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Die Bilder demonstrierender Frauen in Belarus gingen um die Welt, sie haben die Oppositionsbewegung gegen Alexander Lukaschenko, den »letzten Diktator Europas«, erst stark gemacht. Und auch in vielen anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion gärt es. Weg sollen die alten verkrusteten Strukturen aus Politik und Alltag. Und immer sind es die Frauen, die den Protest entscheidend voranbringen: Die osteuropäische Revolution ist vorwiegend weiblich. Der Journalist und Moskauer Auslandskorrespondent Jo Angerer erzählt von den dortigen Aufständen, erläutert die prekäre soziale Situation der Frauen anhand persönlicher Geschichten und setzt ihre Lebensrealität in Verhältnis zur Geschichte und Stellung der Frau in der Sowjetunion, deren Staaten die patriarchale Geschlechterstruktur lediglich restaurierten und weibliche Personen bis heute extrem benachteiligen. Nicht zuletzt schildert er, wie der Russland-Ukraine-Krieg diese Bewegungen nachhaltig beeinflusst. Von Belarus über Russland, die Ukraine bis hin nach Kirgisistan und Aserbaidschan, wo die Zeit in gewisser Weise stehengeblieben zu sein scheint, erzählt Angerer über den Widerstand der Frauen und lässt bewegende, manchmal auch schockierende Berichte und viele kleine Beobachtungen einfließen, die sonst nicht Eingang in Fernsehsendungen wie die Tagesthemen finden. Ein erhellender Einblick in das aktuelle politische Geschehen Osteuropas und seiner Protagonistinnen.
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Seitenzahl: 208
Der Autor
Jo Angerer, geboren 1956, begann seine journalistische Karriere beim Bayerischen Rundfunk in München. Später arbeitete er für das ARD-Magazin MONITOR, war Autor und Redakteur vieler Dokumentationen in der ARD und im WDR-Fernsehen. Investigative Recherche, Friedens- und Sicherheitspolitik sind sein Spezialgebiet. Seit 2019 lebt und arbeitet er als Korrespondent in Moskau. Zunächst für die ARD und heute für die Zeitung DER STANDARD. Dass Widerstand oftmals weiblich ist, konnte Jo Angerer in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion beobachten, wo gerade die Frauen um grundlegende Menschenrechte kämpfen.
JO ANGERER
Wenn Widerstand weiblich ist
Die Revolution der Frauen in den postsowjetischen Staaten
Mit Kommentaren von Dr. habil. Carmen Scheide
Dieses Sachbuch beruht auf Erlebnissen, umfassenden Recherchen und Aufzeichnungen. Der Autor gibt hier seine Sicht wieder, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat. Alle Informationen und Angaben in diesem Buch wurden von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft.
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Originalausgabe Oktober 2022
Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2022 by Jo Angerer
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung eines Fotos von © FinePic®
Redaktion: Volker Kühn
MP · Herstellung: CF
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-28982-9V001
www.goldmann-verlag.de
Für Erika,
ohne die alles in meinem Leben nicht wäre, auch nicht dieses Buch.
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1 Russland – Frauen begehren auf gegen Putins Krieg
Kommentar Frauen und Krieg
Kapitel 2 Von der Sowjetunion nach Russland – Gleichberechtigung? Ja, aber!
Kommentar Frauenbewegungen, Feminismus und Emanzipation
Kapitel 3 Sowjetunion – Natalia Myurisep, eine Frau aus der Elite erzählt
Kapitel 4 Russland – Kampf gegen die Windmühlen der Bürokratie
Kommentar Zivilgesellschaft und autoritäre Staaten
Kapitel 5 Belarus – Revolution in Rot-Weiß
Kapitel 6 Belarus – Drei Frauen: zwei im Exil, eine im Gefängnis
Kapitel 7 Belarus – Nina Baginskaja, die Babuschka der Revolution
Kommentar Internationale Konventionen zum Schutz von Frauen
Kapitel 8 Aserbaidschan und Zentralasien – Ausbruch aus patriarchalen Strukturen
Kommentar Krieg und Feminismus
Kapitel 9 Ukraine – Frauen kämpfen gegen den Krieg
Zusammenfassung und Ausblick
»Was, ihr seid immer noch dort«, fragen manchmal Freunde aus Deutschland. »In diesem Land?« »Ja«, antworte ich, meine Frau und ich leben nach wie vor in Moskau, einer Stadt, die uns ans Herz gewachsen ist. Ich arbeite hier als Korrespondent, berichte aus dem postsowjetischen Raum, eine Region, die die Länder der ehemaligen Sowjetunion umfasst. Sie reicht vom Rand der EU bis hin zur chinesischen Grenze.
