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Eigentlich ist Ker ganz zufrieden mit ihrem Leben als Polizistin und "Single mit Benefits". Doch als sie die Ermittlungen in einem neuen Fall aufnimmt, gerät sie in die Fänge der betörend schönen Adriane. Als Verdächtige sollte Adriane zwar tabu sein, doch Ker verfällt ihr mit Haut und Haar. Da führen die Ermittlungen sie zu Privatdetektivin Sam Marlowe, die sich in Ker verliebt. Aber Ker, geblendet von der Lust mit Adriane, nimmt Sams Liebe gar nicht wahr. Sam, die nicht mit ansehen kann, wie Adriane Ker immer weiter in einen gefährlichen Strudel aus Lüge und falscher Leidenschaft hineinzieht, versucht trotz aller Abweisung, um Kers Liebe zu kämpfen. Nur ... will Ker überhaupt mehr als Sex von ihr?
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Seitenzahl: 398
Roman
© 2020édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-304-3
Coverfoto:
»Okay, sie ist ein wandelnder feuchter Traum, aber ich denke, sie hat sie ermordet.« Marita zuckte die Schultern.
Ker nickte gespielt nachdenklich. »Wahrscheinlich hast du recht. Sie sieht viel zu gut aus, um unschuldig zu sein. Nehmen wir sie in die Mangel, bis sie es zugibt.«
»Ach, komm schon, Ker . . .« Marita streifte sie mit einem tadelnden Blick. »Das ist meine Meinung. Alles deutet darauf hin. Findest du nicht?«
»Na ja . . . sie ist ein heißer Feger mit einer Menge Geld und einer Menge Zeit, es auszugeben.« Kers Mundwinkel verzogen sich anzüglich. »Genau mein Typ.«
»Dass sie dein Typ ist, darauf hätte ich wetten können.« Marita begab sich zu ihrem Wagen und öffnete die Fahrertür. »Nur denk dran, sie hat gerade ihre Frau umgebracht.«
Ker hob wie zum Widerspruch ihr Kinn. »Dann ist sie jetzt wenigstens Single«, gab sie mutwillig zurück.
Marita schüttelte den Kopf und stieg ein. »Du bist unverbesserlich.« Sie startete den Wagen und fuhr mit rollenden Augen an Ker vorbei über die Einfahrt des großen, protzigen Anwesens auf die Straße.
Ker grinste und ging zu ihrem Motorrad hinüber. Marita hatte einfach keinen Humor. Deshalb hatte sie auch so wenig Spaß im Leben. Aber sie waren Kolleginnen bei dieser Ermittlung wie schon bei vielen anderen, und sie kannten sich gut genug, dass ihre unterschiedlichen Auffassungen ihre Teamfähigkeit nicht beeinflussten.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke hoch und wollte gerade ihren Helm aufsetzen, als ein uniformierter Beamter schnell auf sie zugelaufen kam. »Kann die Gerichtsmedizin die Leiche jetzt abtransportieren, Frau Opitz?«
»Warum nicht?«, fragte Ker zurück und stülpte sich den Helm über den Kopf. »Sie ist ja tot. Allein weglaufen wird sie wohl nicht.« Dann startete sie den Motor ihrer Harley und düste davon.
Aus dem Augenwinkel erhaschte sie noch die Gestalt einer blondgelockten Frau in einem recht knappen, seidig schimmernden Nachthemd. Sie stand an einem der oberen Fenster, die bis zum Boden reichten, und blickte auf den weitläufigen Platz vor dem Haus hinunter.
Ker wäre fast in einen Wagen, der gerade die Straße herunterkam, hineingefahren, als die Ausfahrt endete.
»Verdammter Idiot!«, fluchte sie. »Ich verpass’ dir gleich einen Strafzettel!«
Aber das tat sie natürlich nicht. Sie wusste sehr gut, dass sie selbst schuld war. Langsam ließ sie den Bremsgriff und die Fußbremse ihrer Maschine los, rollte an und verbot es sich, noch einen Blick zurückzuwerfen, obwohl sie sich fast nicht beherrschen konnte.
Adriane Reichardt war einfach ein Zuckerstück. Ja, sie hatte ihre Frau umgebracht, aber das hielt Ker nicht davon ab, ihre Ausstrahlung unwiderstehlich zu finden. Als sie eben am hell erleuchteten Fenster des Schlafzimmers im ersten Stock gestanden hatte, wäre Ker am liebsten zu ihr hinaufgestürmt und hätte sie aufs Bett geworfen.
Sie atmete tief durch. Hatte Adriane ihre Frau ermordet? Ihre Geschichte klang völlig anders. Sie hatte ihre Frau mit einem Einbrecher verwechselt – es hatte genügend Einbrüche in dieser Gegend gegeben in letzter Zeit – und sie aus Notwehr erschossen. Erst danach hatte sie festgestellt, dass es ihre Frau gewesen war, und war vor Entsetzen zusammengebrochen.
Schluchzend hatte sie vor Ker und Marita gesessen und ihre Geschichte erzählt. »Ich habe sie geliebt«, wiederholte sie immer wieder. »Ich habe sie so geliebt.« Es klang glaubwürdig.
Nun ja, Ker hatte es geglaubt, Marita wohl weniger. Sie gab Verdächtigen selten eine Chance. In ihren Augen hatten es alle getan, nur einige – viel zu viele – wurden nicht erwischt.
Es war mitten in der Nacht, und deshalb kehrte Ker nicht ins Präsidium zurück, sondern fuhr nach Hause. Sie fand, der Bericht konnte bis morgen warten, aber Marita war sicherlich pflichtbewusst in ihr Büro zurückgekehrt, um ihn zu schreiben. Sparte Arbeit für Ker, die das dann nicht mehr tun musste.
Sie betrat ihre Wohnung, ein Loft in einem Industriegebiet, das viel Platz bot und noch nicht von den Luxussanierern entdeckt worden war. Es sah immer noch so aus wie die Fabrikhalle, als die es einmal gedient hatte. Deshalb war die Miete billig.
Ziemlich in der Mitte stand ein Sandsack, eingelassen in einen schweren Fuß, der den meisten, selbst heftigsten, Attacken standhielt. Sie ging darauf zu und boxte einmal kurz hinein, so eine Art Begrüßungsritual, das sie jedes Mal vollzog, wenn sie nach Hause kam. Heute jedoch merkte sie, dass der Sandsack sie mehr anzog als sonst. Sie fühlte eine starke Unruhe in sich, von der sie nicht wusste, wie sie sie loswerden sollte.
Okay, eigentlich wusste sie es. Die Unruhe hing mit Adriane Reichardt zusammen. Sie ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Oder weniger der Kopf war es, den die Gedanken an sie besetzten, sondern andere Körperteile.
Sie zog ihre Jacke aus, griff sich die Handschuhe, die am Sandsack hingen, und begann auf den schweren Gegenstand einzuschlagen. Nach einer Weile zog sie auch ihr Hemd aus. Der Schweiß rann ihr in Strömen übers Gesicht und den Oberkörper, während sie immer schwerer atmete, weil sie nicht nachlassen wollte.
Endlich umfing sie den Sandsack keuchend mit ihren Armen, ließ ihn nach ein paar Sekunden los und ging zum Kühlschrank hinüber, der in der offenen Küche stand. Sie nahm ein großes Glas und drückte es gegen den am Kühlschrank angebrachten Hebel für das innen gekühlte Wasser, das sofort zu fließen begann.
Gierig nahm sie das Glas und trank es aus. Dann stand sie da, als ob sie nicht wüsste, was sie tun sollte, füllte ihr Glas erneut, aber nur halb, und stellte es in die Öffnung für die Eiswürfel, die auf Knopfdruck herauspurzelten.
Sie betrachtete das Glas mit einem merkwürdigen Blick, als ob sie nie zuvor ein Wasserglas mit darin klingelnden Eiswürfeln gesehen hätte, setzte es an die Lippen, entschied sich dann jedoch anders, hob es höher und schüttete sich den Inhalt über den Kopf.
