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»Die ›Zeitenwende‹ begann nicht erst mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, sondern Jahrzehnte früher: mit dem Zerfall der Sowjetunion.« Jo Angerer
Der Zerfall einer Weltmacht: Es war die Zeit der tiefen Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, als sich von März 1990 bis Dezember 1991 ehemalige Sowjetrepubliken, darunter auch deren Teilgebiete, für unabhängig erklärten: das Ende der Sowjetunion. Vielfach folgten willkürliche Grenzziehungen. Diese Konfliktherde schwelen seitdem und flackern immer wieder auf – weitestgehend unter dem Radar westlicher Berichterstattung. Ethnische Gruppen streben die Souveränität von den neu entstandenen Staaten an: Bergkarabach von Aserbaidschan, Südossetien und Abchasien von Georgien, Transnistrien von Moldau. Pro-russische Kräfte vor Ort unterstützen dies oftmals, gesteuert von Moskau. Auf der Krim und in der Ost-Ukraine war das so – und führte schließlich zum Krieg.
Der Journalist und Moskau-Korrespondent Jo Angerer erläutert die historischen Hintergründe der Konfliktregionen auf postsowjetischem Gebiet, ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart und geht der Frage nach, was der Westen diplomatisch besser machen muss. Dafür bereist er Grenzregionen, spricht mit Expert*innen, Zeitzeug*innen und Menschen, die vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine geflohen sind, darunter Ukrainer*innen und Russ*innen - die sich nun an anderen Konfliktzonen wiederfinden. Die ehemalige Sowjetunion ist von der Weltmacht zum Weltkrisenherd geworden. Was muss geschehen, damit zukünftige Kriege vermieden werden?
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Seitenzahl: 261
»Ich reise viel in die Länder des postsowjetischen Raumes und bin zu einer Erkenntnis gelangt: Viele, wenn nicht sogar alle Konflikte in diesem Raum hängen mit dem Zerfall der Sowjetunion zusammen. Das gilt nicht nur für die Situation in der Ukraine. Manche dieser Konflikte tauchen zuweilen in den Medien auf, verschwinden aber schnell wieder. Transnistrien? Moldau? Bergkarabach? Das sind Namen, von denen man in westlichen Zeitungen, Magazinen und Nachrichtensendungen zwar immer wieder mal hört, aber nie für längere Zeit. Sie gelten als ›eingefrorene‹ Konflikte, und auch das Interesse daran scheint rasch einzufrieren. Doch eingefrorene Konflikte können schnell zu Kriegen eskalieren. Wir alle müssen genauer hinschauen.«
Jo Angerer, geboren 1956, begann seine journalistische Karriere beim Bayerischen Rundfunk in München. Später arbeitete er für das ARD-Magazin MONITOR, war Autor und Redakteur vieler Dokumentationen in der ARD und im WDR-Fernsehen. Investigative Recherche, Friedens- und Sicherheitspolitik sind sein Spezialgebiet. Seit 2019 lebt und arbeitet er als Korrespondent in Moskau. Zunächst für die ARD und heute für die Zeitung DER STANDARD reist er von dort aus häufig in die ehemaligen Sowjetstaaten, spricht mit den Menschen vor Ort und spürt dem Lebensgefühl in diesen Regionen nach.
Wenn Widerstand weiblich ist
Jo Angerer
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Der Zerfall der Sowjetunion und seine Folgen
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Originalausgabe Oktober 2024
Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Volker Kühn
Karten: Benedikt Grotjahn
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © gettyimages / Manuel Augusto Moreno
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
IJ ∙ CF
ISBN 978-3-641-31559-7V001
www.goldmann-verlag.de
Für Erika, ohne die alles in meinem Leben nichts wäre. Nach wie vor.
Inhalt
Vorwort
Zeitenwende – Sind wir noch die Guten?
Russland – ein Land im Krieg
Putin und wir – eine zerrüttete Beziehung
Sowjetunion 1.0 – der Zerfall eines Weltreichs
Sowjetunion 2.0 – Putins neues Russland
Richtung EU oder doch nach Russland? Georgien, Südossetien und Abchasien
Willkommen in Absurdistan – Moldau und Transnistrien
Spielball der Weltmächte – Bergkarabach, Armenien und Aserbaidschan
Der Krieg, der alles überstrahlt – Ukraine und kein Ende?
Freie Wahl in Russland – Exil oder Straflager
Zwischen Staatskunst und Stillstand – wie der Weg zum Frieden gelingen kann
Ich lebe nach wie vor gern in Moskau, in Russland, diesem faszinierenden Land. Trotz allem. Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz in meinen Zeitungsartikeln schon geschrieben habe. Ich arbeite als Auslandskorrespondent an einem der nicht nur politisch interessantesten Orte der Erde – früher für die ARD, heute für die österreichische Zeitung DER STANDARD und deutsche Medien. Ich mag die Menschen hier. Die meisten, mit denen ich zu tun habe, sind ganz normale Leute mit Alltagsfreuden und -problemen, wie in jedem anderen Land der Welt auch. Menschen, die sich auf ihren nächsten Urlaub freuen, die feiern können, trotz der vielen Veränderungen in Russland. Es sind keine Monster, die morgens aufwachen und sich überlegen, welches Nachbarland die Russen als nächstes überfallen könnten.
