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Die Rolle der deutschen First Lady ist von größerer Bedeutung für Gesellschaft und Demokratie als das traditionelle Frauenbild unterstellt, mit dem sie oft etikettiert und verglichen wird: Sie übt Deutschlands prominentestes Ehrenamt aus, sie motiviert und fördert dabei auch andere sich zu engagieren. Dabei knüpft die Rolle an Traditionen aus der neueren deutschen Geschichte an, die bis in die Monarchie zurückreichen. Ob Kaiserin, Ehefrau des Reichspräsidenten oder (Ehe-)Partnerin des Bundespräsidenten – die First Lady ist eine soziale Unternehmerin, die Gemeinsinn in der Gesellschaft fördert und Zusammenhalt stärkt. Viktoria Hennecke beleuchtet in ihrer Studie aus politikwissenschaftlicher Sicht die Erwartungen, die an die Rolle und ihre Inhaberinnen gerichtet sind; sie beleuchtet deren Ursprünge und bricht damit, die klischeehafte traditionelle Etikettierung aufzugreifen und zu reproduzieren. Mit einem Vorwort von Elke Büdenbender
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Seitenzahl: 676
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Viktoria Hennecke
Von der Majestät zur bürgerlichen Hoheit?
Ursprünge und Bedeutung der deutschen First Lady
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Die Rolle der deutschen First Lady ist von größerer Bedeutung für Gesellschaft und Demokratie als das traditionelle Frauenbild unterstellt, mit dem sie oft etikettiert und verglichen wird: Sie übt Deutschlands prominentestes Ehrenamt aus, sie motiviert und fördert dabei auch andere sich zu engagieren. Dabei knüpft die Rolle an Traditionen aus der neueren deutschen Geschichte an, die bis in die Monarchie zurückreichen. Ob Kaiserin, Ehefrau des Reichspräsidenten oder (Ehe-)Partnerin des Bundespräsidenten – die First Lady ist eine soziale Unternehmerin, die Gemeinsinn in der Gesellschaft fördert und Zusammenhalt stärkt. Viktoria Hennecke beleuchtet in ihrer Studie aus politikwissenschaftlicher Sicht die Erwartungen, die an die Rolle und ihre Inhaberinnen gerichtet sind; sie beleuchtet deren Ursprünge und bricht damit, die klischeehafte traditionelle Etikettierung aufzugreifen und zu reproduzieren.Mit einem Vorwort von Elke Büdenbender
Vita
Dr. Viktoria Hennecke arbeitet nach Stationen im Auswärtigen Dienst und im Bundeswirtschaftsministerium im Bundespräsidialamt und ist dort als persönliche Mitarbeiterin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seiner Ehefrau Elke Büdenbender tätig. Sie wurde an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn promoviert, dieses Buch verfasste sie in diesem Rahmen als Privatperson.
Für Elke, Jutta und Nicole – sowie all unsere Vorgängerinnen
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Vorwort von Elke Büdenbender
1.
I. Akt: »Konflikt« [Einleitung]
1.1
»[E]ine internationale kleine, aber höchst prominente Gruppe von Damen«
1.2
Forschungsstand und Quellenlage
1.3
Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
2.
II. Akt: »Einblick« [Forschungsdesign]
2.1
Theoretische Grundlagen und These
2.1.1
Karl Rohe: Politische Soziokultur und politische Deutungskultur
2.1.2
Ronald Inglehart: Die Theorie des Wertewandels
2.1.3
David Easton: Das Konzept der politischen Unterstützung
2.1.4
Robert D. Putnam: Der Social-Capital-Ansatz
2.1.5
Paul-Ludwig Weinacht: Person und Persönlichkeit in der Politik
2.1.6
These
2.2
Methodik
2.2.1
Kollektivbiografischer Ansatz und Besonderheiten der Frauenbiografik
2.2.2
Vorgehen
2.3
Stärken und Herausforderungen des Forschungsdesigns
3.
III. Akt: »Mimesis« [Politische Soziokultur und First-Lady-Rolle]
3.1
Über Erwartungen an die First-Lady-Rolle
3.2
Historische Verortung
3.3
Abstrakte Regeln und Prinzipien: Das Idealbild der deutschen (Ehe-)Frau und Mutter
3.3.1
Vorgeschichte zum protestantisch-bürgerlichen Frauenideal
3.3.2
Das protestantisch-bürgerliche Frauenideal und seine Gegenbilder
3.3.3
Der Mythos um Königin Luise von Preußen
3.3.4
Varianten vom Frauenideal im Kaiserreich
3.3.5
Fortlebende Mütterlichkeit versus die »Neue Frau« der Weimarer Republik
3.3.6
Die Frau als Gebärmaschine im Nationalsozialismus
3.3.7
Renaissance des protestantisch-bürgerlichen Frauenideals nach 1945
3.3.8
Zweiter Versuch: Emanzipation vom protestantisch-bürgerlichen Frauenideal
3.3.9
Mehr Gleichberechtigung nach der Wiedervereinigung?
3.3.10
Feminismus im 21. Jahrhundert
3.4
Entwicklungen und Herausforderungen: Von der Monarchie zur Republik
3.4.1
Was die Gesellschaft bewegte, als die Kaiserin deutsche First Lady wurde
3.4.2
Partizipation, Demokratisierung und ehrenamtliches Engagement
3.4.3
Im Krieg
3.4.4
Soziale Fragen als Transformationsmotor
3.4.5
Der Blick aus der Republik auf die Monarchie
3.4.6
Der Blick nach 1949 auf die Monarchie
3.5
Zwischenfazit: Politische Soziokultur und First-Lady-Rolle
4.
IV. Akt: »Katharsis« [Politische Deutungskultur und First-Lady-Rolle]
4.1
Zur Geschichte der ersten Damen in Deutschland
4.2
Die deutsche Kaiserin – in der Tradition Königin Luises?
4.2.1
Kaiserin Augusta – die erste deutsche Landesmutter
4.2.2
Kaiserin Victoria – offizielle Landesmutter für 99 Tage
4.2.3
Kaiserin Auguste Viktoria – Landesmutter und Luisenkopie
4.2.4
Die First Lady in der Rolle der deutschen Kaiserin
4.3
Von der Monarchie in die Republik – die Ehefrau des Reichspräsidenten
4.4
Die First Lady der Bundesrepublik – Tradition oder Neuanfang?
4.4.1
Bonn: Elly Heuss-Knapp, Wilhelmine Lübke, Hilda Heinemann
4.4.2
Eine neue Generation: Mildred Scheel, Veronica Carstens
4.4.3
Wendezeiten: Marianne von Weizsäcker, Christiane Herzog
4.4.4
Berlin: Christina Rau, Eva Luise Köhler, Bettina Wulff, Daniela Schadt
4.4.5
Die deutsche First Lady in der Rolle der Partnerin des Bundespräsidenten
4.5
Zwischenfazit: Politische Deutungskultur und die First-Lady-Rolle
5.
V. Akt: »Mythos« [Fazit]
5.1
Ursprünge der Rolle
5.2
Staatspolitische Funktion der First-Lady-Rolle in Deutschland
5.3
Ausblick und Anregungen
Dank
Abkürzungen
Literatur
Ungedruckte Quellen
Gedruckte Quellen
Internetquellen
»I am not my husband’s handbag« – ich bin nicht die Handtasche meines Ehemanns, dies hielt eine meiner Kolleginnen vor Jahren über die Rolle fest, die gängiger Weise als »First Lady« bezeichnet wird. In jedem Fall ist es durchaus eine exotische Tätigkeit – ohne rechtlichen Rahmen oder anderweitige offizielle Rollendefinition.
Man selbst bewirbt sich nicht darauf. Aber wenn es dann passiert, dass der Partner oder die Partnerin zum Staatsoberhaupt gewählt wird, dann hat man sie. Kolleginnen und auch Kollegen in anderen Ländern geht es da ganz ähnlich. Man tauscht sich aus, steht in Kontakt, begegnet sich persönlich. In allen Ländern wird erwartet, dass man vom ersten Tag repräsentative Aufgaben übernimmt – eine neue und ungewohnte Rolle. Und findet sich mit der Zeit in die Rolle hinein, entdeckt die tollen Möglichkeiten und Chancen, die es zu nutzen gilt.
Neben dem Netzwerk aus aktuellen Kolleginnen und Kollegen ist auch der Blick auf die Vorgängerinnen im eigenen Land spannend. In den letzten Jahren habe ich im Rahmen von Veranstaltungen im Schloss Bellevue oder in der Villa Hammerschmidt bereits einige meiner Vorgängerinnen geehrt – weil ich fand, dass neben ihren Ehemännern auch sie gewürdigt werden sollten. Sie haben uns Nachfolgerinnen Aufgaben hinterlassen, auch wenn es keine Verpflichtung gibt, diese fortzuführen. Es sind schöne und für die Gesellschaft sehr relevante Aufgaben. Darüber hinaus haben wir auch einen eigenen Gestaltungsspielraum, der uns in der Amtszeit des Bundespräsidenten viele Wege schenkt, sich für andere einzusetzen.
Diese Betrachtung aus politikwissenschaftlicher Perspektive würdigt nun das Wirken aller deutschen First Ladys vom Ursprung bis in die heutige Zeit – sie legt dabei den Fokus nicht auf Oberflächliches oder Klatsch und Tratsch, und stellt sie nicht als Handtasche ihrer Ehemänner dar. Repräsentation an der Seite des Bundespräsidenten gehört mit zu den Aufgaben, bei manchen Veranstaltungen vielleicht auch mal ein wenig Glamour. Mehr bewegen, nah an den Menschen und mit ihnen, kann man vor allem aber im eigenen Wirkungsbereich, der hier herausgearbeitet wurde.
Es ist mehr als jeweils ein wenig Wohltätigkeit, was die bisherigen deutschen First Ladies uns allen hinterließen – ich würde mir wünschen, dass die folgenden Betrachtungen nicht der einzige Beitrag blieben, die Verdienste und das Engagement bekannter zu machen – ebenso den nachhaltigen Einfluss von Frauen allgemein in gesellschaftlichen Transformationsprozessen sichtbar zu machen. Uns Frauen zuzugestehen, Geschichte und Zeitgeschichte nicht nur miterlebt, sondern schon immer mitgestaltet zu haben. Auch in Zeiten, in denen dies noch nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde.
