Von des Daseins Offenheit - Carl Osterwald - E-Book

Von des Daseins Offenheit E-Book

Carl Osterwald

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Beschreibung

Das Buch ist ein Ruf zu verantwortlichem Handeln, getragen von der Hoffnung auf die Möglichkeit einer globalen Durchsetzung der Menschenrechte. Der Autor kommt von der eigenen Erfahrung im nationalsozialistischen Deutschland her und schildert wie nachhaltig eine lebensfeindliche Ideologie eine Gesellschaft beeinflussen kann; gleichzeitig zeigt er Wege zur einer Gewinnung der Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens und einer Humanisierung des gesellschaftlichen Miteinanders. Das geschieht im Gespräch mit der einschlägigen Literatur. Mit Hilfe der Geschichtenphilosopie Wilhelm Schapp's werden die Verstrickungen aufgedeckt, denen wir uns nicht entziehen können. Verstrickt sind wir in unterschiedliche politische wie auch philosophische Richtungen, z.B. den Existenzialismus, in Weltanschauungen und Religionen. Solche Verstrickungen können uns in Systeme einbinden und Sicherheit geben, dadurch aber auch unsere Freiheit beschneiden. Wir können uns aber auch in Erzählungen, die weit zurückreichen verstricken lassen, z.B. in die Bibel. Die Erzählungen der Bibel öffnen uns eine Welt des Glaubens. In dieser treffen wir Jesus von Nazareth, der unserem Leben eine neue Grundlage und Richtung gibt. Durch Jesus werden wir aus der Religion herausgenommen, treten in den Kreis seiner Freunde ein und werden durch das Gespräch mit ihm, der uns in den Geschichten des Neuen Testaments begegnet, zum Tun des Gerechten motiviert. Der Leser begleitet den Autor auf dem Weg, seine Biographie philosophisch zu hinterfragen; und die Art, wie sich persönliche Erfahrungen in den brennenden Fragen und Problemen der Gegenwart widerspiegeln macht die Lektüre lebendig. Das Buch besticht durch die im Motto genannte Offenheit. Besonders ermutigend und erquickend sind die Kapitel über die Liebe, den Glauben und die Hoffnung, den Trost und die Versöhnung. Man erfährt, dass kritisches Hinterfragen zu einer neuen befreienden und wegweisenden Frömmigkeit führen kann.

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Gewidmet meiner Frau, Gertrud, und unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Hinführung

Über unsere gegenwärtige Lebensweise

Die Menschenrechtserklärung von 1948 als Grundlegung

„O Deutschland hoch in Ehren“ Deutschland vor 1914 –

Pazifistische Bestrebungen als Gegenbewegungen und ihr Scheitern

Nachdenken über mein Dasein (Existenzialismus)

Über mein Verhältnis zu Religion und Kirche

Auf der Suche nach einer eigenen Identität

Gottesbilder und ihre Konsequenzen

Wer spricht im Gewissen?

Geschichten als Hilfe zur Orientierung

Meine Schulzeit in Aurich

Von der Verführung zum Antisemitismus

Mein philosophischer Ansatz in der Geschichtenphilosophie

Verstrickung entlässt nicht aus der Verantwortung

Menschen auf der Flucht – Menschen in Not

Vom Umgang mit dem Leid der Heimatlosigkeit

Integration als

Voraussetzung für eine neue Gesellschaft

Heimat als identitätsstiftender Sehnsuchtsort

Vom Leben mit der Angst

Vom Streben nach einem kontrollierbaren Gott

Was macht den Menschen „wesentlich“?

Geschichten als Zugangsweg zum Phänomen Liebe

Liebe und Lust

Liebe und moralisches Verhalten – die 10 Gebote

Die Bibel als Gesprächspartner

Die freimachende Begabung des Menschen mit der Fähigkeit zu glauben

Die Bedeutung des Glaubens für die Moral

Die offenhaltende Begabung des Menschen mit der Hoffnung

Die ermutigende Kraft des Trostes

Prägungen durch Autoritäten und Vorbilder

Von der Leere des Existentialismus und der Offenheit der Welt des Glaubens

Ethik und Moral in der Welt des Glaubens

Das Amt der Versöhnung

Die Mitte

Anhang

Anmerkungen

Vorwort

Es ist Frühling. Vor meinem Fenster steht ein blühender Birnbaum. In den knorrigen Ästen und Zweigen springen, zwitschern und picken Vögel, die Sonne scheint: strotzendes Leben! Ein leichter Wind spielt mit den Zweigen einer hinter dem Birnbaum stehenden Trauerweide in frischem Grün, abgehoben vom dunklen Efeu am Stamm: Eine Harmonie aus Formen, Farben und Bewegung!

Es drängt mich, ich schreibe und lasse meine Gedanken laufen. Vor mir liegt mein 94. Geburtstag. Warum drängt es mich und wen habe ich als Adressaten vor Augen? Ein Grund für das Schreiben ist die tiefe Erschütterung, die mich im Frühling 1945 traf und nicht mehr losgelassen hat. Am Ufer der Oder zwischen den blühenden Bäumen lagen die zerrissenen Körper meiner Freunde vermischt mit den Leibern von uns umgebrachter russischer Soldaten. Dieses Bild und die Erinnerung an die toten Freunde ist nicht auszulöschen; beides verpflichtet mich. Ich kann und will es nicht vergessen: die Kämpfe, die brennenden Dörfer, die hastenden Menschen auf der Flucht, alte Männer und Frauen und Mütter mit ihren Kindern, Leichen an den Straßenrändern und tote Tiere; Bilder des Schreckens und Entsetzens. Dieses Erleben teile ich mit vielen, die Ähnliches erlebt ha ben und heute erleben. Nie und in keinem Zusammenhang darf verherrlicht werden, was Menschen anderen Menschen im Kriege angetan haben und weiter antun, weiter und weiter und es hört nicht auf, wir rüsten zu auf neues Töten und Vernichten. Wenn das Überleben solcher Katastrophen einen Sinn haben soll, dann liegt er für mich darin, alles mir Mögliche zu tun, Wege der Versöhnung und Verständigung zu suchen, und zu einer Kultivierung menschlichen Zusammenlebens beizutragen.

Was ich im Folgenden aufschreibe, sind meine eigenen Erfahrungen, die allesamt die Prägungen durch eine Kindheit und Jugend in einer totalitären und diktatorischen Weltanschauung widerspiegeln. Diese Prägungen haben mein ganzes Leben mit allen Höhen und Tiefen bestimmt, waren immer gegenwärtig. Aus ihnen erwuchs eine skeptische Grundhaltung allen an mich herangetragenen Angeboten und Anforderungen gegenüber, ein leidenschaftlicher Einsatz für die Einhaltung und weitere Verwirklichung der Menschenrechte und gegen jede Form von Rassismus und Unterdrückung.

Als Mensch fühle ich mich eingebunden in die Geschichte der Menschheit und des Lebens; nicht nur, um mich daran zu erfreuen, sondern auch, um es zu erhalten und zu fördern. Ich stehe staunend vor dem Wunder des Lebens und versuche sein Geheimnis mit Hilfe philosophischen und theologischen Nachden kens zu ergründen, um ihm gerecht zu werden. Dabei möchte ich nicht so sehr von der Vergangenheit her, sondern auf die Zukunft hindenken. Ich will mich nicht vor meinen Vätern verantworten, sondern vor meinen Urenkeln. Und diese Verantwortung ist der dritte Grund für mein Schreiben.

Wem schreibe ich? Wahrscheinlich irgendwie gleichgesinnten Leserinnen und Lesern, Menschen, mit denen ich gern im Gespräch bin und die die gleichen oder ähnliche Intentionen haben wie ich. Vielleicht greift aber auch jemand nach dem Buch, der im Ungewissen ist über den Sinn seines Lebens und des Lebens überhaupt. An manchen Stellen führe ich auch eine Art Selbstgespräch zur eigenen Vergewisserung; dann hole ich mir auch Gesprächspartner aus der Literatur – besonders der Bibel – setze mich mit ihnen auseinander und freue mich, wenn wir übereinstimmen. So soll und kann dieses Buch nicht mehr sein als ein Gesprächsbeitrag aus einer besonderen, nämlich meiner Sicht. Als solches schicke ich es auf den Weg mit meinem Lebensmotto: Alles ist immer offen. Ich weiß nichts, aber ich frage.

Münkeboe, im Mai 2021

Hinführung

Alles Ist Immer Offen

„Ist“ – das ist das Sein. „Immer“ – das ist die Zeit. „Offen“ – das ist der Raum. „ Alles“ – das ist alles: die toten Dinge ebenso wie alles Lebendige, ja, darüber hinaus möchte ich die Gedanken ins Grenzenlose laufen lassen nach einer Formulierung von Maurice Sendak: „Es muss im Leben doch mehr als Alles geben.“ Und Alles ist miteinander in Beziehung, selbst dieses das „Alles“ Übergreifende „mehr“. Es gibt nichts, das ohne Beziehung zu einem Anderen ist. Ich kann auch nichts denken, das von mir absieht. Immer ist von mir Gedachtes von mir gedacht, und das heißt, es hat meine Erlebnisse und Erfahrungen, meine Geschichte aufgenommen. Jeder Satz, jeder Text ist einmal von mir aufgenommen worden und konstituierend in mein Denken eingeflossen. Wenn ich im Folgenden zitiere, habe ich das Zitierte vorher in meine Betrachtung aufgenommen. Es ist in mir und spricht aus mir.