»Was«, fragen manche dann weiter, »du schreibst als Mann ein Buch über weiblichen Widerstand? Ist das nicht vermessen?« Es mag Menschen geben, die das so sehen. Ich zähle nicht dazu. Ich bin Journalist, es ist meine Aufgabe, wahre Geschichten zu erzählen, spannende Schicksale zu entdecken, relevante Entwicklungen aufzuzeigen. Bei meiner Arbeit in den Ländern des früheren Ostblocks habe ich viele starke Frauen kennengelernt. Ich habe über ihren mutigen Kampf für Menschenrechte, für Demokratie und Meinungsfreiheit berichtet, oft genug auch über ihren Kampf ums nackte Überleben. Dass ich als Mann über Frauen schreibe, ist dabei zweitrangig. Was zählt, ist, dass die Geschichten wahr sind – und darum habe ich mich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht.
Mein Buch ist ein Lesebuch, hat keinen wissenschaftlichen Anspruch und wird sicherlich auch nicht allen Aspekten des weiblichen Widerstands im postsowjetischen Raum gerecht. Es sind Eindrücke und Erkenntnisse, die ich auf vielen Reisen und im alltäglichen Leben in Moskau gewonnen habe. Vieles davon habe ich in meinen Reportagen verarbeitet.
Eines ist mir bei der Arbeit an diesem Buch klar geworden: Das Private, das Persönliche ist politisch. Eigentlich eine alte Feststellung der Frauenbewegung. Aber gerade im postsowjetischen Raum, den Ländern der zerfallenen Sowjetunion, ist sie so aktuell wie nie zuvor.
Ich hoffe einfach, dass trotz des Russland-Ukraine-Krieges, trotz der neuen Eiszeit im Ost-West-Verhältnis das Interesse an diesem Land und seinen wundervollen Menschen nicht erlischt. Vor allem die starken, mutigen Frauen im postsowjetischen Raum sind es wert!
An diesem Buch haben viele mitgewirkt. Danken möchte ich zuallererst meiner Frau Erika, die mich über die Entstehungszeit dieses Buchprojekts hinweg sehr kritisch und wohlwollend begleitet hat. Sie hat meine Entwürfe gegengelesen und sie mir zuweilen um die Ohren geschlagen. Meinem Freund Ulf Mauder, langjähriger Korrespondent in Moskau, mit seinem unermesslichen Erfahrungsschatz an russischer Kultur und Politik. Meinem Freund und Mitarbeiter Alexandr Khavanov, der viele Recherchen und Lebenserfahrungen beigetragen hat. Meiner Freundin Natalia Myurisep für viele Diskussionen und ihre Offenheit, ihre Geschichte hier zu erzählen.
Danken möchte ich auch Dr. habil. Carmen Scheide, sie ist Dozentin für die Geschichte Osteuropas an der Universität Bern. Carmen Scheide hat dieses Buch mit wertvollen wissenschaftlichen Einschätzungen und Kommentaren ergänzt.
Und nicht zuletzt danke ich Volker Kühn, meinem Redakteur, mit dem ich äußerst produktiv um viele Formulierungen gerungen habe. Und Imke Rösing, meiner Literaturagentin, und Dr. Marion Preuß, meiner Lektorin, die dieses Buch möglich gemacht haben.
Der 24. Februar 2022 hat alles verändert: die Welt, das Ost-West-Verhältnis, die Ukraine und auch Russland natürlich, mich persönlich, meine Lebensumstände – und dieses Buch: Krieg. Noch kurz zuvor hatte ich als Fernsehkorrespondent in Moskau in einer ARD-Liveschalte nach Deutschland verkündet: Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze sei eine Drohkulisse, Putin wolle testen, wie weit er bei den neuen Regierungen in den USA und Deutschland gehen kann. Aber Krieg? Niemals. Wie habe ich mich getäuscht, wie haben wir uns fast alle getäuscht.