»Vielleicht hilft das«, murmelte sie, als die Eiswürfel beleidigt einer nach dem anderen auf den Boden plumpsten.
»Du würdest sie sofort verhaften. Lass mich das machen!« Ker blitzte Marita angriffslustig an.
Die lachte wissend. »Du würdest sie sicher nicht verhaften. Was würdest du mit ihr machen?« Ihre Augen blickten unschuldig in Kers leicht gerötetes Gesicht.
»Keine von uns kann sie verhaften. Wir haben ja gar keinen Haftbefehl«, brummelte Ker. »Es geht nur darum, ihre Aussage aufzunehmen. Weitere Fakten zu sammeln, wie das geschehen konnte.«
»Sehr richtig«, nickte Marita zustimmend. »Eine von uns muss das tun, und die andere muss herausfinden, warum ihre Frau zurückgekommen ist. Sie befand sich doch eigentlich auf einer Geschäftsreise.«
»Weshalb Adriane Reichardt sie nicht erwartet und für einen Einbrecher gehalten hat«, fügte Ker hinzu. »Nachvollziehbar.«
»Wenn man glaubt, dass es so war . . .« Maritas Stimme klang so gedehnt, dass man den Zweifel kaum überhören konnte.
»Ja, ich weiß, du glaubst es nicht!« Erregt schlug Ker mit einer Hand heftig auf ihren Schreibtisch, dass die Tatortfotos, die darauf lagen, hochflogen, und stand dann auf. »Aber es könnte so gewesen sein!«
»Könnte . . .«, entgegnete Marita, »ist nicht genug.«
Wild beugte Ker sich vor, sodass sie Marita direkt in die Augen sehen konnte. »Du kannst mich –«
»Mal im Mondschein besuchen?«, setzte Marita mit zuckenden Mundwinkeln fort. »Gern. Wenn ich mal Zeit habe . . .« Sie hob beruhigend die Hände. »Jetzt hör mal auf, mit dem Unterleib zu denken. Was wir brauchen, sind Beweise. Dafür oder dagegen. Aber Beweise.«
»Ich weiß.« Seufzend richtete Ker sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch die kurzen schwarzen Haare, die sich ein wenig lockten, wenn sie sie länger wachsen ließ, was sie aber kaum je tat. »Hier im Büro werden wir die aber nicht finden. Die Tatortfotos geben nichts her.« Sie warf einen fast verächtlichen Blick darauf.
»Nein.« Marita stand auf, schaute ebenfalls auf die Bilder hinunter. »Sie hat sie erschossen.«
»Das bestreitet sie ja auch nicht!«, fuhr Ker auf. »Es war ein höchst tragischer Unfall.«
»Ein Unfall, hmhm«, machte Marita skeptisch. »Was für eine Geschäftsreise hatte ihre Frau eigentlich geplant? Wissen wir etwas darüber?«
»Ja, das ist merkwürdig.« Ker beruhigte sich wieder und kehrte zu ihrem professionellen Verhalten zurück. »In ihrem Wagen waren keine Unterlagen. Keine Notizen für irgendwelche Meetings in München, keine Termine in ihrem Terminkalender für die nächsten zwei Tage, die sie hätte in München sein sollen.«
»Sekretärin?«, fragte Marita.
Ker zuckte die Schultern. »Ist in Urlaub. Anscheinend hat sie das im Moment alles selbst geregelt.«
»Wie praktisch«, stellte Marita leicht ironisch fest. »Hat sie ihre Termine alle im Kopf behalten? Brauchte sie nichts, um das aufzuschreiben? Kein Papier und auch nicht ihren digitalen Terminkalender?«
»Keine Ahnung.« Ker zuckte die Schultern. »Weiß ich doch nicht. Vielleicht hatte sie ein gutes Gedächtnis.«
»Ein Terminkalender auf dem Smartphone ist da wohl erheblich zuverlässiger. Und eine Geschäftsfrau ist das allemal gewöhnt. Die schreibt alles auf, weil es sonst viel zu viel ist, um es im Kopf zu behalten.« Marita runzelte die Stirn. »Wo ist das?«
»Vielleicht war es so wichtig, dass sie dachte, sie würde es nicht vergessen. Oder sie wollte es geheimhalten. Vor ihrer Frau oder vor wem auch immer. Weil sie nicht wollte, dass jemand wusste, wo sie war.« Kers Mundwinkel zuckten. »Oder dass sie überraschend zurückkommen würde.«
»Ja, so überraschend, dass ihre Frau sie erschießen konnte.« Als Ker schon wieder auffahren wollte, fuhr Marita nachdenklich fort: »Ein gutes Gedächtnis . . .« Sie schüttelte den Kopf. »Und dann hat sie vergessen, dass im Schlafzimmer ein geladener Revolver lag? Geht einfach so rein, obwohl ihre Frau sie nicht erwartet? Ohne anzuklopfen? Ohne etwas zu sagen?«
»Vielleicht wollte sie sie nicht stören. War ja schließlich schon spät«, vermutete Ker eigensinnig.
»Und der süße blonde Engel hat nicht einen Moment gezögert zu schießen.« Marita biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Hat sie eine Ausbildung?«
»Würde ich nicht vermuten, so wie sie aussieht«, verteidigte Ker Adriane sofort.
»Dafür hat sie aber sehr gut getroffen. Vier Mal«, entgegnete Marita trocken. »Mitten ins Herz.«
»In die Brust«, korrigierte Ker.
»Fast dasselbe.« Marita schüttelte argwöhnisch den Kopf. »Niemand, der dafür kein Training hat, kann das so einfach. Das wäre ein merkwürdiger Zufall. So ein Revolver ist ganz schön schwer und unhandlich, wenn man ihn nicht gewöhnt ist. Beim Schießen kann man den Rückschlag nicht ausgleichen, ballert wild in der Gegend herum . . . Aber vier Mal in die Brust –«
»Zum Teufel noch mal!« Kers Stimme wurde so laut, dass Kollegen, die außerhalb des Büros standen, aufmerksam herüberblickten. »Solche Zufälle gibt’s. Sie war in Panik, Adrenalin ohne Ende. Das hat ihr Kraft gegeben.«
»Solche Zufälle gibt’s . . . selten«, korrigierte Marita. »Äußerst selten. Und bei nicht trainierten Frauen ist das praktisch unmöglich.«
»Praktisch«, wiederholte Ker, während ihre Kiefer mahlten, »heißt nicht immer.«
»Ja, ausschließen kann man es nicht«, stimmte Marita widerwillig zu. »Wer hatte das Geld für dieses protzige Haus? Ihre Frau?«
»Adriane Reichardt verdient bestimmt gut. Bei ihrem Aussehen. So als Model.« Ker versuchte mit aller Gewalt, Maritas Argumente zu entkräften.
»Hast du die Finanzen schon überprüft?« Fragend hob Marita die Augenbrauen.
»Dazu bin ich noch nicht gekommen«, schnappte Ker. »Sie sagte, die Unterlagen sind wahrscheinlich im Safe, und sie kennt die Kombination nicht.«
»Dann müssen wir ihn wohl aufschweißen.« Marita ging an ihren Schreibtisch zurück. »Wer macht das?«
»Hab schon angerufen«, antwortete Ker. »Wir können rüberfahren und warten, während sie ihn öffnen.«
Marita zog nachdenklich ihre Stirn zusammen. »Ich glaube, da müssen wir nicht beide rumstehen. Du kannst rüberfahren, und ich schaue mal, ob ich was über die Ehefrau rausfinde. Wieso gibt es keine Unterlagen? Das kann ich mir nicht erklären. Eine erfolgreiche Geschäftsfrau behält nicht alles im Kopf, sonst wäre sie keine erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie muss perfekt sein in ihrer Terminverwaltung. Mit oder ohne Sekretärin.«
»Tja.« Ker zuckte die Schultern. »Vielleicht war sie die Ausnahme von der Regel. Eine chaotische erfolgreiche Geschäftsfrau.«
Marita hob zweifelnd die Augenbrauen. »Mal sehen.« Plötzlich grinste sie. »Ich denke, du bist nicht böse, wenn ich dich nicht begleite? Du musst ja noch den Rest der Aussage von dem schönen Biest aufnehmen. Dabei störe ich nur.«
»Dafür werde ich bezahlt«, entgegnete Ker widerborstig. »Egal, ob es mir gefällt oder nicht.«
»Na, diesmal gefällt es dir sicher«, bemerkte Marita mit zuckenden Mundwinkeln und verließ das Büro.