Ich beginne mit einem Satz Albert Schweitzers: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. In dieses Leben bin ich unlösbar eingebunden, noch stärker: ich lebe auch von diesem Leben und habe die Möglichkeit, dieses wahrzunehmen:Ich kann mich als „Leben“ also gewissermaßen von außen wahrnehmen und ich kann „Ich“ sagen und das Leben wahrnehmen als Über-greifendes, Eigenständiges, in dem ich gleichsam schwimme. Ich lebe nur, wenn ich in diesem Übergreifenden bin, das ich „Leben“ nenne. Das Übergreifende erscheint als prinzipiell unergründbar. Ich kann auf Fragen nach dem Beginn von Leben, nach dem Grund, der Ursache, warum Leben ist, nach der Qualität, also nach dem, was Leben ist und ob Leben endlich ist, keine Antwort finden. Wo auch sollte ich diese Antwort suchen? Wahrnehmen kann ich, dass auf dem Planeten Erde Leben ist. Ebenso kann ich wahrnehmen, dass dieses Leben an Bedingungen geknüpft ist. Leben kann gefördert und zerstört werden.

Das Geheimnis „Leben“ ist – wie mir scheint – nur in einem Zusammenhang möglich, der in einzelnen konkreten lebendigen Teilen also etwa in Pflanzen und Tieren erforschbar und einsichtig gemacht werden kann. Jedes einzelne Teil birgt dabei die Fülle und das Geheimnis des Ganzen. Ich kann Teile aus diesem Zusammenhang herausreißen und reiße sie dann auch aus ihrem Leben; auch mein Leben habe ich als solche Konkretisierung von Leben in der Hand: Ich kann Lebensbedingungen verändern. Ich kann sie sogar in eine Richtung verändern, die meinem eigenen Leben förderlich und nützlich ist. Bei der Entscheidung darüber, wohin ich verändern will, bin ich aber auf eine Antwort auf die Frage nach dem, was Leben eigentlich ist, angewiesen, denn ohne eine solche Antwort bin ich nicht nur in Gefahr, mein Leben zu verfehlen, sondern auch das Leben im Ganzen zu schädigen; ich muss also versuchen, fragend in das einzudringen, was wir „Leben“ nennen.

Ich beschränke mich – auch im Folgenden – auf das, was für mich wahrnehmbar ist. Die Erkenntnisse der traditionellen Wissenschaft, auch ihre Begrifflichkeit möchte ich bei meinen Überlegungen nur begrenzt nutzen. Ich beziehe aber Autoren aus verschiedenen Wissensgebieten als Gesprächspartner ein. Eine Gliederung habe ich nicht im Kopf, sondern sammle Eindrücke, die sich beim Schreiben ergeben, folge ihnen, lasse mich ablenken; auch das Tagesgeschehen, soweit es sich aufdrängt und mich bewegt, beziehe ich ein. Ich hoffe, dass dadurch eine Art von Gespräch mit mir und meiner Geschichte entsteht.

Über unsere gegenwärtige Lebensweise

Wir Menschen der Gattung Homo sapiens haben uns heute eine Welt geschaffen, in der die menschliche Lebensordnung wesentlich bestimmt ist durch kapitalistisches und imperialistisches Streben, immer noch weithin verbunden mit einer paternalistischen Gesellschaftsordnung. Das uns antreibende Wort heißt: „mehr“ und ist ausschließlich auf eine Steigerung menschlicher Lebensqualität bezogen, wobei der Maßstab für die Lebensqualität durch eine bestimmte Lebensauffassung vorgegeben ist; so z. B. bei der heutigen Denkfigur der „Selbstoptimierung“ von einer Optimierbarkeit des eigenen Lebens. Nach einer solchen Vorstellung müsste das Leben in Stufen einteilbar sein, es gäbe eine schlechte und eine gute Qualität des eigenen Lebens. Man spricht ja auch von der „Fülle“ des Lebens oder vom „Leben aus dem Vollen“, auch sagt man, um seine Niedergeschlagenheit auszudrücken: „Das ist kein Leben mehr“. Offenbar wird Leben dabei einer Wertung unterzogen, als ob man den Grad von Leben messen können müsste. Wir müssen uns dann der Frage stellen, was „erfülltes Leben“ ist und ob etwa der Besitz von Geld oder Gütern Gradmesser für Leben sein könnte.

Spätestens seit dem Beginn der industriellen Revolution leben wir unter einem uns selbst auferlegten Konsumzwang und leben dabei deutlich über unsere Verhältnisse. Wir haben die Lebensbedingungen auf der Erde einseitig so zu Gunsten unserer menschlichen Auffassung von lebenswertem Leben verändert, dass der gesamte Zusammenhang von Leben empfindlich gestört ist. Wir haben das Leben nicht offengelassen, uns ihm angepasst und hingegeben, sondern drängen es in eine von uns bestimmte Richtung

Ob unsere Art zu leben die Zukunft auch noch für kommende Generationen offenhält, d.h. kommenden Generationen noch Möglichkeiten zu freier Lebensgestaltung lässt, ist heute keine philosophische, theologische oder soziologische Frage mehr, ist überhaupt keine Frage der Wissenschaft mehr, sondern hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs, der Klimaveränderung, der Anhäufung von Müll und des Artensterbens allein zu einer Frage der Buchführung geworden. Die Antwort ist: „Nein“. Ich verzichte darauf, dieses „nein“ hier zu begründen; es ist eindeutig und dies dringt auch mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein. Wir Menschen, zu denen auch ich gehöre, lenken unsere immer rascher wachsenden Möglichkeiten und Kräfte stärker in Richtung auf unmittelbare Befriedigung eigener Bedürfnisse, die wir von Zeit zu Zeit jeweils neu schaffen, als dass wir sie zur Erhaltung und Förderung des Lebens im Ganzen einsetzen. Fast wie Getriebene rasen wir auf den Eisberg zu, wissend, dass wir einer Katastrophe entgegensteuern, aber die dringend nötige und vielfach angemahnte Kursänderung bleibt aus. (Wer sollte sie auch vornehmen oder anordnen?)

Wenn es so ist, muss gefragt werden, ob, und wenn „ja“, wie die Katastrophe zu überleben ist. Hinter dieser Frage steht wieder die Frage nach dem, was Leben eigentlich ist, ob mein Leben unter ganz anderen äußeren Lebensbedingungen immer volles Leben ist und sein kann. Mein Leben drängt ja auf Erhaltung: Ich will leben! Und wieder stehen wir vor der Frage: „Was ist das: Leben? Bevor ich dieser Frage nachgehe, möchte ich den Punkt finden und etwas näher beschreiben, an dem ich stehe und von dem aus ich meine Fragen stelle. Ich frage nach meiner Geschichte.

Die Menschenrechtserklärung von 1948 als Grundlegung

In einem Aufsatz über die „Entwicklungsgrundlagen eines freien Sozialismus“ schreibt Alexander Mitscherlich im Jahre 1946, also unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, gegen „eine sich ausbreitende Welle der Resignation“: „Sie ist nicht berechtigt, denn im Zeitalter des Imperialismus – sowohl des antiken wie des modernen – wird immer wieder verkannt, wer in der Geschichte untergeht. Nicht der nämlich, der keine Gewaltmittel, sondern der, der keinen historischen Auftrag besitzt.“ Dann fährt er fort:“ Diesen historischen Auftrag führen die Sozialisten mit sich.“ Nach seiner Auffassung sind sie „die einzige Menschengruppe, die bereits in einer künftigen Lebensordnung der Gesellschaft Fuß gefasst hat.“ Grundsatz dieser Lebensordnung ist: „Die mitmenschlichen Verhältnisse auf dem Boden der gegenseitigen Achtung zu ordnen.“

In gewisser Weise wurde dies damals durchaus als historischer Auftrag gesehen: Der „2.Weltkrieg“ war zu Ende. Das Deutsche Reich hatte mit 67 Ländern im Krieg gelegen. Die Anzahl der durch den Krieg Getöteten lässt sich nur grob schätzen: durch direkte Kriegseinwirkungen sind es 60 - 65 Millionen, rechnet man die Verbrechen und Kriegsfolgen hinzu, liegt sie bei 80 Millionen. Der Einsatz der Atombomben durch die USA setzte den Schlusspunkt auch hinter den Krieg im Osten Asiens. Unter dem Eindruck dieser Katastrophe kamen im Juni 1946 die Vereinten Nationen in San Franzisko zusammen und bildeten eine Menschenrechtskommission. Diese erarbeitete eine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. 12. 1948 verkündet wurde. Der Artikel I lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Diese Konvention sollte dazu helfen, Konflikte gewaltlos zu lösen.

Es soll also in allen Völkern, die als in einer „menschlichen Familie“ lebend wahrgenommen werden, darum gehen, die Grundlegung der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens für jeden festzuschreiben. Darin war man sich einig in der Weltversammlung der Völker. Einig war man sich auch in der Weltversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen, der – ebenfalls 1948 – in Amsterdam erklärte: „Die Kirche verkündet den Frieden Gottes allen Menschen mit ihrem Wort und ihrem Tun und Lassen – oder sie hört auf, Kirche Jesu Christi zu sein. Die Kirche muss eindeutig sagen: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“

Das Entsetzen über den Krieg, die Verführbarkeit von Menschen zur Grausamkeit und zur Vernichtung der eigenen Artgenossen, zur Zer-störung und Auslöschung von Leben wurde als Weckruf wahrgenommen und sollte zu Konsequenzen und gewissermaßen zu einem neuen Anfang führen. Heute wissen wir, dass es großartige Schritte in diese Richtung gibt, dass aber trotz aller Ächtung der Krieg doch nicht aufgehört hat, eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu sein. Man muss also – so sagt man – auf Gewaltanwendung eingestellt und vorbereitet sein; deshalb kann auf Rüstung nicht verzichtet werden. Und so werden täglich wieder Menschen in Krieg, Not, Tod und Elend gestoßen; das Leid schreit zum Himmel.