Dieses Buch ist ein Sachbuch, aber kein wissenschaftliches Werk mit Anspruch auf Vollständigkeit. Ich erzähle aus dem Blickwinkel eines Korrespondenten über das, was ich wahrnehme, was mir auffällt. Ich reise viel in die Länder des postsowjetischen Raumes und bin zu einer Erkenntnis gelangt: Viele, wenn nicht sogar alle Konflikte in diesem Raum hängen mit dem Zerfall der Sowjetunion zusammen. Das gilt nicht nur für die Situation in der Ukraine. Manche dieser Konflikte tauchen zuweilen in den Medien auf, verschwinden aber schnell wieder. Transnistrien? Moldau? Bergkarabach? Das sind Namen, von denen man in westlichen Zeitungen, Magazinen und Nachrichtensendungen zwar immer wieder mal hört, aber nie für längere Zeit. Sie gelten als »eingefrorene« Konflikte, und auch das Interesse daran scheint rasch einzufrieren. Doch eingefrorene Konflikte können schnell zu Kriegen eskalieren. Wir alle müssen genauer hinschauen.
Aus Russland kann ich auch zu Kriegszeiten ohne Zensur berichten. Niemand hier kontrolliert meine Artikel, niemandem muss ich sie vor der Veröffentlichung vorlegen. Mein Alltag ist zwar schwieriger geworden, doch die Einschränkungen seitens der russischen Behörden sind eher bürokratischer Natur. Grundsätzlich halte ich mich für einen freundlichen Menschen. Allerdings berichte ich für ein Land, das in Russland als »unfreundlicher Staat« gilt. Und das hat Konsequenzen. Alle drei Monate muss ich meine Akkreditierung, also die Arbeitserlaubnis, beim russischen Außenministerium neu beantragen. Früher war das nur einmal pro Jahr nötig. Der Antrag bedeutet viel Arbeit. Ist er genehmigt, muss ich ein neues Visum beantragen, dann folgt die Registrierung bei der Polizei. Vieles muss ausgedruckt werden, zwei Dutzend Seiten sind es wohl alle drei Monate.
Lästig ist zuweilen auch die Einreise nach Russland. Manchmal werden an der Grenzkontrolle Pass und Visum gesondert überprüft. Auch spezielle Befragungen durch den Inlandsgeheimdienst FSB habe ich schon erlebt. Das kann ein, zwei Stunden dauern. Und es ist unangenehm, vor allem am Ende von Reisen aus EU-Ländern, die mit Zwischenstopps wegen der Sanktionen im Regelfall fast 24 Stunden dauern.
Meine Akkreditierung könnte jederzeit widerrufen werden. Dann müsste ich das Land innerhalb von zwei Wochen verlassen. Anzeichen dafür sehe ich im Moment nicht, doch derartige Fälle hat es schon gegeben.
Das Leben in Russland ist oft schön, aber auch stressig. Doch ich will nicht klagen, es ist auszuhalten, die Schwierigkeiten lassen sich bewältigen. Wichtig und unverzichtbar dabei ist aber die Unterstützung von Menschen in meiner nächsten Umgebung. Auch diese Erkenntnis habe ich im Laufe der Jahre hier gewonnen. Viele Korrespondenten sind als Einzelkämpfer hierzulande schon gescheitert.
Nicht nur deshalb danke ich an allererster Stelle meiner Frau Erika für viele Diskussionen, für Kontroversen, für ihre Unterstützung – und für ihre Liebe. An diesem Buch hat sie einen wesentlichen Anteil. Ich danke meinem Freund Ulf Mauder, Büroleiter der Deutschen Presseagentur in Moskau, für seinen langjährigen Erfahrungsschatz in Sachen Russland, an dem ich teilhaben darf. Meinem Freund und Mitarbeiter Alexandr Khavanov danke ich nicht nur für seine Recherchen und seine Hilfe im bürokratischen Alltag. Vor allem danke ich ihm für seine Lebenserfahrung als Russe, für seine Sicht auf die Dinge, die unverzichtbar für einen Menschen wie mich ist, der von hier berichtet, aber einer anderen Kultur entstammt.
Ich danke Imke Rösing, meiner Literaturagentin, und Isabella Jaross, meiner Lektorin, die das Buch engagiert und kompetent begleitet hat. Und ich danke Volker Kühn, meinem Redakteur. Viele Jahre habe ich selbst als Redakteur gearbeitet. Ich weiß, was einen guten Redakteur ausmacht: Autoren in ihrer Sicht, in ihren Formulierungen zu unterstützen und zu verbessern. Danke dafür.
Moskau, im Juli 2024
Es war der 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz ans Rednerpult des Deutschen Bundestags trat. Mit offenem Mund verfolgten viele Abgeordnete und auch viele Zuschauer im Fernsehen das, was der Kanzler quasi im Alleingang verkündete: die »Zeitenwende«.
»Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage«, erklärte der Kanzler in einem für ihn ungewohnt harten Tonfall. »Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.«
Niemand, auch ich nicht, ahnte an jenem Tag, wie tief die Zeitenwende in das Leben jedes Einzelnen in Deutschland eingreifen würde. Dabei stand der Sinn den meisten Menschen nach ganz anderen Dingen. Gerade erst war die große Krise überwunden, die Corona-Pandemie. Ein »normales« Leben schien wieder in Sicht, mit einem Alltag ohne Beschränkungen oder große politische Sorgen. Es kam anders.
Olaf Scholz: »Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen, welche Sorgen sie umtreiben angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg. Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr vom Krieg, und für die Jüngeren ist es kaum fassbar: Krieg in Europa. Wir erleben eine Zeitenwende.«
Die deutsche, die europäische Politik vollzog die Zeitenwende. Politikerinnen und Politiker der Grünen, früher dem Frieden, der Abrüstung, dem strikten Verbot von Rüstungsexporten in Spannungs- oder gar Kriegsgebiete verpflichtet, forderten nun fast schrankenlose Waffenlieferungen in die Ukraine. An vorderster Front stand Anton Hofreiter, eigentlich Agrarpolitiker. Als Scholz später zögerte, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu überlassen, nannte Hofreiter es »ein großes Problem«, ständig »monatelang über ein Waffensystem zu diskutieren, um es dann zu spät zu liefern«. Man solle »Entschlossenheit« zeigen.
Die Zeitenwende teilte die Welt in zwei Hälften: Wir sind die Guten, Putin ist der Böse. Die Folgen waren zeitweise enorm gestiegene Strom- und Gaspreise, die deutsche Wirtschaft wurde zur Leidtragenden. Ukrainische Flüchtlinge wurden in vielen Kommunen zur Belastung, fast überall in Europa erstarken rechte Parteien. Die erste Quittung in Deutschland kam zur Europawahl 2024. Die Konservativen erstarkten, die Grünen stürzten ab, und die AfD, die der Verfassungsschutz als rechtsextremistischen Verdachtsfall führt, legte allen Skandalen zum Trotz um fast fünf Prozentpunkte auf rund 16 Prozent zu.
Die Konfrontation der Blöcke ist wieder da. Zu Zeiten des Kalten Krieges standen sich Ost und West unversöhnlich gegenüber: auf der einen Seite die Sowjetunion und ihre Verbündeten, die Staaten des »Warschauer Vertrages«. Und auf der anderen die USA und die NATO. Russland schafft heute mit der Achse zu China und anderen Ländern eine »multipolare Welt« gegen die Vormachtstellung der USA. Europa wird dabei an den Rand gedrängt. Das ist für die Europäer nicht schön, vor allem aber ist es eine Situation, in der Arroganz mehr denn je fehl am Platz wäre. Wir sind nicht per se die Guten oder gar die Besseren. Wir sind Teil einer neuen Weltordnung, in der andere Staaten bedeutender werden, vor allem die Länder des Globalen Südens. Wir dominieren nicht wirtschaftlich und schon gar nicht militärisch. Diplomatisch zwingt das zur Suche nach Kompromissen und Konsens – in ferner Zukunft vielleicht auch mit Russland.
Aber wann begann die Zeitenwende? Mit der Invasion Russlands in der Ukraine, die ich, wie die meisten Menschen, verurteile?
Ich denke, sie begann viel früher, mit dem Zerfall der Sowjetunion. Deren Existenz endete am 26. Dezember 1991. Die Menschen in Ost und West feierten das Ende des Kalten Krieges, das Ende der Konfrontation der Blöcke; das Gespenst des Atomkrieges schien gebannt. So dachten wir. In Wirklichkeit existierten all die Probleme weiter, die zum Ruin der Weltmacht geführt hatten. Wir nahmen sie nur nicht mehr wahr.
Neue Nationalstaaten entstanden. Zum Teil waren die Grenzziehungen willkürlich, nicht immer verliefen sie entlang ethnischer Trennlinien. Länder, die zum Warschauer Pakt gehörten, dem sowjetischen Hinterhof, agierten nun selbstständig. Manche Regionen, wie etwa Transnistrien, das völkerrechtlich zu Moldau gehört, wollten selbstständig werden – wurden aber international nicht anerkannt. Solange diese Staaten und Regionen im Einflussbereich Russlands blieben, war das oft kein Problem. Doch mit der zunehmenden Westorientierung mancher der neuen Staaten änderte sich das.
Das galt spätestens, als nach einer Phase voll innenpolitischer Wirren, Oligarchenkämpfe und der Verarmung weiter Bevölkerungsteile in Russland ein Mann an die Macht kam, der sein Land zu erneuter weltpolitischer Größe führen wollte und will: Wladimir Wladimirowitsch Putin.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion versuchte der Westen einen »Reset« der Beziehungen mit dem postsowjetischen Raum, allerdings ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der russischen Politik. Eine Anekdote aus dem Frühjahr 2009 bleibt in Erinnerung. Die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton überreichte ihrem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow ein gelbes Kästchen mit einem roten »Reset«-Button. Beide drückten den symbolischen Knopf. Dann aber las Lawrow die russische Aufschrift. Nicht »Neustart« stand da auf Russisch, sondern »Überladung«. Schlicht ein Übersetzungsfehler, aber ein symbolischer.