Mit meiner Frau Erika Haas, einer ausgewiesenen feministischen Wissenschaftlerin, promovierten Ungleichheitsforscherin, Beraterin, Autorin und Journalistin, lebe ich in einer Ausländer-Wohnanlage im Zentrum Moskaus. Nur noch wenige Europäer leben hier; seit Kriegsbeginn haben sich viele westliche Konzerne aus Russland zurückgezogen, die Manager verlassen das Land. Quer über den Hof ist das ARD-Studio, in dem ich bis Ende Januar 2022 als fest angestellter Korrespondent gearbeitet habe. Seitdem bin ich für die ARD freiberuflich tätig und arbeite als Korrespondent für die österreichische Zeitung DER STANDARD.
Ich komme oft an der örtlichen Filiale der Fast-Food-Kette »Lecker und Punkt« vorbei. Bis vor Kurzem war es die Filiale von McDonald’s. Auch dieser Konzern hat Russland verlassen. Ein russischer Investor hat landesweit 850 Filialen übernommen und bietet nun unter neuem Namen die gleiche Speisekarte an. Es sind dieselben Restaurants, dieselben Lieferanten, dasselbe Personal und dieselben Fritteusen. Nur verdient jetzt nicht mehr ein US-Konzern, sondern ein russischer Unternehmer.
»Lecker und Punkt« ist ein Sinnbild dafür, wie wenig sinnvoll die Sanktionspakete des Westens nach Kriegsbeginn in der Ukraine waren und sind. Russland hat Öl und Gas im Überfluss, Rohstoffe, landwirtschaftliche Produkte und gute Kontakte nach China. Wen sollen Sanktionen also schrecken? Produkte aus dem Westen sind sehr teuer geworden, ansonsten aber gibt es in den Supermärkten alles, auch wenn die Preise gestiegen sind. Gas und Strom dagegen sind weiterhin billig. So zahlt eine Kollegin für ihre sechsköpfige Familie in Moskau für Heizung, Strom, Gas, Wasser und die Müllabfuhr nur rund 150 Euro im Monat an Nebenkosten.
Die Russinnen und Russen leiden nur wenig unter den Sanktionen. Die Vorstellungen vieler von einer Versorgungskrise, Volksaufständen, der Vertreibung Putins aus dem Amt dank der Sanktionen – absurd. Für uns Ausländer allerdings ist das Leben komplizierter geworden. Das betrifft nicht nur den Kampf um die Akkreditierung, die Arbeitsgenehmigung für Russland als Korrespondent. Unsere Kreditkarten funktionieren nicht mehr. Von unseren Reisen ins Ausland bringen wir Euro in bar mit, die wir dann in dunklen Wechselstuben umtauschen. Ich hätte nicht gedacht, dass mir dergleichen passieren würde, wo ich doch für die Abschaffung von Bargeld war.
Vor dem Krieg war es einfacher. Im August 2020 sollte ich für die ARD nach Belarus fahren. Die von Amtsinhaber Alexander Lukaschenko absurd manipulierte Präsidentenwahl und die Proteste dagegen waren natürlich ein wichtiges Thema für Tagesschau, Tagesthemen, Weltspiegel und Europamagazin. Warum gerade ich und keine andere Korrespondentin, kein anderer Korrespondent aus dem ARD-Studio? Die Antwort ist banal: Weil ich der Einzige war, der damals eine Akkreditierung für Belarus besaß.
Aus dem für zwei Wochen geplanten Aufenthalt in Minsk wurden fast drei Monate. Ich habe schnell begriffen, dass der Widerstand, der Protest gegen ein altes, verkrustetes System ganz entscheidend von Frauen getragen und gestaltet wurde. Sie setzten fantasievolle Aktionen dagegen. Immer neue Bevölkerungsgruppen schlossen sich an, schließlich marschierten Hundertausende über die Straßen von Minsk.
Die Demonstrantinnen verstanden sich als Patriotinnen. Voller Heimatliebe, voller Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Demokratie. Die rot-weiß-rote Fahne auf ihren Demonstrationen in Minsk ist eigentlich ein nationalistisches Symbol. Doch die Frauen in Belarus haben damit kein Problem.
Um das zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte. Die Sowjetunion hätte eigentlich ein Paradies für Frauen sein müssen. Auf dem Papier herrschte vollständige Gleichberechtigung, Frauen hatten Zugang zu Bildung, es gab kaum Einschränkungen in der Berufswahl, die Kinderbetreuung war staatlich organisiert.