Wie kommt das? Warum ist das so? Mitscherlich weist auf den Imperialismus als Quelle für dieses zerstörerische Handeln hin. Imperialistisches Verhalten ist keine Möglichkeit, eine Friedensordnung zu schaffen. Die Geschichte reiht Beispiel an Beispiel. Die viel gerühmte „pax Romana“ z.B. war ebenso ein auf Unterdrückung aufgebautes Gewaltsystem wie alle Vorgänger und alle nachfolgenden Welt- und Kolonialreiche. Trotzdem sind imperialistische Tendenzen bis heute unausrottbar und bedrohlich. Sie scheinen schicksalhaft als Verhängnis über der Menschheit zu liegen.

Noam Chomsky sagt: „Wenn ihr nicht aufhört zu siegen, ändert ihr die Welt nicht.“ Sind wir so? Leben wir – als Exemplare des Homo sapiens – jeder Ein zelne unter dem Zwang, besser sein zu müssen als andere, stärker, reicher, schneller; sind wir immer noch nicht weiter als im Überlebenskampf des Steinzeitmenschen? Anders gefragt: Gelingt es uns einfach nicht, trotz Vernunft und Aufklärung, diesen steinzeitlichen Apparat in uns zu kultivieren und gegebenenfalls zu klären, ob er auch heute als maßgebliche Handlungsmaxime taugt und – dies vor allem – ob er veränderbar ist, u.U. durch Einsicht. Yuval Noah Harari schreibt: „Die Vertreter des neuen Gebiets der Evolutionspsychologie nehmen an, dass unsere Gesellschaft und Psyche vor allem während der langen Phase vor der Erfindung der Landwirtschaft geprägt wurden. Bis heute sind unsere Gehirne daher auf ein Leben als Jäger und Sammler programmiert.“ Nach Harari hat diese Welt der „Wildbeuter“ uns ihren Stempel aufgedrückt „...denn das ist die Welt, in der wir unbewusst bis heute leben.“1 Das heißt: Wir sind gefangen in dieser vertikalen, zielgerichteten Orientierung, überall und immer der Erste sein zu wollen. Dagegen setzt die Menschenrechtserklärung eine Familienstruktur, in der einer für den anderen einsteht.

„O Deutschland hoch in Ehren“ Deutschland vor 1914 –

Ein ganz kurzer Rückblick auf einen Abschnitt in der deutschen Zeitgeschichte zeigt den Verlauf des Weges, auf den man durch eine vertikale nationalistisch ausgerichtete Orientierung gerät. 1871 war Frankreich nach kurzem Krieg in die Knie gezwungen, Deutschland feierte einen Triumph als 2. Reich, hatte einen Kaiser, der „ideale Deutsche Bürger“ trug als Titel und Namen: „General Dr. von Staat“ 2. Da lag das Ziel, der Glanz: Beim Militär, in der Universität und in adeliger Herkunft: oben sein! Mein Vater wurde 1898 geboren. Seine Prägungen sind prägend in meine Erziehung eingeflossen. Im Dezember 1897 sagte der Staatssekretär v. Bülow im deutschen Reichstag zur Kolonialpolitik: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Das klingt bescheiden; das „wir verlangen“ hat aber den doppelten Sinn von Sehnsucht und – vielleicht noch stärker – von Anspruch. Denn dieser „Platz an der Sonne“ – wie soll es anders sein – ist natürlich nur zu haben, wenn niemand anders dort einen Schatten wirft, also heißt das für diesen anderen: „Geh da weg!“; die unausgesprochene Fortsetzung heißt: … und wenn du es nicht tust, werde ich keine Scheu oder Hemmungen haben, dich – auch mit Ge walt – zu vertreiben. Christoffer Clark3 meint ja, die Völker Europas seien 1914 wie Schlafwandler in den Krieg getaumelt, das mag man so beschreiben können; es ging 1914 darum, als der Reichste und Mächtigste dazustehen, und Krieg war damals als Mittel zum Zweck durchaus noch tolerabel; man zog also in den Krieg und kämpfte für sein Vaterland; auch mein Vater stand als Soldat an der Front und „tat seine Pflicht“. Am Ende des Gemetzels, 1918, stand der Friedensvertrag von Versailles und der führte schnurstracks in die Gewaltorgie des 2. Weltkriegs.

Das war vorauszusehen und wurde von einsichtigen Leuten auch früh erkannt, denn für die Deutschen war es kaum zu ertragen, trotz aller Stärke und Rüstung, trotz aller soldatischen Tugenden, trotz Mut und Heldentum, trotz aller Opfer, den Krieg verloren zu haben, also der Schwächere zu sein. Obendrauf kamen dann noch die Schuldzuweisung, die Gebietsabtretungen, die alles vernünftige Maß überschreitenden Reparationsforderungen; das war für die überwältigende Mehrheit der Deutschen eine so tiefe Demütigung und Kränkung, dass sie förmlich nach Revanche schrie. Hitler mit seinen Genossen hatte leichtes Spiel, diesen Schrei in ein Thema umzuformen, ihn so zu artikulieren, dass er genügend offene Ohren fand und es möglich wurde, wieder aufzurüsten, sich wieder stärker als alle anderen zu machen, die dann als „Feinde“ hingestellt wurden. Und Feinde müssen schließlich besiegt werden mit Gewalt und Krieg, damit wir Sicherheit und Ordnung gewinnen. So war es schon immer und so geht es weiter und weiter und weiter und nimmt kein Ende. Die imperialistische Gewalt-Orientierung führt in Zerstörung und Elend. Immer.

Ich schreibe dieses im Jahre 2020. Gerade ist ein Buch herausgekommen mit dem Titel: „Zeitenwende“4. Es ist heute nicht nur die Corona-Pandemie, die uns in Atem hält, sondern auch in Politik und Gesellschaft drängen sich beängstigende Entwicklungen nach vorn, deren Wurzeln deutlich in der Vergangenheit liegen und die so virulent waren, dass ich ihren Einfluss noch in mir habe und als eigene Erfahrung abrufen kann. Ich nenne: Während meiner Kinder- und Jugendzeit war kolonialistisches Denken und Verhalten so selbstverständlich, dass wir es für uns einklagten. („Deutschland braucht seine Kolonien!“) Auch Rassismus, Antisemitismus, vor allem Nationalismus waren selbstverständlich und durchweg positiv besetzt. Ein Kinderlied: Vers 1: „Töff töff, töff. Wer kommt denn da gefahren? / Töff, töff, töff, mit einem Kinderwagen? / Töff, töff, töff, wo will der Jude hin? / Er will ja nach Jerusalem, wo alle Juden sind.“ – Vers 2: „Schmeißt sie raus, die ganze Judenbande, / schmeißt sie raus aus unserm Vaterlande / schmeißt sie wieder nach Jerusalem / und haut se beide Beine ab, / sonst komm´se wieder rin“.5

So etwas wurde fast in ganz Deutschland gesungen und in die Kinderseelen eingesenkt. Und zu Weihnachten brachte meine Großmutter (väterlicherseits) mir bei: „Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben: / Trommeln, Pfeifen und Gewehr, / Fahn´ und Säbel und noch mehr, / ja, ein ganzes Kriegesheer möcht´ ich gerne haben.“ Das Militaristische konnte nicht früh genug eingeprägt werden. Und nun sitzt es alles drin.

In Hitler-Deutschland konnte man damit gut leben; Es wurde stets und ständig wiederholt und gab nicht nur einen festen Referenzrahmen, sondern wirkte wie ein Sog. Der Schulunterricht begann mit dem „Heil Hitler!“ der Lehrerin oder des Lehrers und – wie es sich gehörte – antwortete die Klasse mit erhobenem, rechten Arm: „Heil Hitler!“ Alles selbstverständlich. Die Frage ist: Wann und wie wurde dieser Referenzrahmen, wurden seine tiefsitzenden Prägungen bewusst gemacht? Wann wurde er kritisch hinterfragt? Wann dankten seine Vertreter und Protagonisten ab oder wurden wenigstens demaskiert? Nichts wurde wirklich bearbeitet. Es wurde – wie Hermann Lübbe sagte – „beschwiegen“. Wahrscheinlich noch nicht einmal verdrängt. So kann es heute wieder hochkochen und alle Modernisierung hintertreiben. Ich komme später noch einmal darauf zurück. Jedenfalls ist verständlich: Auf solchem Fundus lässt sich keine freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie auf bauen und auf Dauer leben.

Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat mit einem an den allgemeinen Menschenrechten orientierten Grundgesetz. Das ist keine Frage; aber es steht auch außer Frage, dass sich zunehmend rassistische, antisemitische und nationalistische Kräfte, Parteien, Personen nach vorn drängen und an Einfluss gewinnen, ja es deutet sich an, dass immer noch ein Sumpf da ist, mit einer Besorgnis erregenden ziehenden Kraft. Hass breitet sich aus, wird ausgestreut und entlädt sich in Terrorakten. Die Sorge ist umso größer, als sie in einen merkwürdigerweise plötzlich um sich greifenden globalen Trend passt – davon später mehr. Der Wahnsinn erreicht seinen Gipfel mit der Überschrift in unseren lokalen „Ostfriesischen Nachrichten“: „Nato bald startklar für die Verteidigung im Weltraum“ mit der Unterzeile: „Ramstein soll zum Space Center werden“. Feinde überall! Man malt uns eine Bedrohung in der Nähe und an den Grenzen! Die Konsequenz kann nur sein: Abschotten bis in den Weltraum! Wahrscheinlich soll eine solche Nachricht, die allen gesunden Menschenverstand und alle dringend anstehenden Probleme hinter sich lässt, den Zweck haben, die Bevölkerung zu beruhigen und in Sicherheit zu wiegen. Nach dem Motto: „Mundus vult decipi, ergo decipiatur“ (Die Welt will betrogen werden, also möge sie betrogen werden!).

