltung Englands und Frankreichs als Verbündete der konföderierten Südstaaten im Bürgerkrieg kümmerte. Das gelang, indessen folgte eine Bedrohung aus Mexiko; dort liess sich L’Empereur Napoleon III. auf ein Abenteuer ein; er entsandte Kaiser Maximilian von Frankreichs Gnaden und mit französischen Truppen nach Mexiko, um den gewählten liberalen Präsidenten Benito Juárez zu stürzen. Zwar erfolgreich, doch 1865 zogen die Franzosen ab, Maximilian kam vor ein Kriegsgericht und wurde erschossen. Einmal mehr hatte ein monarchisches Wetterleuchten aus Europa an die Monroe-Doktrin erinnert. Diese von Präsident James Monroe 1823 festgelegten aussenpolitischen Grundsätze besagten, dass die junge demokratische Union und die neuen Staaten der einstigen spanisch-portugiesischen Kolonialreiche in Südamerika von den restaurativ-reaktionär-kolonialen Strömungen in Europas Monarchien nicht beeinträchtigt werden dürfen; sie sollten ihre Bedürfnisse selbständig definieren.
Russisch-Amerika war eine Möglichkeit, das noch koloniale Britisch-Nordamerika an der Westküste von Norden und Süden unter Kontrolle zu halten. Washington und St. Petersburg waren wegen Alaska in Kontakt geblieben; nach einer langen Verhandlungsnacht mit dem russischen Gesandten kam der Vertrag zustande – 1867 für nur 7,2 Millionen Dollar. Trotz amerikanischen Drucks auf den Preis war die Kritik im Land laut.
Anders verlief im gleichen Jahr die von Seward bedachte Übernahme Grönlands und Islands; ebenso wie Alaska wären die grossen Inseln zwischen der britischen Kolonialmacht und deren Dominion Kanada ein strategischer Erwerb – ein arktisches Bollwerk in jener militärischen Lücke, die später als GIUK-Gap Bedeutung erhielt und noch heute hat. Die beiden leeren dänischen Inseln gedachte Seward am Rand von Kaufgesprächen einzuflechten, in denen er es auf die ebenfalls dänischen, ungleich kleineren Jungferninseln abgesehen hatte; diese liegen im südlichen, karibischen Einfallstor in die USA. Kopenhagen hatte kein offenes Ohr. Tatsächlich gekauft haben die USA die Jungferninseln dann doch noch,1917 für 25 Millionen Dollar. Sie heissen seither U. S. Virgin Islands.
Wegen des Alaska Purchase wurde William H. Seward verlacht und kritisiert. Man schrieb von der Seward Folly, der Verrücktheit des Aussenministers. In Dänemark wurde dieses Narrativ vom renommiertesten Grönlandhistoriker bis in die 1980er-Jahre gepflegt – ein seltener Hinweis auf komplexbehaftetes Verhalten im Königreich gegenüber der arktischen Kolonie, der auch im Rahmen der Autonomie keine Selbstbestimmung über die Bodenschätze gewährt wurde. Dass in den USA der ökonomische Wert Alaskas erst Jahrzehnte nach dem Kauf, mit dem Klondike-Goldrausch und noch später mit den Erdölvorkommen, realisiert wurde, ist bekannt; die Rohstoffausbeutung führt wie in Grönland bis heute zu Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Bevölkerung.
1946 machte Washington ein konkretes Kaufangebot für Grönland. Der Aussenminister Präsident Trumans, Staatssekretär James F. Byrnes, sprach in New York mit seinem dänischen Amtskollegen Gustav Rasmussen über den strategischen Wert des «Eisklumpens» für die USA und dessen ökonomische Last für Dänemark nach dem Weltkrieg. Er soll von 100 Millionen Dollar als Preis gesprochen haben, wie der Historiker Tage Kaarsted nach Öffnung der Archive schrieb. Rasmussen habe glatt abgelehnt. Die Episode ist wohl nicht zufällig aus dem gleichen Jahr 1946 wie die weltpolitische Rede von Byrnes, die Deutschland die Rückkehr in die Wertegemeinschaft der selbstregierten Demokratien öffnete, die Stuttgarter «Speech of Hope».
Als der amerikanische Polarforscher Robert Edwin Peary sein Nordgrönland nach mehrjährigen Expeditionen genügend kannte, machte er sich stark dafür, dass die USA die ganze Insel vom Königreich Dänemark kaufen sollten. Der Ingenieur lag damit auf der sicherheitspolitischen Linie der Monroe-Doktrin. Peary hatte Grönland auch wegen wahrscheinlicher Rohstoffvorkommen im Auge; sodann trat er für den Kauf ein, um fremde Stützpunkte in Grönland zu verhindern – also noch nicht, um amerikanische zu errichten. Robert E. Peary wurde als Entdecker und Forscher ausgezeichnet; dazu kam sein Talent als Organisator von militärisch nutzbaren Methoden zu Mannschafts- und Materialverschiebungen im polaren Packeis mit den sich rasch verändernden Wasserrinnen. Darin mit Booten und auf Umwegen mit Hundeschlitten zu operieren, war schwer berechenbar. Er wurde rückwirkend vom Ingenieur zum Captain und schliesslich ehrenhalber zum Konteradmiral der Navy befördert.