Die Wirklichkeit sah indes anders aus. Natürlich konnten Frauen arbeiten, sie mussten sogar. Das bedeutete allerdings nicht, dass ihnen die Kinder und die Familie vollständig abgenommen worden wären. Die Arbeit im Haushalt blieb trotzdem an ihnen hängen. Für ein Engagement in den verschiedenen Parteigliederungen blieb keine Zeit und damit auch nicht für politische Teilhabe. Das galt insbesondere in der Stalinzeit, die das Ideal der Frau als Mutter pries. Arbeiten mussten die Frauen aber trotzdem – eine Doppelbelastung, über die stillschweigend hinweggesehen wurde. Einigen Frauen in der Sowjetunion gelangen zumindest mittelprächtige Karrieren, doch ins Politbüro, das Gremium, das über alles entschied, schaffte es in all den Jahrzehnten nicht eine einzige Frau.
Dann zerfiel die Sowjetunion. Sie zerbrach unter der Last gigantischer Rüstungsausgaben und einem Wirtschaftssystem, dessen mangelnde Produktivität in den chronisch leeren Regalen der Geschäfte für jeden sichtbar war. Die greisen grauen Männer im Politbüro hatten dem nichts entgegenzusetzen, im Gegenteil, sie beschleunigten den Niedergang durch katastrophale Fehlentscheidungen. Der Einmarsch in Afghanistan 1979 geriet zu einem Fiasko, das sich bis 1989 hinzog. Der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 ließ sich nicht wie gewohnt vertuschen. Er wurde zum Symbol für alles, was schieflief in diesem Riesenreich, für verkrustetes Obrigkeitsdenken, Verantwortungslosigkeit und schließlich für das Versagen des gesamten kommunistischen Systems. Als im Dezember 1991 Michael Gorbatschow zurücktrat, war die Sowjetunion Geschichte.
Unsere gute Freundin Natalia Myurisep hat die letzten Jahre der Sowjetunion miterlebt. Wir haben darüber viel diskutiert, ihre Geschichte findet sich in diesem Buch. Sie stammt aus einer Diplomatenfamilie, also aus der Elite, studierte in Moskau und wollte selbst Diplomatin werden. Geschafft hat sie es nicht, wohl auch deshalb, weil sie eine Frau ist. Natalia Myurisep hat den gescheiterten Augustputsch am 19. August 1991 gegen Gorbatschow miterlebt, sie sah die Panzerkolonnen auf die Moskauer Innenstadt zurollen. Am 31. Dezember 1999 hörte sie auf einer Silvesterparty im Fernsehen die Rücktrittsrede des müden, trunksüchtigen russischen Präsidenten Boris Jelzin. Alle tanzten, alle lachten, waren froh, dass Jelzin weg war. Seinen Nachfolger kannte niemand in der Runde. Es war ein junger Mann mit Namen Wladimir Putin.
Die Neunzigerjahre waren ein Jahrzehnt des Turbokapitalismus in Russland, auch »Raubtierkapitalismus« genannt. Die sowjetischen Normen waren über Nacht zusammengebrochen. Aus Funktionären wurden Unternehmer, aus Unternehmern Oligarchen. Unermesslicher Reichtum traf auf unermessliche Armut. Frauen ernährten ihre Familien mit Gemüse von der Datscha. Männer verdienten Geld, das nichts wert war. Es gab Schießereien auf den Straßen und Bombenattentate. Allein 1994 wurden mehr als 600 Unternehmer, Politiker und Journalisten ermordet. Allerdings waren die Neunziger auch eine Zeit des Aufbruchs mit Gedankenfreiheit, einer echten Opposition und kulturellen Experimenten. In den Metropolen entwickelte sich eine urbane Kultur, es gab Cafés, Klubs, Kunstaktionen.
Das Geschlechterbild aus Sowjetzeiten aber blieb: Ein Mann ist ein ganzer Mann, wenn er reich und mächtig ist. Und eine Frau ist eine echte Frau, wenn sie einen reichen und mächtigen Mann heiratet. Entsprechende Frauenratgeber nach dem Motto »Wie mache ich mehr aus meinem Typ?« füllten ganze Regale in den Buchhandlungen.