Pazifistische Bestrebungen als Gegenbewegungen und ihr Scheitern

Sucht man in der Geschichte Europas nach Gegenbewegungen, also nach grundlegenden Friedensbewegungen, findet man beachtenswerte Beispiele: Bei Wikipedia ist zu lesen, dass bereits im antiken Griechenland des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Idee der „Koine Eirene“ (allgemeiner Friede) propagiert wurde, um den Frieden als den Normalzustand durch völkerrechtlich verbindliche Verträge dauerhaft zu sichern. Im 10. nachchristlichen Jahrhundert entstand in Reaktion auf das um sich greifende Fehdewesen des niederen Feudaladels im Süden Frankreichs die „Gottesfriedensbewegung“, die aufgrund der Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten als Vorläufer der modernen Friedensbewegungen gelten kann.

In unserer jüdisch-christlichen Religion, in der Bibel wird an vielen Stellen Verzicht auf Gewalt bis hin zur Feindesliebe Jesu als göttliches Gebot gefordert. Ich verzichte jetzt hier auf Stellenhinweise, möchte aber doch belegen, dass es auch in unserer abendländischen, christlich geprägten Kultur eindeutige Stellungnahmen für – es gab das Wort noch nicht – „pazifistisches“ Denken und Verhalten gab, so zum Beispiel im Mittelalter bei dem großen Humanisten Erasmus von Rotterdam, der 1521 in „Ein Klag´ des Frydens“ schrieb:

„Es ist jetzt schon soweit gekommen, dass man den Krieg allgemein für eine annehmbare Sache hält und sich wundert, dass es Menschen gibt, denen er nicht gefällt [...] Wie viel gerechtfertigter wäre es dagegen, sich darüber zu wundern, welch’ böser Genius, welche Pest, welche Tollheit, welche Furie diese bis dahin bestialische Sache zuerst in den Sinn des Menschen gebracht haben mag, dass jenes sanfte Lebewesen, das die Natur für Frieden und Wohlwollen erschuf, mit so wilder Raserei, so wahnsinnigem Tumult zur gegenseitigen Vernichtung eilte. Wenn man also zuerst nur die Erscheinung und Gestalt des menschlichen Körpers ansieht, merkt man denn nicht sofort, dass die Natur, oder vielmehr Gott, ein solches Wesen nicht für Krieg, sondern für Freundschaft, nicht zum Verderben, sondern zum Heil, nicht für Gewalttaten, sondern für Wohltätigkeit erschaffen habe? Ein jedes der anderen Wesen stattete sie mit eigenen Waffen aus, den Stier mit Hörnern, den Löwen mit Pranken, den Eber mit Stoßzähnen, andere mit Gift, wieder andere mit Schnelligkeit. Der Mensch aber ist nackt, zart, wehrlos und schwach, nichts kann man an den Gliedern sehen, was für einen Kampf oder eine Gewalttätigkeit bestimmt wäre. Er kommt auf die Welt und ist lange Zeit von fremder Hilfe abhängig, kann bloß durch Wimmern und Weinen nach Beistand rufen. Die Natur schenkte ihm freundliche Augen als Spiegel der Seele, biegsame Arme zur Umarmung, gab ihm die Empfindung eines Kusses, das Lachen als Ausdruck von Fröhlichkeit, Tränen als Symbol für Sanftmut und des Mitleids.

Der Krieg wird aus dem Krieg erzeugt, aus einem Scheinkrieg entsteht ein offener, aus einem winzigen der gewaltigste [...] Wo denn ist das Reich des Teufels, wenn es nicht im Krieg ist? Warum schleppen wir Christus hierhin, zu dem der Krieg noch weniger passt als ein Hurenhaus? So mögen wir Krieg und Frieden, die zugleich elendeste und verbrecherischste Sache vergleichen, und es wird vollends klar werden, ein wie großer Wahnsinn es sei, mit so viel Tumult, so viel Strapazen, so einem großen Kostenaufwand, unter höchster Gefahr und so vielen Verlusten Krieg zu veranstalten, obwohl um ein viel geringeres die Eintracht erkauft werden könnte.“

So weit Erasmus.6 Dieser von Erasmus beschriebene Mensch trägt die Wesensmerkmale des von Harari beschriebenen Wildbeuters,7 der in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler durch ein weites Land zog. Mit dieser emotionalen Ausstattung kam er zurecht und konnte in Frieden leben. Das war zur Zeit von Erasmus längst vorbei. Da schrieb Martin Luther z.B. fast zur selben Zeit wie Erasmus, nämlich 1526 in seiner Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können“:

„Es ist eine verdammte, verfluchte Sache mit dem tollen Pöbel. Niemand kann ihn so gut regieren wie die Tyrannen. Die sind der Knüppel, der dem Hund an den Hals gebunden wird. Könnten sie auf bessere Art zu regieren sein, würde Gott auch eine andere Ordnung über sie gesetzt haben als das Schwert und die Tyrannen. Das Schwert zeigt deutlich an, was für Kinder es unter sich hat, nämlich nichts als verdammte Schurken, wenn sie es zu tun wagten.“

Die beiden Zitate zeigen, dass die Einstellung eines Menschen zu Gewalt und Krieg entscheidend von seinem Menschenbild abhängt. Sind – wie bei Luther – Menschen wie die „Räuberischen Bauern und ihre Rotten“ nichts als „toller Pöbel“ und „verdammte Schurken“, dann müssen sie mit Gewalt in Ordnung gebracht und durch ihre Herren in Ordnung gehalten werden. Ist der Mensch indessen „jenes sanfte Lebewesen, das die Natur für Frieden und Wohlwollen erschuf“, dann ist die eindeutige Konsequenz: „dass die Natur, oder vielmehr Gott, ein solches Wesen nicht für Krieg, sondern für Freundschaft, nicht zum Verderben, sondern zum Heil, nicht für Gewalttaten, sondern für Wohltätigkeit erschaffen“ hat. Es fragt sich, welche Faktoren das Menschenbild bestimmen. Offenbar leben die beiden hier beschriebenen Menschentypen in sehr unterschiedlichen Gesellschaften.

Sowohl Erasmus als auch Luther fußen auf der Bibel. Den von Luther beschriebenen Menschen treffen wir in der Bibel in unzählig vielen Geschichten. Es ist zu fragen, ob auch der von Erasmus beschriebene Mensch in der Bibel anzutreffen ist. Die Frage möchte ich an dieser Stelle zurückstellen und später wieder aufnehmen. In meiner Kinder- und Jugendzeit war jeder Anhauch von Pazifismus nicht nur verpönt, sondern verboten. Bei allem Verständnis für die Gefühle der Demütigung für die ehemaligen Frontsoldaten im ersten Weltkrieg, ist es mir heute unverständlich, dass sich so viele nach dem Ende dieses furchtbaren Gemetzels wieder im Frontkämpfer-Bund „Stahlhelm“ zusammenfanden und das „Soldatische“ als positiven Wert hochhielten. Erklärbar ist dies nur dadurch, dass der nationalistische Referenzrahmen nicht in Frage gestellt wurde. Die Geschichte des Pa zifismus ist bis in unsere Tage eine traurige Geschichte.

Tucholsky machte seinem Leben selbst ein Ende, Carl v. Ossietzky starb an den Folgen der KZ-Haft unter den Nazis. Wolfgang Borchert ist heute fast vergessen, sein „Sag nein!“ wurde nicht befolgt. So lassen sich manche leidenschaftlichen pazifistischen Aufschreie nennen, die ins Leere gingen. Einer sei noch genannt, der des großen Denkers und Wissenschaftlers Albert Einstein (1879 – 1955): „Mein Pazifismus ist ein Instinkt, ein Gefühl, das sich mir aufdrängt, weil Menschenmord so etwas widerwärtiges ist. Mein Verhalten entspringt nicht irgendwelchen theoretischen Überlegungen, sondern beruht auf meiner tiefen Abscheu gegen jede Grausamkeit und allen Hass.“ Man hat nicht gehört und hört bis heute nicht. Man wollte und will es anders. Sicher auch, weil das Bild des starken männlichen Helden, der für seine Sache in den Kampf zieht, bei vielen Zeitgenossen immer noch positiv besetzt ist, tief in den Knochen sitzt.

Wir leben heute in einer Welt rasanten Wandels: Wirtschaftliche Interdependenz z.B. überschreitet alle nationalen Grenzen, auch die Klimaveränderungen kennen solche Grenzen ebenso wenig wie die modernen Medien und Massenkommunikationsmittel. Alle Anstrengungen müssten auf ein friedliches Miteinander in der „menschlichen Familie“ gerichtet sein, stattdessen erscheint Aufrüstung als gebotenes Programm. In einem Interview mit der ZEIT vom 27. 9. 2018 beklagt der deutsche Außenminister Heiko Maas: „Eigentlich müssten wir in einer globalisierten und digitalisierten Welt, in einer Welt des Klimawandels großräumig und langfristig denken. Alle diese Themen kennen keine nationalen Grenzen mehr. In der Realität aber ist das kurzfristige und kleinräumige Denken auf dem Vormarsch.“ Wir „müssten“, aber wir tun es nicht. Vielleicht einfach aus Angst, denn Angst hängt etymologisch mit Enge zusammen. Und unser Sicherheitsstreben steht jeder Form von Weite und Großzügigkeit entgegen. Langfristiges und großräumiges Denken ist immer auch offenes Denken. Das aber ist ein Denken, das für den auf seine kleine überschaubare Gruppe beschränkten „Wildbeuter“ nicht nur fremd, sondern auch unangepasst ist. Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen – im Großen wie im Kleinen – lassen den Eindruck zu, dass der Homo sapiens nicht nur nicht friedfertig, sondern auch nicht friedensfähig ist.