Berlin im September 2024Elke Büdenbender
»Kaiserinnen hatten Prinzen zu gebären, um von ihrem Volk umjubelt zu werden – unsere First Ladies kamen im Alter von Großmüttern auf den imaginären Thron.
Kaiserinnen blickten auf eine lange Tradition – Erste Damen haben keine Historie.
Kaiserinnen lebten in Schlössern – die Frauen unserer Bundespräsidenten residieren in einer Villa.
Kaiserinnen trugen Kronen – unsere First Lady setzt gelegentlich eine Perücke auf.
Kaiserinnen umgaben sich mit einem Hofstaat, hatten Hofdamen und Zofen – First Ladies wird vom Parlament eine Sekretärin bewilligt.
Kaiserinnen waren reich – die Frauen unserer Präsidenten sind auf das Gehalt ihres Mannes angewiesen.
Kaiserinnen wurden mit ‚Kaiserliche Hoheit‘ angesprochen – die Anrede der First Lady bereitet Kopfzerbrechen.
Kaiserinnen waren Symbolfiguren – die Frauen von Präsidenten geben Interviews.
First Ladies kommen aus dem Volke – Kaiserinnen aus Herrscherhäusern.«1
»Ihre bürgerliche Hoheit« lautet der Titel des im Jahr 1971 erschienenen ersten Buches über die Frauen der Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland.2 Aus der Perspektive einer Zeitzeugin kommt dessen Verfasserin Ingelore Winter, die ab 1957 in Bonn lebte und als Autorin und Journalistin die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik und ihrer Hauptstadt porträtierte,3 zu dem Schluss, dass die First Lady in der Bundesrepublik Nachfolgerin der Kaiserin ist – entgegen allen Unterschieden, die obiges Zitat in der Gegenüberstellung vermuten lässt. Jedoch knüpft die Rolle der Ehefrau des Bundespräsidenten nach Ansicht von Winter mit dieser Nachfolge nicht an Traditionen an4 – sie vereint in sich die Rolle der Kaiserin als Landesmutter5, erweitert um den Wirkungsbereich einer First Lady. Mit den Eigenschaften der Ersteren widmet sie sich karitativen Aufgaben, mit denen der Zweiteren repräsentiert sie und wird sowohl für ihren Stil als auch ihren Intellekt bewundert.6
Einen Einblick in den Entstehungsprozess von Winters Buch über die First Ladys vermittelt der im Bundesarchiv befindliche Schriftverkehr zwischen ihr und Hilda Heinemann bzw. deren Büro.7 Im Juli 1969 schrieb Winter:
»[…] wie ich Ihnen bei unserem Telefongespräch am Dienstag erzählte, schreibe ich ein Buch über ›Die First Ladies in der Bundesrepublik‹ (Arbeitstitel). […] Thema des Buches sind die Gattinnen unserer Bundespräsidenten, ihre historische und soziologische Bedeutung, sowie aus der Arbeit unserer Präsidentenfrauen. Bei Elly Heuss-Knapp bin ich dabei auf Berichte derer, die sie kannten und Dokumente angewiesen. Wilhelmine Lübke, die mich persönlich kennt, hat mir zugesagt, aus dem Leben der Frau des Bundespräsidenten zu erzählen. Ich wäre nun sehr dankbar, wenn mir Frau Hilda Heinemann ebenfalls diese Gelegenheit bieten würde, mir nach einigen Monaten ihres Wirkens an der Seite des Gemahls, dem Herrn Bundespräsidenten, zu gegebener Zeit von ihren Erfahrungen, Pflichten und Aufgaben zu berichten.«8
Nachdem sie später den Entwurf zweier Kapitel zur Ansicht übermittelt hatte, schrieb ihr die persönliche Referentin von Hilda Heinemann dazu im November 1969, dass Hilda Heinemann den Entwurf gelesen habe, vor einem persönlichen Gespräch mit Winter jedoch noch Gesprächsbedarf zur Klärung einiger Fragen bestehe. Wann das Gespräch sodann stattfand, ist in den archivierten Akten nicht dokumentiert. Im Sommer 1971 schrieb Winter erneut und kündigte das Erscheinen ihres Buches für August 1971 an: »[…] im August wird nun mein Buch über die First Ladies in der Bundesrepublik, über ihr Leben an der Seite des ersten Repräsentanten der Bundesrepublik und ihre Aktivitäten auf sozialem Gebiet, erscheinen.«9
Mit First Lady bezeichnet Winter
»eine internationale kleine, aber höchst prominente Gruppe von Damen. Kaiserinnen und Königinnen, Frauen von Präsidenten, die in der Weltpresse Schlagzeilen machen, aber auch schlichte Bürgerinnen, die durch die Wahl ihres Mannes zum Staatsoberhaupt für einige Jahre auf den imaginären Thron gehoben werden – sie repräsentieren die Spitze des Staates.«10
Die First Lady – sei es als Monarchin oder Bürgerliche – bespielt eine Bühne: die Bühne der Öffentlichkeit. Auf dieser Bühne nimmt sie eine Rolle ein, hinter der in der Öffentlichkeit die private Person zurücktritt, vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Figur und Schauspielerin in einer dramaturgischen Inszenierung. Auf dieser Bühne trifft die First Lady mit ihrem Publikum zusammen: Dies sind in erster Linie Bürgerinnen und Bürger, aber auch weitere staatliche Akteurinnen und Akteure oder Medienschaffende – und in den nachfolgenden Kapiteln die Wissenschaft. Das Schauspielhaus ist der Staat in seiner abstrakten Gänze. Es gibt öffentliche und nicht öffentliche Bereiche. Ensemble, technisches Personal, Regie und Publikum bilden seine Gesellschaft. Ebenso wie viele Bürgerinnen und Bürger ihre First Lady nie persönlich kennenlernen, sondern ausschließlich aus der Ferne oder mittelbar in den Medien erleben, besteht zwischen Bühne und Zuschauerraum eine trennende Barriere.
Die Bühne mit Handlungen und Leben füllt ein Stück, das auf einem Text und Regieanweisungen beruht. Regieanweisungen sind ebenso Spielregeln wie eine Verfassung und Gesetze. Eine Verfassungsordnung ist mehr als ein »lebloses Marionettentheater, in dem nur an juristischen Fäden gezogen wird«11. Auf und hinter der Bühne sowie zwischen allen Akteurinnen und Akteuren spielt sich mehr ab als das auf den ersten Blick und im Licht der Bühnenscheinwerfer Sichtbare. Neben der Verfassungsordnung muss es demnach weitere ordnende und inszenierende Kräfte geben, die vereint zu den Handlungen auf der Bühne führen und das aufgeführte Stück komplettieren. Dies gilt umso mehr für eine Rolle wie die der First Lady, die in der Verfassung nicht vorgesehen ist.12
»Das dramatische Handeln […] beruht schlechthin auf kollidierenden Umständen, Leidenschaften, Charakteren und führt daher zu Aktionen und Reaktionen, die nun ihrerseits wieder eine Schlichtung des Kampfes und Zwiespalts notwendig machen.«13 Die Dramatik der First-Lady- Rolle im Schauspiel des Staates ergibt sich aus drei Konfliktebenen:
Traditioneller Konflikt: Alt versus Neu – Steht die heutige Rolle in der Tradition14 der Rolle der Kaiserin oder wurde beim Übergang von der Monarchie in die Republik eine neue Tradition geschaffen?
Innerer Konflikt: First Lady versus Persönlichkeit – Muss eine konkrete Rolleninhaberin sich festen Strukturen fügen oder hat sie persönlichen Neigungen entsprechend einen Handlungsspielraum?
Äußerer Konflikt: First Lady versus Öffentlichkeit – Hat die Rolleninhaberin einen gewissen »Rollen-Bonus« und Gestaltungsfreiheiten oder muss eine neue Rolleninhaberin sich stets neu beweisen und sich konkreten Erwartungen fügen?
Den inneren Konflikt trägt jede Rollenbesetzung abseits der Bühne aus, die anderen beiden Konflikte lassen sich dem Urteil des Publikums jedoch nicht entziehen. Alle drei Konflikte stehen im Zusammenhang mit Handlungen und Erwartungen.
Antagonistisch zu der von Anfang an großen Beachtung der First Lady seitens des Publikums hat sich bisher die Wissenschaft in Deutschland der Rolle gegenüber verhalten. Zwar sind die First Ladys der Bundesrepublik ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des ersten Buches Teil einer rechtlichen Analyse,15 eine entsprechende politikwissenschaftliche Untersuchung, die Drehbuch und Regie von Rolle und Schauspiel auf den Grund geht, liegt bislang allerdings nicht vor. Die Defintion der First Lady orientierte sich in den 1970er-Jahren wie heute in neueren Publikationen an dem Erwartungskanon, mit dem Rolle und Besetzung konfrontiert werden.16 Die Bedeutung der Rolle für Staat und Gesellschaft bleibt dabei außerhalb der Betrachtung – ebenso die Ursprünge der Erwartungen und Handlungen sowie der Maßstab, mit dem beurteilt wird, ob diesen entsprochen wird oder nicht.
Wem ist folglich die Autorschaft von Text und Regieanweisungen für alle Beteiligten zuzuschreiben und worauf beruht anschließend das Maß des Publikums bei der Bewertung der Vorstellung? Ersannen Mythenschreiberinnen und -schreiber die First Lady als Hauptrolle eines von diesen drei Konflikten geprägten Bühnenstückes? Oder schuf sich die Kaiserin in ihrer scheinbaren Nachfolgerin ein Denkmal? Schrieb sich die First Lady ihr eigenes Werk? Oder rief sich das Publikum eine Bühnenheldin ins Leben?