Zugleich jedoch wächst der Widerstand der Frauen gegen dieses überkommene Rollenverständnis im heutigen Russland. Pussy Riot, die schrille, feministische Punkband, ist ein gutes Beispiel dafür. Sie macht Politik durch Provokation. Der Machtapparat hat sie ins Ausland vertrieben, doch die Frauen von Pussy Riot schreien weiterhin gegen Ungerechtigkeit in Russland an. Und sehnen sich nach einer Rückkehr in die Heimat.
Auch in der Oppositionsbewegung rund um den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny spielten Frauen eine Rolle, wenngleich keine herausragende. Deutlich sichtbarer sind sie im Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine. Ihre Aktionen sind gewagt und erfordern viel Mut. Im Netz gibt es ein Manifest: »Die feministische Bewegung in Russland kämpft für benachteiligte Gruppen und die Entwicklung einer gerechten, gleichberechtigten Gesellschaft, in der Gewalt und militärische Konflikte keinen Platz haben dürfen.« Und in der Provinz, etwa in Dagestan am Rande der Russischen Föderation, machen Frauen das Schicksal ihrer Söhne und Freunde öffentlich. Sie beklagen die jungen Männer, die als Soldaten im Krieg in der Ukraine sterben, ohne dass ihnen jemand gesagt hätte, für wen und für was sie überhaupt in diesen Krieg gezogen sind.
In der Ukraine haben viele Frauen auf dem Kiewer Maidan-Platz für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie gestritten. Die »Revolution der Würde« brachte auch die Sache der Frauen voran. Einige der damals geforderten Reformen sind gelungen. Dazu zählt die Streichung von Berufsverboten für Frauen aus der Arbeitsgesetzgebung. Andere Hoffnungen haben sich bislang nicht erfüllt, etwa die Bekämpfung häuslicher Gewalt. Der Krieg wirft die Frauen nun wieder zurück, er bedeutet die Rückkehr zum alten Geschlechterbild. Männer schießen, Frauen pflegen und versorgen. Oder sie verlassen das Land mit ihren Kindern als Geflüchtete, was Männern im wehrpflichtigen Alter verwehrt ist.
Während der Krieg in der Ukraine die Schlagzeilen füllt, bleiben die Länder am östlichen Rand der ehemaligen Sowjetunion meist unbeachtet. Wer würde Kirgistan auf Anhieb im Atlas finden, wer könnte sagen, wie es den Frauen in Aserbaidschan geht? Es sind Länder, die von Traditionen und uralten, patriarchalen Strukturen geprägt sind. Oftmals geht es für die Frauen hier ums nackte Überleben. Sie werden verprügelt und vergewaltigt vom eigenen Ehemann. Für die Behörden gilt das als Kavaliersdelikt. Frauen werden entführt und in Ehen gezwungen. Hier bedeutet Widerstand etwas ganz anderes als im europäischen Teil der zerfallenen Sowjetunion. Mutige Aktivistinnen kämpfen um elementare Menschenrechte. Um Gesetze, die Vergewaltigung in der Ehe wirklich zur Straftat machen. Und um Geld, zum Beispiel für Frauenhäuser. Auch davon wird in diesem Buch die Rede sein.
Eines jedoch eint die Frauen im postsowjetischen Raum. Sie sind leidensfähig, hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen traditioneller Frauenrolle und eigenständigen Lebensentwürfen. In vielen gärt es. Sie wollen sich nicht in eine Rolle zwängen lassen, wie sie Stalin für sie vorgesehen hatte. Es ist eine Frage der Zeit, bis mehr und mehr von ihnen das Leben selbst in die Hand nehmen. Und dann wird es schwierig für Obrigkeiten, die auf männerorientierten Strukturen aufbauen.
»Poechali!«, auf geht’s, rief Juri Gagarin, der erste Mensch, der ins Weltall flog.
Вперёд, женщины! Los geht’s, Frauen!
Mittagessen im Restaurant »Sowjetische Zeit« in der Moskauer Innenstadt. Jetzt sind noch Tische frei, doch abends ist es brechend voll. Das Lokal ist im originalen Sowjet-Stil gehalten. Ich bin hier mit einem Freund und Kollegen, recherchiere für die österreichische Zeitung DER STANDARD. Im Restaurant gibt es einfache Holztische, ich sitze auf einem harten Stuhl, an der Wand hängen Propagandaplakate und Fotos von Stalin bis Gorbatschow. Man bestellt an der Theke und holt das Essen auch dort ab: Tschebureki, fettig gebackene Teigtaschen mit Hackfleisch-, Kartoffel- oder Käsefüllung.