Es ist mir auch ein Rätsel, warum Kriegshelden immer noch einen so hohen Stellenwert haben. Hohe Militärs zeigen sich immer noch gern mit ordensgeschmückter Brust. Es gibt ja heute Auszeichnungen und Medaillen für im zivilen Leben herausragende Leistungen; es gibt Friedenspreise und Träger solcher Friedenspreise, die wahrhaft aller Ehren wert sind, dennoch sind die Kriegshelden in manchen Kreisen immer noch anerkannt, besonders dann, wenn sie im Kampf ihr Leben verloren. Für uns – ich betone: mich eingeschlossen – waren Kriegshelden, Träger hoher Orden, die erstrebenswerten Vorbilder. Günter Prien z.B. war Kapitänleutnant und U-Boot Kommandant. Ihm gelang ein Husarenstück: Er drang am 14. Oktober 1939 mit seinem Boot in den vielfach gesicherten und schwer zugänglichen britischen Kriegshafen Scapa Flow ein und versenkte das britische Schlachtschiff „HMS Royal Oak“, 833 Seeleute ertranken. Im Juli 1940 versenkte er, nach einer Reihe anderer Schiffe, den britischen Passagierdampfer „Arandora Star“, wobei 800 Menschen umkamen. Prien erhielt die höchste Auszeichnung das Ritterkreuz mit Eichenlaub. Nach dem Sieg in Scapa Flow wurde er mit seiner Mannschaft in Berlin mit tosendem Jubel begrüßt und hinterher vom Führer persönlich empfangen. Sein Orden hat vielleicht 1700 Menschen das Leben gekostet. Für mich und meine Freunde war er ein Held und – schlimmer noch – ein Vorbild.

Es gab einen deutschen Dichter Georg Herwegh; er lebte von 1817 bis 1875, hat also den Krieg von 1870/71 und die darauffolgende Reichsgründung in Versailles erlebt. Herwegh schrieb 1871 das Gedicht „Epilog zum Krieg“, aus dem ich zwei Verse zitieren möchte. Das Gedicht beginnt mit der Zeile: „Germania der Sieg ist dein“; die Verse 4 und 5 lauten:

Schwarz, weiß und rot! um ein Panier Vereinigt stehen Süd und Norden Du bist im ruhmgekrönten Morden Das erste Land der Welt geworden Germania, mir graut vor dir Mir graut vor dir, ich glaube fast Daß du, in argen Wahn versunken Mit falscher Größe suchst zu prunken Und daß du, gottesgnadentrunken Das Menschenrecht vergessen hast

Wir haben im Deutschunterricht eine ganze Reihe von Gedichten gelernt, aber keins von Herwegh, auch keins von Heine, der ein Zeitgenosse Herweghs war. Es gab durchaus Texte, die uns als Schüler zum Nachdenken hätten bringen können, aber die behielt man uns vor und fütterte uns stattdessen mit Untertanengeist: uns hingeben und gehorchen: das sollten wir lernen und ich habe es gelernt und getan.

Meine letzte Tat als deutscher Soldat war am 2. Mai 1945 im Angesicht der wenige 100 Meter vor uns stehenden amerikanischen Soldaten meine Maschinenpistole dadurch unbrauchbar zu machen, dass ich den Schlagbolzen abbrach, bevor ich sie in einen Teich warf. Nie wieder sollte mit ihr geschossen werden können und ich schwor mir, nie wieder zu schießen. Von Pazifismus hatte ich noch nichts gehört, habe mich aber seither an seine Prinzipien gehalten und stehe weiter dazu ohne jedes wenn und aber. Ich sehe auch die Coronakrise als große Chance zu einer Besinnung auf eine neue Gestaltung unseres Lebens: Konsequente Abrüstung und Verwendung aller freiwerdenden Mittel gegen Ungerechtigkeit und Hunger und Zerstörung der Lebensgrundlagen für unsere Nachkommen.

Es gibt allerdings eine Erfahrung, die mich schwankend machte. Ich war als kirchlicher Peace Monitor zusammen mit unserem fünfköpfigen Team in dem Township Tokosa vor Johannesburg eingesetzt. Es war ein Township, in dem die Brutalität ein solches Ausmaß angenommen hatte, dass die Polizei ihrer nicht mehr Herr wurde und deshalb das Militär eingreifen sollte. Der neue Militär-Befehlshaber hatte die Führer der verschiedenen Afrikaner-Gruppen zusammengerufen. Sie saßen in einer Baracke – etwa 30 Männer schätze ich – ihnen gegenüber der Befehlshaber, ein hochrangiger Offizier, zu beiden Seiten Soldaten mit vorgehaltenen Maschinenpistolen. Wir saßen zwischen ihm und den Afrikanern an der Barackenwand. Er hielt eine kurze Ansprache, die ziemlich wörtlich in dem Satz gipfelte: „Wir sind keine Polizei, sondern Militär. Wir rufen einmal an, wir fragen nicht, diskutieren nicht, wir schießen.“ Die Folge war verblüffend: Es gab hinfort keine „no go aereas“ mehr. Allein die Androhung von Gewalt – glaubhaft vorgetragen – diente der „Befriedung“. Es ist nun ein verhängnisvoller Irrtum, zu meinen, solche Befriedung schaffe Frieden, oder gar anzunehmen, grundsätzlich ließe sich durch eine Gewaltandrohung Frieden schaffen. Die Gegensätze und Animositäten zwischen den Gruppen wurden nicht einmal angesprochen geschweige denn bearbeitet, sondern schwelten weiter. Die Erfahrung ist eindeutig: Gewalt schafft keinen Frieden, sondern Unterdrückung.

Nachdenken über mein Dasein (Existenzialismus)

Ich setze neu ein bei mir selbst: ich will versuchen meinen eigenen Platz noch näher zu finden, um zu ergründen und auszuleuchten, wer, wo, was ich bin, woher ich komme und wohin ich gehe.

Am 2. Juli 1927, am Spätnachmittag eines Sonnabends, betrat mein Vater, Albert, das Wohnzimmer seiner Lehrerwohnung in Münkeboe, in dem seine Eltern Carl Osterwald und Anna, geb. Rohde, warteten und verkündete stolz: „Er ist da.“ Sein Vater, fragte: „Und – wie soll er heißen?“ Worauf nun mein Vater nur antworten konnte: „Carl“. So beginnt meine Geschichte: „Er ist da“. Heidegger sagt in seiner sehr eigenen Sprache: „geworfen ins Da“. Ich möchte es lieber so ausdrücken: Nachdem mich meine Mutter lange Monate hindurch „in Hoffnung“ getragen hatte, „gab sie mich ins Leben“, „gab mich frei“ oder: „stieß mich meine Mutter ins eigene Leben“. Seitdem bin ich da. Weder Ort noch Zeit noch irgendwelche anderen Lebensumstände konnte ich selber setzen oder aussuchen. Wilhelm Schapp drückt es so aus: „dass die Geschichte (einer Person) nicht in das Nichts hineingestellt ist, nicht aus dem Nichts hervortaucht, sondern mit tausend Wurzeln in der Welt verwurzelt ist, und zwar in einer geschichtlichen Welt, die unmittelbar mit der Geschichte mitgegeben ist“.8 So auch bei mir.

Mit diesem Zitat rutsche ich in die Philosophie und mache einen ersten kleinen Abstecher; dabei möchte ich mich auch ihrer Sprache und Begrifflichkeit bedienen. (Ich warne den/die Leser*in) In der klassischen Philosophie werden Mensch und Dinge und ihre Eigenschaften durch Kategorien geordnet. Solche Kategorien sind z.B. bei Aristoteles: Qualität, Quantität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Tun, Leiden. Will ich irgendein Ding beschreiben, kann ich es nur in diesen Kategorien tun, also: wie ist es? wo ist es? in welchen Beziehungen ist es? wann ist es? etc. Da auch der Mensch wie jedes Ding ein Seiendes ist, kann auch er mit seiner Bestimmung in diesen Kategorien zureichend beschrieben werden. Dem widerspricht der Existenzialismus (Heidegger und nicht nur er), denn im Unterschied zu den Dingen existiert der Mensch. Wenn ich ihn als Vernunftwesen betrachte, als ein Geschöpf Gottes, als ein in Gemeinschaften lebendes Wesen, schreibe ich ihm Eigenschaften zu, ohne seine Existenz zu berücksichtigen. Das ist immer unzureichend, denn jeder Mensch ist eine eigene Existenz und ist in den traditionellen Kategorien nicht in seinem Wesen zu beschreiben. Ein Mensch ist kein Abstraktum. Ich kann den Menschen nur verstehen, wenn ich vom jeweiligen individuell existierenden Sein ausgehe.

Wenn ich keine Kategorien zur Betrachtung und Beschreibung der alltäglichen Strukturen des menschlichen Daseins heranziehen will, helfen vergleichbare Ordnungsmuster weiter. Eine Analyse der menschlichen Existenz führt Heidegger zu den Existenzialien. Das sind: das In-der-Welt-sein, die Sorge, die Befindlichkeit, die Angst, das Verstehen, die Verfallenheit und die Rede. Das sind die fundamentalen Strukturen des alltäglichen Menschseins.