Vor allem die NATO-Osterweiterung besorgte Russland. Bereits im März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis bei. Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien folgten 2004, Albanien und Kroatien 2009, Montenegro 2017, Nordmazedonien 2020. Glaubt man dem früheren NATO-Generalsekretär George Robertson, hat sogar Wladimir Putin kurz nach seinem Amtsantritt Interesse an einem NATO-Betritt geäußert. Der Brite Robertson habe abwehrend gesagt, üblicherweise würden Staaten einen Beitrittsantrag stellen. Und Putin habe geantwortet: »Nun, wir stehen nicht in einer Warteschlange mit vielen anderen Ländern, die keine Rolle spielen.« So zumindest zitiert der britische Guardian im November 2021 den Ex-Generalsekretär.
Russlands Bedeutung? Der frühere US-Präsident Barack Obama verspottete das Land als »Regionalmacht«. Putin dürfte er damit tief getroffen haben.
Der postsowjetische Raum ist ein Pulverfass. »Wandel durch Handel« hieß das Konzept, das etwa die deutsche Politik dagegensetzte. Gute Wirtschaftsbeziehungen in beidseitigem Interesse waren jahrzehntelang das Grundprinzip. Nach wie vor halte ich das für richtig, auch wenn es heute scharf kritisiert wird. Die Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung, sagte im Interview mit der ARD Tagesschau im Juni 2022: »Man ging dabei davon aus, dass wirtschaftliche Verflechtung, auch kultureller und politischer Austausch, dazu beitragen, dass man friedlich koexistiert. Das Aggressionspotenzial und der Wille zu einer imperialistischen Machtausdehnung wurden dabei unterschätzt.«
Der Kreml handelt nach einem politischen Konzept, das »Russki Mir« heißt, »Russische Welt«. Darunter versteht Putin »Millionen Menschen, die auf Russisch sprechen, denken und fühlen«, die aber außerhalb der Russischen Föderation leben, wie er in einer Rede bereits 2001 erklärte. »Man kann Wirtschaft und Kultur nicht diskriminieren, nur weil sie russisch sind.« Putin meinte vor allem auch die Russinnen und Russen, die in früheren Sowjetrepubliken leben, die sich dem Westen zugewandt haben oder auf dem Weg dorthin sind.
»Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine markierten für die Idee der Russki Mir den endgültigen Übergang von einer diskursiven Imperiums- und Nationsbildung in den Bereich politischer Programmatik«, schreibt der Slavist Oleksandr Zabirko in einem Aufsatz, veröffentlicht von der Bundeszentrale für politische Bildung. In einer Rede vom März 2014 beschrieb Putin die Russen als »geteiltes Volk« – und hoffte auf das Verständnis von Deutschland als ehemals geteiltem Land für das »Streben der russischen Welt und des historischen Russlands nach Wiederherstellung der Einheit«.
Putins Konzept der Russischen Welt hat unmittelbar Konsequenzen. Für den Donbass zum Beispiel. Völkerrechtlich ist das Gebiet in der Ostukraine unstrittig Teil der Ukraine, die 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte. Doch der Donbass ist überwiegend russisch besiedelt. Diese Besiedelung begann früh, und das hat mit einem Briten namens John Hughes zu tun. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Region industriell erschlossen, als große Steinkohlevorkommen und Eisenerzlagerstätten entdeckt wurden. Hughes, ein in der englischen Rüstungsindustrie tätiger Ingenieur, entwarf Stahlpanzerungen für Kriegsschiffe und Geschütze. Das interessierte auch den russischen Zaren Alexander II., zu dessen Zarenreich der Donbass damals gehörte. 1869 bekam John Hughes den Auftrag für eine neues Stahlwerk. Die Siedlung rund um das Werk erhielt seinen Namen: Jusowka. Sie wuchs rasch, sehr viele Russen wanderten zu und fanden dort Arbeit. 1924, nach der Oktoberrevolution, wurde die Stadt zu Ehren Stalins in Stalino umbenannt. Heute kennen wir sie unter dem Namen Donezk.
In der russischen Politik wird die Invasion in die Ukraine als Akt der Güte dargestellt: Wir helfen den Russen in der Ostukraine. Und überhaupt, Ukrainer und Russen seien doch ein Brudervolk. Noch im August 2021 sahen das 41 Prozent aller Menschen in der Ukraine genauso, zitiert das Onlineportal The Insider Umfragen. Zwei Monate nach Kriegsbeginn seien es in der gesamten Ukraine nur noch acht Prozent gewesen. In der Ostukraine unterstützten allerdings nach wie vor 23 Prozent der Menschen Putins These.