Am Haus angekommen stieg Ker von ihrer Maschine, nahm den Helm ab und schaute sich um. Bei Tag sah das Anwesen sogar noch protziger aus als bei Nacht. Es schien allen Dieben zuzurufen: »Kommt her! Hier gibt es eine Menge zu holen!«
Sie schüttelte den Kopf. Normalerweise hatte sie nicht sehr viel in diesen Kreisen der Gesellschaft zu tun, die regelten ihre Angelegenheiten meistens auf andere Art als durch Gewalt. Jedenfalls nach außen hin.
Ein kleiner Kastenwagen kam die Auffahrt herauf. Die Aufschrift wies darauf hin, dass das der Schweißer sein musste.
Ker ging zu ihm hinüber und begrüßte ihn, als er ausstieg.
Danach begaben sie sich gemeinsam zu der imposanten Eingangstür und klingelten.
Ein sanftes Glockenspiel erklang und spielte die ganze Melodie zuerst zu Ende, bevor die Tür geöffnet wurde.
Eine ältere Frau schaute sie fragend an. »Ja, bitte?«
»Polizei«, sagte Ker und zog ihren Ausweis heraus. »Ist Frau Reichardt da?«
Die Frau nickte. »Im Garten.« Sie trat zurück und wies auf den hinteren Teil des Hauses.
»Warten Sie kurz hier.« Ker nickte dem Schweißer zu, der sein schweres Gerät in der Halle abstellte. »Ich werde schnell Bescheid sagen, dass wir jetzt mit dem Aufschweißen anfangen.«
»Alles klar.« Der Mann war offenbar die Gelassenheit in Person. Er wirkte, als ließe er sich durch nichts aus der Ruhe bringen. »Ich habe keine Eile.«
Ker folgte der älteren Frau, die vermutlich die Haushälterin war – sie konnte sich nicht vorstellen, dass Adriane Reichardt selbst einen Putzlappen in die Hand nahm –, in Richtung der großen Glastür, die in den Garten führte.
Die beiden Teile der Schiebetür waren weit nach rechts und links aufgeschoben, sodass eine leichte Brise hereinwehte, ein süßer Hauch, der von Blütenduft geschwängert war.
Als Ker auf die Terrasse hinaustrat, hatte sie das Gefühl, sie beträte das Paradies. Es war mehr ein Park als ein Garten, ein Pool in der Mitte war wie eine Oase gestaltet, keine geraden Linien, als hätte die Natur einen himmlischen See erschaffen, in den sich ein kleiner Wasserfall plätschernd ergoss. Der Garten Eden musste dagegen fast langweilig erschienen sein.
Kaum hatte sie das gedacht und ihren Blick schweifen lassen, bemerkte sie, wie eine schmale Gestalt aus den Tiefen des Sees auf sie zuschwamm. Eva hatte sich entschlossen, die Besucherin ihres Paradieses zu begrüßen.
Adriane Reichardt kam über den flachen Rand, der den Pool abschloss, wie eine Nymphe aus dem Meer gestiegen. Ihre langen Haare fielen nun durch die Nässe glattgezogen über die Schultern auf ihren Rücken hinunter.
Ker musste schlucken.
Glücklicherweise hatte die Nymphe beim Schwimmen auf das Evaskostüm verzichtet und trug zumindest einen knappen Bikini. Dem Anlass angemessen in schwarz.
Aber vermutlich war das eher dem geschuldet, dass Schwarz durch den Kontrast das Blond ihrer Haare am besten hervorhob. Sie hatte den Bikini sicherlich nicht erst jetzt gekauft.
Lächelnd ging sie auf eine Sonnenliege zu, auf der ein Handtuch lag, hob es auf und wrang ihre Haare aus, während sie einen Blick zu Ker herüberwarf.
»Entschuldigung.« Ker konnte es gerade noch verhindern zu stammeln. »Ich wollte Sie nicht stören.«
»Kein Problem«, erwiderte Adriane mit ihrer süßen und doch vollen Stimme, die leicht vibrierend nachschwang. »Wasser ist wie ein Lebenselixier für mich. Ich schwimme jeden Tag.« Sie trocknete noch ein wenig ihre Haare, dann schlang sie sich das Handtuch um die Hüften und kam auf Ker zu.
»Gehen wir doch wieder hinein«, lud sie Ker mit einem Lächeln ein. »Ich werde mir nur schnell etwas überziehen.«
Ach, das ist wirklich nicht nötig, dachte Ker. Meinetwegen kannst du so bleiben.
»Wir sind –« Ker brach ab und räusperte sich. »Ich habe einen Schweißer mitgebracht. Für den Safe.« Sie räusperte sich erneut. »Wenn Sie einverstanden sind.«
Adriane hob mit einer reizenden Geste die Augenbrauen, auffallend genug, um sie verführerisch erscheinen zu lassen. »Warum sollte ich nicht damit einverstanden sein?«, fragte sie in einem geradezu säuselnden Tonfall. »Ich bin ja selbst daran interessiert zu erfahren, was in dem Safe ist. Meine Frau –« Auf einmal verstummte sie. »Sie hat da immer sehr geheimnisvoll getan«, fügte sie nach einem kaum merklichen Schlucken hastig hinzu und ging mit schwingenden Hüften hinein.
Für einen Moment hoffte Ker, dass das Handtuch um ihre Bikinifigur herunterfallen würde, aber das tat es nicht. Adriane hatte wohl Übung darin, es genau so zu verknoten, dass es das nicht tat – oder vielleicht doch . . . wenn sie es wollte. Das war aber heute anscheinend nicht der Fall.
Ker seufzte entsagungsvoll und folgte ihr. Während Adriane nach rechts in den Wohnbereich abbog, schwenkte sie selbst nach links und sammelte den Schweißer in der Eingangshalle auf. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen, wo es ist.« Mit dem Kinn wies sie in Richtung der Tür des Arbeitszimmers, das sie bereits in der Nacht des Mordes untersucht hatten, ohne den Safe öffnen zu können.
Er wuchtete seine Gerätschaften ins Zimmer, Ker schob das Bild, das den Safe verdeckte, zur Seite und machte eine einladende Geste. »Bitteschön. Viel Vergnügen.«
»Aber immer doch, Gnädigste«, grinste er zuvorkommend und öffnete seinen Koffer, aus dem er eine Schutzmaske nahm.
»Können Sie sagen, wie lange es dauert?«, fragte Ker.
»Na . . .« Er warf einen abschätzenden Blick auf die kleine, in die Wand eingelassene Metalltür. »Bei dem Modell nicht lange. Die Leute denken immer, das Zeug ist so sicher . . .« Er schüttelte den Kopf. Er war offensichtlich nicht dieser Meinung.
»Dann lasse ich Sie mal allein, Meister«, kündigte Ker an. »Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie fertig sind.«
»Mach ich«, bestätigte der Mann nickend und widmete sich nun seinem Schweißbrenner.
Ker verließ das Arbeitszimmer und schaute sich um. Sie wusste, wonach sie suchte, und es kam auch gleich darauf um die Ecke.
Adriane Reichardt hatte sich nur einen Bademantel übergeworfen, dessen Gürtel sie so locker verschlungen zu haben schien, als sei er nicht dazu bestimmt, den Stoff lange geschlossen zu halten.