Sowjetisch angehauchte Retrorestaurants gibt es einige in Moskau, bislang war das eher Nostalgie. Doch jetzt geht es in Russland zurück in eine Vergangenheit, die in den Staatsmedien zunehmend verklärt wird. Das hängt mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Westliche Konzerne ziehen sich aus Russland zurück. Produkte aus dem westlichen Ausland werden seltener und teurer. Russland soll in Zukunft auf eigenen Beinen stehen. Wie damals, in der Sowjetunion. In Russland, wo es kaum unabhängige Medien gibt, verfangen solche Ideen bei vielen Menschen.
Den 9. Mai 2022 erlebe ich am Fernseher. Ich schreibe an einem Artikel, da ist es praktisch, dass die große Militärparade live im TV übertragen wird. Der 9. Mai, er ist Russlands wichtigster Feiertag. 77 Jahre zuvor, am 8. Mai 1945, ist der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende gegangen. Seit Tagen schon wird die Hauptstadt feierlich geschmückt, wird für die Militärparade geprobt. Moskau gleicht einer Festung, ein Großaufgebot der Polizei sichert die Innenstadt. Auf dem Roten Platz beobachten Kriegsveteranen, die russische Führung und die Ehrengäste die Parade von rund 11 000 Soldaten aller Waffengattungen. Westliche Diplomaten und Politiker nehmen in diesem Jahr nicht teil – ein Novum.
Jenseits der martialisch rasselnden Panzerketten versammeln sich am Mittag ein paar Kilometer vom Roten Platz entfernt Menschen zu einer ganz anders gearteten Gedenkveranstaltung – zum »Marsch des Unsterblichen Regiments«. Russinnen und Russen tragen Fotos ihrer Angehörigen, die im Zweiten Weltkrieg gestorben sind. 27 Millionen Tote hatte die Sowjetunion zu beklagen. Tausende Menschen sind in diesem Jahr gekommen, Freiwillige haben den Marsch organisiert.
Die Idee dazu entstand 2012 im sibirischen Tomsk. Ursprünglich war es eine private Initiative. Ein Journalist wollte gemeinsam mit zwei Freunden eine neue Form der Erinnerungskultur schaffen. Sie rechneten mit einigen Hundert, es kamen über 6000. Seitdem gibt es derartige Märsche in vielen russischen Städten. Eigentlich sollte es eine Privatinitiative bleiben, fern von staatlichem Einfluss. Doch das gelang nicht. Heute ist der »Marsch des Unsterblichen Regiments« fester Bestandteil der offiziellen Erinnerungskultur zum 9. Mai. Auch Präsident Putin marschiert mit.
Der Marsch ist Gedenken und Volksfest zugleich. Russische Volkslieder sind zu hören, immer wieder Hurrarufe. Und natürlich diskutieren sie über den Krieg. »Es geht nicht um die Ukraine«, erklärt Maria, 35 Jahre alt, »es geht um einen Konflikt zwischen Amerika und Russland.« »Wir trauern um die Toten im Krieg«, sagt Natascha, eine andere Teilnehmerin. »Jeder Krieg ist furchtbar.« Was in der Ukraine passiert, ist für die 62-Jährige ein heikles Thema. Offen verurteilen mag sie den Angriff auf das Nachbarland nicht. Nur so viel deutet sie an: »Niemand will, dass irgendwer stirbt.« Ihre beste Freundin Vera ergänzt: »Meine Großmutter, mein Großvater, meine Mutter und mein Vater sind gestorben. Und jetzt muss ich wieder einen Krieg erleben.«
Auch wenn man das in Deutschland nicht so wahrnimmt: Es gibt Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine. Die wenigen Demonstrationen nach Kriegsbeginn allerdings waren schnell niedergeknüppelt. Die alten patriarchalen Reflexe aus Verbieten, Zuschlagen, Verhaften und Einsperren sitzen tief. Auch deshalb dürften Massendemonstrationen gegen den Krieg ausgeblieben sein. Die ukrainische Aktivisten Inna Schewtschenko kritisiert dies hart: »Die Einzigen, die Putin stoppen können, sind die Russinnen und Russen. Sie haben zu lange zugesehen, ihn zu lange geduldet und wiedergewählt. Ich bin komplett desillusioniert und enttäuscht von der Opposition in Russland.«
Das Regime hat die Opposition zum Schweigen gebracht. Zumindest den männlichen Teil, so scheint es mir. Großdemonstrationen wie nach der Verhaftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny gibt es nicht. Vielleicht tue ich den männlichen Oppositionellen Unrecht, aber es sind vor allem Frauen, die sich in Russland gegen den Krieg wehren. Laut, plakativ, mit Aktionen und Manifesten in Moskau. Und leise, eindringlich am Rande der Russischen Föderation. In Regionen wie Dagestan zum Beispiel. Aus entlegenen Gebieten wie diesem kommen die meisten russischen Soldaten, die in der Ukraine kämpfen. Ihre Mütter, Frauen, Freundinnen wollen zumindest das Warum begreifen.