Natürlich geht es dem Kreml mit dem Krieg in der Ukraine um mehr als nur Hilfe für Landsleute jenseits der Grenze. »Man versucht, die Ergebnisse des Kalten Krieges zu revidieren und die Macht Russlands als globaler und europäischer Gegenspieler wiederherzustellen«, sagt Wladimir Gelman, Professor für russische Politik an der Universität Helsinki. Zu seinem Fachgebiet gehören russische und postsowjetische Politik und Regierungsführung. Putins einsame Entscheidung für den Krieg, getroffen wohl im engsten Beraterkreis, sei typisch sowjetisch, meint der Wissenschaftler. »Es scheint, dass der wichtigste Faktor dieser fatalen Entscheidung im personalisierten Charakter des russischen Autoritarismus besteht. Autoritäre Regime leiden unter der fehlenden Meinungsfreiheit nicht weniger, sondern sogar mehr als die unter den autoritären Bedingungen lebende Bevölkerung. Der Mangel an alternativen Informationsquellen, die Unmöglichkeit, verschiedene Sichtweisen zu vergleichen und auf Basis ihrer Konkurrenz zu entscheiden, all das wirkt sich unheilvoll auf die Entscheidungsfindungen aus.« Am Grundprinzip der Entscheidungsfindung habe sich seit Sowjetzeiten wenig geändert, so Gelman. »Solche Defekte bemängelten die sowjetischen Dissidenten schon vor mehr als einem halben Jahrhundert. Zudem werden in vielen Autokratien Expertenposten besetzt, nach dem Prinzip ›Nicht die Klugen brauchen wir, sondern die Treuen.‹«
Aber es gebe auch eine innenpolitische Motivation. Man habe offenbar geglaubt, die Invasion werde ablaufen wie seinerzeit die Annexion der Halbinsel Krim. Größer zwar, aber genauso erfolgreich. Gelman: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Militäroperation in der Ukraine von der russischen Regierung als Extrapolation ihrer bisherigen Erfahrung mit der Annexion der Krim 2014 verstanden wurde, die Putin laut eigenen Angaben im Alleingang beschlossen hatte. Man darf nicht vergessen, dass die Krim in den Augen der russischen Regierung eine Erfolgsgeschichte war: Die innenpolitische Unterstützung dieser Aktion fiel sehr stark aus, während die Ukraine nicht in der Lage war, sich dem Vorgehen des Kremls zu widersetzen, und die vom Westen verursachten Kosten schienen nicht hoch.«
Ob ein Kurswechsel im diplomatischen Umgang mit Russland, ein Ernstnehmen auch russischer Positionen, den Krieg in der Ukraine beenden könnte? Und, wenn ja, zu welchem Preis? Ich werde das am Ende dieses Buches untersuchen. Tatsache ist: Diesen Krieg kann keine Seite militärisch gewinnen, es sei denn die NATO greift direkt ein. Die Ukraine kann ihn allerdings nicht noch jahrelang führen. Zudem brodelt es an vielen Orten im postsowjetischen Raum. Die Ukraine ist kein Einzelfall.
Georgien ist ein weiteres Beispiel. Dort wurde der grausame sowjetische Diktator Josef Stalin geboren. Viele verehren ihn in Georgien heute noch. Die Partei Georgischer Traum, gegründet vom Oligarchen Bidzina Ivanishvili, ist eine wichtige politische Kraft im Land. Der Georgische Traum ist russlandfreundlich und stemmt sich gegen den Beitritt des Landes zur EU. Georgien ist Beitrittskandidat, viele Menschen wünschen sich den Weg nach Europa. Aber eben nicht alle. Anfang 2024 hatte der Georgische Traum die Mehrheit im Parlament und setzte ein Gesetz durch, wonach Organisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen, diese Finanzquellen offenlegen müssen. Die Regierungspartei spricht von Transparenz und beobachtet argwöhnisch, dass viele Projekte der Zivilgesellschaft mit Geldern aus der EU und den USA finanziert werden. Tausende Menschen gingen auf die Straße, es kam zu Polizeigewalt. Georgien in die EU, weg von Russland? Das Land ist hin- und hergerissen.
Hinzu kommt die Angst vor einem Krieg wie 2008. Südossetien und Abchasien sind zwei abtrünnige Regionen, die völkerrechtlich zu Georgien gehören, aber russisch kontrolliert werden. Im August 2008 kämpften dort georgische Truppen gegen die russische Armee, die gewann. Ein brüchiger Waffenstillstand wurde vereinbart, der Konflikt ist eingefroren. So wie es auch der Konflikt in der Ostukraine ab 2014/15 war.
Eine ähnliche Situation findet man in Moldau. Transnistrien nennt sich ein schmaler Landstrich zwischen der Ukraine und Moldau. Auch Transnistrien ist von russischen Truppen besetzt, auch hier wurde Krieg geführt. Auch dieser Konflikt ist eingefroren, ein Zankapfel seit dem Ende der Sowjetunion. Für die russische Armee ist Transnistrien hochinteressant: Von hier sind es nur wenige Kilometer nach Odessa, dem letzten großen Hafen, von dem aus die Ukraine Getreide verschiffen kann.
Auch Moldau ist hin- und hergerissen zwischen Russland und der EU. Präsidentin Maia Sandu will das Land in Richtung Europa führen. Wie in Georgien dominiert jedoch ein russlandfreundlicher Oligarch, Ilhan Shor, das Parlament. Er war in kriminelle Machenschaften verstrickt, floh ins Ausland, seine Partei ist inzwischen offiziell verboten. Doch Shors Anhänger agieren weiter gegen Moldaus EU-Pläne.