Ker fragte sich, ob sie den nassen Bikini ausgezogen und dafür etwas anderes unter dem Bademantel angezogen hatte. Aber warum dann überhaupt der Bademantel? Hätte sie dann nicht gleich etwas anderes – Ker schluckte so unauffällig wie möglich. Hatte die blonde Schönheit überhaupt etwas darunter an?
Sie spürte, wie die Vorstellung, dass es nicht so sein könnte, sie erregte. Sie hätte gern nachgeschaut. Aber das ging dann wohl doch zu weit.
»Es dauert«, sie drehte sich halb um und wies zum Arbeitszimmer zurück, »wahrscheinlich nicht lange«, teilte sie Adriane Reichardt mit.
»Keine Sorge, ich habe Zeit.« Das charmante Lächeln hätte jede Modezeitschrift zieren können. Was es ja bei einigen auch tat. »Sie müssen sich nicht beeilen.« Adriane ging zu einer Bar hinüber. »Möchten Sie etwas trinken?« Gleich darauf lachte sie leise auf. »Aber nein, natürlich nicht. Sie sind ja Polizistin, und Sie sind im Dienst. Da trinken Sie sicher nicht.«
Ker nickte bestätigend. »Keinen Alkohol«, sagte sie. »Aber wenn Sie etwas Nicht-Alkoholisches haben . . .«
»Selbstverständlich.« Adriane beugte sich hinunter, und kurz darauf tauchte sie mit ein paar Orangen wieder auf. »Ich mache Ihnen gleich etwas.«
»Oh, Sie müssen nicht –« Ker hob abwehrend die Hand.
Adriane lachte. »Kein Problem. Alles elektrisch.« Sie lächelte Ker so hinreißend an, dass die in eine andere Richtung schauen musste, um ihre Fassung zu bewahren. »Und es ist auch nicht ganz uneigennützig. Ich hatte an einen Campari Orange gedacht.«
Sie schnitt die Orangen schnell durch und drückte die Hälften auf die Kuppel einer silbern schimmernden Zitruspresse, die sich leise summend sofort zu drehen begann. Der Saft lief beinah unanständig über den Rand quellend heraus – aber vielleicht lag es auch nur an der Person, die ihn dazu brachte, dass Ker diesen Eindruck hatte –, und sie füllte ein Glas damit, das sie Ker über den halbhohen Tresen zuschob.
Danach nahm sie eine Flasche mit dunkelrot schimmerndem Campari, ließ zwei Fingerbreit davon in ein hohes Longdrinkglas fließen und verwandelte den blutroten Ton dann mit dem Rest des Orangensafts in die Ahnung eines Sonnenuntergangs über dem Pazifik.
Sie nahm das Glas und prostete Ker auf einmal merkwürdig zurückhaltend zu. »Was vermuten Sie denn, was im Safe ist?«, fragte sie beinah schüchtern.
Ker zuckte die Schultern. »Sie sagten ja, es werden wohl die Finanzunterlagen sein, die Ihre Frau nicht offen im Büro herumliegen lassen wollte.«
»Ja . . .« Es klang gedehnt, und Adriane sah so aus, als ob sie das bezweifelte. Auf einmal schlug ihr Gesichtsausdruck um. Es schien, als wäre sie den Tränen nahe. Sie stellte ihr Glas ab und schluckte. »Entschuldigung«, sagte sie. »Gerade ist mir wieder bewusst geworden, warum Sie überhaupt hier sind. Dass das alles nicht nötig wäre, wenn . . . wenn Max . . . Maximiliane noch leben würde.« Sie hob die Hände vors Gesicht. »Mein Gott«, flüsterte sie dahinter hervor. »Wie konnte das nur passieren?«
Ker wusste nicht genau, was sie tun sollte. Sie war dienstlich hier, also konnte sie die trauernde Witwe wohl kaum in die Arme nehmen, um sie zu trösten, auch wenn sie das gern getan hätte.
So stützte sie sich nur auf den Tresen, beugte sich leicht darüber und sagte leise: »Es war ein Unfall. So etwas passiert. Leider. Wenn Sie . . .«, sie räusperte sich, »wenn Sie darüber reden wollen oder Hilfe brauchen –« Sie zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie neben ihr Glas. »Sie können mich jederzeit anrufen. Tag und Nacht.«
Um Adriane Zeit zu geben, sich von ihrer Erschütterung zu erholen, sagte Ker dann nichts mehr, trank langsam ihren Orangensaft und beobachtete das leichte Zittern der blonden Locken hinter den immer noch vorgehaltenen Händen.
Endlich nahm Adriane sie herunter und sah Ker an. »Sie müssen mich für eine Heulsuse halten«, brachte sie leise über die schön geschwungenen Lippen. »Ich dachte, ich könnte mich beherrschen, aber –«
»Klein Susi ist geknackt!«, rief es da plötzlich polternd durch die Halle.
Ker fuhr fast herum, so überraschend traf sie die laute Mitteilung. Sie ging mit schnellen Schritten hinüber. »Was?«
»Der Safe ist auf«, wiederholte der Schweißer nun etwas sachlicher. »Alles zu Ihrer Verfügung.« Er zeigte auf die weit offenstehende Safetür. »Wie die Jungfrau im Bade.«
Leicht irritiert zog Ker die Stirn kraus.
»Brauchen Sie mich dann noch?«, fragte er. »Noch was anderes zu knacken?«
»Nein.« Ker schüttelte den Kopf. »Sie können dann gehen. Danke.«
»Alles klar.« Er drehte sich um, zog die Schutzmaske vom Gesicht und begann einzupacken.
Ker trat auf den Safe zu und schaute hinein. Papiere, ein paar Packen mit Geld – sie nahm einen davon und blätterte schnell hindurch. Alles Fünfhunderter. Fünfzigtausend Euro schätzungsweise. Die Portokasse wahrscheinlich, dachte sie innerlich stirnrunzelnd – und ein paar Schmuckstücke in Samtkästchen.
Als sie Adriane hereinkommen hörte, drehte sie sich um und hielt eins davon hoch. »Gehören die Ihnen?«, fragte sie.
Es schien, als ob Adriane kurz zögerte. »Teils, teils«, sagte sie. »Ein paar gehören –«, sie schluckte, »gehörten Max.«
»Aber Sie kannten die Kombination nicht«, stellte Ker fest. »Also konnten Sie nicht an Ihre heran, wenn sie nicht da war.«
»Das sind nur die teuersten«, erklärte Adriane. »Die habe ich nicht oft getragen. Meistens nur, wenn wir zusammen irgendwo hingegangen sind, bei offiziellen Anlässen. Das, was ich täglich trage, ist in einem Schmuckkästchen in meinem Ankleidezimmer.«
Ker nickte kurz, trug dann die Sachen im Safe auf einer Liste ein und machte ein paar Fotos.
»Wissen Sie«, fuhr Adriane da plötzlich zusammenhanglos fort, »was mich wirklich erschreckt?«
Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen wandte Ker sich ihr vom Safe her wieder zu.
»Die Welt . . .«, ziellos ließ Adriane ihren Blick durch den Raum schweifen, »sieht heute kein bisschen anders aus als gestern.« Ihre Augen schienen feucht zu werden. »Max ist tot und . . . und es hat sich nichts geändert. Die Zeit ist nicht stehengeblieben, das Haus steht immer noch genauso da wie seit es gebaut wurde, alles läuft weiter, als wäre nichts geschehen.«
»Ich bin dann weg«, unterbrach der Schweißer Kers Antwort, die allerdings bislang nur daraus bestanden hatte, dass sie den Mund öffnete und dann wieder schloss wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Schön’n Tach noch, die Damen.«
»Ein Gemüt wie ein Fleischerhund«, bemerkte Ker, als sein breiter Rücken durch die Tür verschwand. »Tut mir leid.« Sie schaute Adriane mitfühlend an. »Ich weiß, dass es schmerzhaft für Sie sein muss, all diese Dinge immer wieder aufzurühren, aber wir sind nun einmal verpflichtet, die Umstände zu untersuchen.«
Eine endlos erscheinende Weile lang, die in Wirklichkeit jedoch wahrscheinlich nur Sekunden dauerte, war es so still im Raum, dass man eine Fliege hätte summen hören können wie einen Flugzeugmotor.