Als »eine internationale kleine, aber höchst prominente Gruppe von Damen« subsumiert Winter Monarchinnen und Ehefrauen von Präsidenten unter den Begriff First Lady, deren Gemeinsamkeit nach ihrer Auffassung in der Ehe mit einem Staatsoberhaupt besteht. Eingebürgert hat sich die Bezeichnung laut Winter jedoch ausschließlich für die bürgerlichen Rolleninhaberinnen, da die monarchischen Adelstitel führen.17
Dennoch liegt der etymologische Ursprung des Begriffs Lady im Adel und nicht im Bürgertum. Zunächst war er der Ehrentitel der Königinnen von England, später auch von königlichen Prinzessinnen. Mitte des 19. Jahrhunderts führten den Titel in Verbindung mit ihrem Nachnamen sodann die Frauen aller englischen Peers, das heißt alle Frauen des Hochadels. Ihre Töchter verwendeten den Titel in Verbindung mit ihrem Vornamen. Darüber hinaus galt die Bezeichnung Lady (ohne Vor- oder Nachnamen) als Höflichkeitsanrede gegenüber jeder gebildeten Frau.18 Heirateten adelige Frauen bürgerlich, behielten sie den Titel Lady, wie aus einem Lexikon Anfang des 20. Jahrhunderts hervorgeht.19 Aus dem Englischen ins Deutsche fanden Wortzusammensetzungen mit Lady als Bestandteil ihren Weg im 19. Jahrhundert, beispielsweise ladylike oder Ladykiller. Schließlich nahm auch die Bezeichnung First Lady für die Frau eines Staatsoberhauptes oder Regierungschefs im 20. Jahrhundert denselben Weg aus dem amerikanischen Englisch.20 Der Begriff Lady bedeutete im 13. Jahrhundert »mistress of a household, wife of a lord« und »woman of superior position in society«. Im 19. Jahrhundert wurde der Rang einer Lady an ihren Umgangsformen und ihrer Bildung festgemacht: »woman whose manners and sensibilities befit her for high rank in society«.21 Dieser Logik folgend ist die First Lady die erste oder ranghöchste unter diesen in einer Gesellschaft herausgehobenen Frauen – ihre Anführerin oder ihr Oberhaupt. Während damals die Bühne der Öffentlichkeit ausschließlich eines Teils der Gesellschaft vorbehalten war – den Männern –, hatten Frauen hingegen keinen Zutritt zur Politik, zu höherer Bildung, ins Berufsleben. Lediglich den Beruf der Lehrerin konnten bürgerliche Frauen ergreifen – zumindest solang sie unverheiratet blieben, denn Heirat führte automatisch zur Entlassung. Die für die Frauen vorgesehene Rolle in der Gesellschaft war die der Ehefrau und Mutter.22 Ein Wirken jenseits der Öffentlichkeit, konzentriert auf den Haushalt. Männer und Frauen bewegten sich in zwei getrennten Sphären. Die Gesetzgebung manifestierte diese Trennung durch die rechtliche Überlegenheit der Männer. Als sich mit der zunehmenden Industrialisierung die neue Klasse der bürgerlichen Mittelschicht etablierte, teilte sich die Gesellschaft in die öffentliche Sphäre der Männer und die nicht öffentliche, private der Frauen. Männer galten als alleinige Ernährer und Frauen wurden aus dem Arbeitsprozess verdrängt, an dem sie in Zeiten der agrarischen Subsistenzwirtschaft noch mitgewirkt hatten. Fortan war die Aufgabe der Frau, Familie und Heim in Ordnung zu halten.23 In diesen Strukturen und der etymologischen Logik ist eine First Lady die Erste unter diesen Hausfrauen – den Herrscherinnen der privaten Sphäre.
»Die Republik trat das Erbe der absoluten Monarchie in vollem Umfang an«24, im gleichen Zug entstand mit dem Wechsel vom 18. ins 19. Jahrhundert die Funktion des Staatsoberhauptes in Republiken und Monarchien.25 Zu dessen Aufgaben zählen Staatsbesuche, Unterzeichnungen völkerrechtlicher Verträge oder Kommuniqués internationaler Treffen sowie der Empfang von fremden Staatsgästen, Diplomaten oder Politikern.26 Dies sind Aufgaben im Verkehr mit anderen Staaten. Friedrich Berber definierte das Staatsoberhaupt aus völkerrechtlicher Sicht als
»das generelle Organ der Vertretung des Staates, insbesondere auch nach außen, gegenüber anderen Staaten, seine Vertretungsmacht wird präsumiert, das Staatshaupt bedarf keiner Vollmacht zur Vertretung, die Vollmacht aller übrigen Vertretungsorgane muß von ihm erteilt oder auf ihn rückführbar sein.«27
Nach diesem Verständnis zählen Kaiser, Könige und Präsidenten zu den Staatsoberhäuptern in der Welt, die je nach politischem System mit unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet sind.28 Es bleibt innerstaatlichem Recht überlassen, wer Staatsoberhaupt ist, wie dieses in sein Amt gelangt und welche konkreten Aufgaben und Pflichten damit verbunden sind. Somit kann dies eine Einzelperson oder ein kollektiv verfasstes Organ sein, die bzw. das durch direkte bzw. indirekte Wahl oder Erbfolge zum Staatsoberhaupt wird.29
Für die Rolle von First Ladys gibt es kein Gegenstück, das der völkerrechtlichen Definition des Staatsoberhauptes entspricht. Allgemeine Vorstellungen und Erwartungen haben sich nicht zuletzt aufgrund besonders großer und internationaler Prominenz einiger konkreter Rollenbesetzungen auch über Landesgrenzen, Kontinente und Unterschiede von politischen Systemen hinweg als Klischees etabliert. Hierbei zu erwähnen sind beispielsweise Namen wie Eleanor Roosevelt, Nexhmije Hoxha, Eva Perón, Jackie Kennedy, Elena Ceaușescu, Imelda Marcos, Margot Honecker, Raissa Gorbatschowa, Hillary Clinton, Carla Bruni oder Michelle Obama. In Demokratien wird die First Lady meist zur glamourösen und/oder mildtätigen Heldin stilisiert, in autoritären oder totalitären Regimen als Verkörperung des Bösen. Der Ursprung der jeweiligen Prominenz einer bestimmten First Lady hat verschiedenste Gründe, eher selten entspringt sie der vorbildlichen Eheführung mit einem Staatsoberhaupt oder der tatkräftigen Unterstützung bei dessen Amtsführung. Manche Besetzung war bereits vor der Rollenübernahme eine öffentliche Person. Einigen wurde in Musicals oder Filmen ein Denkmal gesetzt, andere sind Teil von kritischen Dokumentationsserien. Oft scheinen es Äußerlichkeiten und Oberflächliches – der weibliche Körper als Projektionsfläche –, die durch und in den Medien aufgegriffen und bewertet werden, sich verbreiten und im Gedächtnis des Publikums zementieren. Inhalte und Errungenschaften werden hingegen seltener beleuchtet. Auf diese Weise werden einzelne Heldinnen und auch Antiheldinnen geschaffen. Antworten darauf, warum, wie und durch wessen Wirken sie erschaffen werden, lassen sich jedoch nicht im Scheinwerferlicht der Bühne finden, sie liegen verborgen in dem Publikum nicht direkt zugänglichen Bereichen.
Für einen Überblick über die »internationale kleine, aber höchst prominente Gruppe von Damen« wird im Folgenden stellvertretend die Rolle der First Lady in einigen Ländern skizziert. Im Vordergrund stehen dabei entgegen konkreter Rollenbesetzungen Erscheinen und Entwicklung der Rolle in den Beispielländern.
Den erstmaligen Auftritt als Ehefrau eines gewählten Staatsoberhauptes weltweit absolvierte Martha Washington am 27. Mai 178930 – in Deutschland geschah dies erst rund eineinhalb Jahrhunderte später, als Friedrich Ebert im Jahr 1919 zum Reichspräsidenten gewählt wurde und seine Frau Louise mit Erwartungen an ihre Person konfrontiert wurde. Einen offiziellen Titel hatte die neu entstandenen Rolle der Präsidentengattin der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) damals nicht. Die Ursprünge der heute allgemeinhin und international für diese Frauen und Partnerinnen verwendeten Bezeichnung First Lady lässt sich nur vermuten. US-Präsident Zachary Taylor bezeichnete Dolley Madison, Ehefrau von US-Präsident James Madison, vor dem Hintergrund ihres Ablebens im Jahr 1849 als First Lady. Der Begriff setzte sich in den USA jedoch erst später durch. Als Durchbruch bezeichnen führende einschlägige US-Politikwissenschaftler das Jahr 1877, als die Zeitung »The Independent« Lucy Hayes in einem Artikel über deren Rundreise durch die USA als First Lady of the land bezeichnete und die Berichterstattung anschließend die Bezeichnung vermehrt aufgriff.
Martha Washington sah sich als Präsidentengattin in der klassischen bürgerlichen Rolle als Gastgeberin an der Seite ihres Ehemannes. Diese Interpretation hielt ein gutes Jahrhundert an. Nach einer kurzen Episode, in der ihre Nachfolgerinnen Mitte des 19. Jahrhunderts die Öffentlichkeit komplett mieden, machte Julia Grant durch landesweite Reisen und Gespräche mit der Bevölkerung die Rolle nicht nur öffentlicher, volksnäher und im ganzen Land bekannt, sondern weckte auch das Interesse der Medien. Der Institutionalisierungsprozess der First-Lady-Rolle in den USA startete mit Beginn der 20. Jahrhunderts. Mit Edith Wilson begleitete erstmals eine First Lady den US-Präsidenten bei einer Auslandsreise, Eleanor Roosevelt etablierte schließlich die Tradition einer eigenen – auch politischen – Agenda und professionalisierte die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Demnach waren es stets konkrete Rollenbesetzungen, die eine Erweiterung des Wirkungskreises und Aufgabenspektrums initiierten – jedoch ließen sie Gesellschaft und Zeitgeist stets gewähren. Ihre Nachfolgerinnen übernahmen die Aufgabe der Gastgeberin, der Diplomatin, oder einer eigenen (politischen) Agenda und erfüllten sie mithilfe eines Mitarbeiterstabes je nach persönlichen Interessen der konkreten Besetzung in unterschiedlicher Interpretation, aber innerhalb des etablierten Rahmens.31 Die Rolle der First Lady in den USA, die dort eine über mehr als 200 Jahre gewachsene Tradition darstellt, ist nicht nur im eigenen Land fest etabliert, sondern wird immer wieder für Vergleiche mit ihren Kolleginnen in anderen Ländern herangezogen – ein schwieriger Vergleich, da er eigene Traditionen in diesen anderen Ländern ignoriert.