Und dann gibt es da noch Bergkarabach, jenen 4400 Quadratkilometer großen Landstrich, eine armenische Enklave in Aserbaidschan, um die sich die verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan streiten. Der Konflikt reicht bis ins Jahr 1918 zurück, in die Zeit vor der Gründung der Sowjetunion. Nach dem Zerfall der Weltmacht erklärte Bergkarabach 1991 seine Unabhängigkeit. International anerkannt wurde sie jedoch nicht. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan eskalierte, zwei Kriege waren die Folge. Seit 2020 besteht ein brüchiger Waffenstillstand.
Was dann im Herbst 2023 geschah, ist ein Lehrstück darüber, dass Entwicklungen und Konflikte immer im historischen und im aktuellen Kontext gesehen werden müssen. Aserbaidschans autoritärer Herrscher Ilham Alijew wollte Bergkarabach zurückgewinnen. Russland, Armeniens Schutzmacht, hinderte Aserbaidschan daran über lange Jahre.
Dann kam das Jahr 2023. Mit dem Ukraine-Krieg hatte sich die weltpolitische Lage geändert. Russland brauchte nun Aserbaidschan für den Aufbau von Handelswegen in Richtung Iran. Und Russland brauchte die Türkei, die Schutzmacht Aserbaidschans. Über die Türkei kommen viele sanktionierte Waren ins Land. Auch vom Westen hatte Alijew wenig zu befürchten. Aserbaidschan besitzt Öl und Gas und wird von der EU hofiert. Sogar EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war in Baku und lobte das Land als zuverlässigen Energielieferanten.
Die Chance war gegeben – und im September 2023 schlug Alijew zu. Aserbaidschan eroberte Bergkarabach binnen Stunden. Die Folgen waren eine Flüchtlingswelle in Richtung Armenien, Tausende vertriebene Menschen, Armut und Elend in Armenien. Nur: Niemanden interessierte das. Weder die EU noch Russland. Die Ukraine und die Energiekrise waren wichtiger. Doch der Konflikt um Bergkarabach wird anhalten. Die Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan treten auf der Stelle.
All diese Krisenherde werde ich im Verlauf dieses Buches besuchen. Und erfahren, dass die Konflikte und Kriege immer auch im Zerfall der Sowjetunion ihre Ursache haben. Als relativ sicher stufe ich im Moment lediglich die baltischen Staaten ein. Ich denke, weder Russland noch die NATO haben ein Interesse an einer direkten Konfrontation, die zum Weltkrieg führen könnte. Die Furcht davor existiert in den baltischen Staaten natürlich trotzdem. Doch derzeit beschränkt sich die Auseinandersetzung Russlands mit den Ex-Sowjetrepubliken und heutigen NATO-Ländern Estland, Litauen und Lettland auf markige Worte.
»Wenn Lettland die Bevölkerung, die dort leben will, weiterhin wie Schweine behandelt, werden diese Behörden bald mit Vergeltungsmaßnahmen konfrontiert sein«, drohte Wladimir Putin im Dezember 2023 vor dem von ihm selbst eingesetzten russischen Menschenrechtsrat in Moskau. »Ich glaube nicht, dass das Glück in die Häuser derjenigen kommen wird, die eine solche Politik verfolgen.« Ist das quasi eine Kriegserklärung, wie viele Medien nach Putins Drohung spekulierten?
Wohl kaum. In Wirklichkeit geht es um ein Problem, das auch in diesem Fall aus dem Zerfall der Sowjetunion herrührt, denn auch Lettland war Teil des Riesenreichs. Doch im August 1989 demonstrierten Millionen Esten, Letten und Litauer mit einer Menschenkette quer durchs Baltikum für ihre Unabhängigkeit. Am 4. Mai 1990 dann wurde die Sowjetrepublik Lettland zu einem unabhängigen Staat.
Jeder vierte Einwohner Lettlands ist heute russischer Herkunft. In ihrer Heimat Lettland sind sie Staatsbürger zweiter Klasse, offiziell werden sie »Nichtbürger« genannt. Sie besitzen weniger Rechte als der lettische Bevölkerungsanteil. Wählen zum Beispiel dürfen die Russen in Lettland nicht. Genau dies hatte Putin mit seinen scharfen Worten kritisiert. Russische »Nichtbürger« müssen einen Sprachtest machen und alltagstaugliche Lettisch-Kenntnisse nachweisen. Wer diesen nicht besteht, dem droht der Entzug der Aufenthaltserlaubnis. Betroffen davon sind gut 20 000 Menschen.
Putin äußerte Verständnis dafür, dass jedes Land von seinen Bewohnern Grundkenntnisse der Kultur und Sprache fordere. Der Status von »Nichtbürgern« sei aber eine »rechtliche Missgeburt«, sagte er. Zu Staaten, die Russen diskriminieren, werde Moskau sein Verhältnis entsprechend gestalten. Das Land könnte Auslandsrussen unterstützen, in ihre historische Heimat zurückzukehren.