»Natürlich«, sagte Adriane dann mit einer merkwürdig flach klingenden Stimme. »Das müssen Sie. Sie sind ja die Polizei.« Die letzte Feststellung klang, als ob sie das zuvor vergessen gehabt hätte.
»Nicht die ganze«, erwiderte Ker lächelnd. »Nur eine einzelne Polizistin.«
»Warum sind Sie Polizistin geworden?«, fragte Adriane unvermittelt, während sie sich umdrehte und das Zimmer verließ.
Wenn Ker ihr antworten wollte, hatte sie keine andere Wahl, als ihr zu folgen. »Warum?«, echote sie.
»Sie müssen doch einen Grund gehabt haben.« Sie waren nun wieder im Wohnzimmer angekommen, und Adriane drehte sich halb zu ihr um, bevor sie weiter zur Couch ging und sich wie eine Katze, die sich in der Sonne räkelt, darauf niederließ.
Es war wie ein erotischer Akt, und Ker spürte die Auswirkungen sofort. »Ähm . . . ja . . . natürlich«, antwortete sie leicht stockend, weil es ihr wirklich schwerfiel, die Wörter zu finden. Es schien, als hätte sich alles, was zum Denken nötig war – Blut, Sauerstoff, Synapsen – in einen anderen Teil ihres Körpers verlagert. In einen, der eigentlich nicht zum Denken gebaut war.
»Also?«, beharrte Adriane mit einem unschuldig interessierten Gesichtsausdruck auf ihrer Frage. »Warum?«
»Warum?«, wiederholte Ker noch einmal, um Zeit zu schinden. Reiß dich zusammen! befahl sie sich innerlich. Konzentrier dich auf die Antwort, nicht auf ihre Beine, die unter dem Bademantel auseinandergleiten, nicht auf den Ansatz ihrer Brüste, der zwischen den Revers des Kragens hervorschimmert, noch nicht einmal auf ihre Lippen, die diese Frage gestellt haben. Sie räusperte sich. »Um zu helfen, schätze ich«, antwortete sie. »Die Guten ins Nestchen, die Bösen ins Knästchen – so was in der Art.«
»Und? Haben Sie schon viele ins Knästchen gebracht?« Adriane lächelte erneut hinreißend, und diesmal hatte Ker nur eine Wahl, nämlich zur Tür zu gehen und in den parkartigen Garten hinauszuschauen, auf das kühle Wasser des Pools, in der Hoffnung, ihr Körper würde sich seiner Temperatur anpassen.
»Einige«, antwortete sie heiser.
»Ich wette, es waren viele.« Der heiße Hauch von Adrianes Atem streifte ihren Nacken und machte jeden Versuch, die Temperatur nach unten zu drücken, zunichte. Sie schoss eher noch mehr in die Höhe. »Sie sind so groß und stark.«
Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Als ob sie ganz allein auf der Welt wären.
»Entschuldigen Sie die Störung«, unterbrach da plötzlich eine Stimme die überirdische Stille. »Da ist ein Anruf für Kommissarin Opitz. Eine Kollegin will sie sprechen.«
Während Adriane gar nichts gehört zu haben schien, fuhr Ker herum und verpasste ihr dabei fast einen Kinnhaken. »Ja?«, fragte sie beinah keuchend.
»Hier bitte.« Die Haushälterin kam gemessenen Schrittes zu ihnen herüber und überreichte Ker das Handteil eines Festnetztelefons. Ihr Gesichtsausdruck ließ keinerlei Emotion erkennen.
»Ja?«, wiederholte Ker in den Telefonhörer hinein.
»Hast du dein Handy ausgeschaltet?«, fragte Maritas unzufriedene Stimme. »Ich konnte dich nicht erreichen.«
»Nein, eigentlich –« Ker fummelte in einer der Taschen an ihrer Lederjacke herum. »Ach . . .«, stellte sie überrascht fest. »Ich habe vergessen es aufzuladen. Es ist leer.«
»Na ja«, erwiderte Marita. »So weiß ich wenigstens, dass du noch im Haus bist.«
»Der Schweißer ist gerade weg«, erklärte Ker, deren Atem sich nun, da sie Adriane nicht ansah, etwas beruhigte. »Sind eine Menge Unterlagen im Safe, die wir sichten müssen. Dazu bin ich noch nicht gekommen. Auch eine ganze Menge Geld.« Sie lachte leicht. »Wir würden das jedenfalls denken.«
»Okay«, sagte Marita. »Ich habe etwas ganz Interessantes herausgefunden. Kommst du jetzt rein?«
Kers Kopf wandte sich automatisch in Adrianes Richtung, die sich mittlerweile wieder auf der Couch niedergelassen hatte und mit ihrem lasziven Anblick einen heißen Schauer nach dem anderen auf Kers Haut hervorrief. Sie räusperte sich. »Ja«, erwiderte sie nickend. »Ich komme jetzt rein.«
»Dann bis gleich.« Marita legte auf.
»Was hast du für mich?« Ker warf sich mit Schwung in ihren Stuhl am Schreibtisch, dass er quietschte und fast umfiel.
»Na, du bist ja energiegeladen«, wunderte Marita sich blinzelnd. »Angenehmen Morgen gehabt?«
»Es war . . . ist ein Arbeitstag«, entgegnete Ker schnippisch. »Ich habe die ganzen Unterlagen mitgebracht, die im Safe waren. Geld und Schmuck natürlich nicht. Das geht uns wohl nichts an.«
»Ist es ihr Schmuck?«, fragte Marita grinsend.
»Ihrer und der ihrer Frau.« Ker spitzte die Lippen. »Die teuren Stücke, die sie anscheinend nicht oft getragen hat.« Jetzt grinste sie auch. »Nur falls du fragen wolltest, warum sie die Kombination nicht kannte. Dasselbe habe ich auch getan.«
»Brav«, lobte Marita. »Du hast doch noch nicht ganz vergessen, dass du Polizistin bist.«
»Es ist nur deine schmutzige Fantasie, die mir unterstellt, dass ich das vergessen könnte«, erwiderte Ker betont. »Die Gefahr besteht nicht.«
»Freut mich, wenn es so ist«, meinte Marita trocken. »Zu dem, was ich herausgefunden habe . . .« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Es gibt keinerlei Beweise, dass Maximiliane Reichardt tatsächlich auf eine Geschäftsreise gehen wollte. Sie hat gestern in einem Hotel eingecheckt.«
»In einem Hotel? Hier?« Kers Augen öffneten sich erstaunt. »Obwohl sie das große Haus hat?«
Marita nickte bedeutungsschwanger. »Sie hatte Besuch von einer Frau.«
Wenn Kers Augen sich noch mehr hätten öffnen können, wären ihre Augäpfel herausgesprungen. »Wie bitte? Sie hatte eine Affäre? Mit der –« Sie brach ab.
»Mit der Frau zu Hause, wolltest du sagen?«, fragte Marita. »Ja, manche kriegen den Hals wohl nie voll.«
»Das heißt, sie hat ihrer Frau gesagt, sie geht auf eine Geschäftsreise, trifft sich mit einer anderen Frau, kommt dann aber früher zurück als geplant?« Ker runzelte die Stirn. »Irgendwas passt da nicht zusammen. Wenn sie sich nur mit ihrem Flittchen treffen wollte, wäre sie doch wahrscheinlich sowieso abends wieder nach Hause gekommen. Wie von der Arbeit. Wäre gar nicht aufgefallen.«
Maritas Mundwinkel zuckten heftig. »Jede Frau, die nicht Adriane Reichardt ist, muss ein Flittchen sein?«
»Du kannst die . . .«, Ker zögerte demonstrativ, »Dame nennen, wie du willst«, bemerkte sie säuerlich. »Aber was kann sie bei einer anderen Frau gesucht haben, das sie nicht zu Hause bekommt?«
Marita schmunzelte noch mehr. »Vielleicht ist Madame Adriane nicht so freizügig, wie du denkst. Ich weiß ja nicht, wie weit du das schon ausprobiert hast.«
»Ich war dort, um nach Beweisen zu suchen, nicht –« Ker brach ab. Innerlich wurde ihr heiß und kalt. Sie war gegangen nach Maritas Anruf, aber was, wenn Marita nicht angerufen hätte? Das Bild von Adriane auf der Couch, die sie mit halbgeöffneten Lippen verlockend ansah, schob sich vor ihr inneres Auge. »Sie ist am Boden zerstört«, setzte sie trotzig fort. »Die Frau, die sie geliebt hat . . .«, erneut machte sie eine Pause, »und die sie offensichtlich betrogen hat, ist tot. Ob sie von dem Betrug wusste?«, setzte sie noch grüblerisch hinzu.