Anders als die in der Öffentlichkeit überaus präsente First-Lady-Rolle der USA verhielt es sich in der ehemaligen Sowjetunion und ist es im heutigen Russland. In sozialistischen Staaten ist das Staatsoberhaupt meist ein kollektiv verfasstes Organ, dessen Vorsitz die Aufgaben als Staatsoberhaupt im Sinne des Völkerrechts in der Öffentlichkeit übernehmen kann.32 In Realität aber konzentriert der Generalsekretär der jeweiligen Staatspartei die gesamte Macht in sich und bekleidet somit das höchste Amt im Staat.33 Die Frau an seiner Seite ist demnach First Lady – wobei die Bezeichnung Erste Genossin in einem sozialistischen System wohl passender als der ursprünglich adelige und später bürgerliche Titel Lady wäre. Die überwiegende Mehrheit der Ehefrauen der Generalsekretäre der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) traten im Inland öffentlich nicht in Erscheinung. Anfang des 20. Jahrhunderts war dies noch anders: Die Erste Genossin der Sowjetunion und unmittelbare Nachfolgerin der russischen Zarin, Nadeschda Krupskaja, setze sich energisch für politische Themen im Bildungsbereich und für Frauen ein. Ihre Ideen flossen sogar in das Parteiprogramm ein. Auch das Engagement im karitativen Bereich war für sie und ihre zeitgenössischen Funktionärsfrauen üblich. Sorgearbeit für die eigene Familie und Aufgaben im eigenen Haushalt wurden hingegen oft an entsprechendes Personal delegiert. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts und nach einer 20-jährigen Vakanz knüpfte die nächste Rolleninhaberin, Nina Chruschtschowa, nicht an diese aktive Rolle an. Ihr Fokus lag auf ihrer privaten Rolle als Hausfrau und Mutter an der Seite ihres Ehemannes – eine überraschend bürgerliche Rolle. Ihre Nachfolgerinnen taten es ihr gleich. An den Amtsgeschäften und an Politik allgemein hatten sie kaum Interesse. Da sie ihre Ehemänner aber sehr wohl zu Auslandsreisen begleiteten, schlossen insbesondere die Medien in westlichen Ländern die Ersten Genossinnen aus der Sowjetunion in diesem Rahmen in die Berichterstattung ein – bewertet nach westlichen Maßstäben. Eine Zäsur und rückblickend zudem eine Ausnahme – jedoch durchaus mit ihrer allerersten Vorgängerin Nadeschda Krupskaja vergleichbar – stellt Raissa Gorbatschowa dar. Sie unterstützte ihren Mann bei Terminen im In- und Ausland und widmete sich darüber hinaus eigenen Projekten in der Rolle als First Lady (in westlicher Rolleninterpretation). Über ein eigenes Büro mit Mitarbeiterstab verfügte Gorbatschowa jedoch nicht.34 In den USA begann die Institutionalisierung der Rolle nicht zuletzt durch sich etablierende Strukturen auch in Form eines Büros inklusive eines Stabes. Ein vergleichbarer Prozess setze in Moskau jedoch nicht ein. Die Nachfolgerinnen von Raissa Gorbatschowa, die First Ladys Russlands, knüpften schließlich wieder an den Rückzug ins Private der Vorgängerinnen Gorbatschowas an. Die Rolle der öffentlichen First Lady spielten sie hin und wieder im Rahmen von Staatsbesuchen, der aktuelle Präsident ist offiziell alleinstehend.35
Frankreichs gegenwärtiger Fünfter Republik gingen nicht nur vier weitere Republiken voraus, sondern auch jahrhundertelange monarchische Traditionen, teils im Wechsel. Auch hier folgten auf Königinnen an der Seite der gekrönten Staatsoberhäupter First Ladys an der Seite der gewählten Staatsoberhäupter.36 Während der Revolution, des Kaiserreiches und der Restauration war die Rolle der Première Dame im Staat nicht existent.37 Weder in den Verfassungen der Vorgänger-Republiken, noch in der aktuellen wird die Rolle der Partnerin des Staatsoberhauptes erwähnt.38 Über die Verweildauer dieser Verfassungen hinaus entwickelte die First-Lady-Rolle allerdings auch in Frankreich ein Profil: Die Rolleninhaberinnen treten als Gastgeberin auf, widmen sich karitativen Projekten und nehmen protokollarische Repräsentationspflichten im In- und Ausland wahr.39 Dies geschah stets im Einklang mit der Erwartung der zeitgenössischen Gesellschaft, als Unterstützerin des Ehemannes.40 Ein französisches Alleinstellungsmerkmal besteht darin, Botschafterin der französischen Modewelt zu sein.41 Lange Zeit lag der Schwerpunkt des Wirkens abseits der Öffentlichkeit, was sich jedoch innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte geändert hat.42 Cécilia Sarkozy war durch ihre Tätigkeit als Model bereits vor dem Amtsantritt ihres Ehemannes im Jahr 2007 eine der Öffentlichkeit bekannte Person, ihre Nachfolgerin im doppelten Sinn – als First Lady und Ehefrau von Nicolas Sarkozy – Carla Bruni teilte dies. Boulevardisierung und Medieninteresse an der Rolle der First Lady Frankreichs stiegen.43 Der Versuch, die Rolle zu institutionalisieren, stieß jedoch auf Widerstand.44
In Deutschland wurde die Monarchie im November 1918 abgeschafft, wofür bildlich die Übernahme des Berliner Stadtschlosses durch Karl Liebknecht steht.45 Mit der Abdankung des Kaisers musste auch die Kaiserin ihre Rolle als First Lady des Kaiserreiches abgeben. Fast fünf Jahrzehnte hatte sich das Volk nicht nur an das überaus präsente Bild des Kaiserpaares an der Staatsspitze gewöhnt, sondern auch an eine sich eigenständig und wohltätig engagierte Landesmutter, die sich um Bedürftige kümmerte. Der staatsförmliche Neubeginn endete im Februar 1919 mit der Wahl Friedrich Eberts zum Reichpräsidenten.46 Seine Frau Louise Ebert wurde zur ersten Dame im Staat. Ihr Ehemann wollte als erstes gewähltes deutsches Staatsoberhaupt kein »ziviler Kaiser« sein, der sich in das tagespolitische Geschäft einmischt; er sah sich als Hüter der Verfassung und Bewahrer der demokratischen Ordnung.47 Reichspräsident Paul von Hindenburg war bereits verwitwet, als er sein Amt antrat, seine Schwiegertochter Margarete übernahm die Aufgabe der Gastgeberin in seinem Amtssitz, die Frau von Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath, Freiin Marie von Neurath, bei öffentlichen Anlässen die der First Lady.48 Diesen dem Adel entstammenden Zweitbesetzungen der First Lady dürfte das Repräsentieren auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne der Hauptstadt vertrauter gewesen und somit leichter gefallen sein, als zuvor Louise Ebert, die die Rolle der First Lady in der Weimarer Republik von 1919 bis 1925 übernahm und aus einfachsten Verhältnissen stammte.49 Ihre Erfahrungen als Dienstmagd bei einer großbürgerlichen Familie und in der Gastwirtschaft ihres Ehemannes in Bremen waren vermutlich dennoch eine Vorbereitung auch als First Lady eine beliebte Gastgeberin zu sein.50
Nach dem Übergang von der Monarchie des Kaiserreiches zur Weimarer Republik erlebte Deutschland zwischen den Jahren 1933 und 1945 sein dunkelstes Kapitel im totalitären und menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Diktatur. Während dieser Zeit »konkurrierten die Frau von Reichstagspräsident und Reichsmarschall Hermann Göring, Emmy Göring, und die Frau von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, Magda Goebbels, um die Position der ersten Frau im Staat«.51 Dabei ging es darum, als Gastgeberin an der Seite Adolf Hitlers aufzutreten, ohne jedoch tatsächlich die Frau an seiner Seite zu sein.52 Dieser hatte offiziell keine Frau an seiner Seite und sein Umfeld tat alles, um die nicht legitimierte Beziehung zu Eva Braun der Öffentlichkeit vorzuenthalten.53 Während die Hauptbesetzung der First-Lady-Rolle also für die Öffentlichkeit nicht sichtbar war, gab es eine deutlich sichtbare Zweitbesetzung. Magda Goebbels, die nicht nur die Ehefrau des ranghöchsten Ministers war, sondern auch in einem besonderen persönlichen Verhältnis zu Adolf Hitler stand, übernahm das Repräsentieren bei Empfängen, Bällen und Staatsbesuchen.54 Der Drittbesetzung in Form von Emmy Göring, die sich selbst als First Lady des NS-Staates sah und in Berlin einen Salon führte, in dem Diplomaten und Politiker verkehrten, fehlte ein vergleichbares persönliches Verhältnis.55 Vergeblich versuchte sie in Kontakt mit Eva Braun zu treten,56 der Adolf Hitler jedoch ausschließlich Kontakt und gesellschaftlichen Umgang mit dem engsten Kreis auf dem Obersalzberg zugestand.57 Dieser erlebte sie dort in der großbürgerlichen Rolle als Gastgeberin und Hausherrin.58 Den Begriff Wohltätigkeit im Zusammenhang mit Nazi-Größen und ihren Frauen zu nennen, verbieten Moral und Ethik. Zu viel Grauen und Unmenschliches ging von ihnen aus oder wurde mitgetragen.
Danach war Deutschland 40 Jahre lang geteilt. Im Westen wurde am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet und an demokratische Traditionen angeknüpft. Im Osten bestand ab dem 7. Oktober 1949 bis zur Wiedervereinigung beider deutscher Teilstaaten am 3. Oktober 1990 die Deutsche Demokratische Republik (DDR), ein von der im April 1946 gegründeten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) dominiertes totalitäres System. Zunächst gab es mit Wilhelm Pieck ab 1949 einen Staatspräsidenten der jungen DDR, dessen Amt jedoch nach seinem Tod 1960 zugunsten eines Gremiums abgeschafft wurde. Generalsekretär der SED und somit tatsächliches Staatsoberhaupt waren von 1950 bis 1971 Walter Ulbricht – verheiratet mit Lotte Ulbricht – und von 1971 bis 1989 Erich Honecker – verheiratet mit Margot Honecker, die von sich selbst stets behauptete, nie First Lady gewesen zu sein.59 Die Ironie des Schicksals und das Bedürfnis nach Legitimation schufen allerdings auch im Arbeiter- und Bauernstaat DDR eine Bühne für die Rolle einer First Lady, die in die Schablone der traditionell bürgerlichen Rollenverteilung passt.