In der Sprache der Existenzphilosophie kann ich nach meiner Geburt sagen: „Ich bin vorhanden, ich existiere.“ Dieses existieren hat bei Heidegger einen transitiven Sinn: ich muss mich existieren, d.h. ich lebe nicht nur, sondern muss mein Leben führen, gestalten. Anders als die Pflanzen, Tiere und die Dinge um mich herum, bin ich meiner selbst gewahr. Existieren ist kein bloßes Vorhandensein, sondern ein Vollzug, eine Bewegung. Und: Meine Existenz ist kontingent: Ich bin eine Verkörperung des Zufalls. Über diesen Zufall habe ich keine Verfügungsgewalt. D.h. über das meiste in meinem Leben verfüge nicht ich. Ehe ich selber etwas anfangen kann, hat schon etwas mit mir angefangen.

Ich bin im Leben ein eigenes Seiendes; als solches bin ich in einem umfassenden Sein, das unabhängig von mir da ist und vor mir da war. In dieses Sein bin ich unlösbar verflochten. Das außer mir Daseiende nehme ich wahr in dem, was mich umgibt. Im strengen Sinne ist alles außer mir: Alles Lebendige und alle toten Dinge, alles, was nicht Ich ist, kann von mir nur wahrgenommen werden. Es begegnet mir innerhalb eines begrenzten Horizontes. Und dieser Horizont ist ein faszinierendes Phänomen, insofern er zwar begrenzt, aber gleichzeitig auch öffnet; er ist in eigenartiger Weise offen. („Es muss doch mehr als Alles geben.“)

Ich sehe alles, was vor dem Horizont ist, was jenseits ist, kann ich nicht sehen, ist mir nicht zugänglich. Es ist aber möglich, dass etwas von jenseits des Horizontes auftaucht, dass also etwas, das nicht da war, plötzlich da ist. Ebenso ist es möglich, dass etwas, das da ist, plötzlich hinter dem Horizont verschwindet, also nicht mehr da ist. Das gilt sowohl im Raum als auch in der Zeit. Ich kann meinen Vater und meinen Großvater in meiner Geschichte auftauchen lassen, ich kann auch, weil ich wahrnehmen kann, dass etwas von jenseits des Horizontes auftaucht, mein Dasein in die Zukunft ausstrecken, insofern als ich meinem Handeln Konsequenzen vorauswerfe und besorgend handle. Weil existieren eine Bewegung ist, kann sich auch der ganze Horizont öffnen. Offenbar ist der Horizont von Mensch zu Mensch verschieden: es gibt Menschen mit einem weiten und einem engen Horizont, und die Verständigung zwischen Menschen mit unterschiedlichem Horizont kann bisweilen – je nach dem Gegenstand der Verhandlung – schwierig sein.

Ich bin als Zeitgenosse in unserer heutigen Welt. Ich sehe und erfahre eine verbreitete Unsicherheit in der Orientierung und suche nach Wegen: Wie kommen wir heraus aus dem kurzfristigen und kleinräumigen Denken, bzw. was hält uns darin fest? Heidegger nennt das, was uns festhält, die Faktizität unseres Daseins: Wir leben immer in einem ganz bestimmten geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang, aus dem wir uns nicht herauslösen können. Ganz selbstverständlich richten wir uns nach den üblichen Normen und Werten, möchten im Allgemeinen auch nicht aus der Rolle fallen und fügen uns in die Muster, die unsere Kultur uns eingegeben hat. Das ist „norm-al“, so handeln und denken wir im alltäglichen Geschehen, ohne dass wir das im Einzelnen bewusst entscheiden. Das ist die Verfallenheit unseres Daseins: Wir neigen dazu unser eigentliches Sein nicht in den Blick zu nehmen, sondern ihm in eine gewisse alltägliche Belanglosigkeit auszuweichen.

Diese alltägliche Normalität kann uns Sicherheit und Freiheit geben: Wir wissen was zu tun ist und was gut und richtig ist. Sie kann uns aber auch – wie wir nach 1933 erfahren haben – schrecklich in die Irre führen. Dieses Aufgehen im Normalen nennt Heidegger „uneigentliche Existenz“. Ich habe mich als ich selbst aufgegeben und tue, was man tut und bin damit in einen Zustand der Uneigentlichkeit abgerutscht, habe mich gewissermaßen freiwillig anderen unterworfen. Ich beuge mich der Autorität des Man. Das Man gibt vor, was man tut, oder was man nicht tut. Ich habe mich selbst, meine Eigentlichkeit, verloren.

Wie nun kann ich zu mir selbst kommen, ein authentisches Leben führen, meiner Eigentlichkeit gemäß leben? Wenn ich tue, was man tut, gebe ich meine Verantwortung für mein Tun ab. Das Man rechtfertigt mein Tun. In einer gut funktionierenden demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung kann ich leicht dazu kommen, im Man mitzulaufen und nicht zu merken, dass und wie mein Ich, meine Eigentlichkeit, schläfrig wird, ich kann sie mir abgewöhnen. Wie und wodurch bleibe ich wach?

Ich möchte die Frage anders stellen: „Wie werde und bleibe ich meiner Verantwortung gerecht?“ Dabei sehe ich eine Verantwortung, die ich mir selbst, der Welt und dem Leben gegenüber habe. Ich bin es doch, der meinen Urenkeln Antwort geben muss auf ihre Frage: „Was hast du damals getan?“ Dazu muss ich mich aus dem Man lösen, mich befreien zu einem eigenen authentischen Leben. Wie geschieht das, dieses Herauslösen aus dem Man?

Ich bleibe noch bei Heidegger: Ich muss zu mir selbst finden, d.h. mein eigentliches Selbstsein muss ich als existenzielle Möglichkeit erkennen und dem Man gegenüberstellen. In Heideggers Sprache: In der Gegenüberstellung von Jemeinigkeit und Man suche ich nach einem authentischen Leben. Ganz einfach: Ich, Carl Osterwald, muss mich von allen anderen unterscheiden, zu mir selbst finden und mein eigenes Carl-Osterwald-Leben führen. Das ist etwas anderes als die oft gepriesene „Selbstverwirklichung“, denn ich will mich nicht selbst verwirklichen, ich bin ja schon ein eigenes Selbst und eine Wirklichkeit. Es geht darum, einen Sinn für mein ganz spezielles Carl-Osterwald-Leben im großen Zusammenhang des Lebens in dieser Welt zu finden. Ich muss also nicht nur mich im Blick haben und um mich bekümmert sein, sondern es geht um mein In-der-Welt-Sein. Er (Heidegger) bietet dann zwei Möglichkeiten an:

Erstens: Ich richte meinen Blick in die Zukunft, finde ein erstrebenswertes Ziel, habe eine Vision, prüfe kritisch die Möglichkeiten einer Verwirklichung und richte entschlossen meine Lebensführung darauf ein. Die zweite Möglichkeit: Ich richte meinen Blick in die Vergangenheit, wähle meine „Helden“, erkenne ihre gewesenen Möglichkeiten zum Selbstsein-Können, mache sie nicht einfach nach, sondern verstehe sie als Angebot einer „Wiederholung“ der Möglichkeit, als Chance des eigenen „Selbst-sein-Könnens“. Diese fast zwangsläufig gebotene Auseinandersetzung mit meinen Helden stand zwar an, führte aber letzten Endes ins Leere, weil ich in ethischen Fragen nicht nur keine Antworten fand, sondern noch nicht einmal eine Schneise sah, die auf ei nen Weg zulief.

Eine Grundbefindlichkeit des Daseins ist die Angst. Durch die Angst werden wir auf uns selbst zurückgeworfen. Die uns umgebenden Dinge und die Handlungsangebote der Welt werden für uns bedeutungslos; wir sind in der Angst so total auf uns selbst bezogen, dass wir die eigene Existenz bewusst in die Hand nehmen, ganz bei uns selbst sind und ein authentisches Leben führen, das sich nicht an die kontingenten Angebote der Öffentlichkeit bindet; ich bin ich selbst und handle als ich selbst. Das ist die Seinsweise der eigentlichen Existenz.

Ein Schlüsselbegriff bei Heidegger ist: „Sorge“. Sie ist der Inbegriff solcher Haltungen wie „es geht mir um was“, „man kümmert sich um“, „hat etwas vor“, „sieht nach dem Rechten“, „geht mit etwas um“, „will etwas erreichen“. Sorgen und besorgen sind nahezu identisch mit Handeln überhaupt. Man besorgt die Zukunft, damit man in der Vergangenheit nichts versäumt haben wird. Als Sorgender bin ich mir immer schon vorweg, ich bin schon in. Und das zeigt, dass ein Mensch immer mehr ist als sein Leib; er ist eine Person mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, die zu seinem Dasein gehören, und erst mit ihnen ist er ein Ganzes.