»Gäbe ihr ein Motiv. Eifersucht«, meinte Marita. »Sie wusste, dass ihre Frau von ihrer Geliebten kommt, hat auf sie gewartet und sie kaltblütig erschossen.«
»Das . . .«, Ker schnappte nach Luft, »glaube ich niemals. Sie ist nicht . . . kaltblütig.«
»Aha.« Marita schob skeptisch ihre Unterlippe vor. »Du musst es ja wissen. Hast du dafür . . .«, sie zögerte genüsslich, »Beweise gesammelt, als du dort warst?«
»Ich sagte doch schon –« Ker sprang von ihrem Stuhl hoch. »Nein«, fuhr sie dann schweratmend fort, während sie Marita wütend anstarrte. »Du kannst ja die Haushälterin fragen, wenn du mir nicht glaubst. Sie war die ganze Zeit da.«
»Mit euch im Zimmer?«, fragte Marita. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht wichtig. Aber wir müssen alle Möglichkeiten erforschen, und das kannst du nicht, wenn du sie von vornherein von aller Schuld reinzuwaschen versuchst.«
»Sie hatte Angst. Es hatte viele Einbrüche gegeben«, argumentierte Ker. »Deshalb hatte sie die Waffe überhaupt. Sie wollte sie nicht, sagte sie. Ihre Frau hat sie ihr zu ihrem Schutz besorgt.«
»Da konnte sie ja noch nicht wissen, dass sie damit erschossen werden würde«, erwiderte Marita nüchtern. »Und meiner Erfahrung nach fassen Frauen, die Angst vor Waffen haben, sie auch dann nicht an, wenn es angebracht wäre. Das weißt du genau.«
»Sie ist in Panik geraten, verdammt noch mal!«, stieß Ker heftig hervor. »Sie hat verdächtige Geräusche gehört, konnte nicht mehr klar denken.«
»Ja . . .« Marita dehnte das kleine Wörtchen fast unendlich. »Nicht mehr klar denken zu können kann gewisse Reaktionen hervorrufen.«
»Ach, lass mich doch in Ruhe!« Ker verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich von Marita ab.
»Mach ich gern«, sagte Marita. »Lass uns die Unterlagen durchsehen. Vielleicht finden sich da noch Hinweise. Wenn Maximiliane Reichardt ihre außerhäuslichen Aktivitäten vor der schönen Adriane verstecken wollte, hat sie vielleicht auch Kreditkartenabrechnungen und so etwas, in denen Hotelaufenthalte vermerkt sind, von denen ihre Frau nichts wissen sollte, im Safe aufbewahrt. Wenn es stimmt, dass Blondchen die Kombination nicht kannte.«
Kers Augen schossen Blitze auf sie.
»Ach, komm schon . . .« Marita lachte. »Sie ist blond, oder? Jetzt mach dich nicht lächerlich. Für mich ist sie noch lange nicht aus dem Schneider, auch wenn du davon nichts wissen willst.«
»Man bringt niemanden um nur aus Eifersucht.« Ker versuchte, wieder zu ihrer professionellen Sichtweise zurückzukehren, denn tief innerlich wusste sie, dass Marita recht hatte. »Nur Psychopathen tun das. Weil sie eigentlich keinen Grund brauchen, um zu töten.« Sie strich sich nachdenklich über das Kinn. »Wenn es kein Unfall war, muss es ein stärkeres Motiv gegeben haben als Eifersucht. Sie hätte sich schließlich einfach scheiden lassen können.«
»Du ziehst jetzt doch in Betracht, dass sie es absichtlich getan haben könnte?«, fragte Marita überrascht nach.
Ker schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie es nicht tun wollte. Aber ich will alle Verdachtsmomente ausschalten, die sie belasten.«
»Damit sie dir dann dankbar in die Arme fällt?« Marita stand auf und griff nach den Ordnern und USB-Sticks, die Ker mitgebracht hatte. »Du bist verrückt.«
»Jeder ist unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist«, quetschte Ker zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Vergiss das nicht.«
»Das vergesse ich schon nicht«, entgegnete Marita gutgelaunt. »Selbst Blondchen profitiert davon. Aber in ihrem Fall müssen wir ja noch nicht einmal nach einem anderen Täter suchen. Schließlich hat sie es zugegeben.«
»Sie fühlte sich bedroht. Es ist ihr gutes Recht, sich zu verteidigen, wenn sie sich bedroht fühlt.« Ker wollte nicht nachgeben.
»Ist es.« Marita nickte. »Aber wie bedroht kann man sich von einer unbewaffneten Frau fühlen, die auch noch die eigene Ehefrau ist?«
»Weil sie nicht dachte, dass es ihre Frau ist . . .« Ker knirschte mit den Zähnen. »Sie hat einen Einbrecher erschossen, nicht ihre Frau.«
»Nur dumm«, stellte Marita stoisch fest, »dass es ihre Frau ist, die tot ist.«
»Ja, sie war öfter hier.« Der Hotelangestellte nickte.
»Allein?«, fragte Ker.
Er grinste. »Nein. Sie kam immer allein, aber kurz darauf kam die andere Frau, blieb eine Weile und ging dann wieder. Kurz darauf ging sie. Sie kamen nie zusammen und gingen nie zusammen, aber sie haben dasselbe Zimmer benutzt.«
»Und wie lange ging das?«
»Oh . . .« Er überlegte. »Eine ganze Weile. Genau kann ich’s nicht sagen. Aber ich kann nachsehen.«
»Okay, tun Sie das.« Ker nickte. »Sie hat sich also noch einmal mit ihrem Flittchen getroffen«, murmelte sie leise vor sich hin, »um dann nach Hause zu gehen und erschossen zu werden. Warum? Was sollte das?«
Der Angestellte, der im Computer geblättert hatte, blickte sie an, als hätte sie die Fragen an ihn gestellt. Er war ein älterer Mann mit einem grauen Haarkranz um eine glänzende Glatze herum, die jetzt die Deckenbeleuchtung spiegelte, als wäre ihm gerade ein Licht aufgegangen. »Sie war kein Flittchen«, widersprach er. »Keine von den Damen aus dem Milieu. Sie hat ein Büro hier die Straße runter. Diskrete Ermittlungen steht dran.«
»Diskrete Ermittlungen?« Ker riss die Augen auf. »Was soll das heißen? Eine Detektei?«
Er zuckte die Schultern. »Kommt mir so vor. Hab sie nur zufällig da gesehen. Bis dahin wusste ich nicht, wer sie ist.«
»Kann trotzdem eine Escort-Agentur sein«, vermutete Ker. »Aber das schreiben sie natürlich nicht aufs Fenster.«
»Geht mich nichts an.« Er schüttelte den Kopf. »Wer hierherkommt und sein Zimmer bezahlt, ist ein Hotelgast, weiter nichts.«
»Diskretion überall«, bemerkte Ker zynisch. »Es ist kaum zu ertragen.«
»Ging ungefähr drei Monate.« Der Angestellte ließ seine Augen über ein paar Eintragungen auf dem PC-Bildschirm fahren. »Keine lange Affäre.«
»Manche Leute lieben die Abwechslung«, sagte Ker.