Schon am ersten Kriegstag protestierten Frauen auf dem Moskauer Puschkin-Platz. Die Demonstration wurde rasch aufgelöst. Wenige Tage später veröffentlichten russische Feministinnen im Netz ein Manifest:
Russland hat seinem Nachbarn den Krieg erklärt. Es hat der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung und jedwede Hoffnung auf ein friedliches Leben abgesprochen. (…) Als russische Bürgerinnen und Feministinnen verurteilen wir diesen Krieg. Feminismus als politische Kraft kann nicht auf der Seite eines Angriffskrieges und einer militärischen Besatzung stehen. Die feministische Bewegung in Russland kämpft für benachteiligte Gruppen und die Entwicklung einer gerechten, gleichberechtigten Gesellschaft, in der Gewalt und militärische Konflikte keinen Platz haben dürfen.
Krieg bedeutet Gewalt, Armut, Zwangsvertreibung, zerstörte Leben, Unsicherheit und fehlende Zukunft. Er ist unvereinbar mit den grundlegenden Werten und Zielen der feministischen Bewegung. Krieg verschärft die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und wirft menschenrechtliche Errungenschaften um viele Jahre zurück. Krieg bringt nicht nur die Gewalt der Bomben und Geschosse mit sich, sondern auch sexuelle Gewalt: Wie die Geschichte zeigt, steigt das Risiko, vergewaltigt zu werden, zu Kriegszeiten für alle Frauen um ein Vielfaches. Aus diesen und vielen anderen Gründen müssen russische Feministinnen und alle, die feministische Werte teilen, entschieden gegen diesen von der Führung unseres Landes entfesselten Krieg auftreten. (…)
Feministinnen sind heute eine der wenigen aktiven politischen Kräfte in Russland. Lange Zeit wurden wir von den russischen Behörden nicht als gefährliche politische Bewegung wahrgenommen und waren daher vorübergehend weniger von staatlicher Repression betroffen als andere politische Gruppierungen. Derzeit sind mehr als fünfundvierzig verschiedene feministische Organisationen im ganzen Land tätig, von Kaliningrad bis Wladiwostok, von Rostow am Don bis Ulan-Ude und Murmansk. Wir rufen russische feministische Gruppen und einzelne Feministinnen auf, sich dem Feministischen Widerstand gegen den Krieg anzuschließen und ihre Kräfte zu vereinen, um sich aktiv gegen den Krieg und die Regierung, die ihn begonnen hat, zu stellen. (…) Wir sind viele, und gemeinsam können wir viel erreichen: In den letzten zehn Jahren hat die feministische Bewegung eine enorme mediale und kulturelle Macht erlangt. Es ist an der Zeit, diese in politische Macht umzumünzen. Wir sind die Opposition gegen Krieg, Patriarchat, Autoritarismus und Militarismus. Wir sind die Zukunft, die sich durchsetzen wird.
Protest gegen den Krieg gibt es nicht nur auf der Straße oder in oppositionellen Gruppen. Er kommt auch von unerwarteter Stelle. Es ist Montagabend, gerade läuft im Ersten Kanal, Staatsfernsehen, die Hauptnachrichtensendung »Vremja«. Natürlich geht es um die »Spezialoperation«. Plötzlich taucht hinter der bekannten Moderatorin Jekaterina Andrejewa eine Frau auf und hält ein Plakat in die Kamera. »Russen gegen den Krieg«, ruft die Frau und »Stoppt den Krieg!«. Teilweise wird das Plakat von der Moderatorin verdeckt. Darauf steht: »Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen«. Nach wenigen Sekunden spielt die Regie irgendeinen Filmbeitrag über Krankenhäuser ab. Doch die Botschaft ist in der Welt, mitten aus dem Staatsfernsehen, wo nur überprüfte und handverlesene Menschen arbeiten. Ich glaube kaum, was ich gesehen habe, und spreche mit Freunden darüber. Doch es hat sich genau so zugetragen. Es ist eine Sensation, auch wenn die Propaganda es als »Vorfall« herunterspielt.