Die DDR wollte als souveräner und besserer deutscher Staat anerkannt werden. Außenpolitische Erfolge dienten der Absicherung der Legitimität der Partei- und Staatsführung auch nach innen. Dabei ging es nicht nur um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu anderen Staaten, sondern auch darum bei Reisen in andere Länder wahrgenommen zu werden und darum, ob der Empfang und die Behandlung den gleichen protokollarischen Ehren folgte wie bei anderen Staatsoberhäuptern. Dramaturgie und Inszenierung waren wichtiger als politisches Handeln und tatsächliche Resultate. Aufgrund international gängiger Gepflogenheiten und sich daran orientierenden Erwartungshaltungen ist es schwierig, die Frauen von Staatsoberhäuptern aus der Besuchsdiplomatie herauszuhalten. Die DDR nutzte das Potenzial von Lotte Ulbricht und Margot Honecker als Frauen der Generalsekretäre und Akteurinnen der Staatspflege entsprechend.60 Die DDR hatte sowohl in Lotte Ulbricht als auch in Margot Honecker eine Inhaberin der First-Lady-Rolle, die die damit verbundenen Aufgaben sowohl öffentlich als auch nicht öffentlich ausübten. Insbesondere in der Rolle der Diplomatin wurden sowohl Lotte Ulbricht als auch Margot Honecker in der Medienberichterstattung – wenn auch nicht immer der Realität entsprechend – inszeniert. Dies diente nicht nur der Demonstration erfolgreicher außenpolitischer Beziehungen, sondern in Form eines von zahlreichen Staaten als souverän anerkannten Staates auch der Legitimation gegenüber der eigenen Bevölkerung.61
Zweifelsohne verdient die Rolle einer First Lady in einem totalitären System Beachtung, denn sie partizipiert durchaus an der Macht ihres Ehemannes und hat somit von der Staatsspitze aus Einfluss auf Vorgänge in Politik und Gesellschaft. Da in der vorliegenden Untersuchung jedoch das Thema Traditionslinien und Pfadabhängigkeiten von der Monarchie zur Republik beleuchtet wird, bleibt hier im Weiteren das Gestaltungspotenzial der Rollenbesetzung der First Lady auf und hinter der politischen Bühne der beiden totalitären Systeme der nationalsozialistischen Diktatur und der DDR in den nachfolgenden Untersuchungen ausgeklammert.
Die erste First Lady der Bundesrepublik Deutschland war ab 1949 Elly Heuss-Knapp. Sie verstarb während der ersten Amtszeit ihres Ehemannes im Jahr 1952. Ihre direkte Nachfolgerin ist kaum bekannt: Es war die verwitwete Schwägerin Hedwig Heuss (1952-1959), die dem ebenso verwitweten Schwager den Haushalt führte. Ihnen folgten Wilhelmine Lübke (1959-1969), Hilda Heinemann (1969-1974), Mildred Scheel (1974-1979), Veronica Carstens (1979-1984), Marianne von Weizsäcker (1984-1994), Christiane Herzog (1994-1999), Christina Rau (1999-2004), Eva Luise Köhler (2004-2010), Bettina Wulff (2010-2012), Daniela Schadt (2012-2017) und seit 2017 Elke Büdenbender62.
Öffentliches Interesse und Erwartungskanon lassen darauf schließen, dass die Rolle eine Relevanz für Staat und Gesellschaft über das mediale und oft oberflächliche Interesse hinaus hat. Die »internationale kleine, aber höchst prominente Gruppe von Damen« hat mehr Bedeutung für Staat und Gesellschaft, als mit Reportagen über Äußerlichkeiten und Freizeitvergnügen Inhalte für die Boulevardpresse, Filme oder biografische Unterhaltungslektüre zu liefern. Bevor konkrete Rolleninhaberinnen einem (oberflächlichen und subjektiven) internationalen Vergleich unterzogen werden, ohne die abstrakte Rolle zu definieren und in das jeweilige staatliche System einzuordnen sowie ohne Traditionen zu beleuchten, erscheint eine (objektive) Bestandsaufnahme umso dringlicher, woher Drehbuch und Text der Rolle der First Lady in der Bundesrepublik stammen, wer an der Rolle mitwirkt und was genau sich hinter der Relevanz für Staat und Gesellschaft verbirgt.
»In meinem Studium der Politikwissenschaft spielte der Bundespräsident oder das Bundespräsidialamt keine Rolle«63, konstatiert der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte in seiner im Jahr 2019 erschienenen Untersuchung über die Gestaltungspotenziale des Amtes des Bundespräsidenten. Zwar finde sich in den Standardwerken zur Regierungslehre stets auch ein Kapitel über das Staatsoberhaupt, klausurrelevant sei dies jedoch nie, genauso wenig wie ganze Seminare dazu abgehalten würden. Lediglich Exoten unter den Politikwissenschaftlern interessierten sich für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bundespräsidenten.64 Anders verhalte sich dies im Bereich des Staatsrechts – dort nehme der Bundespräsident in Kommentaren zum Grundgesetz und wissenschaftlichen Diskursen großen Platz ein.65
Was für die Rolle des Bundespräsidenten gilt, deren Rechte und Pflichten als offizielles Amt in den Artikeln 54 bis 61 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich vorgegeben werden, gilt für die Rolle der First Lady erst recht – denn sie stellt weder ein offizielles Amt dar, noch ist sie offizieller Bestandteil der Exekutive. Bislang stieß sie nicht einmal auf das Interesse der Exoten unter den Politikwissenschaftlern – Korte geht auf die aktuelle Rollenbesetzung nur an zwei Stellen in aller Kürze ein: bei der Stellenausstattung des persönlichen Büros im Bundespräsidialamt66 und beim Blick auf Gestaltungsideen und Gestaltungsspannen des Bundespräsidenten auf mögliche gemeinsame inhaltliche Themen des Präsidentenpaares Steinmeier/Büdenbender, bei denen der First Lady zumindest die Möglichkeit einer öffentlichen Wirkung zugestanden wird.67 Die Vorgängerinnen jedoch spielen im Gegensatz zu ihren Ehemännern in den Ausführungen keine weitere Rolle.
Analog zum Bundespräsidenten bildet der Rechtsbereich auch für die First Lady eine Ausnahme. Die Rechtswissenschaftlerin Sophie Schönberger (früher Lenski) war im akademischen Jahr 2017/2018 Fellow des Forschungsprojektes »Die Première Dame zwischen Staatsrepräsentation und Privatisierung des Politischen« am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz, bevor sie im Wintersemester 2018 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf übernahm.68 In dem Projekt wird aus juristischer Perspektive die politische, rechtliche und kommunikative Rolle der Ehepartner von Staatsoberhäuptern analysiert, wobei auch vordemokratische Politik- und Repräsentationsvorstellungen sowie Geschlechterrollen untersucht werden.69 Im Jahr 2016 veröffentlichte Schönberger (unter dem früheren Namen Lenski) zu selbigem Thema den Aufsatz »Die Frau hinter der Person hinter dem Amt. Die First Lady zwischen Geschlechterrollen, monarchischem Erbe und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private«.70
In diesem Aufsatz kommt Schönberger zu dem Schluss, dass sich die »facettenreiche Position zwischen abhängiger Unterstützung des Bundespräsidenten und eigenständiger öffentlicher Aufgabenerfüllung« nicht »in klassisch rechtliche Kategorien« einordnen lässt.71 Sie ist weder Amtsträgerin noch Privatperson.72 Das Grundgesetz beinhaltet keine Regelungen zur Rolle der First Lady – weder wird sie in die Funktion gewählt, noch auf andere Weise demokratisch legitimiert.73 Die Erwartungen an die Rolle gehen jedoch über den rein privaten Bereich hinaus, was sich in den folgenden von Schönberger aufgeführten Punkten offenbart: das Bundespräsidialamt verantwortet ihre Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der Bundespräsident spricht oft auch in ihrem Namen, sie nimmt eigene öffentlichkeitswirksame Termine war.74 Die Ausstattung eines eigenen Büros impliziert die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben.75 Dies spiegelt sich rechtlich seit 2010 im Haushaltsplan des Bundes und steht mittelbar für einen gewissen Grad an Legitimierung durch den Bundestag, der diesen verabschiedet. Im Einzelplan 01 des Bundespräsidialamtes werden der First Lady zum Bestreiten eigener repräsentativer Verpflichtungen öffentliche Mittel in einer Erläuterung zum Haushaltsvermerk zu Titel 529 01-011 zugestanden.76 Auf die Erwartungen seitens der Gesellschaft, die sich wiederum in Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern, Terminanfragen und Veranstaltungseinladungen oder im Herantragen der Übernahme von Schirmherrschaften sowie in der Presseberichtertsattung und Literatur äußert, und die möglichen Ursprünge dieser Erwartungen geht sie daneben nicht ein.
Die Art und Weise der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben beruht laut Schönberger auf tiefliegenden Traditionswurzeln an der Spitze des Staates.77 So haben republikanische Staatsoberhäupter der westlichen Welt in westlichen Monarchen ein historisches und kulturelles Vorbild. Zudem sind Monarchien Familienunternehmen, in denen eine Person nicht durch Wahlen in eine öffentliche Funktion gelangt, sondern durch Familienzugehörigkeit – wie beispielsweise bei der Einbindung von Ehegatten in Repräsentationsaufgaben.78 Diese hat in Monarchien eine lange Erfahrung, auch in der Umkehr der Geschlechterverhältnisse bei einer Monarchin und einem männlichen Begleiter.79 Zwar beschreibt Schönberger die Rolle von Prinzgemahlen – Ehemännern von herrschenden Königinnen – in den Niederlanden, Großbritannien und Dänemark, jedoch nicht die Rolle von Königinnen – Ehefrauen von herrschenden Königen –, sodass der Vergleich einseitig bleibt. Die Rolle der deutschen Kaiserin als mögliches Vorbild der First Lady in Deutschland wird von ihr nicht in Erwägung gezogen.