Als Robert Peary den Nordgrönländern 1894 die «Sternenscheisse» stahl, beraubte er sie ihrer Autarkie. «Sternenscheisse» wurden die Meteoriten genannt, jene viele Tonnen schweren Rohstoffklumpen aus reinem Eisen, die auf das Inlandeis beim Kap York gestürzt waren. Aus dem meteorischen Eisen gewannen die Einheimischen während Jahrtausenden ihre Harpunenspitzen. Ohne Harpunen kein Robbenfang, ohne Fang kein Fleisch, keine Felle, kein Überleben. Die Nordgrönländer nennen sich in ihrer eigenen Sprache Inughuit. Peary belieferte die Inughuit im Gegenzug zu seinem Diebstahl mit Harpunenspitzen und Gewehren; er katapultierte sie von der Eisenzeit in die Neuzeit, machte sie abhängig von der Aussenwelt. Nebenher verletzte er das dänisch-königliche Handelsmonopol KGH. Im Vergleich zu dem abrupten Eingreifen Pearys im Norden war die dänische Kolonisierung der in Südwestgrönland lebenden Inuit ein langer Entwicklungsprozess; er dauerte mehr als zwei Jahrhunderte.
Robert Peary begann seine Grönlandforschungen 1886 mit dem Ziel, den Nordpol zu entdecken. Es gelang ihm 1909, das Sternenbanner in Polnähe einzupflanzen und zu fotografieren; doch wurden immer wieder Zweifel an seinen Berechnungen, Fotos und Tagebucheinträgen geäussert. Peary war es, der die Vorstellung nährte, dass Grönland als geologisch-geografische Kappe auch wirtschaftlich und politisch zum amerikanischen Kontinent gehöre. Grönland ist die grösste Insel der Welt; auch das entdeckte und vermass Peary. Nordgrönland war eisiges Niemandsland, es zählte nur gut 200 Einwohner. Von diesen übernahm der Forscher das Leben in Torfhütten und Iglus sowie die Fortbewegung mit dem Schlitten, auch in extremer Kälte.
Seit dem Zweiten Weltkrieg und bis hin zu Donald Trump war das Interesse der USA auf den nordgrönländischen Luftwaffenstützpunkt Thule Air Base konzentriert. Dieser schützte mit Bombern und später mit Langstreckenraketen auch Grönland, das damit ein wesentlicher Bestandteil der militärischen Abschreckung des Westens gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg war. Grönland ist gut fünfzigmal grösser als das Mutterland Dänemark oder als die Schweiz und gut sechseinhalbmal grösser als Deutschland.
Bis vor 50 Jahren war Grönland eine ferne Insel, aufgesucht von Fischtrawlern aus aller Welt, von Entdeckungsreisenden, Gletscherforschern und Ethnologen. Zuallererst waren norwegische Wikinger unter dem aus Island verbannten Erik dem Roten gelandet. Weil die Südwestküsten im kurzen Sommer grün waren, gaben ihnen die Wikinger den Namen Grünes Land, skandinavisch grön (später grøn geschrieben), womit sie weitere Siedler anlockten. Im 15. Jahrhundert mussten die christlichen Wikinger einer kälteren Klimaphase und den nach Süden vordringenden Inuit weichen; sie verschwanden fast spurlos. Die Wiederentdeckung und Kolonisierung Südgrönlands leitete ab 1721 der dänisch-norwegische Missionar Hans Egede; die gesuchten Ur-Norweger fand er nicht, die wenigen Ruinen von Steinhäusern und Kirchen waren ein schwacher Trost. Schon seine Söhne missionierten nicht nur, sondern gründeten auch Handelsstationen. Holländer beherrschten den Walfang um Grönland wie vor Spitzbergen, das lange für einen Teil Grönlands gehalten wurde. Den Reichtum des Meeres an Robben nutzten einheimische Inuit, die mit den Holländern Tauschhandel trieben. Hans Egede malte in seinen ausführlichen Berichten ein ziemlich sachliches Bild der Inuit als Robbenfänger und Eisbärenjäger, wie es schon die seit dem 16. Jahrhundert fleissig schreibenden Holländer in ihren weit herum übersetzten ethno-geografischen, reich bebilderten Büchern eher mythologisch gepflegt hatten.
Neben der religiösen Mission wurde die materielle Kolonisierung mit Holz und Eisen, später mit Nahrungsmitteln und Stoffen wichtig, weil immer mehr Inuit ihr traditionelles, hartes Leben als Jäger und Selbstversorger aufgeben wollten. Das bremsten die Dänen, um die Produkte aus dem hohen Norden in lukrativen Mengen beziehen zu können. Als Instrument für die wirtschaftlich-soziale Steuerung der Kolonie wurde der KGH eingesetzt, Den Kongelige Grønlandske Handel, lautmalerisch ausgesprochen KoGeHo. Der KGH hatte von 1774 bis 1950 das Handelsmonopol inne und gemäss königlichen Instruktionen zahlreiche Befugnisse, die ihn zur eigentlichen Kolonialregierung machten. Zuvor, in den ersten Jahrzehnten der dänischen Herrschaft, waren mehrere Handelsgesellschaften erfolglos gewesen; Kopenhagen dachte ans Aufgeben, auch weil die Holländer den lukrativen Walfang als ihr Geschäft betrachteten und dieses mit Waffengewalt verteidigten.