Entsprechend scharf war die Reaktion Lettlands. »Das ist Einschüchterungspolitik«, sagte der lettische Präsident Edgars Rinkevics der lettischen Tageszeitung Neatkariga Rita Avize. »Es ist ein gängiges Narrativ der russischen Propaganda in der letzten Zeit, dass alle ihre Staatsangehörigen oder diejenigen, die der ›Russischen Welt‹ angehören, brutal misshandelt werden. Tatsächlich handelt es sich um einen Versuch, alle Gräueltaten zu kaschieren, die Russland in der Ukraine begeht.«
Politisch ist das Verhältnis zwischen den baltischen Staaten und Russland äußerst angespannt. Doch, und das muss man auch sehen, die meisten Russinnen und Russen, die im Baltikum leben, sind gut integriert. Nur wenige unterstützen etwa in Estland die ultrarechte, nationalistische Partei Ekre. Sie propagiert Homophobie, Euroskeptizismus und verhält sich ukrainischen Geflüchteten gegenüber abweisend.
Die Folge all der Spannungen und des Krieges in der Ukraine ist auf weltpolitischer Ebene ein neuer Kalter Krieg. Die NATO, der schon von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor Jahren der »Hirntod« bescheinigt wurde, erlebt ihre Wiedergeburt. Deutsche Politiker überbieten sich in Forderungen nach immer mehr Waffen und einer Wiederbelebung der ausgesetzten Wehrpflicht.
Die USA fordern von ihren NATO-Verbündeten mehr Verteidigungsanstrengungen. Neue, auch atomar bestückbare Marschflugkörper und Raketen sollen in Deutschland stationiert werden. Darüber wird innen- wie außenpolitisch eine Debatte entbrennen. Und wie wird ein neuer US-Präsident, eine neue US-Präsidentin in Sachen Ukraine agieren?
In Russland erlebe ich den wohl tiefgreifendsten Wandel in Politik und Gesellschaft seit den Neunzigerjahren. Das Land stellt auf Kriegswirtschaft um, Patriotismus wird von oben verordnet, Schulbücher werden umgeschrieben, Steuern für die Kriegsausgaben werden erhöht.
Aber werden die Menschen in Russland dabei mitspielen, nachdem sie sich, zumindest in den Großstädten, über viele Jahre an einen westlichen Lebensstandard gewöhnt haben? Und was ist mit der Opposition?
Meine Suche nach Antworten beginnt in Moskau.
Gleich um die Ecke meiner Wohnung in der Moskauer Innenstadt liegt ein kleiner, sorgfältig angelegter Park. Bäume, ein Kinderspielplatz, Sitzbänke. Besonders im Sommer verweile ich dort gern, auf meinem Weg zum Einkaufen oder ins Fitnesscenter. In diesem Park befindet sich das Denkmal der ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka. Gewissenhaft wird es von der Moskauer Stadtverwaltung gepflegt. Lessja Ukrajinka wurde 1871 unter dem Namen Larissa Petriwna Kosatsch geboren, sie war Kämpferin und Feministin. In ihren Gedichten spielt die Sehnsucht nach Freiheit eine große Rolle. »Gegen die Hoffnung hoffe ich!«, heißt ihr bekanntestes Werk.
Wohl kaum zufällig haben Unbekannte das Denkmal der ukrainischen Dichterin für eine stille Protestaktion gegen den Krieg gewählt. Eine Aktion, ganz und gar unpolitisch – und gerade deshalb so politisch.
Die Geschichte beginnt Anfang 2023. Bei einem russischen Raketenangriff auf Dnipro, eine Großstadt in der zentralukrainischen Region Dnipropetrowsk, werden in einem Wohnhaus mindestens 45 Menschen getötet, darunter auch Kinder. Am nächsten Morgen bringen die Menschen Blumen zum Denkmal. Sie empfänden einfach nur Trauer, sagen sie. Zum Für und Wider des Krieges, der in Russland zu diesem Zeitpunkt noch »Spezialoperation« genannt wird, möchte sich niemand äußern.
Auch ein Schwarz-Weiß-Foto des zerstörten Wohnhauses hatten die Trauernden aufgestellt. Doch das wurde von der Moskauer Stadtreinigung schnell abgeräumt. Seitdem herrscht ein kleiner Machtkampf zwischen den Behörden und den still Protestierenden: Immer wieder werden die Blumen entfernt, doch Tag für Tag, Nacht für Nacht kommen die Menschen und bringen neue. Vor dem Denkmal steht ein Streifenwagen, zwei Polizisten überwachen das Geschehen, manchmal nehmen sie die Personalien der Trauernden auf, die Blumen bringen. Es habe auch Festnahmen gegeben, teilte die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info mit. Einem der Männer, der die ganze Nacht auf der Polizeiwache festgehalten wurde, sei »geringfügiges Rowdytum« vorgeworfen worden.
Nicht nur in Moskau, auch in anderen russischen Städten tauchten Blumensträuße und Kuscheltiere im Gedenken an die Opfer von Dnipro auf. In Krasnodar brachten Menschen Blumen, Kerzen und Kinderspielzeug an das Denkmal des ukrainischen Dichters Taras Shevchenko. In Sankt Petersburg legten die Einwohner mit Kerzen das Wort »Dnepr« aus. Und auch in Jekaterinburg gedachten die Menschen den Toten von Dnipro.