Gleichzeitig stellt die First Lady nach Ansicht von Schönberger eine stark auf Geschlechterklischees aufbauende Rolle dar, die klassische weibliche Aufgaben und Ideen wie Häuslichkeit, Fürsorge, Unterstützung, Gastlichkeit und soziales Engagement in der First Lady verkörpert.80 Eine eigene politische Agenda verfolgt sie nicht, sondern widmet sich ausschließlich sozialen und karitativen Themen.81 Der Bundespräsident macht sie zum Teil seiner Integrations- und Repräsentationsfunktion und fördert somit die Übernahme eines traditionellen Rollenmodells der Geschlechter in die Staatssymbolik.82 Monarchien sahen sich im 20. Jahrhundert damit konfrontiert, das Bild des Mannes als dominanten und Macht ausübenden Beziehungspart und die Frau als zurückgenommene, unterstützende Begleiterin umkehren zu müssen. Die Amtspraxis regierender Königinnen hat also bereits vor langer Zeit zur Umkehr klassischer und überkommener Rollenerwartungen geführt und somit Traditionen umgekehrt.83
Über die rechtliche Bewertung hinaus wirft Schönberger der Rolle der First Lady vor, durch die Orientierung an traditionell weiblichen Verhaltensmustern, Themen und Aufgaben und durch damit korrespondierender öffentlicher Repräsentationstätigkeit überkommene Geschlechterrollen zu zementieren. In ihren Kurzporträts der bisherigen Rolleninhaberinnen von Elly Heuss-Knapp bis Daniela Schadt liegt der Fokus auf dem Ausbildungsweg, dem Erwerb beruflicher Qualifikationen, der Frage nach Berufstätigkeit oder Hausfrauendasein, der Rolle als Ehefrau und Mutter.84 Was sie jedoch nicht einfließen lässt, sind Werte, Einstellungen und Interessen, die die Art und Weise der individuellen Rolleninterpretation jeder First Lady neben Beruflichem und Familiärem mitprägen. Ebenso lässt sie die Rolle der Gesellschaft außen vor, die das Zementieren überkommener Geschlechterrollen zulässt und sogar unterstützt, wenn sich Bürgerinnen und Bürger mit Anliegen an die First Lady wenden und Reaktionen erwarten. In diesem Licht muss Schönbergers These, dass die Rolle für die Staatsleitung nicht notwendig sei und die Verfassungspraxis in anderen Ländern dies auch zeige,85 hinterfragt werden.
Das Wirken als deutsche First Lady – entweder im Erfüllen repräsentativer Aufgaben an der Seite des Staatsoberhauptes oder eigenständig im wohltätigen Bereich – wird in zahlreichen (populärwissenschaftlichen) Biografie- und Porträtsammlungen beschrieben. Sowohl zu den deutschen Kaiserinnen als auch zu Louise Ebert und den (Ehe-)Partnerinnen der deutschen Bundespräsidenten liegen biografische Publikationen vor, denen Details zu gesellschaftlichen, sozialen und politischen Prägungen und Erfahrungen entnehmbar sind. Keines dieser Werke stellt jedoch eine politikwissenschaftliche Analyse dar oder beinhaltet eine klar formulierte Rollendefinition für die First Ladys der Bundesrepublik, nicht einmal einen einheitlich definierten Zugehörigkeitskreis. In manchen Veröffentlichungen geht es ausschließlich um die Ehefrauen der Bundespräsidenten, in anderen werden auch die Ehefrauen der Bundeskanzler einbezogen. Die Ursprünge der First-Lady-Rolle in Deutschland werden zumeist nicht diskutiert. Die Ausführungen dienen überwiegend der Unterhaltungslektüre mit einem gewissen historischen Anspruch. Darüber hinaus wird in diesen Publikationen – auch in den jüngsten aus dem Jahr 201986 – in das Muster verfallen, die bisherigen Rolleninhaberinnen im Schatten ihrer berühmteren Ehemänner und deren Verdienste darzustellen, sowie zu ergründen, wie sie an seiner Macht partizipierten oder ihn beeinflussten. Die Biografie- und Porträtsammlungen sind geeignete Informationsquellen, die für wissenschaftliche Analysen aus unterschiedlichen Perspektiven herangezogen werden können. Mit Ausnahme weniger Biografien, die über Kaiserin Auguste Viktoria und Elly Heuss-Knapp nach wissenschaftlichen Standards erstellt wurden, konstituieren diese Publikationen keinen soliden Forschungsstand, an den nahtlos angeschlossen werden könnte.
Des Weiteren bilden das unterstützende oder eigenständige öffentliche Wirken der First Lady und biografische Aspekte Gegenstand der medialen Berichterstattung. Darin richtet sich die Aufmerksamkeit, wie bei anderen prominenten Personen, auch auf das Privatleben. Meist gibt es eine gewisse Intensität am Anfang und Ende einer Amtszeit auch hinsichtlich der First Lady: zunächst geprägt von der Neugier, »wie die Neue so ist«; später folgt dann ein Rückblick.87 Als Elly Heuss-Knapp während der Amtszeit ihre Ehemannes verstarb, gab es Nachrufe.88 Auch wenn eine aktuelle Rolleninhaberin ein besonderes Projekt initiiert, wird berichtet, zum Beispiel bei der Gründung der Deutschen Krebshilfe durch Mildred Scheel oder der Ausstrahlung einer Kochsendung mit Christiane Herzog.89 Die Grenze zwischen öffentlicher Funktion und Privatleben verschwimmt meist, wenn das Paar an der Staatsspitze bei verschiedensten Anlässen gemeinsam porträtiert wird.90 Natürlich besteht stets ein gesteigertes Interesse bei Skandalen, zum Beispiel als öffentlich bekannt wurde, dass Wilhelmine Lübke sich in Ausweisdokumenten zehn Jahre jünger machte.91 Archivierte Zeitungsartikel, Radio- oder Fernsehbeiträge stellen aufschlussreiche, die biografischen Publikationen ergänzende Quellen für die Bewertung der First Ladys seitens des Publikums in der Eigenschaft als Zeitzeugen dar, zu einem Großteil sind sie jedoch bereits in die vorhandenen populärwissenchaftlichen Darstellungen als Quellen eingeflossen.
Die Erwartungen des Publikums – vor allem der Bürgerinnen und Bürger – manifestieren sich wie oben in diesem Kapitel bereits erwähnt in Zuschriften, Terminanfragen und Einladungen oder im Herantragen der Übernahme von Schirmherrschaften. Wie in der Verwaltung üblich, werden Posteingänge im Bundespräsidialamt mit Aktzenzeichen versehen und in einer Registratur abgelegt. Nach dem Ende einer Amtszeit gehen die Aktenbestände von besonderem Wert grundsätzlich zur Archivierung vom Bundespräsidialamt ins Bundesarchiv.92 Dies gilt auch für die Akten aus dem persönlichen Büro des Bundespräsidenten, von dem das persönliche Büro der First Lady organisatorisch ein Teil ist. Leider war es lange Zeit so, dass die Akten des First-Lady-Büros nicht in der Registratur abgelegt wurden, nach dem Ende der Amtszeit mit in die Büros der Altbundespräsidenten genommen werden konnten, aber in der Regel gelangten sie nicht direkt ins Bundesarchiv, wo sie eingesehen werden könnten.93 Dort vorhandene Archivbestände aus den Amstzeiten Heuss bis Carstens wurden eingesehen und sind in die Analyse eingeflossen.
Worauf fußen die Rolleninterpretationen einzelner Rolleninhaberinnen und ihres Publikums? Welchen Beitrag der Weiterentwicklung leisteten die Nachfolgerinnen – insbesondere in Zeiten des gesellschaftlichen oder politischen Wandels? An wen muss die Kritik des Zementierens überkommener Geschlechterrollen adressiert werden? Stehen die Rollenbesetzungen der Bundesrepublik in der Tradition94 der ersten republikanischen First Lady Deutschlands, Louise Ebert? Begründeten sie eine neue Tradition, wie Winter es im Jahr 1971 aus der Perspektive einer Bonner Journalistin und Gesellschaftskritikerin beschrieb? Oder stehen alle First Ladys in Deutschland – sowohl während der Zeit der Weimarer Republik als auch der Bundesrepublik – gar in der Tradition der Kaiserin und klassischer Geschlechterrollen, wie Schönberger es im Jahr 2016 als überkommen kritisiert?
Das Bild der First Lady als Hauptrolle in einem Drama erscheint passend, da auch das First-Lady-Sein eine Rolle ist und ihre Performanz in Worten und Taten im öffentlichen Raum dargeboten und durch die Gesellschaft rezipiert und bewertet wird; vergleichbar der Darbietung eines Stückes inklusive der Leistung einzelner Rollenbesetzungen, die im Gegenüber von Bühne und Zuschauerraum mit dem Publikum aufeinanderprallen.
»Bei ihm [Anm. d. V.: Aristoteles] figuriert die Tragödie als wichtigste Gattung des Dramas und zeichnet sich als »Nachahmung einer guten und geschlossenen Handlung« (mímēsis) wesentlich durch die »Reinigung« (kátharsis) der bzw. von den Affekten éleos (›Jammer‹, seit Lessings Hamburgischer Dramaturgie meist mit ›Mitleid‹ übersetzt) und phóbos (›Schaudern‹, ›Furcht‹) aus (Poet. 1449b21-1450b20).«95
Qualitative Bestandteile der Tragödie sind die Handlungsführung (mythos), der Charakter in seinem charakteristischen Handeln (ta éthē), der Charakter in seinem charakteristischem Argumentieren und Sprechen (diánoia), die sprachliche Form (léxis), die Melodik (melopoiía) und die szenische Realisation (ópsis).96 Der mythos ist Ursprung und Seele der Tragödie und laut Aristoteles wichtigstes konstitutives Funktionselement, da er für die Zusammenführung der Handlungen einer Tragödie steht.97 An der Gestaltung des mythos wirken verschiedene Konzepte mit, insbesondere die Peripetie (Umschlag in das Gegenteil dessen, was intendiert war) und die Anagnorisis (Übergang von Unwissen zu Wissen).98 Des Weiteren baut er auf mímēsis auf – ein Begriff, der »sowohl Prozess wie Produkt, sowohl menschliches Vermögen wie auch kulturelle Handlung« umfasst und unter anderem als Nachahmung, Darstellung, Repräsentation oder Modellierung übersetzt werden kann.99 Die Wirkung der Handlung, die kátharsis, kann unter anderem als Optimierung emotionaler Kognitionen verstanden werden.100
»Indem sie handelnde Menschen auftreten lassen, regen Dramen den Zuschauer in besonderer Weise zum praktischen Syllogismus an, zum Erkennen von Ähnlichkeiten und/oder Unterschieden im Akt der Wahrnehmung.«101 Mehr als die bisherigen konkreten Rolleninhaberinnen und ihre individuellen biografischen Details bildet die abstrakte Rolle den Interessensschwerpunkt der nachfolgenden Ausführungen. Jedoch bedingt das eine – die individuelle Biografie – das andere – die abstrakte Rolle. Jede Rollenbesetzung interpretiert die Rolle der First Lady aus ihrer eigenen Perspektive, jede Nachfolgerin orientiert sich jedoch auch am Wirken der Vorgängerinnen. Die zentrale Frage dabei lautet, wo der Ursprung der Rolle liegt: bei Elly Heuss-Knapp als erster First Lady der Bundesrepublik, bei Louise Ebert als erster First Lady einer deutschen Republik oder aber in der Rolle der deutschen Kaiserin als Landesmutter. Bei der Forschungsfrage geht es um mimetisches Handeln bei der Darstellung der Rolle, bei der eventuellen Nachahmung der Rolle der Kaiserin, bei der unterstellten Repräsentation überkommener Geschlechterklischees und der Forderung der Modellierung von etwas Neuem. Unter dem mythos der First-Lady-Rolle ist keine Heldinnensage, sondern die Entstehungsgeschichte der Rolle und ihre Fortentwicklung zu verstehen, an der verschiedene Faktoren mitwirken. Die kátharsis der Analyse der Ursprünge der First-Lady-Rolle ist nicht als Reinigungsprozess, sondern als kognitiver Erkenntnisgewinn zu verstehen.