Begrenzt wird das Dasein durch sein Ende, den Tod. Der Tod steckt den Entscheidungsraum des Daseins ab. Wenn ich den Tod bewusst ins Auge fasse, erkenne ich den vor mir liegenden Entscheidungsspielraum und erkenne mich selbst als eine Person mit einer Vergangenheit und einer eigenen Zukunft. Charakteristisch für den Tod ist, dass sich vor ihm keiner vertreten lassen kann. Mein Tod ist der jemeinige Tod, der mich als Einzelnen ganz in Anspruch nimmt. Was das Wort Tod bedeutet, kann nur in der Stimmung der Angst erfahren werden. Stimmung hat eine welterklärende Funktion. Auch Tod und Angst haben bei Heidegger eine bestimmende Funktion: sie vereinzeln das Dasein und machen ihm die unwiderrufliche Einzigartigkeit jedes seiner Augenblicke klar. Wegen seiner Wirkung auf den Lebensvollzug des Daseins bestimmt Heidegger das Dasein als ein „Sein zum Tode“9

Ich möchte an dieser Stelle des Nachdenkens gern Kierkegaard heranziehen, der mich während des Studiums sehr beeinflusst hat. Auch bei Kierkegaard geht es beim Nachdenken über Tod und Sterben um die Reflexion auf die Einzigkeit und Unvertretbarkeit des individuellen Lebens. Wer sich bewusst macht, dass sein Leben unausweichlich auf den Tod zuläuft, muss das Sterben in sein Leben hineinnehmen. Leben ist nicht mehr selbstverständlich; auch in seiner Alltäglichkeit ist Leben nie belanglos, es ist schon gar kein Spiel, leichtfertig an der Oberfläche dahingelebt; Leben im Bewusstsein des Sterbens ist eine Kunst und die besteht nicht darin, dass Tod und Sterben an den Rand gedrängt, verharmlost und überspielt werden. Früher gingen die Leichenzüge mitten durchs Dorf, man blieb stehen, nahm den Hut ab. Gestorben wurde zu Hause, die Familie war meistens zugegen, das ganze Haus zeigte Trauer und man ging für eine bestimmte Zeit in schwarz, „in Trauer“. Dem Tod wurde gewissermaßen Reverenz erwiesen. Kierkegaard spricht vom „Ernst“. Man verneigte sich nicht vor dem Tod, sondern nahm den Gestorbenen, seinen Tod, überhaupt das Sterbenmüssen als eigenes Schicksal wahr.

Die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod gehörte nicht nur in Theologie und Philosophie zu den existenziellen Grundfragen. Kierkegaard beklagt, dass in der Aufklärung und Romantik diese Auseinandersetzung einer gewissen Tiefe entbehrt. Er meint, dass es (zu seiner Zeit) allgemein zu einer Verflachung der Wahrnehmung der existenziellen Tiefendimension von Sünde, Tod und Sterblichkeit gekommen sei. Die Sicht des Menschen wird durch die moderne Massengesellschaft korrumpiert, der Blick auf das eigene Selbst sozusagen durch das Publikum verstellt. Der Einzelne wird nicht mehr als eigenes Selbst gesehen, sondern eher als Objekt, als Gattungswesen. Mir fällt heute immer wieder auf, wie oft in öffentlichen Reden, besonders von Politikern, von „den Menschen“ gesprochen wird. Sie tun alles für den Menschen. Für die Menschen sind sie da und bei allem Tun und Lassen haben sie „den Menschen“ im Blick, um den sie sich kümmern. Sie merken gar nicht, wie bei ihnen „der Mensch“ zu einem Abstraktum verkommen ist. Im „Wörterbuch des Unmenschen“ ist auch „Mensch“ aufgeführt. So gut wie nie wird er als der Einzelne gesehen, der den Sinn seines Lebens nur treffen kann, wenn er authentisch lebt.10

Kierkegaard stellt den Einzelnen vor Gott, vor eine Instanz, der er sein Leben verdankt, der er verantwortlich ist. Nur in der Verantwortung vor Gott kann er seine Bestimmung finden, und er ist mit sich identisch, wenn er gemäß dieser Bestimmung lebt, also bereit und entschlossen ist, in der Nachfolge Christi zu leben. Zur Nachfolge gehört die Bereitschaft zum Leiden. An dieser Stelle übt Kierkegaard harte Kritik an der Verkündigung der Kirche, die diese Leidensbereitschaft unterschlägt, mindestens abschwächt. Bei der dänischen Staatskirche sieht Kierkegaard eher ein Bestreben, sich mit der Welt zu arrangieren, zu einem bequemen saturierten Frieden im gesamtgesellschaftlichen Ensemble zu finden, als sich am neutestamentlichen Christentum zu orientieren, das immer verbunden ist mit Leiden und Entsagung. Lieber lebt man in einer Scheinwelt, macht das Leben zum Experiment und weicht dem Ernst des Lebens, der mit dem Wissen um Sterben und Tod mitgegeben ist, aus.

Zur Realität des Lebens gehört die Einsicht in die eigene Sterblichkeit. Es genügt nicht, sich darüber klar zu sein, dass jeder sterben muss, sondern ich muss mein Leben mit der Wirklichkeit des eigenen Todes zusammendenken. Diese Verfugung von Leben und Tod ist eine Geisteshaltung, die das ganze Leben verwandelt, es ist als ein existenzielles Zusammendenken eine Lebensaufgabe; sie mündet in den „Ernst“ und kulminiert in dem Bewusstsein, dass das Leben kein Spiel ist. Der Tod ist das definitive und unwiderrufliche Ende der menschlichen Existenz. Gleich zu Anfang einer fiktiven Grabrede sagt Kierkegaard im Rückblick auf das zu Ende gegangene Leben: „Es ist vorüber“. Das Leben ist vorbei und der Tote ist vor sich und vor Gott gestellt und es gibt keinen Weg daran vorbei. Damit ist die Härte des Todes betont. Es ist vorbei, das heißt, „alles“ ist vorbei mit Leib und Seele: das schreckliche Wort: „aus“. Der Tod ist kein Akt der Selbstvollendung, sondern Widerfahrnis, Abbruch, Fragmentierung der menschlichen Existenz: das Ende aller Möglichkeiten.

In dem, was nun noch kommt, bin ich total angewiesen auf Gott, die Macht, die alle menschlichen Möglichkeiten transzendiert. Alle Möglichkeiten menschlicher Selbstbehauptung werden als illusionär entlarvt. Im Tod erfahre ich radikal, wie wenig ich wirklich über mein Leben bestimmen kann. Diese im Gedanken an den Tod präsente Unverfügbarkeit des Lebens kann mir positiv deutlich machen, wie sehr ich auf Gott angewiesen bin, bei dem alles möglich ist.

Ich werde durch den Tod darauf gestoßen, dass ich im Leben, in das ich mich nicht selbst gebracht habe, umgeben bin von einer ganz unglaublichen Fülle von Möglichkeiten. So bereichert der Gedanke an den Tod mein Leben: ich bin lebendig! Jetzt, in diesem Augenblick; und ich kann den Tag leben, als sei er der letzte und zugleich der erste in einem langen Leben; ich bin nicht auf den Augenblick angewiesen, mein Leben ist ein Leben im Vollzug: ich habe eine Geschichte, ein Gestern und ein Morgen. Wenn ich im Glauben und durch den Glauben in Gott gegründet bin, kann ich den Todesgedanken in meine Existenz hineinnehmen, gewinne Transparenz und Offenheit für meine jemeinige, meine eigene existenzielle Lebensmöglichkeit. Ich bin befreit von der Botmäßigkeit unter das „Man“, befreit auch von den Fesseln der Angst. Der Gedanke an den Tod kann mein Leben bereichern, mich aktivieren, nach dem Wesentlichen zu suchen, entschlossen für das einzutreten, was ich nach kritischer Prüfung als gut und richtig erkannt habe, kann verhindern, mein Leben in Tand und Trug zu vergeuden oder zu vertrödeln, mit Heidegger: verhindern, ein uneigentliches Leben zu führen. (Ein egoistisches, auf Verwirklichung des eigenen Selbst konzentriertes Leben ist auch ein uneigentliches Leben).

Der ernst-genommene Tod kann im „Ernst“ zu einer prägenden Kraft für die eigene Lebensgestaltung werden. Und wie geschieht das? „Sich selbst tot den ken ist der Ernst; Zeuge sein beim Tod eines anderen ist Stimmung. Der Ernst ist, dass du wirklich den Tod denkst, und dass du somit ihn denkst als dein Los und realisierst, dass du bist und der Tod ebenfalls ist.“ In dem Ernst vermittelt der Todesgedanke „Lebenskraft wie nichts anderes, er macht wach, wie nichts anderes“ (S. Kierkegaard). Er macht wach, holt uns aus der Todesvergessenheit heraus, in der wir meinten, dass, wenn wir uns dem Leben verschrieben haben, der Tod uns nichts mehr angeht; und wenn wir tot sind, braucht er uns nicht mehr zu kümmern, wir sind dann ja tot. Wach macht er aber auch den Spießbürger, der soziale Geltung, Erfolg, Konformismus und Glück als unüberbietbare Höchstwerte des Lebens ansieht, als erreichbare Ziele. Wer so denkt, verkennt die Tiefendimension von Leben und Tod. Und ist unfähig zu selbstlosem Handeln.

Ich habe schon angedeutet, dass bei den Bemühungen um Authentizität die Frage nach der ethischen oder auch moralischen Bemühung um Selbstlosigkeit auftaucht. Nach Heidegger müsste ein selbstloses Leben ein uneigentliches Leben sein, ein Leben, in dem ich meine Existenz verloren oder abgegeben habe; nun aber nicht an das Man, sondern an irgendeine übergeordnete Instanz. Dieser Instanz kann ich mich im Gehorsam unterwerfen. Ich kann mich gegen das Man für ein elitäres Prinzip entscheiden, so kann ich z.B. mein Leben dem Vaterland wiehen und opfern. Im Nationalsozialismus sind uns Menschen, die sich dem Dienst am Vaterland hingaben als Helden und nachahmenswerte Vorbilder eingeprägt worden. Das war gewissermaßen das Man, dem man sich einzufügen hatte, wollte man „in Ordnung“ sein.