Sie wusste, es war ein unprofessioneller Kommentar, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. Es rief jedes Mal Empörung in ihr hervor, wenn sie sich vorstellte, dass irgendjemand Adriane betrügen könnte – insbesondere ihre eigene Frau. Es hielt sie davon ab, allzu viel Mitleid mit Maximiliane Reichardt zu empfinden, obwohl sie tot war.
Nicht dass sie üblicherweise Mitleid mit Mordopfern empfand. Es war ihr Job zu untersuchen, wer sie umgebracht hatte. Die Opfer lernte sie nie kennen, nur die Hinterbliebenen, die Verdächtigen, die Zeugen. So konnte sie keine wie auch immer geartete Beziehung zu den Opfern aufbauen. Alles, was sie über sie erfuhr, war Hörensagen. Oft Vorurteile und Vermutungen. Spekulationen über Charakter und Persönlichkeit, gegen die sich die Leiche nicht mehr wehren konnte. Daraus und aus den Indizien musste sie Schlüsse ziehen, damit sie zu Beweisen wurden, die den Mörder überführten.
Wenn es ein Mord war. Wenn sie den Täter nicht kannte. Aber Adriane hatte bereits zugegeben, dass sie ihre Frau erschossen hatte. Nur hatte sie es nicht gewollt, hatte ihre Frau nicht erkannt, hatte in Notwehr oder zumindest in Angst um ihr Leben gehandelt. Kein Mord, keine Mörderin. Maximiliane hatte sie betrogen, das allein ließ sie eine Strafe verdienen.
Nun ja, vielleicht nicht den Tod. Das fand selbst Ker zu hart nur für einen Ehebruch.
»Tut mir leid. War gerade undercover unterwegs.« Die Frau mit den dunklen Haaren lüftete ihr Cover, nämlich einen Hut, und ließ eine wallende Mähne herausfließen. »Warten Sie schon lange?«
»Sie sind Sam Marlowe?« Ker war ziemlich überrascht. Unter dem Namen hätte sie eher eine Frau in einem Männeranzug erwartet, keine so attraktive Gestalt im Ascot-Outfit, wie sie ihr jetzt gegenübersaß. Sie sah aus, als wäre sie gerade frisch aus My Fair Lady entsprungen.
»Das ist mein Pseudonym«, erklärte die Dame. »Wie Sie sich vielleicht denken können.« Sie lächelte hinreißend.
Wenn Maximiliane Reichardt mit ihr eine Affäre gehabt hatte, konnte Ker das auf gewisse Art sogar verstehen. Obwohl sie es gar nicht verstehen wollte. »Und wie heißen Sie richtig?«, fragte sie ziemlich schroff.
Sam Marlowe hob die Augenbrauen. »Das ist unwichtig und geht niemanden etwas an«, antwortete sie. »Allerdings haben Sie sich auch noch nicht vorgestellt.«
»Ja, stimmt«, musste Ker zugeben. Sie zog ihren Ausweis heraus und reichte ihn über den Tisch. »Und ich fürchte, Sie müssen mir Ihren wirklichen Namen nennen. Ich ermittle in einem Fall.« Sie hob nun auch die Augenbrauen. Was Sam Marlowe konnte, konnte sie schon lange. »Soweit ich weiß, kannten Sie das Opfer. Maximiliane Reichardt.«
Überaus elegant gestylte Augenbrauen hoben sich über dunklem Mascara. »Frau Reichardt ist tot?«, fragte sie.
Frau Reichardt? Ker hätte fast gelacht. Das Büro mochte sich den Anschein einer Detektei geben – mit diesem lächerlichen Namen –, aber so wie diese Dame aussah, ging sie einem anderen Gewerbe nach. Auf hohem Niveau und teuer, und auf jeden Fall diskret, jedoch die Ermittlungen waren wohl nur dichterische Freiheit. Es sei denn, sie erpresste ihre Kunden.
Das war natürlich auch noch eine Möglichkeit. Wenn Maximiliane Reichardt erpresst worden war . . . Aber nein. Niemand erschoss die Gans, die goldene Eier legte. Sie hätte vielleicht ihre Erpresserin erschossen, aber nicht umgekehrt. Und warum hätte Adriane dann behaupten sollen, sie hätte ihre Frau umgebracht? Das ergab keinen Sinn.
»Ja, sie ist tot«, bestätigte sie.
»Wie . . .« Die schöne Stirn legte sich in fragende Falten. »Wie ist das passiert?«
»Ihre Frau –«, Ker beobachtete genau, ob Sam Marlowe bei dieser Erwähnung zusammenzuckte –, »hat sie erschossen. Sie hat sie für einen Einbrecher gehalten.«
»Oh«, machte Sam Marlowe.
Ker hatte das Gefühl, etwas lief hier nicht ganz so, wie sie es erwartet hatte. Sam Marlowe war sicherlich leicht überrascht, aber keinesfalls erschüttert.
Nun ja, warum sollte sie auch? Sie hatte eine solvente Kundin verloren, das war alles. Vermutlich hatte sie noch mehr solcher in gewisser Weise bedürftiger, aber zahlungskräftiger Damen in der Hinterhand.
»Meinen Ermittlungen zufolge«, Ker zog ein Notizbuch heraus, als müsste sie nachsehen, das beeindruckte die Befragten immer, »haben Sie sich kürzlich noch mit Frau Reichardt getroffen.«
»Hm. Ja, stimmt.« Die elegante Dame bestätigte es freimütig.
»Im Hotel«, ergänzte Ker etwas hintergründig.
»Ja. Sie bestand darauf.« Die dezent geschminkten Mundwinkel zuckten. »Sie fand, weder ihr Büro noch ihr Haus wären für ein solches Treffen geeignet.«
»Sie gehen auch in Büros?«, fragte Ker etwas verblüfft.
»Wo immer meine Kunden mich hinbestellen«, nickte Sam Marlowe. »Der Kunde ist König.« Sie lachte. »Ich hätte ein Café vorgeschlagen, aber sie war etwas geheimniskrämerisch.« Gelassen zuckte sie die Schultern. »Sie hätte natürlich auch herkommen können, aber das wollte sie genauso wenig.«
Ker schaute sich um. Das hier war nicht gerade ein kuschliges Nest, keines der üblichen Appartements mit breitem Bett und rotem Licht, sondern ein ganz normales Büro. Vor der Tür saß eine Sekretärin. Sie fragte sich, wie Sam hier ihre Kundinnen bedienen wollte. Musste eine sehr exotische Klientel sein.
»Irgendetwas irritiert Sie«, stellte Sam Marlowe fest. »Darf ich wissen, was das ist?«
»Ähm . . .« Ker fühlte sich ein wenig in die Ecke gedrängt. Sie sollte der Dame ihr eigenes Geschäft erklären? »Sie hatten eine Affäre mit Maximiliane Reichardt«, platzte sie dann unvermittelt heraus. »Ungefähr drei Monate lang. Oder ging es länger? Gab es auch noch andere Hotels?«
Sam Marlowe blickte sie erstaunt an. »Eine Affäre? Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ach, kommen Sie«, sagte Ker, nun wieder in ihrem üblichen Tonfall. »Reden wir doch nicht um den heißen Brei herum. Das hier ist eine Escort-Agentur, und Sie sind die Chefin. Ich sehe zwar keine anderen Mädels, aber das geht wohl per Telefon.«
Jetzt schien Sam Marlowe wirklich perplex. Dann plötzlich lachte sie laut heraus. »Ach, deshalb sind Sie so komisch.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie denken, eine Escort-Agentur würde sich Sam Marlowe – Diskrete Ermittlungen nennen? Finden Sie das nicht ein bisschen unpassend? Glauben Sie, da käme irgendein Kunde?«
»Sie sind ja wohl eher auf Kundinnen spezialisiert«, erwiderte Ker trocken.