Der Name der mutigen Frau wird schnell bekannt: Sie heißt Marina Owsjannikowa, eine Redakteurin des Senders Erster Kanal, der auf Russisch Perwy Kanal heißt. Das Video der Protestaktion verbreitet sich in rasender Geschwindigkeit, wird tausendfach kommentiert. Der Starpianist Igor Levit beispielsweise postet auf Twitter einen Link zum Video und schreibt dazu: »Was Mut wirklich bedeutet.« Marina hat die Aktion wohl gut vorbereitet. Die Organisation OVD-Info, eine unabhängige Initiative, die Fälle von politischer Verfolgung öffentlich macht, zeigt ein im Voraus aufgenommenes Video, in dem die Redakteurin ihre Beweggründe erklärt. »Leider habe ich in den vergangenen Jahren für Perwy Kanal gearbeitet und Propaganda für den Kreml gemacht. Dafür schäme ich mich heute sehr.« Ihr Vater sei Ukrainer und ihre Mutter Russin, der Krieg sei ein »Verbrechen«. Wer ist Marina Owsjannikowa? Eine Frau, die weit herumgekommen ist. 1985 zog ihre Familie zunächst nach Grosny in Tschetschenien, Anfang der 90er-Jahre flohen sie vor dem Tschetschenien-Krieg nach Krasnodar. Dort studierte Marina Owsjannikowa und arbeitete beim Sender Kuban TV. Später ging es nach Moskau, sie absolvierte die Russische Präsidentenakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung. Ein linientreuer Lebenslauf, der ihr den Job beim Perwy Kanal einbrachte. Dort war sie als Redakteurin für die Auslandsnachrichten zuständig.
In Marina muss es gegärt haben, vom ersten Kriegstag an. Sie berichtete ganz auf Staatslinie, verfolgte aber auch internationale Nachrichtenagenturen und westliche Medien. Die Stimmung unter den Mitarbeitern und den Mitarbeiterinnen des Senders sei nicht gut gewesen seit Kriegsbeginn, berichtet Dekoder. Dieses Online-Magazin mit Sitz in Hamburg will »Russland entschlüsseln«, übersetzt Beiträge aus unabhängigen russischen Medien wie Republic, Kommersant und Nowaja Gaseta. Für seine Arbeit wurde Dekoder mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.
»Der Krieg hat das Fass zum Überlaufen gebracht«, schreiben die beiden Journalistinnen Mascha Borsunowa und Irina Bablojan auf ihrer Seite »Mascha on Tour«. Mascha Borsunowa war früher beim kritischen Fernsehsender TV-Rain tätig, Irina Bablojan bei der Radiostation Echo Moskwy. Nach der Aktion von Marina Owsjannikowa begannen die beiden, unter Mitarbeitern staatsnaher Medien zu recherchieren. Dekoder dokumentiert ihren Artikel.
Mascha Borsunowa und Irina Bablojan berichten von verschärften Bedingungen in den Redaktionen, von internen Untersuchungen und Mitarbeiterbefragungen, von Kündigungen und Drohungen. Ihre Quellen sind anonym, nachprüfen kann man diese Berichte nicht. Dennoch: Es scheint plausibel, beide Autorinnen sind renommierte Journalistinnen. Ähnliche Aussagen habe ich auch selbst gehört von Mitarbeitenden der Staatsmedien, die lieber anonym bleiben wollen.
Sie zitieren auch aus einer ihnen vorliegenden internen Dienstanweisung staatsnaher Sender. »Die wichtigste These des Handbuchs ist die Nichtverwendung des Wortes›Krieg‹. Es ist sogar notwendig, den Ausdruck›kämpfen‹ so weit wie möglich zu reduzieren. Stattdessen sollten in Berichten die Begriffe›Sondereinsatz‹,