Der stille Protest anstelle von Demonstrationen und Antikriegsparolen schien die Behörden zu verunsichern. Das Onlinemedium Meduza erzählt die Geschichte eines Moskauers, der am Denkmal Fotos machte. Ein Polizist sei auf ihn zugekommen und habe gesagt: »Ich weiß, dass Sie das Recht haben, Fotos zu machen, ich selbst verstehe nicht, warum Sie das nicht dürfen, aber die Behörden haben gesagt, dass sie das nicht dürfen, also löschen Sie das Foto.« In Zeiten der vollständigen Repression sind es mutige Menschen, die der Kriegsopfer gedenken und dafür Risiken in Kauf nehmen. Junge Menschen und auch ältere, sie alle bringen Blumen mit. Bis heute. Die Behörden haben sich offenbar damit arrangiert. Der Streifenwagen ist längst verschwunden.
Ein stiller Protest, der zeigt, dass es durchaus Menschlichkeit gibt in Russland. Und trotzdem: Im März 2024 haben die Russinnen und Russen ihren Präsidenten Wladimir Putin wiedergewählt. Einen Präsidenten, der ihr Land in den Krieg geführt hat. Ilja Budraitskis hat das Konzept des Kremls, das Russki Mir, in einem interessanten Aufsatz im Internetmedium Possle beschrieben. »Die Idee einer solchen Identität – Kultur und Armee, Staat und Sprache, nationale Identität und Staatsbürgerschaft –, bekannt als Doktrin der ›Russischen Welt‹, wurde vom Kreml in den letzten zwei Jahrzehnten konsequent weiterentwickelt.« Diese Idee entstand in den Neunzigern in Moskauer Intellektuellenzirkeln. Nach und nach wurde sie zur Staatsdoktrin.
Putin legte erstmals 2001 in einer Rede seine Sicht dar: Es gehe darum, »unsere Landsleute vor pauschalen Anschuldigungen zu schützen und zur Verteidigung unserer universellen Menschenrechte beizutragen«. Dies sei eine staatliche Aufgabe. »Man kann Wirtschaft und Kultur nicht diskriminieren, nur weil sie russisch sind.« Auf dieser Argumentation beruht die Annexion der Halbinsel Krim genauso wie die Invasion in die Ostukraine. Aus dem kulturellen Projekt wurde politische Ideologie. Auch die Militäraktion in Georgien 2008, auf die ich später eingehen werde, wurde mit dem Schutz von Landsleuten begründet: Die meisten Menschen in den abtrünnigen Regionen, um die es in diesem Krieg ging, verfügen über russische Pässe.
Heute steht für Putin die Ukraine im Vordergrund. »Vor allem müssen wir die Aufgaben im Rahmen eines speziellen Militäreinsatzes lösen, die Verteidigungsfähigkeit stärken, die Streitkräfte stärken«, sagte Putin nach der Wahl. Russland hat genügend Munition, die Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren, neue Soldaten werden angeworben. Das aber kostet Geld. Viel Geld. Die Russinnen und Russen werden sich deshalb auf Steuererhöhungen einstellen müssen.
Noch ist das Riesenreich Russland stabil. Noch vertrauen die Menschen auf Putin. Noch glauben sie, dass er die vielen Probleme im Land in den Griff bekommen wird. Die defekten Heizkraftwerke in vielen Städten etwa oder die Folgen der Flutkatastrophe vom Frühjahr 2024, bei der die Behörden versagten. Die zunehmende Kriegsmüdigkeit vieler Menschen aber macht dem Kreml zu schaffen. Viele sagen mir hinter vorgehaltener Hand: »Es ist schlecht, dass wir diesen Krieg angefangen haben, aber jetzt müssen wir gewinnen. Sonst kommen wir unter die Räder.« Putin wird einen Sieg verkünden müssen, was auch immer er als Sieg definiert. Sonst droht Instabilität, mit unabsehbaren Folgen. Es könnte Unruhen geben, einzelne Regionen könnten sich abspalten.
Ein Montagmorgen im August 2023. Kurz vor halb vier schreckt der laute Knall einer Explosion die Anwohner des Business-Viertels Moskwa City aus dem Schlaf. Auch mich, der ich gegenüber den Hochhäusern auf der anderen Seite des Flusses wohne. Was ist geschehen? In den sozialen Medien sehe ich Bilder und Videos, lese »Drohnenangriff auf Moskau«. Ein Handyvideo zeigt die Hochhäuser der Moskwa City. Junge Leute sind auf dem Heimweg, wohl nach ausgiebigem Feiern. Plötzlich wackelt das Bild, eine Frau schreit, dann der Einschlag, die Explosion.
Es ist nicht die erste derartige Attacke. Laut dem russischen Verteidigungsministerium sind zwei Drohnen über dem Gebiet der Bezirke Odinzowo und Narofominsk in der Region Moskau abgeschossen worden. Eine dritte traf das Hochhaus in Moskwa City, das bereits am Wochenende zuvor bei einem ähnlichen Angriff beschädigt worden war. Schäden gebe es in der 21. Etage des Turms, die Fassadenverglasung sei auf 150 Quadratmetern zerstört, teilt Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin mit. Opfer gab es wohl keine. Das russische Verteidigungsministerium spricht von einem »Terroranschlag des Kiewer Regimes«.