In der Hitlerjugend sangen wir, es war gewissermaßen unsere Hymne und vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach gedichtet: „Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren“ … mit dem Kehrreim, zu dem wir uns erhoben, den rechten Arm zum Hitlergruß ausgestreckt: „Unsere Fahne flattert uns voran,/ in die Zukunft ziehn wir Mann für Mann,/ wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not,/ mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot./ Unsre Fahne flattert uns voran, unsre Fahne ist die neue Zeit / und die Fahne führt uns in die Ewigkeit, ja, die Fahne ist mehr als der Tod.“ Der Tod, besonders der Tod für´s Vaterland wurde in vielen Liedern und Gedichten besungen und rezitiert. Von unseren Helden war er vorgelebt: Theodor Körner, der in den Freiheitskriegen gegen Napoleon sein Leben gab. Manfred von Richthofen, der als Fliegerheld 1918 abstürzte, Otto Weddigen, der als U-Boot-Held ertrank, in uns lebten sie weiter, ihnen nachzustreben gab unserem Leben Sinn und Ernst.

Thomas Mann schrieb am 17. Juli 1944 in sein Tagebuch: „Man soll nicht vergessen und sich nicht aus reden lassen, dass der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren Investition von Glauben und Begeisterung war.“ (Unterstreichung vom Verf,) Bei mir war es nicht der Nationalsozialismus, der mich begeisterte, denn was diesen Begriff inhaltlich füllte, wusste ich nicht. Es gab nur eine völlig verschwommene Vorstellung von einer großen Einheit „Führer, Volk und Vaterland“ und einer für mich unaufgebbaren Zugehörigkeit. Hätte ich diese Zugehörigkeit in Frage gestellt, wäre ich zum Feind übergelaufen, ins Nichts gefallen. Wohin hätte ich mich denn auch wenden sollen? Ich sah keine Alternative, für die ich mich hätte begeistern können. Ich ging immer noch zur Kirche, empfand diese auch, besonders im Blick auf unser „heilig Vaterland“, nicht als widerständig oder gar als Alternative.

Die durch den Ernst gewonnene Tiefendimension Kierkegaards gibt dem Leben einen anderen Impetus als Heideggers im „Sein zum Tode“ beschriebene Daseinsanalyse, die doch fundamental anders, irgendwie ins Leere führt. Kierkegaard hat mich nachhaltiger beeinflusst als Heidegger. So absonderlich es auch klingen mag: Bei Kierkegaard fand ich den Ernst wieder, den der Nationalsozialismus meinem Leben gegeben hatte. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus war für mich eine fundamentale Katastrophe – ich verstehe es jetzt –: ich hatte den Ernst verlo ren. Mir fällt dazu ein Zitat von Nietzsche ein: „Reife des Mannes, das heißt, den Ernst wiedergefunden zu haben, den man als Kind beim Spielen hatte.“ Es war dieser Ernst, der 1945 plötzlich verschwunden war und einer großen Leere Platz gemacht hatte, die unerträglich war. In dieser quälenden Suche nach einem – ich möchte jetzt sagen – vergleichbaren Ernst war ich sehr ansprechbar auf Kierkegaard. Einen großen Einfluss auf mein Denken und meine Lebensentscheidung hatten auch die französischen Existenzialisten, besonders Gabriel Marcel mit seiner Betonung des Engagements und Jean Paul Sartre. Von letzterem ist mir der Satz im Gedächtnis geblieben: „Der feigste aller Mörder ist der, der bereut“. Womit gemeint ist, dass ich zu meiner Entscheidung zu stehen habe. (Der Satz steht nach meiner Erinnerung in den „Fliegen“.)

Ich möchte hier nicht näher auf die beiden eingehen. Ebenso wenig möchte ich auch Karl Jaspers einbeziehen. Jaspers interessierten besonders die Verhaltensweisen in den „Grenzsituationen“: Tod, Leiden, Zufall, Schuld, Kampf, in denen sich der Wagnischarakter eines in freier Selbstverantwortung übernommenen Lebens zeigt. Es ist die Bewegung der Freiheit, der Jaspers nachspürt, in gleicher Weise ist es auch die Angst vor der Freiheit. Angst hält uns in den „Gehäusen“ der angeblich sicheren Prinzipien und Erklärungen. Ich meine, dass es darauf ankommt, diese Ge häuse, die angeblich Sicherheit bieten, zu verlassen. Deshalb habe ich einen gewissen Horror vor geschlossenen Systemen, vor dogmatischen Sätzen, vor Definitionen, die eine vollständige Angabe des in einem Begriff enthaltenen Vorstellungsinhalts liefern müssen; dann ist alles abgeschlossen: es kommt nichts mehr. Der in Ägypten als Sohn eines Imam aufgewachsene Hamed Abdel-Samat schreibt in seinem „Warnruf“: „...zu Hause redete mein Vater mit uns Kindern von oben nach unten. Es gab keine Diskussionen, keinen Widerspruch. Mein Kopf aber war voll mit Fragen zu Gott...“ Von Menschen, denen das Fragen ausgetrieben ist – ich gehe davon aus, dass jeder Mensch ursprünglich als Fragender auf die Welt gekommen ist – schreibt er: „Sie sind in den Gefängnissen ihrer Identität oder Angst verhaftet, ohne die Mauer erkennen zu können, die sie umgibt. … manchmal“, so schreibt er weiter: „ist es tatsächlich so, dass in Fragen der Schlüssel zur Erlösung liegt, während in manchen Antworten der Schlüssel für das Gefängnis mitgeliefert wird.“ 11

Gibt es einen Weg ins Freie? Und wenn es ihn gibt und wenn er gangbar ist, wie kann er auch für mich gangbar gemacht werden? Ich erinnere mich, wie verzweifelt wir nach 1945 nach einem solchen Weg gesucht haben. Es war in dem Fragen, Suchen und Sorgen aber auch Hoffnung, denn schließlich gab es ja nicht nur eine bedrückende Wirklichkeit. Hinter dem Horizont lagen Möglichkeiten, mussten einfach Möglichkeiten liegen, die nur noch nicht aufgetaucht waren.

Über mein Verhältnis zu Religion und Kirche

Ich habe weder Heidegger noch Kierkegaard, noch Jaspers, noch irgendeinen Philosophen systematisch studiert. Ich habe herumgelesen, fühlte mich angesprochen, besonders auch von Schopenhauer und Nietzsche, zwischendurch auch Kant. Mit Hegel habe ich mich nie befasst, der war mir zu schwierig. Natürlich habe ich auch über die antiken Philosophen gelesen und aus dem allen ist dann eine eigene philosophische Grundeinstellung entstanden. Hanna Arendt kam später hinzu. So bildete sich eine ethische Grundhaltung aus Gelesenem, Gehörtem, gemischt mit eigenen Erfahrungen. Einen entscheidenden Einfluss hat Wilhelm Schapp mit seiner Geschichtenphilosophie auf mich gehabt (darüber später ausführlich).

Glücklicherweise hatte ich Freunde, die ähnlich dachten. Nächtelang haben wir Tee getrunken, gefragt und gesucht, ohne je eine schlüssige und bindend oder gar eine end-gültige Antwort zu finden. Vielleicht hatten wir auch Angst vor einer uns festlegenden Antwort. Die hatten wir ja hinter uns: Hinter uns lag die Erfahrung eines grandiosen Betrugs. Ich habe nie erlebt, dass zwischen 1933 und 1945 die nationalsozialistische Weltanschauung als fragwürdig diskutiert wurde. Sie galt, weil sie zu gelten hatte. Ihr war alles untergeordnet, und alles was uns widerfuhr oder begegnete, hatte immer seinen bestimmten Platz in diesem System. Es gab einzelne abweichende Meinungen, aber die wurden nur hinter der Hand geäußert und blieben ohne Belang.

Die eigene Existenz war vorbestimmt und festgelegt durch den Nationalsozialismus als unhinterfragbare Wahrheit. Wir erhielten auf alle Fragen eine gültige Antwort; ja wir waren sogar des Fragens enthoben, weil wir durch die Tugend des Gehorsams gebunden waren. Im Gehorsam verwirklichten wir unsere Freiheit. Aus gläubigem Herzen hatten wir gesungen: „Nur der Freiheit gehört unser Leben. Lasst die Fahnen dem Wind./ Einer stehet dem andern daneben, ausgezogen wir sind. / Freiheit ist das Feuer, ist der helle Schein / solang sie noch lodert ist die Welt nicht klein.12 Ich habe mich in der Nazi-Zeit nie unfrei gefühlt, weil mein Wollen in eins fiel mit dem Wollen des Volkes, zu dem zu gehören ich die Ehre hatte. Ich saß in einem zugeschweißten Container und hatte nie auch nur die Spur einer Möglichkeit, von außen in oder auf den Container zu blicken und meine Gefangenheit zu erkennen. Auch fehlte ein Bedürfnis nach einem Blick nach außen oder von außen, denn bei uns war einfach alles gut.

Etwas Eigenständiges war mir nur in der Kirche begegnet. Da aber auch nicht durch GOTT, von dem aus mir eine Außenansicht auf und in den Container möglich gewesen wäre. Mir begegnete vielmehr immer und überall nur ein Gott, von dem ich zwar reden hörte, aber von dem ich nicht wusste was das ist, oder sein sollte – und: wer war der Gott, von dem ich reden hörte? „Der Gott, der Eisen wachsen ließ,/ der wollte keine Knechte./ drum gab er Säbel Schwert und Spieß;/ dem Mann in seine Rechte“ (Ernst Moritz Arndt, 1813).13 Aus dem Gehörten und Erlebten erwuchs ein ziemlich deutliches Gottesbild: Gott war der Oberstarke, der aber auch – jedenfalls mir gegenüber – ein „lieber Gott“ war.