Die First Ladys der Weimarer Republik, der Bundesrepublik und schon gar nicht die des Kaiserreiches, die sich nicht zeitgleich, sondern chronologisch nacheinander in einer Rolle wiederfanden, bewarben sich nicht für eine öffentliche Funktion an der Spitze des Staates, ebenso wenig wurden sie in ihre Funktion gewählt. Vielmehr kamen alle aufgrund ihrer persönlichen Beziehung zum deutschen Staatsoberhaupt in die Rollenbesetzung der First Lady und standen zusammen mit dem Kaiser, dem Reichspräsidenten und dem Bundespräsidenten oder auch allein auf einer Bühne, beobachtet und bewertet von einem breiten Publikum. Über ihre Ehemänner oder Partner und ihre Funktion und Rolle als Institution eines politischen Systems sowie ihre Spuren in der Geschichte ist weitaus mehr bekannt und erforscht als über diese Frauen. Wer aber waren sie und ist die ihnen bislang nur marginale Aufmerksamkeit seitens der Politikwissenschaft gerechtfertigt oder haben nicht auch sie prägende Spuren hinterlassen? Lässt sich daraus folgend auch ihre Rolle für Staat und Gesellschaft definieren? Und welchen Einfluss hat sie möglicherweise auf die staatliche Integration oder die Demokratie?
Aufbauend auf der Idee einer Tragödie in Text und Inszenierung gliedern sich die vorliegenden Ausführungen in Anlehnung an die fünf Akte einer Tragödie und die aristotelischen Hauptbetsandteile derselben unter kreativer (und nicht dramentheoretisch präziser) Verwendung der Begriffe: Im I. Akt (»Konflikt«) wird in die Handlung eingeführt – Thema, Forschungsstand und Forschungsfragen werden vorgestellt; im II. Akt (»Einblick«) wird ein Beitrag zum Verständnis der Hintergründe der Handlung bzw. First-Lady-Rolle geleistet – theoretische Grundlagen und Forschungsdesign werden vorgestellt, die dabei helfen, die Rolle und ihre staatspolitische Bedeutung einzuordnen; im III. Akt (»Mimesis«) wird ausführlich auf die Rahmenbedingungen eingegangen, in denen sich die Rolle arrangieren muss; im IV. Akt (»Katharsis«) werden die die Handlung darstellenden Personen präsentiert, die Besetzungen der First-Lady-Rolle, und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet, die helfen, die Rolle und ihre staatspolitische Bedeutung zu verstehen und von Klischees zu bereinigen; im V. Akt (»Mythos«) wird die »Seele der Handlung« als Ergebnis zusammengefasst, wobei die Heldin unter Herausnahme künstlerischer Freiheiten jedoch nicht in die Katastrophe des Untergangs stürzt.
Die theoretische Grundlage bildet die politische Kulturforschung, die sich mit dem Beziehungsgefüge zwischen Akteurinnen und Akteuren in einem politischen System und den an sie gerichteten Erwartungen befasst, vergleichbar dem Zusammenspiel von Schauspielern und Publikum in einer Inszenierung. Abweichend von einem traditionellen Verständnis, sich als Methode ausschließlich der Umfrageforschung zu bedienen, wird in dem vorliegenden Forschungsvorhaben auf eine alternative Methodik zurückgegriffen: die Kollektivbiografik. Theoretische Grundlagen und Methodik sowie Forschungsdesign und These werden im Folgenden detailliert erläutert.
Die Figur oder Rolle der First Lady der Bundesrepublik hatte seit 1949 zwölf unterschiedliche Besetzungen, die diese interpretierten und spielten. In der Weimarer Republik gab es eine Besetzung der Rolle – im Kaiserreich drei. Aus den jeweiligen konkreten Handlungen und Interpretationsweisen können Rückschlüsse auf das Allgemeine bzw. Abstrakte der Rolle gezogen werden:
Welche Aufgaben werden durch die Rolle allgemein wahrgenommen, welche sind auf die konkrete Rollenbesetzung – ihre Vorlieben und Abneigungen – oder die Wirkungsepoche zurückzuführen?
Welcher Platz und welche Funktion sind für die Rolle im staatlichen Drehbuch vorgesehen? Steht die Rolle für bestimmte Inhalte und/oder ist sie Teil der Staatspflege102?
War und ist die Rollenbesetzung Privatperson, die sich wie viele andere ehrenamtlich engagiert und sich bestimmten Themen widmet, oder ist sie als öffentliche und darüber hinaus offizielle Person sowie Akteurin des Staates zu betrachten?
Wie kommuniziert die Rolle mit ihrem Publikum und dieses mit ihr?
Wie werden die Rolle und die Rollenbesetzung, ihre Handlungen und ihre Kommunikation öffentlich in Szene gesetzt?
Die Betrachtung der First-Lady-Rolle Deutschlands – ihr Entstehen, ihre Etablierung und ihre Fortentwicklung – soll über eine solche Aufgabendefinition und Themenschwerpunkte hinausgehen. Nicht nur Text und Drehbuch sollen offengelegt werden, sondern auch dessen Autorinnen und Autoren sowie die Regie des gesamten Stückes. Es gilt die Vorlieben und Abneigungen zu ergründen, die die Rolle formen. Zumal es, wie im einleitenden Kapitel beschrieben, keine rechtlichen Regelungen und Vorgaben gibt, die den Handlungsrahmen stecken. Für die First-Lady-Rolle wird dieser durch ungeschriebene Regeln geformt.
Rollen, die im Fokus einer politikwissenschaftlichen Analyse stehen, können und werden nicht ausschließlich durch rechtliche Vorgaben definiert, sondern in ihrer konkreten Ausgestaltung insbesondere durch kollektive Erwartungen. Diese Erwartungen sind »mit ihrer informellen Dimension […] meist wichtiger als der rechtliche Rahmen, in dem diese Rolle ausgefüllt wird«103. Daher ist es für die politikwissenschaftliche Analyse der deutschen First Lady nicht vordergründig, ob Aufgaben und Handlungsspielraum rechtlich geregelt sind oder nicht, da die Erwartungen mit Fokus auf die abstrakte Rolle betrachtet werden. Ebenso wird untersucht, ob sie als eine Art Autorin oder Autor der First-Lady-Rolle in Betracht kommen. Diese Erwartungen werden an die Rolle aus verschiedenen Richtungen herangetragen: von der Inhaberin selbst und deren Umfeld, von den Medien und von Bürgerinnen und Bürgern.
Die kollektiven Erwartungen sind ein Sammelbecken der Erwartungen der Rollenbesetzung selbst, der Erwartungen von den Bürgerinnen und Bürgern, der Erwartungen der Medien, der Erwartungen politischer und gesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure sowie der Erwartungen des Bundespräsidialamtes mit seinen Bediensteten, das als Behörde den jeweiligen Bundespräsidenten in seiner Amtsführung unterstützt. Erwartungen haben immer einen Ursprung, sie tauchen nicht einfach aus dem Nichts auf.
Mit dem Beziehungsgefüge zwischen Akteurinnen und Akteuren in einem politischen System und den an sie gerichteten Erwartungen befasst sich die politische Kulturforschung. Sie ist theoretische Grundlage dieser Untersuchung: der Analyse der Rolle der First Lady der Bundesrepublik, ihrer Ursprünge, der sie formenden Kräfte von den Anfängen bis in die Gegenwart und ihrer Bedeutung für Staat und Gesellschaft.
Die Daseinsberechtigung von Institutionen in einem politischen System kann auf Verfassungen und anderen rechtlichen Grundlagen beruhen, deren Aufgaben und Handlungsrahmen darin ebenso definiert sein können. Ein politisches System beinhaltet, wie oben bereits erwähnt, aber mehr als Verfassung und Institutionen. Dem »toten Inventar«, den verfassungsrechtlichen Vorgaben und Institutionen, »Leben einzuhauchen«, erfolgt durch einzelne Akteurinnen und Akteure – Politikerinnen und Politiker oder Bürgerinnen und Bürger – sowie ihre individuelle Persönlichkeit.104 Sie füllen abstrakte Rollen ihrer eigenen Interpretation entsprechend mit Leben und geben ihnen ein menschliches Gesicht. Der Handlungs- und Interpretationsspielraum der Akteurinnen und Akteure wiederum wird neben dem Rechtsrahmen durch die Bewertung ihres Handelns seitens der Gesellschaft begrenzt, die dieses gutheißt und akzeptiert – Vorlieben – oder für falsch befindet und ablehnt – Abneigungen. Der dieses Handeln und das Urteil darüber steuernde Rahmen ist die Politische Kultur.