»Ich nehme, was kommt.« Sam Marlowe lachte. »Oh, das war jetzt auch wieder nicht richtig. Das erweckt einen ganz falschen Eindruck.« Sie stand auf und ging zu einer Ecke hinüber, öffnete eine Tür in einem Unterschrank und nahm aus dem kleinen Kühlschrank, der dahinter versteckt war, eine Flasche Mineralwasser heraus. »Sie auch?«, bot sie Ker an.
Ker schüttelte den Kopf.
Sam Marlowe füllte ein Glas mit dem sprudelnden Wasser und kam zurück. »Eine Detektei, die von einer Frau geführt wird, bekommt meistens auch nicht viele Kunden.« Sie zuckte die Achseln. »Ist leider immer noch so. Deshalb habe ich mir den Namen Sam Marlowe zugelegt. Die Leute wollen dann zwar immer Herrn Marlowe sprechen, aber wenn sie schon mal hier sind, ist der Auftrag so gut wie gesichert. Und mit Auftrag meine ich«, sie setzte sich wieder, »Überwachungen. Diskrete Ermittlungen. Wie es auf dem Fenster steht. Meistens Ehemänner oder Ehefrauen, die einen Verdacht haben. Oder manchmal auch Arbeitgeber, die den Krankmeldungen ihrer Arbeitnehmer nicht trauen.«
»Sie sind wirklich . . .«, Ker ließ ihren Blick durch das etwas antik eingerichtete Büro streifen, tatsächlich ein bisschen im Dreißiger-Jahre-Stil, wie in den Chandler-Romanen, an die der Name Marlowe erinnerte, auch wenn der Vorname des Detektivs dort Philip war, »eine Detektei?«
»Ja, wirklich.« Sam Marlowe betrachtete sie amüsiert. »So wie Sie eine Polizistin sind.«
Ker fühlte sich auf einmal etwas unwohl. »Das heißt, Sie haben für Frau Reichardt ermittelt? Gegen einen Angestellten?«
»Nein.« Sam Marlowe schüttelte den Kopf. »Sie wollte wissen, was ihre Frau so treibt, wenn sie nicht zu Hause ist.«
Das war ja wohl die Höhe! Ker fiel fast die Kinnlade herunter. Max Reichardt hatte Adriane nicht getraut?
»Normalerweise würde ich Ihnen das natürlich nicht mitteilen«, fuhr Sam Marlowe fort. »Aber da sie tot ist . . . Und ihre Frau sie erschossen hat . . .«
»Was wollen Sie denn damit andeuten?«, fuhr Ker auf.
»Gar nichts.« Sam Marlowe hob fast desinteressiert die Augenbrauen. »Aber da sie eine Affäre hatte, hatte sie möglicherweise ein Motiv.«
»Ich denke, Sie hatten keine Affäre?«
»Wir nicht«, nickte Sam Marlowe, »aber Adriane Reichardt.«
»Das . . . das kann nicht sein.« Ker versuchte ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, wusste aber nicht, ob ihr das gelang. Bis eben hatte sie geglaubt, Max hätte Adriane betrogen, und nun auf einmal sollte es umgekehrt sein?
»Es ist das, was meine Ermittlungen ergeben haben«, bemerkte Sam Marlowe trocken.
»Dafür haben Sie«, Ker schluckte, »Beweise?«
»Selbstverständlich.« Sam Marlowe nickte. »Die habe ich Frau Reichardt bei unserem letzten Treffen übergeben. Damit war der Auftrag abgeschlossen.«
In Ker brodelte es. Bisher hatte es so ausgesehen, als hätte Adriane kein Motiv, als wären die tragischen Ereignisse jener Nacht reiner Zufall gewesen, aber dieser Eindruck hatte sich jetzt massiv geändert. »Können Sie sie mir zeigen?«, fragte sie.
Sam Marlowe schüttelte den Kopf. »Nein. Frau Reichardt hat darauf bestanden, dass ich ihr alles übergebe und keinerlei Kopien behalte. Tut mir leid.«
Sie hat keine Beweise. Sie könnte lügen, schwirrte es in Kers Kopf herum. Sie will Adriane nur belasten. Aber aus welchem Grund? Das musste sie sich dann auch fragen. Sie war zu sehr Polizistin, um sich diese Frage nicht zu stellen.
War Sam Marlowe vielleicht eifersüchtig? Hatte sie doch eine Affäre mit Max Reichardt gehabt und wollte sich jetzt rächen?
Ker betrachtete sie aufmerksam. Sam Marlowe sah kühl und unbeeindruckt aus. Ein leises, amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen, denn sie beobachtete Ker genauso, wie Ker es tat, und zog daraus wahrscheinlich ihre Schlüsse. Schließlich waren sie auf gewisse Art so etwas wie Kolleginnen. Sie ermittelten, trugen Beweise zusammen, sammelten Aussagen und versuchten, sich daraus ein Bild zu machen.
»Sie glauben mir nicht?«, fragte Sam Marlowe. Bedauernd hob sie die Hände. »Es ist die Wahrheit. Etwas anderes habe ich nicht für Sie.«
Ker überlegte einen Moment. »Auch wenn Sie die Beweise nicht mehr haben . . . Sie wissen doch, was bei Ihren Ermittlungen herausgekommen ist. Wer war die angebliche Affäre?«
»Angeblich?« Sam Marlowe hob spöttisch die Augenbrauen. Ihr Blick schien Ker amüsiert zu streicheln. Fast stellten sich Kers Nackenhaare dabei auf. »Ich hatte Fotos und alles. Von angeblich kann nicht die Rede sein. Aber ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen da irgendwelche weiteren Informationen geben sollte. Frau Reichardt wollte nicht, dass irgendjemand etwas davon erfährt. Und sie war meine Klientin. Also muss ich ihre Wünsche respektieren.«
»Maximiliane Reichardt ist tot«, erwiderte Ker hart. »Sie hat keine Wünsche mehr. Und es kann ihr auch nichts mehr schaden.«
Sam Marlowe spitzte zweifelnd die Lippen. »Sie verstehen das nicht. Es war ihr wirklich sehr wichtig, dass nichts davon an die Öffentlichkeit drang. Sie war erheblich älter als ihre Frau, und sie hatte sich wohl Illusionen darüber gemacht, warum dieses junge Model sie geheiratet hatte. Leider«, sie atmete tief durch, »ist das oft viel klischeehafter, als man das gern hätte. Jung und schön heiratet alt und reich.« Sie hob erneut die Hände. »Kann das wirklich Liebe sein?«
Diese Aussage brachte die Gedanken in Ker fast auf Kollisionskurs. Einerseits wollte sie glauben, dass Adriane ihre Frau geliebt hatte, dass sie sie niemals absichtlich erschossen haben konnte, aber andererseits hätte sie sich fast noch mehr gewünscht, dass es keine Liebe zwischen Max und Adriane gewesen war, dass Adriane die Frau, die sie wirklich lieben würde, noch nicht gefunden hatte. Dass ihr Herz nicht schon an eine Tote vergeben war. »Das sind doch alles nur Vorurteile«, behauptete sie.
»Können Sie so sehen, wenn Sie wollen.« Sam Marlowe zuckte uninteressiert die Achseln. »Aber in meinem Beruf begegne ich oft der überraschenden Erkenntnis, dass Vorurteile mehr als einmal auf Tatsachen beruhen. Sie in Ihrem doch auch. Oder nicht?«
Eigentlich hätte Ker das zugeben müssen, aber das wollte sie nicht. Sam Marlowe war nicht unsympathisch. Sie war kein schmieriger Privatdetektiv, auf den man am liebsten gespuckt hätte, weil er in dunklen Gassen intimsten Geheimnissen hinterherschlich, die ihn nicht im geringsten etwas angingen.
Sie war eine sehr attraktive und offensichtlich auch intelligente Frau, der Ker gern die Frage gestellt hätte, was in aller Welt sie denn in diesen Beruf verschlagen hatte. Sie hatte doch bestimmt tausend andere Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wieso hatte sie ausgerechnet diese gewählt?