Karl Rohe definiert den Begriff Politische Kultur als »das politisch relevante ›Weltbild‹ von Gruppen […], das den jeweiligen sozialen Trägern im Normalzustand in seiner Besonderheit gar nicht bewußt ist, weil die in dem Weltbild enthaltenen Grundannahmen über die Wirklichkeit als ›natürlich‹ und ›selbstverständlich‹ empfunden werden«105. Sie ist »ein mit Sinnbezügen gefüllter Rahmen […], innerhalb dessen sich die – in der Regel – durch Interessen, freilich nicht allein durch materielle Interessen, geleitete politische Lebenspraxis handelnder, denkender und fühlender politischer Akteure vollzieht«106, und stellt somit eine Art »ungeschriebene Verfassung«107 dar. Politische Kultur ist die Inspiration für das Drehbuch des Bühnenstückes, in dem die First Lady ihre Rolle einnimt. Sie ist der Fundus für die Vorlieben und Abneigungen der Charaktere.
Die Begriffsdefinition von Politischer Kultur war und ist keineswegs eindeutig oder gar unumstritten; das Konzept der politischen Kulturforschung wurde stetig weiterentwickelt. Die Wahl von Rohes Konzept als theoretische Basis bedarf vor diesem Hintergrund einer Einordnung.
Ausgangspunkt von Begriff und Forschungskonzept der politischen Kultur stellt bis heute eine Studie mit dem Titel »The Civic Culture« von Gabriel Almond und Sidney Verba aus dem Jahr 1963 dar. Anhand der Beispiele der fünf Nachkriegsstaaten USA, Großbritannien, Deutschland, Italien und Mexiko untersuchen sie deren auf unterschiedlichen historischen Entwicklungen beruhenden politischen Kulturen. Hierfür bedienen sie sich der quantitativen Umfrageforschung – integrieren also die bis dato wenig betrachtete Beziehung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Staat fernab von Wahlen – und leiten aus den Ergebnissen Grundtypen von politischer Kultur ab. Besondere Bedeutung messen die beiden Autoren der Stabilität eines politischen Systems bei, die vor allem auf dem Verhältnis von Struktur und Kultur basiert. Das Forschungsdesign verbindet die Mikroebene individueller Orientierungen mit politischen Objekten der Makroebene und untersucht den Bereich zwischen beiden Ebenen. Den von ihnen definierten Grundtypus der Partizipationskultur, im Englischen civic culture, erklären Almond und Verba zum normativen Leitbild, das von einer starken partizipativen Orientierung und einer positiven Grundeinstellung gegenüber Prozessen und Strukturen des politischen Systems ausgeht. Nach dem Verständnis von Almond und Verba ist politische Kultur »eine Abbildung individueller Einstellungen (nicht Verhaltensweisen) auf der Gesellschaftsebene (Aggregatsebene)«108. Sie ist »die besondere Verteilung von Orientierungsmustern auf politische Objekte unter den Mitgliedern einer Nation«109. Auch wenn die Grundprinzipien von Almond und Verba bis heute als Ausgangspunkt der politischen Kulturforschung gelten, waren sie stets auch der Kritik aus Fachkreisen ausgesetzt und wurden dadurch weiterentwickelt.110
Zu einem dieser Kritikerinnen und Kritikern aus Fachkreisen gehört im deutschen Sprachraum Karl Rohe, der das Konzept der Politischen Kultur mit einem breiter angelegten Verständnis weiterentwickelt und dabei die traditionellen Überlegungen von Almond und Verba mit kulturalistischen und historisch geprägten Ansätzen verbindet.111
Ergänzend zum Begriff der politischen Soziokultur, unter dem sich der klassische politische Kulturansatz zusammenfassen lässt, führt Rohe den Begriff der politischen Deutungskultur ein.112
»Politische Deutungskultur ist gleichsam eine Kultur der Kultur, eine Metakultur, deren Funktion nicht zuletzt darin besteht, die auf der Ebene der Soziokultur gespeicherten, mehr oder minder unbewußten Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten zu thematisieren und sie damit dann ihrer gleichsam ›natürlichen Unschuld‹ zu berauben, wenn eine Deutungskultur sich grundsätzlich affirmativ zu einer Soziokultur verhält.«113
Insbesondere in Zeiten des Umbruchs oder Wandels ist die Deutungskultur als »geistige Überformung«114 der Soziokultur entscheidend, die »das kollektive Ergebnis von Prozessen, an denen viele mitgewirkt haben«115, ist.
Gewöhnlich stellen Weltbilder und ungeschriebene Verfassungen Wertordnungen dar, die als selbstverständlich empfunden werden. Sie werden jedoch »beim Kampf um eine neue politische Ordnung oft reaktiviert oder treten in Konkurrenz zu anderen Weltanschauungen«116. Dabei geht es um die kognitiven, normativen und ästhetischen Maßstäbe und Werte, die eine politische Kultur begründen. Sie alle können gegenüber dem politischen System affektiv verankert sein oder nicht.117 Rohe entfernt sich mit dieser Aufteilung von der Trias der kognitiven, evaluativen und affektiven Orientierung in der Civic-Culture-Studie von Almond und Verba, um auf diese Weise die für die Internalisierungs- und Externalisierungsprozesse von politischer Kultur wichtigen Symbolsysteme in das politische Kulturkonzept zu integrieren.118 Das Greifbarmachen der die politische (Sozio-)Kultur ausmachenden abstrakten Regeln und Prinzipien geschieht (unbewusst) auf der ästhetischen Ebene durch Sprache, Schrift, Bilder, oder Taten, die so zu politischen Symbolen werden.119 Wird Symbolpolitik bewusst und gezielt eingesetzt, das heißt inszeniert, bewegt sie sich im Bereich der Deutungskultur. Trägerinnen und Träger einer politischen Kultur sind Symbolproduzentinnen und -produzenten, die zugleich Sinn- sowie Deutungsangebote bereitstellen können.120 Sie handeln wie Schauspielerinnen und Schauspieler auf einer Bühne und bieten dem Publikum in den dargestellten Szenen die Inszenierung eines Symbolsystems.
Politische Kultur hat somit einen subjektiven und objektiven Doppelcharakter: in Form der politischen Soziokultur ist sie Ideengeberin und in Form der politischen Deutungskultur zugleich Interpretationshilfe. Der Handlungsspielraum von Funktionsträgerinnen und -trägern eines politischen Regimes steht dabei immer in direkter Abhängigkeit zum vorherrschenden Symbolsystem. Um zu reüssieren, müssen diese sich innerhalb bestimmter politisch-ästhetischer Maximen – der herrschenden politischen Soziokultur – bewegen (oder es schaffen, diese zu verändern). Die affektive Bindung an ein politisches System und dessen Funktionsträgerinnen und -träger ist in höherem Maße von der ästhetischen Ebene der Formen und des Ausdrucks abhängig als von der kognitiven und normativen, da sie weniger abstrakt ist.121
Nach diesem Verständnis übernimmt die First Lady die zentrale Aufgabe öffentlichkeitswirksam an der Symbolproduktion mitzuwirken und somit zugleich Ideengeberin sowie Interpretationshelferin zu sein. Vielleicht weil sie kein offizielles politisches Amt bekleidet, sondern für den Staat als fürsorgliche Landesmutter steht und durch die Darstellung als Mensch – oft durch die Boulevardpresse auf Äußerlichkeiten reduziert und weniger für die von ihr vertretenen Inhalte gewürdigt – vor allem auf der ästhetischen Ebene wirkt, nimmt sie eine bedeutende Integrationsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft ein. Die Bürgerinnen und Bürger identifizieren sich eher mit einer konkreten Person als mit einer abstrakten Institution oder Gesetzen. Wenden sie sich an die First Lady, erhalten sie durch deren Reaktion, die in einer bloßen schriftlichen Antwort oder der Annahme einer Einladung zu einer Veranstaltung bestehen kann, Sinn- und Deutungsangebote und somit mehr als einen Rat oder eine bloße Zu- oder Absage.
»Neu installierte politische Regime, wenn sie sich auf Dauer als legitime politische Regime etablieren wollen, müssen entweder fähig sein, einen politischen Kulturwandel der Bevölkerung zu bewirken, oder aber in der Lage sein, vor dem überkommenen politischen Beurteilungsmaßstäben zu bestehen.«122 Die politische Kultur konstituiert demnach die politischen Strukturen, zudem ist sie tiefer historisch verwurzelt als politische Beurteilungsmaßstäbe in Form von Einstellungen und Werten.123 Soziokulturelle Prägungen, die die sozialen und politischen Entwicklungen einer Gesellschaft beeinflussen, verschwinden nicht einfach durch einen Wechsel des herrschenden politischen Systems.124 Diese Prägungen wiederum sind nicht statisch, sondern dynamisch – auch sie unterliegen Wandel und sind als Prozess zu begreifen. Dieser Prozess und daher die politische Kultur haben zwar ihren Ausgang in der Vergangenheit, sie wirken aber ebenso in der Gegenwart und fordern Reaktionen ein. Demnach ist politische Kultur zugleich Resultat der Vergangenheit und der Gegenwart.125 Die Gesellschaft bewertet das Handeln politischer Akteurinnen und Akteure. Wollen die Handelnden Zuspruch anstelle von Ablehnung erwirken – wovon in der Regel auszugehen ist –, müssen sie in ihrem konkreten Handeln im politischen Alltag auf die Bewertungen der Gesellschaft reagieren. Politische Praxis im Alltag ist somit in die Analyse einer politischen Kultur ebenso einzubeziehen wie die Bewertungen und Erwartungen, also die in der Gesellschaft herrschenden Einstellungen.126
Die politische Soziokultur ist das kollektive und dynamische Ergebnis von Prozessen, das über einen langen Zeitraum zahlreiche Ereignisse und Personen gestaltet haben. Sie konstituiert sich aus historischen, strukturellen und politischen Entwicklungen, Erwartungen, Bewertungen, Entscheidungen, Herausforderungen und Reaktionen. Die meiste Zeit wird sie unbewusst gelebt. Die politische Deutungskultur kann dieses Unbewusste bewusst machen. Sie hilft zu begreifen, zu interpretieren und letztlich zu integrieren.
»[Denn] ›politische‹ Kulturen sind […] im Kern nichts anderes als in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit eingelassene Ideen, die Politikhorizonte abstecken, Sinnbezüge stiften und von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Trägern als Maßstäbe zur Auswahl, Organisation, Interpretation, Sinngebung und Beurteilung politischer Phänomene benutzt werden.«127